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Was Gerhards Vater erzählte

Die nächsten Tage brachten Sorge in das Haus des Grenzers, denn Gerhards Zustand verschlechterte sich. Doktor Lorenz kam jeden Morgen vor seiner Sprechstunde heraufgefahren. Abends ließ er sich von Herrn Erdmann durch den Fernsprecher Bericht geben. Niemand außer den Eltern durfte ins Krankenzimmer. Obgleich Bärbel es wußte, scheute sie den weiten Weg nicht, nur um zu erfahren, wie es Gerhard ging. Zum Zeichen, daß sie da war, durfte sie dreimal leise an seine Türe klopfen, wenn er nicht gerade schlief.

An einem Sonnabend kam Doktor Lorenz nachmittags, als Bärbel gerade gehen wollte. Er lobte sie, weil sie sich am Tage des Unfalls um den Jungen gekümmert hatte. »Solange er bewußtlos war«, meinte er, »hättest du ihn allerdings liegen lassen sollen. Es ist in solchen Fällen besser, wenn man wartet, bis jemand mit einer Tragbahre kommt. Aber das konntest du nicht wissen.«

»Wir hätten auch keine zur Hand gehabt«, sagte Erdmann.

»Ist es dadurch etwa schlimm geworden?« fragte Bärbel besorgt den Arzt.

Doktor Lorenz zog sie aus lauter Unsinn an den Zöpfen zu sich heran: »Da sei mal ganz ruhig, verstanden!«

»Sie machen ihn doch bald wieder gesund?«

»Wenn es nur an mir läge, könnte er heute schon aus den Federn kriechen, aber leider geht es nicht so rasch. Ein paar Tage mußt du dich noch gedulden. Dafür darfst du von jetzt ab zu ihm.« – Bärbel strahlte.

»Ich bin zufrieden«, fuhr Doktor Lorenz, zu den Eltern gewandt, fort. »Die Gefahr ist vorüber. Nächste Woche, denke ich, wird er aufstehen können.«

Wie so oft, wenn jemand krank im Bette liegt, hilft Freude viel mit zum Gesundwerden. Gerhard konnte es kaum erwarten, bis Bärbel erschien. Über den stundenweiten Weg dachte er nicht nach. Hauptsache, sie kam. Es war ihm, als kenne er sie schon seit langem. Bärbel ging es genau so. Als er dann aufstehen durfte, saßen sie meist mit der Mutter und Sibylle unten im Garten, und die Woche darauf begleitete er sie jedesmal ein Stück heimwärts.

Da Bärbel pünktlich zu Hause war, das Esten wie immer besorgte und die Stuben in Ordnung hielt, fiel es Anton Elsner nicht weiter auf, daß sie so lange wegblieb; denn nachmittags war er nie daheim, entweder im Walde oder aber, was jetzt öfter vorkam, mit Likasch unterwegs. Von diesen Fahrten erzählte er kein Wort, obgleich Bärbel gern gewußt hätte, was den Vater immer mehr von seiner eigentlichen Arbeit fernhielt. Wenn er wenigstens froh gewesen wäre wie früher. So aber kam er spät abends heim, müde, mürrisch, starrte vor sich hin, und so oft sie ihn fragte, wich er ihr aus. Manchmal, wenn er glaubte, sie sei schon eingeschlafen, stand er lange vor ihrem Bett, zog dann behutsam die Decke über ihre bloßliegenden Schultern und ging wieder hinaus.

Bild: Rolf Winkler

Mit Likasch schien es öfter Streit zu geben. Kam sie zufällig dazu, so gaben sich die beiden Männer den Anschein, als wäre es nur eine geringfügige Meinungsverschiedenheit gewesen. Sie merkte es aber trotzdem, denn die finstere Falte zwischen den Augen konnte Likasch nicht verleugnen. Aus der Flasche, die er gewöhnlich mitbrachte, füllte er sich ein Glas nach dem anderen und trank es hastig leer.

Einmal sollte sie abends wieder hinüber nach Harla laufen zum Pavel. Likasch verlangte es. Als ihm Anton Elsner den Wunsch abschlug, wurde er wütend, bis Bärbels Vater aufstand, die Hände auf die Tischkanten stützte und ihm deutlich erklärte, das wäre sein Haus, und darin bestimme er. Ob Likasch ihn nun verstanden habe!

In heftiger Erregung hatte er es gesagt. Bärbel wagte sich in ihrer Ofenecke kaum zu rühren. Likasch saß geduckt da, als hätte er Prügel bekommen. Er lachte, nahm das Glas und trank.

»Weshalb läßt du ihn überhaupt herein?« fragte Bärbel den Vater, als Likasch gegangen war. »Er kann doch drüben in seinem Haus bleiben.«

Anton Elsner machte eine unwillige Bewegung: »Das verstehst du nicht. Geh schlafen, Bärbel!«

Weil der Likasch am nächsten Tage schon wieder da war und den übernächsten auch, und weil es ihr so schien, als hätte er beinahe ein Anrecht darauf, in Elsners Hause ein- und auszugehen, wie es ihm beliebte, fühlte sich Bärbel nicht mehr wohl daheim. Es war anders als früher, nicht mehr so still und traulich. Auch wenn sie mittags öfter Fleisch auf den Tisch stellen konnte als in den Jahren zuvor, freute sie sich nicht darüber, denn der Vater übersah es ganz und gar. Von Tag zu Tag wurde er verschlossener. Unstet ging er im Hause hin und her. Nie hörte sie ein fröhliches Wort, obschon er keineswegs häßlich zu ihr selbst war. Immer wieder wollte sie ihm erzählen, von Gerhard, von seinen Eltern, von den Grenzern, die doch so nette Leute wären und die der Vater vielleicht gar nicht so kannte wie sie. Aber die Angst, er könne ihr verbieten, hinauf zu den Zollhäusern zu gehen, ließ sie schweigen.

Sobald sie nachmittags mit ihren Schularbeiten fertig war, machte sie sich auf den Weg. Die Freude, nicht nur Gerhard, sondern auch seine Eltern und die kleine Sibylle zu sehen und mit ihnen allen zu plaudern, überwog ihre Bedenken. Zwar wanderte sie, seit Gerhard wieder gesund war, nur noch jeden dritten Tag nach der Zollstation, doch immer mit dem Gefühl, daß man sich im Hause des Grenzers auf sie freute. Da gab es keinen Likasch, keinen Streit, kein heimliches Reden, da war alles hell und froh. Und sie selber durfte dabei sein, als gehöre sie zur Familie. Frau Arndt, die Schwester von Gerhards Mutter, hatte Bärbel besonders ins Herz geschlossen. Sie war aus Baden mit hierher gezogen und wohnte im eigentlichen Dorf Oberlomnau, das noch ein Stück unterhalb der Zollstation lag. Für eine Stunde oder zwei kam sie öfter herauf. Wenn sie aber wußte, daß man das Mädel aus Panitz erwartete, blieb sie länger.

Bärbel mochte die stille, gütige Frau gern leiden. Eines Tages war sie mit Gerhard und Sibylle bei ihr zu Besuch gewesen. Frau Hedwig Arndt hatte für diesen Nachmittag einen Kuchen gebacken. Der durfte, wie sie ausdrücklich bemerkte, ratzekahl aufgegessen werden, was sich die drei nicht noch einmal sagen ließen. Als Bärbel sich eine hübsch gestickte Kommodendecke betrachtete, fiel ihr ein Bild auf, das in schwarzer Umrahmung vor einem frischen Strauß Blumen stand. Es stellte einen Grenzer dar, in derselben Uniform, wie sie Herr Erdmann trug. Bärbel fragte Gerhard, wer das sei.

»Das war mein Onkel, weißt du, der Mann von Tante Hedwig. Er ist gefallen.«

»Im Weltkrieg?«

»Nein, viel später erst, vor fünf Jahren, glaube ich.«

»Da war doch aber kein Krieg«, sagte Bärbel.

Frau Arndt, die das Gespräch mit angehört hatte, strich dem Mädchen übers Haar. »Du hast recht, da war kein Krieg«, sagte sie vor sich hin. »Aber es gab trotzdem Menschen, die das Leben anderer mißachteten. – Mein Mann ist von einem Schmuggler erschossen worden … an der holländischen Grenze war es.«

Bärbel erschrak bis ins Innerste. »Von einem Schmuggler?« fragte sie atemlos.

»Ja«, erwiderte Gerhard. »Ein Teil der Bande war von den Grenzern erwischt worden. Dafür haben sich dann die übrigen gerächt und Onkel Fritz in der Nacht hinterrücks erschossen. So feige – –«

»Schießen denn Schmuggler?«

»Bärbel, bist du dumm! Natürlich, wenn sie erwischt werden. An der holländischen Grenze war es immer schon gefährlich, überhaupt dort, wo Onkel Fritz Dienst hatte. Aber er ist ja gar nicht im Kampf gefallen. Der gemeine Kerl hat ihn doch von hinten …«

»Sei still, Gerhard«, bat Frau Arndt, »du sollst nicht davon sprechen.«

»Ich wollte es bloß der Bärbel erzählen … vom Onkel Fritz, da ist doch weiter nichts dabei«, meinte er treuherzig.

»Ich bin dir ja auch nicht böse. – Kinder, ihr müßt jetzt heimgehen, sonst kommt Bärbel zu spät nach Panitz«, sagte Frau Arndt. Ihre Stimme klang völlig verändert. Das Mädchen merkte es sofort und widersprach auch nicht wie Gerhard und sein Schwesterchen, die gern noch dageblieben wären.

Auf dem Heimweg war sie ziemlich wortkarg, so daß sogar Sibylle einmal fragte: »Bärbel, bischt bös?« Sie tröstete die Kleine, gab sich Mühe, allerlei Unsinn mit ihr zu treiben, aber es mißlang. Gerhard merkte es und ließ sie in Ruhe.

»Du denkst wohl immer noch an Onkel Fritz?« fragte er, als sie sich an der Wegkreuzung trennten. »Wir hatten ihn alle sehr lieb. Er war so lustig. Als Vater nach Baden versetzt wurde, blieb er an der holländischen Grenze. Damals hätte er mit uns nach Singen ziehen können, wenn er die Zollbehörde darum gebeten hätte, aber er wollte nicht. Vielleicht lebte er heute noch. Tante Hedwig ist nach seinem Tode erst zu uns nach Singen gekommen. Sie sollte nicht so allein bleiben, deshalb schrieb ihr der Vater, und bald darauf kam sie auch. Ich weiß es noch genau, wie wir sie vom Bahnhof abholten.«

Bärbel nickte stumm. Nur oberflächlich hatte sie Gerhard zugehört, denn sie war viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Als sie dann allein durch den Wald nach Panitz weiterging, wurde sie die Erinnerung an den Grenzer auf dem Bilde ebensowenig los wie Frau Arndts Worte: »... von einem Schmuggler erschossen.« Immer wieder sah sie den Mann in der grünen Uniform vor sich, den sie alle so gern hatten, Gerhard, seine Eltern und Frau Arndt, die mit ihm das Liebste auf der Welt verlor.

Ein Schmuggler war es gewesen, ein Schmuggler wie … Likasch. Unwillkürlich dachte sie an Likasch. Wie sie dazu kam, wußte sie selber nicht. Solche Leute waren also die Schmuggler, daß sie einen Menschen feige hinterrücks töten konnten. Was wollte der Likasch von ihrem Vater? Weshalb war der Vater so anders geworden, seit der Zigeuner im Dorfe wohnte?

Bärbel geriet ins Grübeln. Wirre Träume quälten sie in der Nacht. Als am Abend darauf Likasch kam, wich sie ihm aus. Eine Tafel Schokolade hatte sie damals von ihm angenommen; sicher war es unrecht gewesen. Aber sie ahnte ja nichts von alledem, was sie heute wußte, was sie aus dem Gespräch mit Gerhard erst erfahren hatte, und was ihr allmählich immer klarer wurde. Doch noch mehr wollte sie wissen, viel mehr, und sie konnte den Sonntag kaum erwarten, an dem sie wieder zu Erdmanns kommen sollte. Sibylle hatte nämlich Geburtstag, und die Eltern wollten deshalb mit ihr zum Schützenfest nach Weißwasser gehen, wo sie nach Herzenslust Karussell fahren konnte. Gerhard und Bärbel sollten mitkommen, es gäbe dabei allerhand seltene Dinge zu sehen.

Früh am Nachmittag brachen sie auf. Tante Hedwig ging ebenfalls mit. Sie wartete unterwegs an der Straße, die nach Weißwasser führte. Hinter einer Baumgruppe hatte sie sich versteckt, war aber bald von Gerhard entdeckt und mit Siegesgeschrei hervorgeholt worden.

»Du würdest einen tüchtigen Grenzer abgeben«, rief lachend Herr Erdmann, als Gerhard ein Stück Schnur aus der Hosentasche kramte, die Tante fesselte und mit »Vorwärts marsch!« heranschleppte. Frau Arndt ließ es willig mit sich geschehen.

»Fällt dir nichts auf, Hedwig?« meinte Frau Erdmann, als sie zusammen weitergingen. Ihre Schwester schaute der Reihe nach alle an. »Nein, was denn?«

»Vater ist befördert worden, er hat heute seine neue Uniform an.«

»Da wünsche ich dir viel Glück«, sagte Frau Arndt zu ihrem Schwager und schüttelte ihm die Hand.

»Danke, danke, deshalb bin ich auch heute so freigebig«, erwiderte Erdmann, »und nehme euch mit zum Schützenfest.«

Auf dem Wege nach Weißwasser mußte er auf Gerhards Wunsch Grenzgeschichten erzählen. Er kannte eine ganze Menge. Die meisten hatte er selber erlebt, doch nur die lustigen gab er zum besten, über die anderen schwieg er sich aus.

Bild: Rolf Winkler

»Vater, wie war denn das mit dem Mann im steifen Hut?«

»Das habe ich euch doch schon so oft erzählt.«

»Aber Bärbel kennt es noch nicht«, sagte Gerhard.

»Also schön, zum zehnten Male: In Wehrse an der polnischen Grenze, wo wir kurz nach dem Kriege wohnten, wurden gern Lebensmittel geschmuggelt. Man kaufte sie nämlich drüben in Polen ein paar Pfennige billiger ein als bei uns. Das nützten manche viel mehr aus, als es uns nötig erschien, und trieben einen regelrechten Handel mit Lebensmitteln. Unsere Bauern dagegen saßen auf dem Markt und wurden ihre Ware schlechter los als je, denn das deutsche Geld stand höher im Kurs als das polnische, deshalb kaufte man auch drüben billiger ein. Aber dafür verdienten die Leute in Polen viel weniger.«

»Da war es doch wieder gleich«, wandte Bärbel ein. »Mußten nicht die Leute in Polen, wenn sie weniger verdienten, eigentlich gleich viel bezahlen wie unsere in ihren Dörfern?«

»Du hast recht, Mädel, nur kauften die Händler drüben in Polen mit deutschem Geld ein, für das sie doch mehr bekamen, brachten die Ware über die Grenze und verkauften sie ein klein wenig billiger als unsere Bauern. Dabei verdienten sie immer noch ein schönes Stück Geld, nur daß die deutschen Landleute den Schaden zu tragen hatten.«

»Warum?«

»Sieh mal an, Bärbel«, erklärte Erdmann, »unsere Bauern konnten ihre Butter nicht so billig herstellen wie die polnischen, denn sie zahlten auch höhere Löhne als drüben. Dazu kam den Händlern der niedrige Kurs des polnischen Geldes – Valuta nennt man das – obendrein noch zustatten. Deshalb war eben die fremde Ware billiger als die eigene. Manchmal wieder ist es umgekehrt, da braucht man bei uns für dies oder jenes weniger zu bezahlen als im fremden Land. Dann hüten sich natürlich die Schmuggler, solche Ware herüberzubringen, denn das wäre ja für sie ein schlechtes Geschäft. Sie nutzen immer nur die Gelegenheit aus, die ihnen im Augenblick Vorteil bringt. Ob andere darunter leiden – wie die Bauern damals – ist ihnen völlig gleichgültig.«

Bärbel horchte auf. Auch wenn sie nicht alles verstand, wurde ihr doch allmählich klar, daß die Schmuggler kein ehrliches Handwerk trieben. Bisher hatte sie immer geglaubt, es wäre ein Geschäft wie jedes andere, nur sei es eben verboten, warum und weshalb, darüber hatte sie nicht weiter nachgedacht. Wenn Likasch behauptete, die Grenzer gönnten ihnen den Verdienst nicht, so war es ja eine Lüge, sicher war es eine Lüge!

»Da tun doch die Schmuggler unrecht«, meinte sie nach kurzem Bedenken.

»Ja, dachtest du etwa das Gegenteil?« erwiderte Erdmann. »Meinst du vielleicht, wir Grenzer stehen bloß da, weil es uns Spaß macht, auf Leute acht zu geben, die friedlich ihres Weges gehen? Nein, nein, Mädel, es ist schon etwas anderes. Was glaubst du wohl, wie sie es treiben würden, wenn wir ihnen nicht auf die Finger guckten! Drüben, über der Grenze, stehen ebenfalls Zöllner, denn jedes Land schützt sich gegen den Schmuggel. Du weißt ja gar nicht, wie notwendig das alles ist, aber ich kann es dir nur an diesen kleinen Beispielen zeigen.«

»Ich verstehe es auch gut«, sagte Bärbel, damit Gerhards Vater merken sollte, daß sie ihm aufmerksam zuhörte. Und wie sie ihm zuhörte! Freilich konnte er nicht wissen, daß es Bärbel mehr darauf ankam, die Wahrheit zu wissen, als nur etwas Neues zu erfahren.

»Hier in der Gegend«, fuhr der Grenzer fort, »werden meistens Tuchwaren geschmuggelt, weil man sie drüben jenseits der Grenze billiger kauft. Nun könnte doch einer kommen und sagen: wenn die fremde Ware billiger ist, haben doch die Leute bei uns nur Vorteil, nicht wahr?«

»Ja.«

»So, nun will ich dich etwas fragen. Du kennst doch die Fabriken in Kaltenstein, in Weißwasser und überall in den größeren Ortschaften an der Grenze und weißt sicher, was dort hergestellt wird?«

Bärbel sann nicht lange nach. In Heimatkunde gehörte sie mit zu den besten Schülerinnen. Erst neulich hatten sie über die Industrie im Kaltensteiner Bergland einen Aufsatz schreiben müssen. »Ich weiß es, Leinwand, Stoffe für Anzüge, Mäntel und Kleider, auch Fahnentuch …«

»Oho, oho«, staunte der Grenzer. »Du weißt ja recht gut Bescheid, beinahe besser als ich.«

»Ich bin doch von hier«, meinte Bärbel ganz selbstverständlich. »Mein Großvater hat noch mit der Hand gewoben, ehe er in die Weberei nach Weißwasser ging.«

Erdmann nickte. »Nun stelle dir vor«, fuhr er fort, »es kämen haufenweise fremde Stoffe über die Grenze, nur weil sie billiger sind, weil vielleicht das andere Land mehr Rohstoffe hat, mehr Flachs anbauen kann oder andere Vorteile besitzt. Es würde gar nicht lange dauern, und unsere Fabriken müßten stillgelegt werden, weil die Leute nur noch fremde Ware kaufen würden und nicht die, die wir selber herstellen. Was käme hinterher? Erwerbslosigkeit, Not und Elend. Siehst du nun ein, weshalb der Zoll da sein muß, über den so viele schimpfen? Es gibt auch in den Grenzdörfern Leute, die schmuggeln. Oder sie helfen den gewerbsmäßigen Schmugglern. Das ist fast dasselbe. Sie sollten einmal nachdenken, wie sie sich dabei letzten Endes ins eigene Fleisch schneiden. Hat sich erst die Not in ihrer Heimat breitgemacht, dann geht es allen schlecht, dem einen wie dem andern, denn reich ist keiner von ihnen. – Natürlich führen die Länder gegenseitig Erzeugnisse ein und aus, denn dem einen Volk fehlt dies, das andere braucht jenes, aber das wird genau geregelt, damit kein Schaden für unser Land entsteht. Den Schmugglern dagegen ist es gleich, was daraus wird, wenn sie nur möglichst lange ihr unsauberes Geschäft betreiben können.«

Wortlos ging Bärbel neben Erdmann her. Auch jetzt, als er eine geraume Weile schwieg, sagte sie nichts. Nur über eins war sie sich klar: noch heute abend würde sie mit dem Vater sprechen, ihm alles sagen, was sie getan hatte, daß sie die Zöllnersleute besuchte, daß Likasch ein Lügner sei, wenn er behaupte, man müsse die Grenzer hassen, sie stellten harmlosen Händlern nach, alles, was sie seit langem auf dem Herzen hatte, wollte sie abschütteln, selbst dann, wenn Likasch dabei war.

Sie liebte den Vater viel zu sehr, als daß sie hätte länger schweigen können. Und wenn sie nur noch sonntags Fleisch auf den Tisch stellen konnte, der Vater sollte lieber wieder am Morgen mit dem alten Menzel zur Arbeit gehen wie früher, anstatt mit Likasch in die Dörfer. Vielleicht ließ der Graf nächstens mehr Holz schlagen, dann wurde es sowieso besser.

Manches in ihrem einsamen Leben hatte sich geändert, seit sie Gerhard und seine Eltern näher kannte. Zuweilen saßen sie nachmittags, wenn Erdmann dienstfrei war, alle beisammen. Gerhard, der schon in Singen Klavierspielen gelernt hatte und jetzt in Kaltenstein wieder Musikunterricht nahm, spielte schon recht gut. Sie hörte ihm gern zu, obschon sie das meiste gar nicht kannte, was da auf den Notenblättern stand. War es aber ein Volkslied, so sang sie mit. Bärbel hatte eine schöne, reine Stimme. In der Schule mußte sie oft vorsingen.

Erdmann lehnte gewöhnlich in der Sofaecke und rauchte aus einer kurzen Pfeife, die nach seiner Ansicht unbedingt zur Gemütlichkeit gehörte. Frau Erdmann meinte zwar, von dem Tabaksrauch würden die Gardinen schwarz, doch störte dieser Einwand den Hausherrn nicht im geringsten, weil er wußte, daß seine Frau ihm den qualmigen Zeitvertreib gönnte. Mit den bläulichen Wolken verpuffte mancher Ärger, den es im Dienst gab. Gerhards Mutter war auch in diesen stillen Stunden nicht müßig. Ein ganzer Berg Wäsche und anderes lag zum Ausbessern neben ihrem Platz. Des Vaters Dienstkleidung mußte besonders in Ordnung gehalten werden, und Gerhard zerriß unsagbar viel Strümpfe und Hosen, obgleich er Bärbel im Klettern längst noch nicht einholte.

»Ein richtiger Junge soll ruhig mal was zerreißen«, sagte Erdmann, wenn ihm seine Frau ein außerordentlich großes Dreieck in Gerhards Hosenboden zeigte. »Es braucht ja nicht gerade der Sonntagsanzug zu sein.«

Sibylle kümmerte sich weder um Gerhards Klavierspiel noch darum, was die anderen trieben. Sie pflegte unermüdlich ihre Puppen, die sie je nach Lust und Laune immer wieder umtaufte. Eines von ihren drei Kindern, und zwar das älteste, das mit den Zöpfen, hieß neuerdings Bärbel. Dafür durfte die große Bärbel auch beim An- und Ausziehen der Puppen helfen. Sonst ließ Sibylle niemanden in die »Schlafstube«, eine Ecke zwischen Sofa und Klavier, nicht einmal Tante Hedwig, die ihr ab und zu ein Kleidchen für ihre Zöglinge mitbrachte.

Bild: Rolf Winkler

Für Bärbel war das Haus des Zöllners ein zweites Heim geworden. Darüber vergaß sie zwar nicht ihr eigenes, aber sie spürte den Unterschied. Mehr als früher dachte sie an ihre Mutter, wenn sie in die einsame Holzfällerhütte nach Panitz zurückkam. Vielleicht wäre es auch in Anton Elsners Hause so schön geworden wie droben bei der Familie des Grenzers, hätte die Mutter noch gelebt. War sie dann im Walde wieder mit den Bäumen und Blumen, dem Wind und den zwitschernden Vögeln allein, wurde ihr leichter ums Herz.

Heute aber wollte sie lustig sein, ging es doch nach Weißwasser zum Schützenfest. Schon den ganzen Tag hatte sie sich darauf gefreut.


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