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Nicht jeder kann auf Bäume klettern

Wie lange Bärbel so dagesessen, wußte sie selber nicht, denn die Zeit ging überm Sinnen und Betrachten rasch hin. Es war zwar immer derselbe Blick auf die Täler hinter den meilenweiten Wäldern, hinab in die ungewiß dämmernde Ebene, aber ihr erschien das Bild der Heimat jedesmal neu. Gerade als sie sich entschloß nach Hause zu gehen, kamen unten den Weg entlang zwei Kinder, ein größerer Junge und ein noch ziemlich kleines Mädchen. Der Junge blieb stehen und schaute sich um. Es schienen Geschwister zu sein, denn Bärbel bemerkte jetzt, daß sie einander sehr ähnlich sahen, während sie an der Wegkreuzung standen und offenbar überlegten, wohin sie gehen sollten.

»Ihr habt euch wohl verlaufen?« rief Bärbel vom Baum herunter. Die beiden kamen zuerst gar nicht auf den Gedanken, daß da jemand hoch oben im Geäst der Buche hocken könnte. Sie suchten den Rufer zwar in derselben Richtung, vermuteten ihn aber im Walde. Bärbel machte es Spaß, den Jungen zu foppen. Sie ahmte Vogelstimmen nach und begann, als sie auch darauf unentdeckt blieb, kläglich zu miauen.

»Ein Kätzchen!« sagte das kleine Mädchen erfreut und bückte sich. Dann riß sie sich von dem Jungen los und lief ein paar Schritte waldeinwärts, um zu sehen, wo das Kätzchen eigentlich steckte.

»Komm nur zurück, Sibylle«, rief der Junge ihr nach, »hier will uns bloß einer ärgern.«

Wieder miaute es in den Ästen des Baumes. Dann folgte der unheimliche Ruf eines Uhus. Bärbel verbarg sich, so gut es ging, hinter einem dicken Ast, der wie ein Arm ins Freie hinausragte, aber der Junge hatte sie nun doch erblickt.

»Was machst du denn da oben?« rief er hinauf, während die Schwester ängstlich wieder seine Hand faßte. Sie versuchte ihn wegzuziehen. – »Brauchst keine Bange zu haben, Sibylle, es ist bloß ein Mädel«, sagte er, und, die Stimme verstärkend, wiederholte er seine Frage: »Ich will wissen, was du dort oben verloren hast?«

»Das geht dich gar nichts an«, gab Bärbel zurück.

»Oho! Wenn du uns foppst, geht es uns gerade was an. Oder soll ich dich herunterholen?«

Im Baume kicherte es übermütig. »Versuch's doch mal!«

Der Junge stand unschlüssig. Er schien keine rechte Lust zu haben.

Bild: Rolf Winkler

»Ich denke, du willst mich 'runterholen«, erklang es wieder hinter dem dicken Ast.

Das kann man sich nicht gefallen lassen, überlegte der Junge, ließ das Schwesterchen stehen und nahm Anlauf. So sehr er sich aber bemühte, es gelang ihm nur, etwa zwei Meter emporzuklettern. Mit seinen Schuhen rutschte er an der glatten Buchenrinde aus und war schnell wieder unten. Ein paarmal ging das so.

Breitbeinig stellte er sich vor den Baum. »Klettern scheinst du zu können!« rief er hinauf. »Du bist wohl hier aus der Gegend?«

Bärbel freute sich über die Anerkennung und sagte, sie wäre aus Panitz. Wie er heiße und wohin sie wollten, fragte sie, während sie behend wie ein Eichhörnchen herabkletterte und vom untersten Ast gewandt auf den Boden sprang.

Der Junge staunte. Solchen Wagemut, solche Fertigkeit hatte er selbst bei seinen älteren Kameraden nicht feststellen können. Dabei war es ein Mädchen, das ihm diese Kletterkunststücke vorführte.

»Gerhard heiße ich, und das ist Sibylle, meine Schwester.«

Bärbel nannte ihren Namen. »Ich habe euch noch nie hier gesehen«, sagte sie. »Ihr seid wohl fremd? Wo wohnt ihr denn?«

»Drüben in den Zollhäusern, aber erst seit zwei Wochen«, erklärte Gerhard. »Vorher wohnten wir in Singen.«

»In Singen? Ist das weit?«

»Sehr weit, an der schweizerischen Grenze, weißt du, wo der Hohentwiel liegt.«

Bärbel konnte mit dem Hohentwiel nichts anfangen. Sie hörte das Wort zum ersten Male, und so erzählte ihr Gerhard, daß es ein Berg sei mit einer uralten Burg oben, und daß dort vor vielen hundert Jahren der Mönch Ekkehard gelebt habe.

Ob es dort schön sei, wollte Bärbel wissen, ob es auch so tiefe Wälder gäbe und so hohe Berge wie hier.

»Nein, sonst hätte ich mich sicherlich nicht verlaufen«, erwiderte der Junge.

»Verlaufen habt ihr euch?« meinte Bärbel höchst verwundert. »Dabei bist du schon so groß!«

Ihr, die jeden Weg und Steg kannte wie die Flicken an ihrem Kleide, ihr, der Bärbel aus Panitz, kam es sonderbar vor, wie einer den Weg verfehlen oder sich gar verirren konnte, noch dazu ein Junge.

»Vielleicht würdest du dich bei uns in Singen auch nicht zurechtfinden, wenn du erst zwei Wochen da wärst«, wandte Gerhard ein.

Bärbel sah ihn groß an. Außer ihren Bergen mit den kleinen, in engen Talschlitzen verstreuten Dörfern hatte sie von der Welt nicht viel kennengelernt. Einmal war sie mit der Schulklasse in Kaltenstein, der Kreisstadt am Fuße des Gebirges, gewesen. An diesen Tag erinnerte sie sich in allen Einzelheiten. Und nun erzählte ihr der fremde Junge von seiner Heimat, die weit weg an einer anderen Grenze lag.

»Du bist ja so stumm geworden«, fuhr Gerhard fort. »Zeig uns lieber den Weg zu den Zollhäusern, denn wir sollten schon längst zu Hause sein. Die Eltern werden warten.«

»Auf euch?«

»Auf wen denn sonst? Warten deine nicht, wenn du so lange unterwegs bist?« fragte der Junge ganz erstaunt.

Bärbel schwieg. Auf sie wartete eigentlich niemand. Dem Vater war es gleich, wann sie heimkam, denn er stellte sich erst spät ein, und wenn das Essen pünktlich auf dem Tische stand, war alles in Ordnung. Angst brauchte er um sie nicht zu haben, was sollte ihr schon geschehen!

Die kleine Sibylle zupfte an Bärbels Kleid. »E bißle mitgehe«, bat sie in ihrem badischen Dialekt.

»Du sollst uns begleiten«, erklärte Gerhard, der merkte, daß Bärbel nicht recht verstanden hatte.

»Ein kleines Stück komme ich mit euch, bis zur nächsten Wegkreuzung, dann findet ihr schon allein weiter. Ich wollte nämlich auch gerade heimgehen.« Sie faßte Gerhards Schwesterchen an der Hand. Sibylle strahlte übers ganze Gesicht. So klein wie sie war, hatte sie doch gemerkt, daß ihr großer Bruder mit den Wegen wenig Bescheid wußte. Deshalb zeigte sie sich sehr erfreut, daß es nun heimwärts ging. Brav trippelte sie mit ihren kurzen Beinchen zwischen Bärbel und Gerhard. Kam eine Wasserrinne, wurde sie mit »Ho – hopp!« über das Hindernis hinweggehoben. Allmählich machte ihr aber der weite Weg doch zu schaffen, und so trugen Bärbel und der Junge sie abwechselnd Huckepack, bis die Anhöhe erreicht war.

»Jetzt müßt ihr geradeaus gehen und weiter hinten, wo die Futterplätze für das Wild sind, links abbiegen«, sagte das Mädchen und zeigte nach einer Lichtung, an deren Rand zwei mit Brettern überdachte Gestelle lange Schatten warfen. »Beeilt euch aber, denn ihr habt noch eine Viertelstunde zu laufen.«

Gerhard bedankte sich, was Bärbel seltsam vorkam, denn es sagte sonst keiner zu ihr: »Danke schön.«

Sie sah den beiden noch eine geraume Weile nach, ehe sie sich umwandte. Gerade als sie den Weg verlassen wollte, um quer durch den Wald zu laufen, rief es von weit hinten: »Hallo! – Hallo!«

»Was denn?« fragte sie und sah, wie Gerhard die Hand vor den Mund trichterte, damit sie es ja recht verstehen könne: »Auf – die – Buche – komme – ich – doch – rauf! Hast – du's – gehört?«

»Jaaa!« rief Bärbel, so laut sie konnte, zurück. »Ich – glaub's – aber – nicht!«


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