Wilhelmine Heimburg
Trudchens Heirat
Wilhelmine Heimburg

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146 Es war spät geworden, ehe die beiden Gäste ihren Heimweg antraten, und spät, ehe der kleine Amtsrichter sein Zimmer aufsuchte. Sie hatten alle drei noch lange in Franzens Wohnstube gesessen und gesprochen von alter und neuer Zeit.

»Das kann ganz lustig bei uns werden«, meinte Franz, »wenn Tante Rosas Nichte kommt. Du bist dann auch nicht mehr so allein, Trudchen, wenn ich lange auf dem Felde zu tun habe.«

»Ich vermisse niemand«, erwiderte sie ruhig, »ich habe nie eine Freundin gehabt, jetzt aber erscheint es mir mehr wie überflüssig.« Und sie blickte zu ihm hinüber mit ihren tiefen Augen.

»Gnädige Frau«, erkundigte sich der Amtsrichter, der eben den Rest seiner Zigarre in eine Meerschaumspitze steckte, »hat er Sie denn auch angedichtet?« Und er wies verstohlen lächelnd auf Franz.

Trudchen wurde rot. »Gewiß!« antwortete sie.

»Ja, das Dichten kann er nicht lassen«, neckte der Kleine und schlug den Freund auf die Schulter.

»Ich sage Ihnen, gnädige Frau, zuweilen ergriff's ihn wie ein Fieber. Und was so ein Mensch alles besingt! Die Poeten sind wirklich geborene Lügner. In dem Moment, da die süßen Verse aufs Papier strömen, glauben sie freilich selbst jedes Wort, was sie schreiben – 's ist wirklich rührend!«

»Aber ich bitte dich, Richard«, lachte halb ärgerlich der junge Hausherr.

147 »Ist's etwa nicht wahr?« fragte der Amtsrichter. »Denke doch nur an dein berühmtes Gedicht von der Zigeunerin! Ich war ja dabei, als du auf dem Römerberg die braune Maid erblicktest, und am Abend schon stand in deinem Notizbuch, daß sie

Beschwingten Fußes durch die Straßen irrte,
Mit wirrem Haar und schwarzen scheuen Augen,
Darin die Sehnsucht nach der Heide lag
Und nach dem Wind, der durch das Riedgras schwirrte.

Und was war's? Ha, ha! Aus der Judengasse stammte sie und fragte in den Häusern herum: ›Haben S' Hasenfelle, Hadern, Lumpe?‹«

Alle drei lachten, Trudchen am herzlichsten, dann wurde sie plötzlich nachdenklich.

»Du bist ein boshafter Mensch«, erklärte Franz und erhob sich, um ein Licht anzuzünden, »'s ist spät, Richard, und unsereiner wird früh wach.«

Als sich die Herren vor dem Gastzimmer gute Nacht wünschten, sagte der Amtsrichter: »Na, Franz, ich gratuliere, du hast das große Los gezogen, so ein liebes, kleines verständiges Weib! Und das andere – Goldsohn, was habe ich dir gesagt von diesem Menschen? Na, gute Nacht! Scharmanter Onkel übrigens, dieser Onkel Heinrich – nun mach, daß du wegkommst.«

Trudchen stand am offenen Fenster in ihrem Zimmer und sah in die schwüle Nacht hinaus. Nur schwach drang der Lampenschein aus dem Nebenraume herüber. Es waren dunkle Wolken 148 heraufgezogen, fern über den Bergen zuckte ein Wetterleuchten und im Garten schlug und schluchzte ein Chor von Nachtigallen.

»Trudchen!« klang es hinter ihr.

»Franz!« erwiderte sie und legte den Kopf an seine Schulter, »horch! horch! Es ist so schön heute abend.«

Er stand eine ganze Weile schweigend. Das Gespräch von heut nachmittag ging noch in seinem Kopf herum. Der Onkel hatte nicht begriffen, warum der junge Mann nicht aus seinem Walde Bauholz schlagen ließ?

Es war aber alles zu sehr ausgeholzt, und frische Anpflanzungen kaum gemacht.

»Sage, Trudchen«, begann er plötzlich, »wo liegt eigentlich die Villa ›Waldruhe‹?«

Die junge Frau an seinem Arm fuhr, wie von einer Schlange gebissen, empor. »Unsere – meine Villa?« stieß sie atemlos hervor; »woher weißt du, – wer sprach dir von der Villa?«

Er blieb stumm. »Ich kann mich nicht besinnen, wer?« sagte er nach einer Pause, »irgend jemand muß mir doch davon geredet haben, mir erzählt haben, daß ein kleiner Wald, ein Naturpark dabei ist. Aber, Gertrud, was ist dir denn?« fragte er. »Zitterst du?«

»Ach, Franz, wer hat dir davon erzählt?« wiederholte sie, »und was?« Es klang so traurig, daß er sofort empfand, er habe sie verletzt.

149 »Trudchen, habe ich dir weh getan? Ich bitte tausendmal um Verzeihung, ich dachte an nichts weiter als an billige Hölzer, die ich möglicherweise zum Winter dort schlagen lassen könnte.«

»Bauholz? dort? Es ist ja nur ein Park. Ach, Franz –«

»Aber was heißt denn das?« fragte er etwas ungeduldig. »Ich kann doch unmöglich wissen –«

»Nein, du kannst es nicht wissen«, bestätigte sie. »Es war nur der Schrecken – ich hätte dir es längst mitteilen sollen, es wird mir nur so furchtbar schwer, davon zu sprechen. Du sollst es auch hören, aber – sage mir, wer dir davon erzählte?«

»Wenn ich doch die Versicherung gebe, Kind, ich weiß es nicht mehr.«

»Franz«, sagte die junge Frau stockend und leise, »da draußen in der ›Waldruhe‹ ist mein armer Vater gestorben –«

»Mein Frauchen!« tröstete er.

»Er ist dort – er hat – sich selbst das Leben genommen.« Es erklang kaum hörbar.

Er bog sich erschreckt zu ihr. »Armes Kind, das wollte ich nicht, daran wollte ich nicht rühren.«

»Und ich, Franz, ich habe ihn gefunden. Er hatte sich die ›Waldruhe‹ gebaut, da war ich noch ein Kind, und er zog sich wochenlang dorthin zurück. Es ist so schwer darüber zu sprechen – er war nicht glücklich, Franz – ach, erlaß mir das. Mama verstand ihn nicht – und da – Weihnacht war's, am 150 ersten Feiertag – ich wußte, sie hatten wieder einen Wortwechsel gehabt – ein Wortwechsel ist nicht das rechte, Papa widersprach ihr eigentlich nie, versuchte auch gar nicht Mamas Weinen und Jammern zu unterbrechen. Nach einer Weile hörte ich den Wagen fortrollen. Das war früh – mich packte eine seltsame Angst, und nach Tisch nahm ich Hut und Mantel und lief aus dem Bergedorfer Tor und die Chaussee entlang, immer weiter und weiter bis nach ›Waldruhe‹. Und ich wunderte mich, daß die Läden in seinem Zimmer nicht geöffnet waren, ich sah doch die frischen Wagenspuren vor dem Hause. Die Gärtnerfrau, die im Hofgebäude wohnt, sagte, der Herr sei droben. Er war auch oben – ja, aber tot!«

Sie stand neben ihm, von seinem Arm umfaßt, wie sie das erzählte. Er fühlte ihr Zittern und wie kalt ihre Hände waren. »Höre auf, mein Herz«, bat er erschüttert, »du machst dich krank!«

»Ja, ich war krank, Franz, jahrelang«, sagte sie. »Es war eine fürchterliche Zeit. Ich konnte meiner Mutter nicht vergeben. Von diesem Augenblick tat sich die Kluft auf, die zwischen uns liegt, und keine Brücke wollte hinüberreichen. Zum Sterben arm war ich, bis ich dich fand, Franz. Aber die Villa? – ja, sie gehört mir, Papa hatte sie schon damals für mich bestimmt, als er sie baute. Ich habe dort ruhige, schöne Zeiten mit ihm verlebt, aber jetzt ist mir jeder Gedanke an das Haus schrecklich. Es steht 151 öde und verlassen, ich habe es nie wieder aufgesucht. – Es ist so grauenhaft, Franz, einen Menschen, den man verehrt und geliebt hat, so zu finden – so –«

»Verzeihe mir, Trudchen!« bat er weich.

»Du konntest es nicht wissen, Franz. Es weiß niemand davon außer uns, der Familie!« Und als wollte sie ihn auf andere Gedanken bringen, fuhr sie hastig fort: »Ich danke dir auch, Schatz, wie ist das Gedicht so schön: ›Du hast mich namenlos geliebt‹!« Und sie streichelte seine Hand und drückte sie an die Lippen.

»Mein armes, kleines Trudchen!«

So standen sie noch eine Weile, und an ihnen vorüber zogen die Wonnen des Frühlings, Duft und Lieder.

»Das Gewitter kommt herauf«, sagte er endlich, und sie entwand sich seinen Armen und ging aus dem Zimmer. Franz hörte sie auf dem Korridor leise hin und her gehen, die Türen und Fenster schließen und mit den Schlüsseln klappern. Sie sah nach, ob alles versorgt und verwahrt war zur Nacht.

Er legte die Hand an die Stirn und sann. Wer hatte ihm von der Villa gesprochen? Er ging hinüber in sein erleuchtetes Zimmer, als könne er dort besser nachdenken. Nach einem Weilchen kam die junge Frau zurück, das Schlüsselkörbchen am Arm, das liebe Gesicht wandte sich zu ihm empor. »Franz«, sagte sie, »was wollte denn heute der Agent von dir?«

152 Er sah sie starr an, als sei ein Blitz vor ihm niedergefahren. »Richtig, richtig!« Und er schlug sich vor die Stirn, als falle ihm plötzlich ein, wonach er vergeblich gesucht hatte.

»Was er wollte? O nichts, Trudchen, gar nichts von Belang.«

Sie sah ihn erstaunt an, aber sie schwieg. Es war nicht ihre Art, zum zweiten Male zu fragen, wenn sie keine Antwort bekam. Es mochte ja auch wirklich nichts von Belang sein!

In der Nacht hatte es stark gewittert, aber die Natur schien heute keine Lust zu haben, ihr kokettestes Kunststückchen auszuführen. Sie lachte nicht wie sonst doppelt fröhlich in Himmelsbläue und Sonnengold auf Wald und Fluren, verdrießlich spannte sich ein graues Zelt über die Landschaft, so gleichförmig verteilt, daß die Sonne auch nicht ein Ritzchen fand, um einen freundlichen Gruß hinunterzuschicken. Es regnete, so ein richtiger Landregen war es, unverdrossen ohne Aufhören.

Franz kehrte vom Felde heim. Er freute sich über das Wetter, und Trudchen winkte ihm aus dem Fenster zu, wie jeden Morgen.

»Alle Blüten sind verregnet, Franz«, rief sie ihm hinunter; »wie schade!«

Er kam besonders gutgelaunt herauf. »Der Regen ist nicht mit Geld zu bezahlen, Liebling«, sagte er; »nun bin ich nämlich schon wie ein richtiger Ökonom, meine Stimmung hängt vom Wetter ab.«

153 »Meine auch!« bemerkte die junge Frau, »so ein grauer Tag macht mich melancholisch.«

Er trat zu ihr, die an ihrem Schreibtisch saß und in Papieren und Büchern kramte. »Sieh einmal, Franz« – und sie hielt ihm ein Päckchen entgegen, zierlich, mit blauem Band gebunden, »das sind lauter Verse von dir, der Reihe nach geordnet. Wenn wir einst silberne Hochzeit feiern, lasse ich sie drucken und einbinden. Diese, auf dem kremfarbigen Papier, sind aus der Brautzeit, und diese verschiedenen Fetzen, weiß und blau und grau, die sind von jetzt, wo du jedes Papier nimmst, das dir in die Hände kommt, weil du vermutlich denkst, für die Frau Trude ist es gut genug.«

Sie sah ihn lachend an. Er hatte sich tief zu ihr gebeugt. »Und jetzt kaufe ich mir noch ganz besonderes Papier zu den nächsten Gedichten, Trudchen.«

»Warum?«

»Kunterbund, wie die Klapperstörche Tüten unter den Flügeln haben, und darauf schreibe ich –«

Sie war purpurn erglüht, »ein Wiegenlied« – sagte sie leise ergänzend.

Er nickte und zog ihre Hand an den Mund. Sie aber schlang beide Arme um seinen Hals. »Dann wäre es erst traut, erst heimlich, Franz, dann hätten wir uns noch lieber – wenn's möglich ist.«

»Hier, kleine Frau, das habe ich dir heute im Felde, im Regen aufgeschrieben.« Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und legte es in ihre Hände.

»Ich will einmal nachschauen, wo sich der Amtsrichter umhertreibt, der Sakramenter!« rief er von der Türe noch zurück. Und sie saß schon und las, und ihr Antlitz war so ernst, als lese sie in der Bibel.

Sie schreckte empor von dem Knall einer Peitsche vor den Fenstern. Eilig blickte sie hinaus – dort unten hielt der Baumhagensche Wagen; der Kutscher im weißen Gummirocke und ebensolchem Hutüberzug; die Eisenschimmel anzuschauen wie ein paar Rappen, so naßgeregnet. Sie öffnete das Fenster, zu sehen, ob jemand aussteige, es rührte sich nichts. Dann kam Johanne, der Kutscher reichte ihr einen Brief und sie lief eilig ins Haus zurück.

Die junge Frau durchzuckte es wie ein Schrecken. Ein Unglück zu Hause? Sie flog zur Tür. »Ein Brief, gnädige Frau!« Hastig riß sie das Kuvert auf:

Komme sofort; muß Dich notwendig sprechen.

Deine Mutter.

Das war der orakelhafte kurze Inhalt des Billetts.

»Bringen Sie mir die Sachen, Johanne, und benachrichtigen Sie meinen Mann.«

»Franz«, rief sie ihm entgegen, als er rasch eintrat, »irgend etwas ist passiert!«

»Ängstige dich doch nicht«, bat er, ohne seine Unruhe ganz verbergen zu können.

»Ja, ja! Gott, wenn ich nur erst wüßte, was? Mir ist so schwer ums Herz.«

Er nahm dem Mädchen die Sachen ab und legte den Mantel um Trudchens Schultern.

155 »Wenn es nur kein Krach ist mit Artur und Jenny! Sie waren wunderlich miteinander gestern.«

Trudchen sah ihn kopfschüttelnd an. »Nein, nein, sie sind nie anders zusammen gewesen.«

»Dann wundert's mich, daß er nicht schon längst davongelaufen ist«, sagte er trocken.

»Oder sie –« gab Trudchen zurück und band die Hutschleife.

»Ich ertrüge solch ewige Katzbalgerei nicht, Trudchen«, er knüpfte ihr dabei den linken Handschuh zu.

»Ich auch nicht, Franz. Leb wohl! Ihr müßt mich beim Essen entschuldigen. – Gott gebe, daß es nichts Schlimmes ist.« – Sie sah sich noch einmal im Zimmer um, ging dann rasch an den Nähtisch und schob das Notizbuch in die Tasche.

Als der Landauer ein paar Momente später das Gittertor passierte, bog sich ihr Köpfchen noch einmal aus dem Wagenfenster. Er stand auf der Treppe und sah ihr nach; nun nahm er den Hut ab und schwenkte ihn. Wie hübsch er war, wie stattlich und wie gut! –

Sie lehnte sich in die Polster zurück. Es war ihr bange – das erstemal, daß sie ohne ihn das Haus verließ. Es kamen ihr so wunderliche Gedanken, wie schrecklich es wäre, wenn sie ihn nicht gefunden hätte, oder gar – wenn sie ihn verlieren müßte! Ob sie wohl noch leben könnte dann?

Leben – ja; aber wie!

Furchtbar, Witwe zu sein! Noch furchtbarer, sich 156 zu trennen, der eine hier – der andere dort, grollend – oder gleichgültig –!

Ob Jenny und Artur wirklich? Herr Gott im Himmel, bewahre uns vor solchem Leid!

Sie sah aus dem Fenster. Der Kutscher fuhr in schwindelndem Tempo. Dort vor ihr im Dunst lag die Stadt. Wieder wanderten ihre Gedanken; schneller noch wie die Fahrt. Sie zog das Notizbuch aus der Tasche, sie wollte lesen, aber die Buchstaben verrannen vor ihren Augen. Sie schob es wieder an seinen Platz.

Auf dem Boden zu Hause stand noch die alte Wiege, in der einst Papa gelegen hatte und Jenny und sie. Die Großmutter aus der engen Gasse hatte sie zur Aussteuer bekommen. Die wollte sie dereinst sich holen, wenn Gott ihr jenen Wunsch erfüllen würde. Jennys Liebling hatte in einem andern Bettchen gelegen, die alte plumpe Wiege paßte nicht in das elegante Schlafzimmer der jungen Mutter. Aber in die schlichte Stube zu Niendorf, wo der wilde Wein sich ums Fenster rankte und der alte große Kachelofen so breit und gemütlich stand, da war sie an ihrem Platz, zwischen Ofen und Wandschrank, so recht traut und heimlich. Sie lächelte glückselig wie ein Kind; daß ihr Leben so schön, so reich werden solle. Sie konnte es gar nicht glauben.

Der Wagen rasselte jetzt durch das Stadttor, sie war gleich daheim, und ihr Herz begann stürmisch zu klopfen. Wenn sie doch erst wüßte!

157 Der Hausmann öffnete ihr den Schlag, und sie stieg die Treppe empor, vorüber an Jennys Wohnung. Die Entreetür zur mütterlichen Etage stand geöffnet. Niemand zu sehen. Sie trat in den Flur. Wie grüßte sie alles so lieb und vertraut, selbst die Wanduhr erhob ihre Stimme, eben schlug sie dreiviertel auf zwei. Sie legte den Mantel ab und ging zu dem Zimmer der Mutter hinüber. Auch hier die Tür nur angelehnt. Im Begriff einzutreten, zog sie plötzlich die Hand zurück.

»Und ich sage dir, Ottilie, daß es der unüberlegteste Streich deines Lebens ist, wenn du dem Kinde das alles so unvorbereitet ins Gesicht wirfst. Mag es wahr sein oder nicht, wozu willst du ihr junges Glück zerstören? Da gibt es doch andere Mittel und Wege!«

Es war Onkel Heinrich; er sprach im Tone tiefster Entrüstung.

»Sie soll es von Fremden erfahren?« scholl die Stimme der weinenden Mutter; »die ganze Stadt erzählt es sich, und sie soll wie eine Blinde umhergehen?«

»Ich zittere an allen Gliedern«, hörte Trudchen jetzt Jenny, »es ist empörend, wir sind auf ewig lächerlich gemacht! Gestern abend erst sagte ich noch zu Frau von S.: ›Sie können sich nicht vorstellen, welch ein idyllisches, schäferhaftes Glück da draußen in Niendorf seinen Wohnsitz hat.‹«

»Zum Henker mit eurer Logik! Ich sage euch –« 158 rief jetzt der kleine Herr zornig. Aber er verstummte jäh, dort auf der Schwelle stand Trudchen Linden.

»Sprecht ihr von uns?« fragte sie und ihre erschreckten Augen irrten über die Anwesenden und blieben an der Mutter hängen, die bei ihrem Erscheinen weinend in den Sessel zurücksank.

»Ja, Kind!« Der alte Herr war zu ihr geeilt und suchte sie hinauszudrängen. »'s ist ein unüberlegter Streich von deiner Mutter gewesen, daß sie dich holen ließ. Es ist nämlich gar nichts Schlimmes passiert – so eine dumme Rederei, ein Mißverständnis, lächerlich! Komm erst mal herüber in ein anderes Zimmer, ich will es dir erklären.«

»Nein, nein, Onkel, ich möchte es wissen, genau wissen!« Sie zog ihre Hand aus der seinen und schritt zur Mutter hinüber. »Hier bin ich, liebe Mama, nun sage mir alles, aber rasch – ich bitte dich.«

Sie sah aus totenbleichem Antlitz zu der weinenden Frau hinunter, und so stand sie in ihrer einfachen Sommertoilette fast regungslos. Nur die Bänder des Hütchens, die zur Seite des Gesichtes in einen leichten Knoten geschürzt waren, bebten in raschen Schlägen und gaben Kunde von ihrer furchtbaren Erregung.

»Ich kann's ihr nicht sagen«, schluchzte Frau Baumhagen, »sag du es, Jenny.«

Sofort wandte sich Trudchen zu der Schwester. Die junge Frau schlug die Augen nieder und wickelte 159 die schwarzen Samtschleifen ihres Morgenkleides nervös um die Finger.

»Dein Mann ist in eine unangenehme Situation geraten«, begann sie leise.

»Inwiefern?« fragte Trudchen.

»Eine fatale Geschichte ist es, aber nicht danach angetan, solche Leichenbittergesichter zu machen«, polterte der alte Herr, der am Fenster stand.

»Er hatte –« Frau Jenny stockte wieder, »gestern ein Gespräch mit Wolff.«

»Das weiß ich«, bestätigte Trudchen.

»Wolff hat eine Forderung an ihn, eine sehr diskrete Forderung – dein Mann will sie nicht anerkennen und –«

»So kommt in drei Teufels Namen zu Ende!« Der alte Herr schlug zornig auf das Fensterbrett. »Wollt ihr der Frau das Gift tropfenweise geben?« Er faßte wieder Trudchens Hand und suchte nach Worten.

»Sieh, Trudchen, es ist nicht so schlimm; es kommt manchmal vor – und der Wolff mag sich auch aufgedrängt haben –, kurz und gut, er ist so ein lebendiges Lexikon, kennt alle Menschen hier herum, und was einer wissen will, das erfährt er sicher bei ihm. Da hat dein Mann sich nun – na, wie soll ich mich denn ausdrücken – hat sich nach deinen Verhältnissen erkundigt, verstehst du? – ehe er um dich anhielt; voila tout. 's kommt hundertmal vor, Kind – du bist vernünftig, nicht wahr, Trudchen?«

160 Die junge Frau stand wie eine Statue. Nur allmählich kehrte die Farbe wieder auf ihr Antlitz zurück. »Das ist eine Lüge!« sagte sie hochaufatmend. »Deshalb habt ihr mich holen lassen?«

»Aber Wolff war bei mir«, klagte Frau Baumhagen, »er rief meine Vermittlung an.«

»Nein, er war bei uns«, berichtigte Jenny, »schon in aller Morgenfrühe. Er wollte Artur sprechen. Aber Artur –« sie stockte, »Artur ist gestern abend –«

»Vielmehr in dieser Nacht urplötzlich verreist«, ergänzte Frau Baumhagen schneidend, »ich habe Freude an den Ehen meiner Kinder.«

»Ich kann nichts dafür, daß er alles gleich übelnimmt«, lachte die junge Frau unbekümmert; »eigentlich sind wir doch sehr glücklich!«

»Das weiß was von Glück!« brummte der alte Herr vor sich hin, so leise, daß es nur Trudchen verstand, neben der er Posto gefaßt hatte. Und laut setzte er hinzu: »Eine eilige Geschäftsreise – sagen wir, eine eilige Geschäftsreise, der eine kleine, süße Gardinenpredigt voranging.«

»Allerdings, eine Geschäftsreise«, betonte Frau Baumhagen pikiert, »nach Manchester.«

»Was hat das mit Trudchens Angelegenheit zu tun?« fragte Onkel Heinrich; »genug, Artur war nicht da, und der Gentleman stieg eine Treppe höher und sprach mit deiner Mutter, mein Kind. Nicht der Rede ist's wert. Wäre ich nur früher hier 161 gewesen! Es ist zwar fatal, daß du es erfährst, aber glaube mir, Kind, sie erkundigen sich alle heutzutage.« Der kleine, gutmütige Herr klopfte ihr freundlich auf die Schulter.

Frau Baumhagen aber fuhr wie eine gereizte Löwin empor. »Rede nicht so wunderlich! Was ist da noch zu beschönigen? Eine ganz gemeine Heiratsvermittlung ist es gewesen. Ich hoffe, daß Gertrud so viel Ehrgefühl besitzt, Herrn Linden zu sagen, daß –«

»Vorläufig kein Wort!« Die junge Frau trat förmlich drohend in die Mitte des Zimmers.

»Aber ich bitte dich! Es wird der skandalöseste Prozeß, den die Welt kennt«, schluchzte die erregte Dame, »er will ja Linden verklagen – du und er, ihr werdet beide vor Gericht müssen!«

Trudchen erwiderte keine Silbe. »Habe die Güte, mir einen Wagen besorgen zu lassen, Onkel«, bat sie.

»Nein, du darfst nicht fort, so nicht! Du siehst erbarmungswert aus!« schlugen die Angstrufe von Mutter und Schwester an ihr Ohr.

»Laß doch mit dir reden, Trudchen«, klagte Frau Jenny, »wir beschwichtigen den Wolff – Onkel kann ja fragen, wie hoch die Forderung ist für seine Vermittlung, und –«

»Und du kommst wieder zu uns«, schluchzte die Mutter. »Trudchen, Trudchen, mein armes, unglückliches Kind, habe ich es nicht geahnt?«

»Da hört alles auf!« murmelte ingrimmig der 162 alte Herr, »diese Weiberweisheit hole der Teufel! Laß dir nicht dreinschwatzen, Kind«, rief er kräftig dazwischen, »mach's mit deinem Mann allein aus.«

»Einen Wagen, Onkel!« wiederholte die junge Frau ihre Bitte.

»Warte doch wenigstens«, flehte Frau Jenny, »bis Mamas Anwalt –«

»Das fehlt auch noch!« brummte Onkel Heinrich, »wäre nur Artur hier gewesen, so konnte diese verfl . . . . Geschichte nicht gleich in die Hände der Frauenzimmer kommen. Ich hole dir einen Wagen, Trudchen. Eure Gäule sind wohl auf der Fabrik, Jenny? Auch gut. Verzeihe, nur einen Moment.«

Trudchen war wie betäubt an das Fenster getreten, noch hatte sie kein klares Verständnis der Sache. »Die ganze Stadt spricht davon!« hörte sie die Mutter schluchzen. Wovon denn? Sie versuchte mit Gewalt ihre Gedanken zusammenzufassen; aber es ging nicht. Nur das eine: es ist nicht wahr! stand deutlich vor ihrer Seele.

Sie ballte die kleine Faust im Lederhandschuh. »Lüge! Lüge!« kam es über ihre Lippen. Aber wie ein schwerer Nebel hatte sich die Lüge über ihr junges Glück gelegt, so beängstigend, daß ihr das Atmen schwer wurde.

»Soll ich mit dir fahren?« fragte Jenny hinter ihr. Eben kam der Wagen über den Marktplatz.

»Ich danke! Zwischen meinem Mann und mir brauche ich keinen Dritten!« Kalt und schroff klang es.

163 »Du siehst so jammervoll aus«, stöhnte die Mutter.

»Um so besser, daß ich bald heimkomme.«

»Schicke doch wenigstens gleich einen Boten!«

»Vielleicht glaubt ihr auch, daß er mich schlägt?« fragte sie schneidend und sich zum Gehen wendend.

»Kind! Kind!« rief Frau Baumhagen und streckte die Arme nach ihr aus, »nimm Vernunft an. Sei doch nicht so verblendet, wo Tatsachen sprechen!«

Aber sie wandte sich nicht zurück. Ruhig nahm sie draußen ihren Mantel vom Garderobenständer. Sophie blickte angstvoll in das blasse, stille Gesicht der jungen Frau, die ganz vergaß, der alten Dienerin ein freundliches Wort zu sagen. Am Wagenschlag stand Onkel Heinrich.

»Ich will dich begleiten, Trudchen«, bat er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Es ist nur purer Egoismus, Trudchen«, fuhr er fort. »Wenn ich nicht weiß, wie es da wird bei euch, bin ich ein kranker Mann.«

»Nein, Onkel. Wir zwei brauchen niemand, wir sprechen besser unter vier Augen.«

»Brich nicht gleich den Stab, Kind«, sagte er weich.

»Das habe ich nicht nötig, Onkel Heinrich!«

Er nahm den Hut ab über dem kahlen Scheitel. Es lag etwas wie Ehrfurcht in seinen Augen. »Leb wohl, Trudchen, kleines Trudchen. Wenn's nach mir gegangen wäre, du hättest keine Silbe erfahren.«

Sie nickte ihm ernsthaft zu. »Es ist gut so, Onkel!« Dann fuhr sie den Weg zurück, den sie gekommen.

164 Der Regen schlug an die klappernden Scheiben und trommelte auf das Lederdach des Wagens, und die Fahrt ging so langsam. Das junge Weib starrte hinaus in die dunstige Landschaft und sah, wie sich die Kirschbäume zur Seite der Chaussee im Winde hin- und herbogen. Verweht war die Blütenpracht, die weißen Blumenblättchen schwammen auf den Pfützen der Landstraße. Sie fuhr sich plötzlich mit der Hand über die Augen, aber der Nebel blieb. »Nur einen Sonnenstrahl!« dachte sie, das Wetter drückte sie vollends zu Boden; Sturm und Regen hatten sie immer verstimmt.

Lächerlich! Wie kann man sich so beeinflussen lassen durch törichte Reden! Mama, die stets alles schwarz sah – und wenn sie auch stets die Wahrheit sprach –, diese Geschichte hatte man ihr aufgebunden. Armer Franz. Nun wird es Ärger geben – den ersten Verdruß! Sie wollte es ihm scherzweise mitteilen, die Sache war einer ernsthaften Erwägung ja gar nicht wert. Nach Tische, wenn sie allein im Zimmer waren, dann wollte sie sagen: »Franz, ich muß dir noch etwas erzählen, zum Totlachen, Franz! Denke dir, du hast dir einen bittern Feind geschaffen, und seine Rache ist so komisch, er behauptet« – sie lächelte jetzt wirklich – »Ja, so würde es gehen.«

Da kam sie eben an dem Wartturm vorüber. Woran dachte sie doch gleich, als sie vor ein paar Stunden hier fuhr? Ach ja – eine Purpurröte 165 überflog ihr Gesicht – »an die Wiege auf dem Boden«. Sie sah das alte Gerät so deutlich vor sich, zwei rote Rosen waren am Kopfende gemalt, in der Mitte ein goldener Stern und darunter stand: »Wohl dem, der Freude erlebt an seinen Kindern.«

Sie griff in die Tasche und holte das Notizbuch hervor. Der Wagen kroch so langsam den Berg hinan. Sie kannte die Worte noch nicht ganz, sie mußte es noch einmal lesen:

Als ich vor Tau und Tag zu Felde ging –
Du schliefst noch fest mit purpurroten Wangen,
Da wandt' ich auf dem Wege mich zurück
Und sah mein Haus und rings des Lenzes Prangen;

Vom Giebel flog ein Schwalbenpaar hernieder
Zum Nestlein, das es neulich erst gebauet,
Am Fenster schwankten grün die Lindenzweige,
Da hab' ich dich mit Seherblick geschauet.

Vor einer Wiege lagst du auf den Knien
Und sangst ein Schlummerlied im trauten Stübchen,
Vom Vater, der zur Jagd zum Wald hinaus
Und Schönes heimbringt seinem braven Bübchen.

Sie ließ das Blatt sinken. Sie wußte ja, welches Lied er meinte, das alte Wiegenlied, das sie einst dem Patenkindchen gesungen, als er draußen vor dem Fenster gelauscht hatte. Er hatte es ihr erzählt, und daß er in jenem Augenblick völlig bezaubert gewesen war:

Nun kommt Väterchen bald
Heim aus dem grünen Wald!

166 Sie drückte das Buch an die Lippen. Ach, Menschenneid und Kleinlichkeit, wie lagen sie so tief unter ihr, wie wesenlos erschienen sie vor dieses Glückes Erwartung!

Da wehte ein Blatt hernieder, bläuliches Schreibpapier. Sie hob es auf, das Stückchen eines Briefes, auf der freien Rückseite Notizen von Franzens Hand: »½ Zentner Grassamen, Tiergartenmischung«, die Adresse einer Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen. Sie wendete das Blatt, sah flüchtig darauf, dann starr. Aus dem Gesicht war plötzlich jede Spur von Farbe gewichen. Sie hob die Augen mit dem erschreckten Ausdruck und senkte sie wieder, ja, da stand es!

»– Außer obengenannten Kapitalien besitzt Fräulein Gertrud Baumhagen noch eine Villa bei Bergedorf. Massives Gebäude, herrschaftlich eingerichtet, mit Stallungen, Gärtnerwohnung und einem zehn Morgen großen, von massiver Mauer eingefriedigten Gartengrundstück, zum Teil in Wald bestehend. Im Grundbuche auf den Namen der Dame eingetragen, zum Werte 24 000 Taler.

Zu jeder näheren Auskunft gern erbötig

Hochachtungsvoll

Ihr sehr ergebener

Isidor Wolff, Agent.«

D. 21. 12. 1882.

Trudchen wollte es noch einmal lesen, aber ihre Hand zitterte so heftig, und flimmernd tanzten die 167 Buchstaben vor ihren Augen. Sie hatte es ja auch gesehen, klar und deutlich, es wurde nicht anders, und wenn sie den Zettel noch so oft las. Mit erbarmungsloser Gewalt drang die Überzeugung auf sie ein: es ist Wahrheit, schreckliche Wahrheit! Und Lüge war jedes Wort von ihm!

Wie eine Ware hatte sie sich verschachern lassen. Sie, sie war nun doch in ein solches Netz gegangen! Sie hatte das für Liebe gehalten, was nur die gewöhnlichste Berechnung gewesen war!

Ach, die Demütigung war ja nichts gegen das furchtbare Gefühl, das so unheimlich kalt in ihrem Herzen aufstieg, die Pein gekränkten Stolzes und mit ihr der Trotz, der alte herbe Trotz. Sie hatte ihn nicht mehr gekannt, sie war gut gewesen, das Glück macht so gut. Und nun? Und jetzt?

Der Wagen rollte schnell den Berg hinunter dem Hause zu, und nun hielt er. In halber Betäubung stieg sie aus und stand im Regen auf der Verandatreppe. Es war ihr, als sei sie zum ersten Male hier. Die kleinen Fenster, die alten grauen Mauern mit dem spitzen Dach – wie häßlich, wie fremd! Die Blütenpracht des Gartens verregnet; verflogen der Zauber, den Liebe gibt; kahle, nüchterne, traurige Wirklichkeit! Und auf des Hauses Schwelle hockte der Dämon des Eigennutzes, der Berechnung.

Sie schritt durch den Gartensaal, die Treppe hinan und nach ihrem Zimmer. Auf dem Korridor kam Johanne ihr entgegen.

168 »Der Herr sind gleich nach dem Frühstück mit dem Wagen fort«, berichtete sie; »der Herr haben einen Zettel auf den Nähtisch der gnädigen Frau gelegt.

»Ich habe Kopfschmerzen, Johanne, stör mich nicht weiter«, sagte sie tonlos. In ihrem Zimmer angekommen, riegelte sie zuerst die Tür hinter sich zu, dann die zu seinem Zimmer. Und nun las sie den Zettel:

»Das Barometer ist gestiegen, der Amtsrichter will partout auf den Brocken. Ich begleite ihn bis Il., habe dort zu tun und hoffe nicht allzuspät zurück zu sein.

Dein Franz.«

Und unten ein Postskript des Gastes:

»Zürnen Sie nicht, gnädige Frau, ich gehöre zu denen, die einen Berg nicht sehen können, ohne das dringende Bedürfnis zu fühlen, hinaufzukraxeln. Ich nehme den Brocken zuerst, um bei wiederkehrendem schönen Wetter mit Ruhe seinen Anblick von meinem Fenster aus ertragen zu können. Den Franz schicke ich Ihnen wohlbehalten wieder heim.«

Gott sei Dank, er kam nicht so bald! – Aber was nun? Sie saß regungslos an ihrem Nähtischchen und starrte in den Garten hinaus, ohne dort etwas zu sehen. Stunde um Stunde verrann. Ein paarmal fuhr sie mit der Hand über die Augen – sie blieben trocken und brennend, und um den Mund lag ein starker Zug von Verachtung.

169 Gegen Abend klinkte es an der Tür. Sie wandte den Kopf nicht herum.

»Gnädige Frau!« rief die Dienerin. Keine Antwort, und die Schritte draußen entfernten sich.

Trudchen Linden stand jetzt auf und ging zum Schreibtisch. Ruhig öffnete sie die hübsche Ledermappe, rückte einen Stuhl heran, ergriff die Feder und setzte sich zum Schreiben. Sie hatte lange genug überlegt, ohne zu stocken kamen die Worte aus ihrer Feder:

»Ich will Onkel Heinrich bitten, daß er Dir alles in schonender Weise mitteilt. Ich selbst könnte nicht ruhig darüber sprechen – es ist die schmerzlichste Enttäuschung meines Lebens. Ich bitte Dich vorläufig nur, meiner Erklärung, daß ich auf einige Zeit aus Gesundheitsrücksichten irgendwo zurückgezogen leben müsse, beizustimmen. Es wird nicht lange Zeit brauchen zu einer Entscheidung. Gertrud.«

Sie siegelte das Schreiben und trug es in das Zimmer ihres Mannes, auf den Schreibtisch. Das Päckchen Gedichte legte sie daneben, ebenso das Notizbuch. Was sollte sie damit? Das Dichten galt nicht ihr – es war eine leidige Angewohnheit von ihm, das hatte erst gestern der Amtsrichter verraten. Es war hier als passendes Mittel angewendet, um die Täuschung vollkommen zu machen. Einer, der zarte Verse schreibt und dabei heimlich den Agenten um die Mitgift befragt – eine tolle 170 Zusammenstellung, komisch-tragisch, ein Lustspielmotiv, und sie die lächerliche Heldin! Das Fragment des schrecklichen Briefes behielt sie zurück. Dann schrieb sie ein Billett an ihre Mutter, eins an Onkel Heinrich, nahm die Uhr aus dem Täschchen und griff zum Kursbuch.

Wohin? Der Berliner Schnellzug, der alle Verbindung in die weite Welt hinaus vermittelte, war nicht mehr zu erreichen. Also warten, bis morgen –. Und dann? Irgendwohin – allein sein, nur allein! Nur nicht mit Mama und Jenny zusammen, nur weit fort von hier!

Sie sprang plötzlich auf mit erschrecktem Gesicht, sie hatte eine Stimme gehört, seine Stimme. »Ist meine Frau zurück?« Dann ein lustiges Pfeifen, ein paar Takte aus dem Boccaccio-Marsch – und eilige Schritte vom Korridor herauf. Nun drückte seine Hand auf die Klinke –. Verschlossen!

»Trudchen!« rief er.

Sie stand mitten im Zimmer, die Lippen zusammengepreßt, starr die Augen. Aber sie rührte sich nicht.

Er nahm nicht an, daß sie drinnen war; ruhig ging er in sein Zimmer. Sie hörte, wie er die Tür der Schlafstube öffnete.

»Trudchen?« klang es fragend.

Nun wieder in seinem Zimmer. Er sprach mit dem Hunde, pfiff wieder ein paar Takte, schritt hin und her und nun blieb er stehen – jetzt riß ein Papier – jetzt las er.

171 »Gertrud! Gertrud, ich weiß, du bist in dem Zimmer! Öffne!« Es klang ruhig und freundlich, aber sie verharrte wie zu Stein geworden auf ihrem Platze.

»Ich bitte, öffne!« scholl es jetzt befehlend.

»Nein!« antwortete sie laut und richtete sich empor.

»Du bist in einem grenzenlosen Irrtum! Man hat dir irgend etwas vorgeredet – laß mich doch mit dir sprechen, Kind!«

Sie kam einen Schritt näher. »Ich kann nicht!« sagte sie.

»Ich bitte dringend darum. Man hört doch auch einen Verbrecher, ehe man ihn verurteilt!«

»Nein!« erklärte sie, schritt zum Fenster und blieb dort stehen.

»Zum Henker mit diesem verfl . . . Unsinn!« klang es jetzt in den Ohren. Dann ein Krach, ein Splittern – die Tür war gesprengt und Franz Linden stand auf der Schwelle.

»Ich bitte um Aufklärung«, sagte er gereizt, und die Zornader auf der weißen Stirn, die seltsam abstach von dem gebräunten Antlitz, war ihm mächtig geschwollen.

Sie hatte sich nicht umgewandt. »Onkel Heinrich wird dir das Nähere sagen«, erwiderte sie kühl.

Er schritt zu ihr hinüber und legte die Hand auf ihre Schultern. Aber da trat sie zurück, und die blauen, sonst so milden Frauenaugen sahen ihn 172 an, so kalt und fremd und so glanzlos matt, daß er tief erschreckt innehielt.

»Ich hätte dich getäuscht? Dich, Trudchen?« fragte er. »Was habe ich dir getan? Worin besteht mein Unrecht?«

»In nichts –«

»Das ist keine Antwort, Gertrud.«

»Oh, es handelt sich ja um eine Kleinigkeit nur– ich kann nicht mit dir darüber sprechen.«

»Gut, so will ich noch heute zu Onkel Heinrich.«

Sie antwortete nicht.

»Und fort willst du? Mich allein lassen?« fragte er wieder.

Sie zögerte einen Moment. »Ja, ja!« sagte sie dann hastig, »fort!«

»Wozu die Komödie, Trudchen?«

»Komödie?« Sie lachte kurz auf.

»Trudchen, du tust mir weh.«

»Nicht mehr, wie du mir getan hast.«

»Aber, zum Donnerwetter, ich frage dich – womit?« rief er außer sich.

Sie war noch einen Schritt zurückgewichen und sah ihn groß an. »Bitte, laß anspannen, fahre zu meinem Onkel«, klang es kühl.

»Ja, bei Gott, du hast recht«, rief er außer sich, »du bist mehr wie trotzig!«

»Ich habe es dir gleich gesagt, es ist mein Charakter.«

»Trudchen«, begann er, »ich bin ein heftiger 173 Mensch, mich bringt nichts mehr in Zorn, als ein passiver Widerstand. Es ist doch unsere verd . . . . Pflicht und Schuldigkeit, uns mit Vertrauen entgegenzukommen – sage mir, was dich drückt. Es kann aufgeklärt werden. Ich bin mir keines Unrechtes bewußt gegen dich.«

»Das ist eben Ansichtssache«, sagte sie.

»Nun, so ist es gut! Ich erkläre dir, daß ich absolut nicht neugierig bin, und gebe dir Zeit, dich zu besinnen.« Er wandte sich um, um zu gehen.

»Das ist freilich das bequemste in dieser Sache«, klang es bitter hinter ihm.

Er zögerte, aber er ging wirklich, schloß die zerbrochene Türe hinter sich zu, so gut er es konnte, und begann in seinem Zimmer auf und ab zu wandern.

Sie preßte die Stirn an die Scheiben und sah über den Garten hinweg. Es hatte aufgehört zu regnen, im Westen lichteten sich die Wolken und ließen den Glanz der untergehenden Sonne ahnen. Nun brachen die schimmernden Dunstmassen, und im nämlichen Augenblicke stand die Landschaft im funkelnden Sonnenglanz, wie ein holdes, unter Tränen lächelndes Weib.

Wenn sie doch weinen könnte! Die Frauen, denen Gott die Fähigkeit gegeben zu weinen, sind bevorzugt. Weinen macht das Herz leicht, den Sinn milder – aber nein, für sie gab es keine Tränen.

174 Noch in der allerletzten Dämmerung fuhren die Eisenschimmel vor und Frau Jenny stieg aus dem Wagen. Sie lief, flink wie ein Wiesel, die Stufen zur Veranda hinan und stand im Gartensaal plötzlich vor Franz Linden, der dort allein am gedeckten Tisch saß; Trudchens Kuvert war unberührt.

»Jenny, so spät noch?« fragte er.

»Ich möchte Trudchen sprechen.«

»Sie finden meine – Frau in ihrem Zimmer.«

Jenny warf aus ihren lustigen Augen einen raschen Blick auf ihn. Ob der Krach schon erfolgt war? Sie waren zu Hause vor Angst beinahe umgekommen.

»Ist Trudchen nicht wohl?« erkundigte sie sich scheinbar harmlos.

Er zögerte einen Augenblick mit der Antwort. »Sie scheint in der Tat etwas angegriffen und erregt zu sein, ich glaube, daß sie im Laufe des Tages irgendeine Unannehmlichkeit hatte«, erwiderte er.

»Ach so!« nickte die junge Frau. »Nun, ich werde selbst nachsehen.«

Sie ging über den Flur. Noch war die Lampe nicht angezündet, und in der Dunkelheit stieß sie an etwas und wäre fast gestürzt. Auf ihren leisen Schrei eilte Johanne mit Licht herzu.

»Ach, verzeihen Sie, gnädige Frau, es ist der Reisekorb der jungen Dame, die vor einer Viertelstunde ankam. Dora hat vergessen, ihn in Frau Rosas Wohnung zu tragen.«

175 Jenny warf einen ärgerlichen Blick auf das bescheidene Gepäckstückchen, stieg die Treppe hinauf und klopfte an die Zimmertür der Schwester. »Ich bin es, Trudchen«, rief sie mit ihrer hellen, klingenden Stimme. Sie hörte leichte Schritte und leise, leise ward der Riegel zurückgeschoben und die Tür geöffnet.

»Du, Jenny?« fragte Trudchen; genau so, wie vorhin Franz gesprochen: »Du, Jenny?«

Es war fast dunkel im Zimmer, Jenny konnte die Züge der Schwester nicht erkennen.

»Warum sitzt du so im Dunkeln, Trudchen? Ich bitte dich, sage rasch, wie ist es geworden? Mama und ich vergehen vor Angst!«

»Es ist gut so«, erwiderte die junge Frau. »Ängstigt euch nicht.«

»Gut?« fragte Jenny verwundert. »Das glaube wer will! Er allein bei Tische. Du hier oben hinter verschlossenen Türen – gestehe es doch, Kind, ihr habt euch nicht verständigt.«

»Bitte, nimm Platz, Jenny«, sagte die junge Frau müde.

Frau Jenny setzte sich auf die Chaiselongue, Trudchen wieder an das Fenster. Es war totenstill im Zimmer und im ganzen Hause.

»Es wäre gescheiter gewesen, wenn du gar nicht geheiratet hättest, Trudchen«, begann die Schwester mit einem Seufzer. »Aber was hilft's – du bist angeschmiedet, ja, ja! Man müßte sich alles 176 gefallen lassen, dürfte nie eine eigene Meinung haben! Ich bin auch noch ganz krank von dem Ärger gestern abend, ich lief schließlich zu Mama hinauf. Sie erschrak furchtbar, als ich in Nachtkleidern vor ihrem Bette stand. Ich habe dann die ganze Nacht geweint. Heute früh wartete ich; ich dachte, er würde mich herunterholen, sonst war er immer so reuig – aber er blieb aus, und wie ich mit Mama frühstückte, brachte mir Sophie eine Karte von ihm, auf welcher er mir kühl mitteilte, daß er nach Manchester gegangen sei auf vierzehn Tage. Na – glückliche Reise!«

Trudchen antwortete nicht.

»So nimm dir's doch nicht so schrecklich zu Herzen, Kind«, fuhr die junge Frau fort. »Liebe Zeit, wenn's weiter nichts ist! Alle Frauen müssen ein Auge zudrücken und manchmal über ganz andere Dinge.«

»Müssen?« fragte Trudchen leise.

»Ja, was denn sonst?« rief Jenny verwundert. »Denkst du, man kann sein Bündel unter den Arm nehmen und davongehen? Bah! Da wäre keine Frau mehr bei ihrem Teuren. Nein, nein – man söhnt sich hübsch wieder aus und nimmt Gelegenheit, es dem Herrn der Welt mit Zinsen heimzuzahlen. Das Versöhnen macht mir auch immer großen Spaß. Paß nur auf, Kleine, wie lieb Artur sein wird, wenn er zurückkommt, er ist auf vier Wochen wieder der goldigste, beste Mann von der Welt.«

177 »Mir wäre so etwas unmöglich!« klang plötzlich Trudchens Stimme klar und fest. »Heute zum Tode erbittert – morgen zum Aufessen zärtlich, es ist einfach unwürdig

Frau Jenny schwieg. »Ja, mein Himmel«, sagte sie dann gähnend, »einer ist nicht besser als der andere! Wenn ich mich von Artur trennen wollte, wer weiß, was ich dafür eintauschte? Heiraten würde ich am Ende ja doch wieder, was soll man sonst anfangen in der Welt? Apropos! Mama hat mit dem Rechtsanwalt gesprochen – er rät dringend, die ganze Geschichte in diskretester Weise beizulegen. Mama ist zwar anderer Meinung, aber Doktor Schneider erklärte – siehst du, man kann gar nicht fort, wenn man auch will –, das wäre kein Scheidungsgrund, und ich sagte auch schon zu Mama: ›Gertrud‹, sagte ich, ›und von ihm gehen? Undenkbar! Sie ist ja bis zum Wahnsinn in diesen Mann vernarrt. Er könnte, glaube ich, gemordet haben, so würde sie noch einen Entschuldigungsgrund finden für ihn.‹ Habe ich recht?«

Trudchen litt tausend Qualen. Sie rang stumm die Hände ineinander, und ihre Augen sahen starr zu dem dunklen Himmel empor, an dem in grünlich blinkendem Lichte der Abendstern funkelte. Frau Jenny gähnte wieder.

»Ja, denke dir nur«, fuhr sie fort, »du weißt noch gar nicht, was wir eigentlich hatten miteinander, Artur und ich. Er machte mir Vorwürfe, ich 178 verbrauche zu viel für meine Toilette. Natürlich eine Ableitung seines Zornes von etwas anderem – es waren Geschäftsbriefe da, vermutlich mit unangenehmen Nachrichten. Ich erwiderte, das gehe ihn nichts an, ich bekümmere mich auch nicht um seine Ausgaben. Da wurde er unangenehm und warf mir vor, ich hätte in Nizza die Toiletten der eleganten Französinnen kopieren wollen. Es ist aber nicht wahr, ich hatte mir nur zwei Roben gekauft. Gott ja, sie waren etwas teurer, als wenn sie mein Schneider in Berlin macht. Natürlich sagte ich wieder: ›Das geht dich gar nichts an, denn ich bezahle sie!‹ Darauf sprach er sehr moralisch von ehrbaren Frauen und deutschen Frauen, die des Hauses Wohlstand mehren helfen. Es wären schon andere Vermögen verschwendet worden wie das unsere; und wenn man der Sache auf den Grund gehe, trage allemal ›Madame‹ die Schuld. Er tadelte Mama, die sich geradezu lächerlich mache mit ihren jugendlichen Kostümen, und zuletzt erklärte er, wir hätten Pflichten für unsere künftigen Kinder. Der Himmel soll mich behüten! Mein armes, süßes Walterchen habe ich hergeben müssen, ich will kein anderes. Der Schmerz, ihn zu verlieren, war zu groß, ich würde vor ewiger Angst sterben. Kurz und gut, er spielte den richtigen kleinstädtischen Philister und zuletzt noch gar den Otello, indem er behauptete, Rittmeister von Brelow grüßte mich immer so unverschämt vertraulich. Mir riß die 179 Geduld. Ich schlug ihm vor, wir könnten uns ja trennen. Verstehe mich recht, ich sagte es nur so, denn in Wahrheit – er ist ziemlich folgsam, wenn man ihm die Zügel kurz hält. Und wie schon erwähnt, man kommt auch nicht los um ein Nichts. ›Ich gehe sofort!‹ rief ich endlich weinend und lief zu Mama!«

»Höre auf, ich bitte dich«, sagte Trudchen, hastig aufstehend. Sie klingelte nach Licht, und als Johanne die Lampe brachte, beleuchtete sie ein fieberrotes Gesicht und Augen, wie verschwollen von heißen Tränen; und Trudchen hatte doch nicht geweint.

»Wie du aussiehst, Kind«, bemerkte Jenny. »Ja, was soll denn nun werden? Ich muß Mama Bescheid bringen, lediglich deshalb kam ich.«

Sie warf einen Blick auf die zierliche Uhr über dem Schreibtisch. »In fünf Minuten neun Uhr – ich muß heim. Bitte, sage, wie gedenkt ihr die Sache zu arrangieren?«

»Ihr werdet Nachricht erhalten – morgen – übermorgen –, ich weiß es noch nicht«, stammelte die junge Frau, die Hand an die schmerzende Stirn gepreßt.

»Mache nur keine Geschichten, Trudchen.« Jenny nahm den grauen, mit roter Seide gefütterten Mantel um. »Wenn die Sache so geordnet wird, wie Doktor Schneider sagt, so ist ihr ja die Spitze abgebrochen. Wie benimmt sich denn übrigens 180 Franz? Hat er es zugegeben? Na ja, was kann er auch weiter machen! Also bitte spätestens morgen Bescheid. Übrigens, Kind, da ist mir noch nachträglich eingefallen – an dem Tage, da Linden Besuch bei uns machte, begleitete ihn dieser Mensch, dieser Wolff, über den Markt nach unserem Hause. Ich saß im Erker und wunderte mich noch, wie vertraulich Wolff ihm die Schulter klopfte.«

Trudchen stand regungslos. Ach, sie hatte dasselbe gesehen. Sie besann sich so deutlich in diesem Augenblicke. »Ja, ja!« stammelte sie.

»Er soll sehr viel dergleichen Geschäfte machen, erzählte der Rechtsanwalt. Aber nun gute Nacht, mein Herzchen. Willst du Bescheid senden oder soll jemand von uns morgen kommen?«

»Ich gebe Bescheid«, antwortete Trudchen. Sie hatte die Schwester nicht hinausbegleitet, sie stand noch immer dort, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Arme schlaff herniederhängend. Das Gespräch mit Jenny hatte einen Abgrund vor ihren Augen eröffnet, sie wußte auf einmal nicht mehr, was beginnen. Nur das eine war ihr klar, bei ihm bleiben konnte sie nicht. Ein gleichgültiges Nebeneinander würde sie nie ertragen und – ein herzliches Zusammenleben würde nie wieder möglich sein. »Niemals«, sagte sie laut und fest, »niemals!«

Sie hörte jetzt nebenan seine Schritte. Dann gingen diese Schritte wieder hinaus, und nach einer Weile hörte sie sie auf dem Kies des Gartens, dann 181 entfernten sie sich. Sie war so müde, und ihr war so heiß und sie konnte sich gar nicht besinnen, daß es jemals anders gewesen war, daß es eine Zeit gegeben hatte – gestern noch –, da sie glücklich war. Sie kam sich so verachtet vor.

Sie hielt das unselige Brieffragment in der Hand, es brannte wie glühende Kohle. Sie kannte ein ältliches Mädchen, die Tochter einer armen Beamtenfamilie, verbittert und mürrisch. Dreizehn Jahre war sie mit einem mittellosen Referendar verlobt gewesen, und schließlich sahen sie doch ein, daß sie mit nichts keinen Hausstand gründen konnten. Sie blieb einsam, von allen bedauert, die ihr trauriges Geschick kannten.

Ach, wenn sie hätte mit jener tauschen können, die doch geliebt worden um ihrer selbst willen! Und wenn sie das auch überwand, daß er sie nicht aus Liebe gewählt hatte – die Lüge, die Heuchelei –, nie, nie. Das Vertrauen war dahin!

Ohne recht zu wissen, was sie tat, war sie in den Korridor getreten und empfand die kühlere Luft wie eine Wohltat. Rasch ging sie die Treppe hinab und in den Garten. Aus der Küche schallte Lachen und Flüstern, der Gärtner trieb dort Unsinn mit den Mädchen. Das Auge der Herrin fehlte.

Im Gartensaal brannte kein Licht, nur hinter Tante Rosas Fenstern war es heute ungewöhnlich hell, und ein Schatten glitt jugendlich lebhaft über die weißen Vorhänge. Das mußte die junge Nichte sein.

182 Trudchen schritt weiter über die Kieswege des Gartens, die Nachtigallen schlugen und aus der Verwalterstube scholl Gesang. Eine tiefe sympathische Männerstimme und eine traurige Melodie.

Tiefer und tiefer ging sie in den duftenden Garten. Dann schrie sie auf: »Franz!« Sie stand plötzlich vor ihm an der Biegung eines Weges.

»Gertrud!« erwiderte er und wollte ihre Hand fassen.

»Laß!« wehrte sie. »Ich suche dich nicht, aber da wir uns getroffen haben, will ich dich um etwas bitten.« Sie griff, nach Halt suchend, mit der schmalen Hand in das Geranke eines Fliederstrauches.

»Gern, Trudchen«, sagte er weich; »verzeihe mir nur meine Heftigkeit, der Zorn packte mich hinterrücks. Ich verspreche dir, es soll nicht wieder geschehen.«

Er schwieg und wartete auf den Ausspruch ihrer Bitte. Eine Weile blieb es stumm zwischen ihnen, dann sprach sie langsam, fast unverständlich in ihrer furchtbaren Aufregung: »Gib mir meine Freiheit wieder – es ist doch nicht mehr möglich so –«

»Ich habe dich nicht verstanden«, sagte er kühl, »wie meinst du?«

»Ich lasse dir alles, alles – nur gib mich frei. Wir können nicht mehr zusammen bleiben, begreifst du das nicht?« rief sie außer sich.

183 »Sprich leise!« herrschte er sie an, und trat zornig mit dem Fuße auf.

»Sage ja!« bat die junge Frau mit einer von Herzklopfen fast erstickten Stimme.

»Ich sage nein!« klang es zurück. »Bitte, nimm meinen Arm und komm.«

»Ich will nicht! Ich will nicht!« rief sie und riß ihre Hand los, die er ergriffen hatte, um sie in seinen Arm zu legen.

»Du bist in höchster Aufregung heute abend, du kommst jetzt mit mir in das Haus, bitte. Morgen werden wir weitersprechen, und du kannst mir dann am hellen Tage die Gründe sagen, die unser Zusammenbleiben unmöglich machen.«

»Gleich, wenn du willst, gleich!« stieß sie atemlos hervor, »weil uns nur zweierlei fehlt, zwei ganze Kleinigkeiten nur – das Vertrauen und die Achtung! Von Liebe will ich gar nicht mehr reden. Du bist nicht wahr gegen mich gewesen, Franz, du hast mich hintergangen und hast mein Vertrauen verloren. Laß mich, ich bitte dich um Gottes willen – laß mich!«

Und als er nicht antwortete, sprach sie weiter, und die Worte überstürzten sich fast: »Ich weiß ja, daß ich kein Recht vor dem Gesetz habe. Über eine Frau, die ihre Freiheit wieder verlangt und keine anderen Gründe anführt, als daß sie einmal belogen wurde, lächelt man höchstens. Ich komme deshalb als Bittende; sei so ehrenhaft, laß mich 184 ziehen – ich kann es nicht vertragen, neben dir zu leben im Mißtrauen und – und –«

»Komm, Trudchen«, sagte er jetzt weich, »du bist krank. Komm nur erst ins Haus und wiederhole mir das im Zimmer noch einmal. Komm.«

»Krank, ja! Ich wollt', ich könnte sterben«, flüsterte sie. Dann wurde sie plötzlich ruhig und ging neben ihm her in das Haus. Er öffnete sein Zimmer, sie trat auch hinein, aber sie schritt rasch hindurch in das ihrige und warf sich auf ihre Chaiselongue, zog die weiche Decke über sich und schloß die Augen. Franz stand ratlos vor ihr.

»Ich werde dir Tee machen lassen«, sagte freundlich der junge Gatte.

Sie sah unsagbar elend aus, wie sie so dalag und die langen Wimpern gleich schwarzen Schatten auf ihre bleichen Wangen fielen. Sie mußte furchtbar gelitten haben.

»Gehe zu Bett, Trudchen«, bat er ängstlich, »es wird dir besser werden, und morgen reden wir zusammen.«

»Ich bleibe hier«, erwiderte sie fest und wandte den Kopf nach der andern Seite.

Da riß ihm die Geduld. »Zum Henker mit deiner albernen Störrigkeit!« rief er zornig. »Meinst du, ein dummer Junge steht vor dir? Ich werde dir zeigen, wie man trotzige Kinder erzieht!«

Er wandte sich um, und die Tür hinter sich zuschmetternd, ging er hinaus.



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