Wilhelmine Heimburg
Trudchens Heirat
Wilhelmine Heimburg

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Trudchen Baumhagen war rasch über den stillen Kirchplatz geschritten, hatte in der gegenüberliegenden Mauer eine Pforte geöffnet und stand nun auf väterlichem Boden. Ziemlich eilig ging sie durch die mit Buchs eingefaßten Wege des im altfranzösischen Stile angelegten Gartens und über einen stillen geräumigen Hof in das Haus. Auf dem 26 großen gewölbten Flur traf sie ihren Schwager neben einem Fahrrad stehend. Er war sehr elegant und nach neuester Mode gekleidet, auf dem blauen Schlips funkelte ein köstlicher Brillant, ebenso an der feinen Hand. Er war blond, hatte eine rosige Gesichtsfarbe und einen kleinen Schnurrbart über der Oberlippe und mochte etwa dreißig Jahre zählen. Ein Diener war beschäftigt, den glänzenden Stahl des Vehikels mit einem Lederlappen abzureiben.

»Nun«, fragte das junge Mädchen freundlich, »willst du ausreiten, Artur?«

»Ausreißen, meinst du, Trudchen? Ja, ja, was soll man anfangen!« gab er verdrießlich zur Antwort. »Jenny hat ja heute ausnahmsweise wieder einmal einen Damentee arrangiert – da bin ich überflüssig. Ich fahre mit Karl Röben nach Bodenstedt – sehe jeder, wo er bleibe.«

»Ich will eben einmal hinauf zu euch«, nickte das Mädchen, »ich bin böse auf Jenny, ich will sie schelten.«

»Na, wenn du nur nicht den kürzeren ziehst, teuerste Schwägerin«, rief Artur Fredrich lachend. Sie schüttelte ernsthaft den Kopf und stieg die breite Treppe empor, deren dunkles geschnitztes Geländer gut harmonierte mit dem purpurroten Smyrnateppich, der die Stufen bedeckte, durch blitzende Messingstäbe festgehalten. Riesige Lorbeerbäume in Kübeln standen zu beiden Seiten der hohen Entreetür, die in den ersten Stock führte, 27 links davon setzte sich die Treppe zur oberen Etage fort. Trudchen Baumhagen drückte auf den Knopf der elektrischen Klingel. Gleich darauf öffnete ein Dienstmädchen in blendend weißer Schürze, und eine helle Stimme rief: »Jawohl! jawohl, ich bin zu Hause – du kommst wie gerufen, Trudchen!«

In dem großen Vorflur, der zu einer sogenannten altdeutschen Diele umgewandelt war, stand an einem Kredenztisch eine junge Frau, beschäftigt, allerhand Silbersachen aus dem geöffneten Schranke zu nehmen. Sie trug ein Hauskleid aus hellblauem feinem Wollstoff, verschwenderisch mit Spitzen garniert. Unendlich hübsch war sie, diese junge Frau, selbst jetzt, wo sie eine schmollende Miene annahm. Ähnlich aber sahen sich die Schwestern nicht eine Spur.

»Du bist ja noch gar nicht in Toilette, Jenny?« fragte das junge Mädchen, »da hätte ich freilich lange warten können in der Kirche. Es war recht peinlich, daß du nicht kamst.«

Die kleine Frau hielt inne und setzte den Kristallkorb, den zwei massiv silberne Schlangen umringten, bestürzt nieder. Dann schlug sie die Hände ineinander und begann herzhaft zu lachen.

»Siehst du! Siehst du!« rief sie, »den ganzen Tag bin ich im Hause umhergegangen, mit dem Bewußtsein, daß ich irgend etwas noch zu besorgen hätte, und ich konnte mich nicht besinnen. Nein, das ist zum Totlachen! – Karoline, Sie hätten mich 28 doch erinnern können!« wandte sie sich an das Mädchen, das eben eine kostbare Leinendecke über den massiven Eichentisch in der Mitte des Raumes ausbreitete.

»Frau Fredrich legten sich doch schlafen und sagten ausdrücklich, ich sollte vor vier Uhr nicht wecken«, rechtfertigte sich die Dienerin.

»Na ja!« gähnte die junge Frau, »ich war so müde, Monsieur war schlechter Laune und der Kleine so entsetzlich lebhaft. Es ist ja auch kein Unglück, das Ganze läuft auf eine Bettelei hinaus. Ich kann ihr ja morgen noch etwas hinschicken.«

»Aber Jenny! Hast du denn vergessen, daß Johanne erst auf mein Zureden gewagt hat, dich und mich zu Paten zu bitten? Ich dächte, es wäre Pflicht gewesen – der Mann ist in unserer Fabrik verunglückt.«

»Ach papperlapapp, Liebchen! Ich kann dieses ewige Gevatterbitten nicht leiden!« fiel Frau Jenny ein. »Wenn ich nicht schon drei Dutzend Patenkinder habe, will ich nicht hier stehen. Arme Leute werden nicht dazu verlangt, glaube mir. Komm, ich bin jetzt hier fertig, wir wollen ein wenig in die Kinderstube, oder« – sie warf einen Blick auf die altertümliche Wanduhr – »was noch besser ist, Mama hat sich Proben schicken lassen für Gesellschaftstoiletten. – Warte, ich komme mit hinauf, anderthalb Stunden haben wir noch Zeit, bis die Damen erscheinen.«

29 Sie drehte sich noch einmal anmutig im Kreise, wie um ihre Vorbereitungen zu mustern. Der Kredenztisch prangte in silbernen Gefäßen, im Kamin flackerte ein leichtes Feuer; die mächtigen Kronleuchter, sowie die Gueridons vor den hohen Spiegeln waren mit dunkelroten gewundenen Kerzen besteckt. Eben schlug Karoline die buntgewirkten schweren Vorhänge zurück und ein fast zu üppiger Raum wurde sichtbar, ein wahres Purpurzimmer. Selbst durch die buntbemalten Erkerfenster warf der Abendschein noch rote Reflexe auf dieses Gewirr von Sesseln und Sesselchen, Chaiselongues und Tischchen, während vor dem ernsten Grün kostbarer Blattpflanzen sich leuchtend weiße Figuren emporhoben.

»Es sieht gemütlich aus, Trudchen, wie?« sagte die junge Frau; »ich habe den Saal nicht öffnen lassen, weil wir ja nur ein paar Damen sind. Die Landrätin hat vorhin noch zugesagt. Kommst du ein Stündchen?«

»Ich danke!« versetzte das junge Mädchen, neben der Schwester zur mütterlichen Wohnung emporsteigend; »schicke mir den Kleinen ein wenig, ich spiele so gern mit ihm.«

»Gewiß, der Gentleman soll erscheinen«, nickte Frau Jenny, »vorausgesetzt, daß er nicht wie ein kleines Murmeltier schläft.«

»Geh hinein zur Mama«, bat Trudchen, »ich will mich nur umziehen, dann komme ich.«

Es waren die nämlichen Räume wie im unteren 30 Gestock, ebenfalls reich möbliert, aber nicht in der neuen stilvollen Weise, wenngleich nicht minder vornehm und behaglich. Die Schwestern trennten sich im Vorzimmer und Trudchen Baumhagen suchte ihre Stube auf. Sie bewohnte das Gemach mit dem Erker. Aber hier brach das Tageslicht nicht durch kostbare bunte Glasmalereien – es konnte ungehindert durch die Spiegelscheiben fluten, vor denen draußen im leisen Westwind unzählige Blumenkelche schwankten. Gerade gegenüber erhoben sich die Giebel des Rathauses. Wie luftige Spitzengewebe zeichneten sich die durchbrochenen Sandsteinverzierungen von dem rotglühenden Abendhimmel ab. Er war ein unendlich anmutiges Plätzchen, dieser Erker. Der Nähtisch befand sich hier und hinter ihm auf einer Staffelei das Bild des verstorbenen Herrn Baumhagen. Beim ersten Blick mußte man die Ähnlichkeit zwischen Vater und Tochter erkennen. Dasselbe lichtbraune Haar, die kräftige Stirn, die kurze schmale Nase, und dann die Augen. Sie war auch immer sein Liebling gewesen und sie sorgte, daß stets eine frische Blume in dem goldenen Blattwerk des Rahmens steckte. Und wenn sie bei der Arbeit saß, dann ruhten zuweilen die Hände und ihre Augen suchten das Bild. »Guter, guter Papa!« pflegte sie dann hinüberzuflüstern, als müsse er es verstehen.

Auch heute schritt sie rasch zum Erker hinüber und schaute lange das Bild an. »Das hättest du 31 auch getan«, sagte sie leise, »nicht wahr, Papa?« – Es lag plötzlich ein ernster Ausdruck in den zwei Mädchenaugen, etwas wie grenzenlose Sehnsucht. »Nein, alle sind sie nicht so wie Mama und Jenny, es gibt noch warme Menschenherzen, es gibt noch Herzen, die Mitleid haben mit fremder Not, denen das verhaßte – –« Sie stockte plötzlich, ihre schmalen Hände hatten sich geballt und nun funkelten die Augen in Tränen.

Sie begann im Zimmer auf und ab zu schreiten. Der weiche Teppich dämpfte den leisen Schritt zwar bis zur Unhörbarkeit, aber die schwere Seide rauschte hinter ihr drein, aufregend und beängstigend. Welche Demütigungen brachte ihr täglich und stündlich die Tatsache, daß sie ein reiches Mädchen war! Alles, alles sollte sie dem Umstande verdanken, daß sie Geld besaß. Jenny hatte ihr ja eben erst wieder erklärt, daß sie nur Pate geworden sei, weil – – Ach, das war egal, das wußte sie besser; Johanne war zu bescheiden. Aber das andere hatte sie noch nicht verwunden. – Da war vor einer Woche Manöver in der Umgegend gewesen, und ein Oberst mit dem Adjutanten hatte zwei Tage im Baumhagenschen Hause in Quartier gelegen. Sie erinnerte sich in der Tat nicht, daß sie mehr mit dem Adjutanten gesprochen als einige alltägliche Worte; und vierundzwanzig Stunden, nachdem die Truppen die Stadt verlassen hatten – gestern – lag ein Brief vor ihr, angefüllt mit den glühendsten 32 Liebesversicherungen und der Bitte um ihre Hand. Sie hatte das Schreiben genommen und war hinübergegangen zur Mutter, um ihr das Schriftstück zu übergeben mit den Worten: »Es will da einer mein Geld heiraten! Schreib du ihm Antwort, Mama, ich kann es nicht.«

Nun bangte ihr vor der Erörterung dieses Schreibens. Sie fürchtete nicht, daß die Mutter ihr zureden würde – nein, nein, sie war stets selbständig genug gewesen, um von vornherein ihr Empfinden nicht einem fremden Willen unterzuordnen. Aber man sprach doch darüber, und wie unendlich weit gingen die Wege auseinander zwischen Mutter und Kind!

Sie schrak zusammen! Die Tür war aufgegangen, und die Stimme der Schwester rief: »Aber so komm doch, Trudchen, ich kann mich gar nicht zu dem modernen Rot entschließen!«

Das Mädchen schritt hinüber und stand gleich darauf in dem Salon vor ihrer Mutter, einer kleinen Dame mit etwas zu rosigem Gesicht und einem unendlich eigensinnigen Zuge um den vollen Mund. Auf dem Sofa, unter der großen Schweizerlandschaft, dem Bilde eines berühmten Düsseldorfer Meisters – Frau Baumhagen pflegte mit Genugtuung zu erzählen, daß sie zweitausend Mark dafür bezahlt habe – saß sie und wühlte mit ihren fetten kleinen Händen, an denen es von Brillanten blitzte, in einer Menge Stoffproben.

33 »Oh, Gertrud«, rief sie, »das wäre für dich!« und sie hielt ihr ein blaues Zeugfleckchen hin. »Schade, daß ihr so ungleich seid, es ist sonst so hübsch, wenn zwei Schwestern gleich gekleidet sind.«

»Was sich für eine Frau paßt«, erklärte Frau Jenny, »schickt sich nicht für ein Mädchen. Trudchen soll machen, daß sie unter die Haube kommt, sie ist zwanzig Jahre.«

»Ach, da fällt mir ein«, die Mama suchte noch immer unter den Proben während des Sprechens, »da ist noch der Brief von deinem letzten Freier, ich muß ihm ja wohl antworten – was soll man denn da wieder schreiben? Sieh mal, Jenny, das ist niedlich, dieser braune Grund, mit den blauen Tupfen, nicht?« unterbrach sie sich, »es ist eigentlich recht lästig, solche Briefe beantworten zu müssen – warum tust du es nicht selbst?«

»Ich fürchte, daß mein Schreiben nicht objektiv genug ausfallen würde«, erwiderte das Mädchen ruhig.

»Interessierst du dich denn für ihn?« forschte die Schwester.

Das junge Mädchen überhörte die Frage. »Ich glaubte bitter zu werden, und es bedarf ja doch nur einer rein geschäftlichen Antwort, wie die Anfrage ja auch nur eine rein geschäftliche ist.«

»Du bist himmlisch!« lachte die junge Frau. »O wie schade, daß du nicht im Mittelalter 34 gelebt hast, wo der Ritter erst soundso viele Liebesproben bestehen mußte! – Närrchen, lerne doch nur die Welt begreifen! Denkst du, Artur hätte mich geheiratet, wenn ich kein Geld gehabt hätte? Ich versichere dir, er hätte nie daran gedacht! – Und glaubst du, daß ich ihn genommen, wenn ich nicht gewußt hätte, er wäre in guten Verhältnissen? – Gott behüte, nein! Und was willst du denn von uns. Wie sind relativ ganz glückliche Eheleute.«

Trudchen sah ihre Schwester überrascht und fragend aus den großen blauen Augen an. »Relativ glücklich!« wiederholte sie leise. »Mein Gott ja, er hat seine Schrullen – darüber kommt man hinweg«, erklärte die Schwester.

»Nur keine Meinungsverschiedenheiten heute, bitte«, sagte Frau Baumhagen und nahm den Kneifer von dem stumpfen Näschen; »ich werde übrigens schreiben, dafür bin ich deine Mutter.« Sie seufzte. »Aber in diesem Punkte möchte ich Jenny doch recht geben, Gertrud. Du siehst die Welt mit gar zu idealen Augen an. Wohin so etwas führt – wir haben es alle gesehen.« – Wieder ein Seufzer. »Ich will dir nicht zureden, ich habe auch Jenny nicht zugeredet, das wißt ihr ja beide. Ich, für meine Person, hätte nichts gegen diesen Herrn von – von – –« sie fand den Namen nicht gleich – »einzuwenden.«

Das junge Mädchen lächelte, aber die Augen blickten fast verächtlich. »Seine Adresse ist mit 35 vollster Deutlichkeit in dem Briefe angegeben«, sagte sie.

»Es eilt doch nicht gar so sehr?« fuhr die Mutter fort. »Ich habe heut abend meine Whistpartie: wenn ich nicht pünktlich komme, muß ich Strafe zahlen; überhaupt bin ich nicht zum Schreiben aufgelegt.« Sie gähnte leise. »Die Abende werden doch schon recht lang jetzt – weißt du auch, Jenny, daß eine Operettentruppe herkommt?«

Die junge Frau bejahte und fügte hinzu, sie müsse nun Toilette machen, »Gute Nacht!« rief sie fröhlich an der Stubentür, »wir sehen uns doch wohl heute nicht mehr!«

»Gute Nacht, Mama!« sagte auch Trudchen.

»Gehst du zu Jenny hinunter?« erkundigte sich Frau Baumhagen.

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Was fängst du denn an den ganzen Abend?«

»Ich weiß noch nicht, Mama. Ich habe allerhand zu tun, vielleicht lese ich auch.«

»So! Nun, gute Nacht, mein Kind!« Sie winkte mit der Hand und Trudchen ging. Sie vertauschte in ihrem Schlafzimmer das seidene Kleid, das sie noch immer trug, mit einem weichen, wollenen Hausrock, dann kam sie wieder in ihr hübsches Wohnzimmer. Schon war es dämmerig geworden und unten auf der Straße wurden die Laternen angezündet. Sie stand im Erker und sah, wie eine Flamme nach der andern aufsprühte und 36 wie die Fenster der Häuser sich erhellten. Selbst die Hökerfrau, die sich im Schutz des Rolands angesiedelt hatte, steckte ihr Laternchen an unter dem riesigen dachartigen Leinwandschirm. Trudchen kannte dies alles so genau. So war es gewesen da draußen, als sie noch ein kleines Mädchen war, und so war es jetzt – nur hier innen ward es anders, so ganz anders.

Wo waren die Abende, an denen sie neben dem Vater gesessen hatte, wo die traute Behaglichkeit? Mit in den schwarzen Sarg mußte sie sich geborgen haben, denn von jenem entsetzlichen Tage an, da man den Vater hinausgetragen hatte, blieb es leer und kalt im Hause und in des Mädchens Herz. Er war so krank gewesen, der Papa, so tiefsinnig. Es sei ein Glück, daß es so gekommen sei, sagten die Leute zu der Witwe, die im leidenschaftlichen Schmerz förmlich wütete, aber sie war doch gleich auf Reisen gegangen mit Jenny und den Winter hindurch in Nizza verblieben. Trudchen hatte nicht mitgewollt, durchaus nicht. Ihre Augen, die solch Elend geschaut hatten, hätten nicht hinaussehen mögen in Gottes lachende Welt, ihre erschütterten Nerven hätten nicht das bunte Treiben da draußen ertragen. Sie hatte hausgehalten mit einer alten Verwandten. Tante Luischen schlief beinahe den ganzen Tag – wenn sie nicht aß oder Kaffee trank, und da hatte das junge Herz alle Qualen der Einsamkeit kennengelernt. Krank war sie gewesen 37 an Körper und Geist, und als endlich Mutter und Schwester zurückgekehrt waren, da hatte sie gelernt, daß man auch unter Menschen einsam sein kann. Und einsam war sie geblieben bis heute, herzenseinsam und arm an Freuden.

Sie hatte, von Sehnsucht getrieben, immer und immer wieder tapfer versucht, eine Entschuldigung für die Mutter zu finden, sich wenigstens etwas ihrer Lebensanschauung anzupassen. Sie hatte sich mitschleifen lassen in den Trubel der Geselligkeit, den die lebenslustige Frau nach beendeter Trauerzeit um sich verbreitete. Sie hatte versucht, sich einzureden, die Konzerte, Bälle und alles, was drum und dran hing, machten ihr wirklich Vergnügen, füllten ihr Herz aus. Aber ihr Rechtlichkeitsgefühl sträubte sich gegen die Selbstlüge. Sie begann zu grübeln über die Leerheit, die sie umgab, über dieses und jenes Gespräch, über das ganze Treiben um sie her und es wurde ihr immer unverständlicher.

Sie begriff nicht, wie man sich so köstlich amüsieren konnte über Sachen, die ihr kaum beachtenswert erschienen. Die Kunst, das Leben tändelnd zu durchflattern, von allen seinen Reizen den Schaum zu schlürfen, wie Jenny es tat, verstand sie nicht, es waren eben alles Dinge, die sie nicht berührten. Die ausgesuchtesten Toiletten auf den Bällen zu tragen, auf Reisen in den teuersten Hotels zu wohnen, mit den feinsten Gesellschaften 38 zu glänzen – es lohnte sich doch der Mühe nicht, darüber nachzudenken. Einmal hatte sie gebeten, ob sie nicht wie sonst, als der Papa noch lebte, an den Abenden, die man allein verbrachte, vorlesen dürfe? Sie war, nach erhaltener Erlaubnis, freudestrahlend mit dem »Ekkehard« herübergekommen, das letzte Buch, das der Vater ihr geschenkt hatte. Mit hochroten Wangen hatte sie gelesen und gelesen, als sie aber unversehens aufschaute, da saß Jenny und betrachtete angelegentlichst die neueste Nummer der Modenzeitung und Mama schlief. Sie hatte kein Wort gesagt, aber vorgelesen hatte sie nie wieder.

Ein paar große Tränen rannen ihr plötzlich über die Wangen. Es war wieder eine jener Stunden über sie gekommen, in denen sie wie verzweifelnd die Arme nach einer Seele ausstreckte, die sie verstand, die sie ein bißchen, nur ein bißchen liebhatte, um ihrer selbst willen. Sie war so mißtrauisch, so unendlich mißtrauisch geworden, daß sie alles, was Fremde ihr an Freundlichkeiten entgegenbrachten, ihren äußeren Glücksgütern, der Stellung, die ihr Haus in der Gesellschaft einnahm, zuschrieb. Sie war sich völlig bewußt, daß sie schroff und unliebenswürdig sei bis zur Rücksichtslosigkeit. Die Menschen sollten nicht wissen, wie arm sie sich fühlte. Sie brauchten nicht zu ahnen, daß sie die Hände ineinander wand und fragte: »Was soll ich? Wozu lebe ich?« Sie hatte die Arbeitslust, 39 den Drang zu nützen, vom Vater geerbt – jeder tüchtige Mensch will schaffen, will beglücken und glücklich sein! Auf ihr lag das Dasein wie eine Last, es war so ekel, so schal, so erfüllt von kleinlichen Interessen.

Sie trocknete rasch eine Träne und wandte sich um, die Tür hatte sich geöffnet und eine alte Dienerin trat ein.

»Sie vergessen wieder das Abendbrot, Fräulein Trudchen«, begann sie vorwurfsvoll. »Im Speisezimmer ist alles bereit. Ich habe den Tee eingegossen, damit er ein wenig verkühlt, aber nun müssen Sie auch kommen.«

Das junge Mädchen dankte freundlich und folgte. Nach ganz kurzer Zeit kam sie zurück; es schmeckte nicht so allein. Sie zündete die Lampe an und nahm ein Buch und las. Auf der Straße war es allmählich still geworden, von St. Benedikti schlug es Viertelstunde auf Viertelstunde, endlich elf Uhr. Unten fuhr ein Wagen vor – Mama kam nach Hause.

Trudchen schloß das Buch, es war Schlafenszeit. Nun ging die Entreetür – jetzt Schritte vorüber an Trudchens Zimmer – nein, doch nicht – man kam herein.

Frau Baumhagen trug noch das schwarze Spitzentuch über dem Kopf. Sie wollte ihre Tochter nur fragen, was denn das eigentlich für eine »gelungene Geschichte« in der Kirche heute nachmittag gewesen 40 sei? Die Frau Oberprediger habe ihr von einem seltsamen Herrn Gevatter erzählt. Der Herr Pastor sei ganz erfüllt davon nach Hause gekommen.

»Jenny blieb aus«, erklärte das junge Mädchen, »da meldete sich ein fremder Herr.«

»Aber wie entsetzlich zudringlich!« rief die erregte kleine Frau, »du hättest zurücktreten müssen, Kind – wer weiß, was es für ein Subjekt ist!«

»Ich kenne ihn nicht, Mama. Aber wer es auch sei, er hat menschlich gut gehandelt. Er dachte jedenfalls nicht, daß man seine Freundlichkeit anders auffassen könnte.«

»Siehst du«, klagte Frau Baumhagen, »so ist es mit dir! Dergleichen imponiert dir, Trudchen – wirklich, mir wird angst um dich! Weißt du auch, daß Herr von Löwenberg – nun erinnere ich mich des Namens – entfernt verwandt ist mit dem herzoglichen Hause von A.? Die Frau von S . . . . kennt die ganze Familie, es sollen alle scharmante Menschen sein. Aber ich will dir nicht zureden, ich sage dir dies nur so beiläufig. – Zu morgen hat die Stadträtin eingeladen, meldet mir Sophie eben. Man hat keinen Tag für sich – da kommst du wohl mit? Es ist wegen des Stiftungsfestes. Ihr jungen Mädchen sollt etwas aufführen.

Bei Jenny war noch Licht« fuhr sie fort, ohne sich durch das Schweigen der Tochter beirren zu lassen. »Artur ist mit Karl Röben zurückgekommen, der seine junge Frau abholen will und eben kam 41 Line mit Champagner aus dem Keller. – Ich bitte dich, erzähle nur niemand von der Kirchenszene heute, ich habe auch die Oberpredigerin darum gebeten. Gute Nacht, mein Kind – der Tee war natürlich wieder nicht zu genießen bei der guten S.«

»Gute Nacht, Mama!« erwiderte Trudchen. Sie nahm die Lampe und trat noch einmal vor des Vaters Bild, dann suchte sie ihr Lager auf. Aus halbem Schlummer erwachte sie jäh, sie hatte so deutlich die Stimme vernommen, die sie heute in der Kirche zum ersten Male gehört hatte; mit raschem Herzschlag saß sie empor. Nein, es war kein Traum gewesen, was sie heute erlebt hatte! Wie ein Sonnenblick fiel das freundliche Tun des Unbekannten in diese Welt voll Egoismus und Herzlosigkeit. Und nun blieb sie lange wach.

Über das Gebirge zogen die Stürme des Spätherbstes, wehten Regenschauer aus grauen, fliegenden Wolken und schlugen prasselnd auf die welken Blätter des Waldes und gegen die Fenster der festen Menschenwohnungen. Franz Linden saß am Schreibtisch in dem Zimmer, das er sich im oberen Stock eingerichtet hatte, und seine Blicke flogen über die entlaubten Wipfel des Gartens zu den Bergen hinüber. So behaglich es bei einem Junggesellen nur sein kann, war es um ihn her – Bücher und Gewehrschränke, prasselndes Feuer im Kachelofen, gute Bilder an den Wänden, der leichte Duft einer feinen Zigarre, und trotzdem war es ein gar nicht 42 zufriedener Ausdruck, der auf seinem hübschen Gesichte lag.

Einen großen Bogen voller Zahlen schob jetzt seine Hand beiseite und ergriff dafür ein Briefblatt, auf dem er rasch zu schreiben begann:

»Mein alter Amtsrichter!

Wie würdest Du hohnlachen, könntest Du mich sehen in meiner deprimierten Stimmung! Draußen regnet es und hier innen strömt die Flut von tausend verdrießlichen Gedanken auf mich ein. Ich bin dahinter gekommen, daß Landwirt zu spielen nur dann eine Freude ist, wenn man ein großes Portemonnaie sein eigen nennt. – Die Ausgaben wachsen mir fast über den Kopf, alles möchte erneuert werden. Na, das ist nun so, aber ich will Dir nichts vorklagen, ich habe anderseits unendliche Freude daran. Ich kann Dir nicht beschreiben, wie wahrhaft poetisch so ein Pirschgang durch die herbstlichen Wälder ist, den ich fast täglich mit der alten Juno unternehme, dank der Erlaubnis des königlichen Oberförsters, mit dem ich mich angefreundet habe. Und wie wonnig es sich dann heimkehrt unter das schützende Dach!

Aber Du prosaischster aller Menschen denkst hierbei wahrscheinlich nur an Rehrücken oder gebratene Krammetsvögel, und die Stimmung à la wilder Jäger kennst Du nur vom Hörensagen.

Doch ich wollte Dir ja erzählen, wie recht Du hattest, als Du in bezug auf diesen Wolff ausriefst: 43hic niger est!‹ ›Hüte dich, Römer, vor ihm – er ist ein Bösewicht!‹ Vielleicht ist das zuviel gesagt, aber jedenfalls ist er lästig. So schickte er mir gestern ein Konzertbillett und schrieb dabei: Platz 38 bis 40 sei von Familie Baumhagen vorbestellt – ›ich empfing Nr. 37‹ –. Hinzugefügt hatte er, daß die Baumhagens die angesehensten und wohlhabendsten Patrizier der Stadt seien – also offenbar diejenigen, welche die erste Violine dort spielen.

Du weißt, wie ich über sogenannte Geldsäcke denke – immer drei Meilen davon! Na kurz, ich ärgerte mich und schickte ihm das Billett zurück mit dem Bemerken, daß ich der unmusikalischste Patron der Welt sei. – Er hat schon mehr derartige Attacken auf mich gemacht, vermutlich ist da eine Tochter.

Um nun endlich zum Zweck meines Schreibens zu kommen – Du weißt, daß Wolff eine große Hypothek auf Niendorf hat, zu kolossal hohem Zinsfuß. Ich kann das einfach nicht zahlen und will die Hypothek kündigen – würde Deine Schwester zu mäßigen Prozenten sie übernehmen? . . . Jede Auskunft steht Dir zur Verfügung.

Was soll ich Dir noch erzählen? – Apropos! die Tante – Du hast ihr schmählich unrecht getan. Ich sah nie ein harmloseres, in sich selbst zufriedeneres Gemüt, wie diese alte Frau. Eine Nichte, die jährlich auf Besuch nach Niendorf kommt und von der sie hoch entzückt scheint, ihr zahmer 44 Stieglitz und ihre Papierblumenfabrikation sind ihre Welt. Sie fragte ganz ängstlich, ob ich ihr die Stube belassen würde, bis sie stürbe? Was ich mit Wort und Handschlag gelobte. – Sie hat mir mancherlei berichten müssen aus des Onkels letzten Lebensjahren. Er war entschieden ein völliger Sonderling. Wolff sei jeden Tag bei ihm gewesen und habe mit ihm und dem Schulmeister Skat gespielt. Er hat sozusagen am Spieltisch geendet. Die alte Dame erzählte mit einer wahren Grabesstimme, daß er mit Schellenunter und Eichelneune in der Hand gestorben sei; er habe gerade nach dem Null gesagt: ›Bumm! der liegt! Ein Bombensolo!‹ – da war es vorbei. Ich glaube, sie graulte sich selbst bei diesem Bericht.

Nachher will ich, trotz Regen und Sturm, nach der Stadt, um einige Besuche zu machen. Es muß ja doch einmal sein! Den Verwalter nehme ich mit, er holt ein neues Gespann Ackerpferde, die er vor einigen Tagen dort gekauft hat. – Vielleicht sehe ich zufällig noch einmal meine unbekannte kleine Gevatterin, von der ich Dir neulich schrieb. Bis jetzt war mir das Glück nicht günstig.«

Er fügte noch einige Grüße und seine Unterschrift hinzu und eine halbe Stunde später war er im tadellosen Visitenkostüm auf dem Wege nach der Stadt. Im Hotel angekommen, erkundigte er sich nach einer Reihe von Adressen und begann nun seufzend jener wunderbaren Sitte nachzukommen, 45 welche Dame Etikette als unerläßlich für die »gute Gesellschaft« vorschreibt: unbekannte Menschen mittags zu überfallen, und einige sehr banale Phrasen zu wechseln, um sich so bald als möglich wieder aus dem Staube zu machen.

Gott sei Dank! Es war heute niemand zu Hause, obgleich es in Strömen regnete. Zu Baumhagens wollte er aus angeborener Opposition zuletzt gehen. Er gehörte zu den Menschen, denen nur jemand etwas anzuloben braucht, um es von vornherein mit Mißtrauen zu betrachten.

Als er gerade im Begriff war, diesen Besuch auszuführen, trat ihm auf dem Markt Herr Wolff entgegen. »Zu Baumhagens?« fragte er, sichtlich angenehm berührt, »dort – dort das Haus mit dem Erker – Wünsche tausendmal Glück, Herr Linden!«

Franz hatte eine unangenehme Abfertigung auf den Lippen, da war der Kleine schon verschwunden. Droben vom Erkerfenster aber trat eine weibliche Gestalt zurück.

»Bedauere sehr«, sagte die alte Dienerin, »Frau Baumhagen sind ausgegangen.« Im untern Stock dieselbe Antwort, obgleich ihm ein Chopinscher Walzer entgegenklang.

Im Hotel beim Mittagstisch erhielt er Aufklärung. Abends sollte ein Ball stattfinden, und ein solches Fest erforderte natürlich die umfassendsten Toilettenvorbereitungen bei der Damenwelt. 46 An solchem Tage sei weder Frau noch Fräulein zu sprechen. Auch war von nichts anderem die Rede, als von diesem Feste, und einige der Herren luden ihn freundlich ein, daran teilzunehmen. Es seien hübsche Mädchen dort.

»Bin neugierig, ob die kleine Baumhagen kommt«, meinte ein Husarenoffizier.

»Meinetwegen kann sie fortbleiben«, entgegnete ein blonder Referendar; »sie hat eine Art sich herabzulassen, die ich nicht vertrage. Überhaupt« – er tippte mit dem Zeigefinger an seine Stirn, »etwas hochmutstoll.«

»Ich weiß es von Artur Fredrich, sie hat wieder einen Korb ausgeteilt«, rief ein anderer.

»Soll wahrscheinlich ein Prinz kommen«, schnarrte ein Vierter.

»Tut nichts!« beschwichtigte der Rittmeister von Brelow, »sagt, was ihr wollt, sie ist eine prächtige Erscheinung, hat jedenfalls nicht eine Spur von Kleinstädterei. Es ist Rasse in dem Mädchen.«

Franz Linden hatte mit Interesse zugehört, fast bekam er Lust, an dem Feste teilzunehmen. Er sagte halb und halb zu, ließ sich einen Handschuhladen nennen und versaß so ein paar Stunden in ganz angeregtem Gespräch. Nach den einsamen Wochen, die er durchlebt, interessierte es ihn mehr, als er sich eingestehen mochte. »Ich komme wahrhaftig noch auf den kleinstädtischen Klatsch«, sagte er, amüsiert über sich selbst. – Als er auf die Straße 47 trat, war der kurze Novembertag der Dunkelheit bereits gewichen, die Laternen spiegelten sich in den Pfützen der Straße, die Schaufenster waren hellerleuchtet und vom Benedikti-Turm dröhnten fünf lange Glockenklänge.

Er bog um die Hotelecke in die nächste Gasse und schlenderte langsam hin auf dem schmalen Trottoir, die Läden musternd, die sich für das nahe Weihnachtsfest mit allem Neuen und Neuesten herausgeputzt hatten. »Guten Abend!« sagte plötzlich eine schüchterne Stimme hinter ihm. Er wandte sich um. Im ersten Moment erkannte er die Frau nicht, die, das Trageholz auf den Schultern, an dessen roten Lederriemen und blitzblanken Messinghaken zwei große, schneeweiße Eimer hingen, schüchtern vor ihm stand. Dann wußte er's: es war Frau Johanne.

»Ich wollte nur vielmals danken«, begann sie, »der Herr Küster hat mir das Geschenk gebracht für den Kleinen.«

»Und geht es denn meinem Patchen gut?« fragte er, neben der Frau herschreitend und entschlossen, um jeden Preis etwas von »ihr« zu erfahren.

»Ach, ich danke, Herr Linden. Es ist ein schwächliches Kind – der Gram hat ihm wohl geschadet. Aber wenn der Herr es einmal sehen wollen – so gar weit ist es nicht mehr, und ich gehe jetzt nach Hause.«

48 »Das versteht sich!« sagte er und ließ sich im Weiterschreiten erzählen, daß sie Milchfrau bei Ökonomierats sei und zweimal des Tages Milch austrage.

»Kommt das Fräulein manchmal – nach dem Patchen zu sehen?«

»Ei freilich!« erwiderte die Frau, »sie kommt und – es ist kein Kleidchen und kein Röckchen, das der Junge nicht von ihr hat. Sie ist so sehr gut, das Fräulein Trudchen. Wir sind auch zusammen konfirmiert«, setzte sie stolz hinzu.

Also Trudchen hieß sie!

Es war doch ein ziemlich weiter Weg durch Gassen und Gäßchen, bis die Frau erklärte, hier sei sie daheim. »Es ist Licht drinnen – vielleicht die Mutter, weil der Junge aufgewacht ist. Meine Mutter wohnt oben«, erläuterte sie, »der Vater ist Schuhmacher.«

Es war ein so niedriges Parterre, daß ein Kind bequem ins Fenster hätte blicken können, und so übersah er leicht das Innere der kleinen Stube.

»Bleiben Sie«, flüsterte er und hielt die Frau am Arme.

»Ach Gott – das Fräulein!« rief sie, »wenn sie nur nicht böse wird!«

Aber Franz Linden antwortete nicht. Er sah nur die schlanke Mädchengestalt, wie sie in dem niedrigen Gemach mit dem weinenden Kinde im Arme auf und ab ging, ihm zusprach, es tanzen ließ, 49 bis es endlich zu schreien aufhörte, ein Weilchen ernsthaft in das schöne Gesicht blickte und zu jauchzen begann.

»Siehst du, kleiner dummer Schatz«, tönte die klare Mädchenstimme in sein Ohr, »siehst du, wer es gut mit dir meint, wenn du hier so allein und bloßgestrampelt liegst, und deine Mutter bei Wind und Wetter von Haus zu Haus gehen muß? Du böser Junge, du Schreihals, kannst du auf deinen Namen schon hören? Wie heißt du? Franz – Franzi! So groß ist der Junge! Jetzt komme einmal her und schreie nicht, du sollst das warme Kleidchen schon anhaben, wenn deine Mutter kommt.« Und sie setzte sich an den Ofen und begann dem Kinde das rote Barchentröckchen auszuziehen.

»Fragen Sie, Frau Johanne, ob ich hineinkommen darf!« bat Linden. Und im nächsten Moment war er doch schon hinter der Frau in das Zimmer getreten.

Über das Gesicht des jungen Mädchens flog etwas wie schämige Glut, aber sie reichte ihm unbefangen die Hand hin. »Ich freue mich, Herr Linden, daß ich Sie noch sehe – Mama bedauerte heute mittag sehr, Sie nicht empfangen zu können. Sie – –«

Er machte eine Verbeugung. Also zu irgendeinem Hause, wo er heute gewesen war, gehörte sie? Aber zu welchem?

»Denken Sie nur, ich weiß erst seit heute, daß 50 Sie uns so nahe wohnen«, fuhr sie heiter fort. Und den Kleinen der Mutter übergebend, die eben die Fensterläden geschlossen hatte, setzte sie hinzu: »Ich stand gerade im Erker, als Sie über den Markt kamen, und sah, wie Sie sich nach unserer Wohnung erkundigten.«

»So habe ich die Ehre – Fräulein Baumhagen – –?« sagte er, halb und halb peinlich berührt.

»Gertrud Baumhagen«, bestätigte sie; »warum sehen Sie so erstaunt aus?«

Sie nahm bei diesen Worten ihr Mäntelchen vom nächsten Stuhl, drückte eine kleine Pelzmütze auf den braunen Scheitel und ergriff einen Muff. »Ich muß nun fort, Johanne, aber ich schicke dir morgen den Doktor für den Kleinen. Sieh, das darf nicht so hingehen, du mußt besser darauf achten, sonst kann er lebenslang schwache Augen behalten.«

»Gestatten Sie, daß ich Sie begleite?« fragte Linden, der die anmutige Gestalt nicht aus den Augen ließ. – Das war also Gertrud Baumhagen!

Sie nickte. »Ich fürchte mich zwar nicht, aber ich denke, Sie finden sich niemals wieder aus diesem Labyrinth von Straßen, in welches die gute Johanne Sie gelockt hat. – Hier herum ist es noch völlig die alte Stadt. Heute abend zwar bemerken Sie nichts davon, aber am Tage lohnt sich wohl ein Gang durch diesen Teil. Ich habe die Gegend gern, obgleich hier nur geringe Leute wohnen«, plauderte sie weiter, indem sie fest und sicher über das 51 holperige Pflaster schritt. »Sehen Sie dort unten an der Ecke das Haus mit vorgebauten Sandsteintreppen und der Bank unter dem kahlen Baume? Aus dem Hause stammt meine Großmutter, und der Baum ist ein Holunderstock. Großvater hat sich in sie verliebt, als sie eines Abends auf dem Bänkchen dort saß und ihr jüngstes Brüderchen wiegte. Sie hat es mir oft erzählt. Der Holunder habe gerade geblüht, und sie sei achtzehn Jahre alt gewesen. – Ist es nicht ein Stückchen echter Poesie?«

Dann lachte sie leise. »Aber ich erzähle Ihnen da so viel, und weiß gar nicht, wie Sie über solche Sachen denken?«

Sie waren gerade vor dem schmalen Hause mit dem Holunderstock angekommen. Er blieb stehen und sah empor. Sie bemerkte es und sagte: »Ich kann nie vorübergehen, ohne daß mir ein guter Gedanke kommt, eine traute Erinnerung. Eine herzliebere Großmutter gab es nicht, so einfach und so gut.« – Und als er schwieg, setzte sie wie erläuternd hinzu: »Sie war eine Enkelin des Werkmeisters in Großvaters Fabrik.«

Er fand noch immer kein Wort, und irgendeine banale Phrase hätte er nicht aussprechen können.

Auch sie blieb ein Weilchen stumm. »Darf ich Sie bitten«, begann sie dann, »dem Kleinen nicht allzu große Geschenke zu machen. Es sind einfache Leute, man kann sie zu leicht verwöhnen.«

Er stimmte zu. »Unsereiner ist darin so 52 unpraktisch«, entschuldigte er; »ich wußte nicht recht, was ich nun zu tun habe, nachdem ich mich zudringlicherweise zum Paten angeboten hatte!«

»Das war keine Zudringlichkeit, das war Menschenliebe, Herr Linden.«

»Gerade in Ihren Augen glaubte ich etwas zu rasch – zu – –« er stockte.

»O nein, nein«, unterbrach sie ihn ernst, »was denken Sie von mir! Ich kann gar wohl unterscheiden, was echt und unecht ist. Es hat mich ehrlich gefreut«, klang es zögernd nach.

»Ich danke Ihnen«, sagte er.

Und nun schritten sie schweigend weiter durch die Straßen. Vor einem Blumenladen, hinter dessen großen Spiegelscheiben ein lockender Flor von Rosen, Veilchen und Kamelien glühte, blieb Trudchen Baumhagen stehen.

»Hier trennen sich unsere Wege«, sagte sie und reichte ihm die Hand; »ich habe hier drinnen zu tun. Leben Sie wohl, Herr – Gevatter!«

Er hatte den Hut abgenommen und ihre Rechte ergriffen. »Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein.« Und zögernd fragte er noch: »Sie sind auch beim heutigen Fest?«

»Ja«, nickte sie, »auf höheren Wunsch«, und ihre blauen Augen schauten ihn still an. Es war nichts darin zu lesen von Jugendlust und freudiger Erwartung. »Mama wäre untröstlich, hätte ich mich ausgeschlossen. Gute Nacht, Herr Linden!«

53 Der junge Mann blieb draußen, während sie hinter der Ladentür verschwand. Einen Moment wartete er noch, dann ging er weiter.

Also das war Gertrud Baumhagen! Es berührte ihn förmlich unangenehm, daß sie so hieß, er hatte von vornherein ein Vorurteil gefaßt gegen diesen Namen, er war ihm gleichbedeutend mit kleinstädtischem Protzentum. Die Unterhaltung an der Wirtstafel kam ihm in Erinnerung. Er hatte sich eine schnippische, helle Blondine vorgestellt, die den Vorzug, eine Baumhagen zu sein und das reichste Mädchen der Stadt, in allerhand vagen Launen an ihren Verehrern auszulassen pflegte. Nun fand er das Trudchen aus der Kirche, ein holdes, schlankes Geschöpf, ein Mädchen mit einfachem, unverbildetem Gemüt, das keinen anderen Stolz besaß als den eines edlen Weibes.

Unwillkürlich ging er rascher. Er wollte der freundlichen Aufforderung, an dem Feste teilzunehmen, nachkommen. Aber am Eingang des Hotels war er wieder anderer Meinung. Er mochte sie nicht als moderne Gesellschaftsdame sehen, wollte nicht das liebliche Bild verwischen, das er vorhin durch die kleinen Fenster erblickt in dem ärmlichen Stübchen. Er hätte es auch nicht ertragen, wenn sie ihm im kerzenhellen Ballsaale mit jener Herablassung entgegengetreten wäre, die er heute an ihr tadeln hörte. Er beschloß, nach Hause zu fahren.

54 In diesen Gedanken war er nochmals die Straße zurückgegangen; nun stand er plötzlich vor dem Blumenladen. Nach raschem Besinnen trat er ein und verlangte einen einfachen Strauß. Die Verkäuferin hielt gerade ein wagenradähnliches Monstrebukett mit reicher Spitzenmanschette in der Hand, um es einem Boten zu übergeben. »Also an Fräulein Baumhagen«, bestellte sie dem Ausläufer, »hier die Karte.«

Franz Linden erblickte darauf ein großes Wappen über dem Namen. Unschlüssig trat er zurück. Da wandte sich die Verkäuferin zu ihm. »Einen einfachen Strauß«, wiederholte er nun doch. Es war keiner mehr vorrätig, man wollte jedoch rasch einen binden. Der junge Mann wählte selbst die Blumen aus dem mit nassem Sand gefüllten Zinkkasten und reichte sie hin. Es mußte ihm eine angenehme Beschäftigung sein, denn er nahm immer wieder eine Rose zurück und gab dafür eine schönere. Endlich war es vollendet, ein graziöses Bukett aus weißen Rosen, die Kelche zart rosa gefärbt wie schämiges Mädchenerröten; Frauenhaar und zierliche Farne dazwischen. Er betrachtete es noch einmal, zahlte und ging zum Hotel zurück. Dort legte er die Blumen auf den Tisch, ließ sich vom Kellner Schreibzeug und ein Kuvert bringen, nahm eine Visitenkarte und schrieb. Mitten darin hörte er auf. Er lächelte, »'s ist ein Unsinn«, sprach er halblaut, »sie wird längst das große Bukett in der Hand 55 halten.« – Dann schrieb er weiter und überlas noch einmal:

Darf der Gevatter heut den Strauß dir senden,
Den eigentlich nach Recht und alter Sitte
Beim Tauffest schon er hätte sollen spenden?
Bescheiden naht er; seine Rosen wagen
Dir stummen Gruß zu flüstern und die Bitte,
Du wolltest sie an diesem Abend tragen.

Er lächelte wieder, kuvertierte und gab vor dem Hotel Brief und Blumen einem Dienstmann mit der Weisung, dem Fräulein Baumhagen beides zu überbringen. Und nun kam ihm ein Gedanke. – Um acht Uhr begann das Fest; in zehn Minuten war es so weit – er wollte Trudchen Baumhagen sehen, sehen – ob sein Strauß – – Unsinn! Wie sollte sie dazu kommen? Aber dennoch, er wollte warten. »Gut, daß der Amtsrichter das nicht mit ansieht!« flüsterte er vor sich hin. Es war ihm zumute wie einem Kinde vor Weihnachten, so froh und so erwartungsvoll, während er an der Marktseite vor dem Hotel auf und ab wanderte.

Endlich schlug es acht Uhr. Verschiedene Herren zu Fuß waren längst angekommen, dann auch Damen, und nun rollte der erste Wagen heran, zierliche Füßchen schlüpften über das Trittbrett und helle Seide rauschte. Ein Gefährt löste das andere ab. Jetzt eine elegante Equipage mit prächtigen Eisenschimmeln, eine leichte, reizende Frauengestalt im hellblauen, spitzenüberfluteten Gewande bog sich 56 vor und silberhelles Lachen schallte in Lindens Ohr. »Frau Fredrich!« hörte er im Publikum murmeln, das sich schaulustig hinter ihm aus soundso viel Kindern, Weibern und Dienstmädchen um die Hoteltreppe versammelt hatte.

»Also ihre Schwester!« Wie eine liebliche Fee schwebte die junge, blonde Frau die Treppe empor, gefolgt von dem Gatten im tadellosen, schwarzen Frack, der ihr Fächer und Bukett nachtrug.

Das Gespann rasselte über den Markt zurück, um in weniger als fünf Minuten wiederzukehren. – »Trudchen!« flüsterte Linden und zog sich unwillkürlich etwas mehr in den Schatten zurück. Eine kleine volle Dame in lichtgrauer Toilette entstieg dem Wagen – dann war sie hinausgeglitten und stand hinter der Mutter, schlank und leicht, in schimmernd weißem, seidenem Gewand, die schönen Schultern leicht verhüllt, und in der Hand einen wohlbekannten Strauß blasser Rosen. Aber das war nicht das Mädchen von vorhin! Der kleine Kopf hatte sich etwas in den Nacken gebogen, als zöge der schwere, lichtbraune Haarknoten ihn zurück, und ein Ausdruck von stolzer Kälte lag über dem klaren Gesicht, den er vorhin nicht bemerkt hatte. Zwei Herren stürzten den Damen entgegen. Der erste bot galant der Mutter den Arm, der andere näherte sich dem jungen Mädchen. Mit unnachahmlich stolzer Gebärde dankte sie, kaum die Fingerspitze auf seinen Arm legend; dann, wie ein 57 holder Spuk, war es verschwunden, das Bild, das er mit durstigen Augen umfaßt hielt.

Aber nun bemächtigte sich seiner eine fast übermütige Stimmung. Einer dürftig aussehenden Frau, die mit einem elenden Kinde im Arme gerade vor ihm stand, schenkte er ein Fünfmarkstück, und dem alten Sommerfeld, seinem Kutscher, ließ er einen Pokal Glühwein bringen, so groß, daß der Alte sichtlich davor erschrak. »Wenn wir man gut nach Haus kommen!« meinte er bedenklich.

»Rein närrisch!« gestand Linden sich selbst. Und als einen Augenblick darauf sein Wagen vorfuhr und zugleich die Klänge eines Straußschen Walzers an sein Ohr schlugen, begann er die Melodie der »Rosen aus dem Süden« mitzusingen. Dann rasselte das Gefährt über den Marktplatz auf die finstere Landstraße hinaus, und rascher wie sonst war er in seinem stillen Zimmer daheim und tausend anmutige Gedanken mit ihm.



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