Wilhelmine Heimburg
Trudchens Heirat
Wilhelmine Heimburg

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Zu Niendorf im Herrenhause gab es ein Zimmer, darinnen blühten Rosen in Fülle. Nicht nur die in den Scherben zwischen den Doppelfenstern oder auf dem Blumenbrett vor den Scheiben, je nachdem die Jahreszeit es gebot, auch im Stübchen selbst rankten sich Tausende der schönsten Erdenblumen um Bilder und Möbel. Es machte einen 58 wunderlichen Eindruck, besonders wenn man statt des Dornröschens, das man hier schlummernd zu finden meinte, eine sehr alte Frau im Lehnstuhl am Fenster erblickte, unermüdlich beschäftigt, aus farbigem Seidenpapier Blätter und Blättchen zu bilden und aneinander zu fügen, bis endlich eine Rose am Drahtstengel schwankte, von weitem so natürlich anzusehen, als wäre sie eben vom Stocke gebrochen. Tante Rosalie konnte nicht leben, ohne Rosen zu machen. Sie verschwendete die Hälfte ihres bescheidenen Einkommens in Seidenpapier, und wem sie irgend wohlwollte, der erhielt einen Rosenkranz zum Präsent – rote, rosa, weiße und gelbe Blumenkelche, geschmackvoll durcheinander gemischt. Sämtliche Dorfschönen trugen auf dem sonntäglichen Tanzboden Rosen des alten Fräulein Kruse im stark pomadisierten Haar. Die Gräber des Friedhofes zeigten in Menge von Sonne und Wind zerzauste weiße und purpurne Rosen derselben Fabrikation auf, die kleine Kirche wurde alljährlich zum Johannisfeste von der alten Dame verschwenderisch mit diesen ihren Erzeugnissen geschmückt, wobei sie ganz besondere Sorgfalt auf den Kranz verwendete, der die Dornenkrone des Heilandes zu zieren bestimmt war. Das mußten dunkelrote Rosen sein, so rot wie das Blut, das er vergossen. Darauf hielt sie.

Kein Weihnachtsbaum prangte im Dorfe, an dem nicht ihre Rosen zwischen den Kerzen 59 hervorleuchteten, und keine Hochzeit fand statt, bei der nicht über der Stubentür des jungen Paares Tante Rosaliens Blumengruß prangte. Sie war im Dorfe bei jung und alt denn auch nur als »Rosentante« oder »Rosenfräulein« bekannt und beliebt, und nicht selten wurde sie auf ihren Spaziergängen von einer Schar Kinder, besonders Mädchen, verfolgt mit der Bitte »Mek ok 'ne Rose, mek ok 'ne Blaume!« Und die Rosentante war stets darauf eingerichtet. Die weniger gelungenen Exemplare wurden zu diesem Zwecke freigebig aus dem riesenhaften Pompadour hervorgeholt und verteilt.

Franz Linden hatte sich längst daran gewöhnt, zuweilen ein Stündchen in Gesellschaft der alten Dame hinzubringen. Bei ihrem Anblick kam unwillkürlich etwas von dem Frieden, der sie umgab, auch auf ihn, und das tat ihm wohl. Sie saß dann still und ruhig hinter ihrem Tischchen, und die feinen welken Hände bildeten emsig des »vollsten Lebens Attribute«. Nach und nach hatte sie ihm in wunderlich feierlicher Weise von den Schicksalen erzählt, die sich unter dem alten spitzen Ziegeldache dieses Hauses abgespielt hatten. Es waren wenig Lichtpunkte darunter und viele Schatten, viel Schuld und menschlich Irren; ein düster Stück Erdenleben. – Ein Ehepaar, das nicht zusammengepaßt hatte, ein einziges Kind, von beiden vergöttert; und dieser einzige Sohn hatte sich und sein Elternhaus mit Schande bedeckt und war bei Nacht 60 und Nebel nach Amerika geflohen, wo er verkommen war. Ohne Licht und Stern waren die Eltern zurückgeblieben, jedes dem anderen Vorwürfe machend über die verfehlte Erziehung. Dann starb die Frau vor Gram, und nun begann eine endlose Spanne der Einsamkeit für den alternden Mann, im Banne des Mißtrauens und der Menschenverachtung, niemand zugetan als seinen Hunden. Er verkehrte mit niemand als mit jenem Menschen, dem Wolff, der ihm Nachrichten und Klatsch aus der Stadt überbrachte, und selbst diesen behandelte er mit einer an Beleidigung streifenden Mißachtung. »Aber, sehen Sie, lieber Neffe«, hatte die Erzählerin hinzugefügt, »es gibt Menschen, die hündischer sind wie die Hunde. Ein solches Vieh schreit doch, wenn es getreten wird, aber die Art, zu denen er gehört, lächelt noch verbindlich beim derbsten Fußtritt – und so einer war nötig für den Wilhelm.«

Es schneite. Auf den Bergen war es weiß, der Garten lag unter leuchtender Schneedecke, und in der Luft tanzten weiße Flocken. Franz Linden war mit dem Verwalter von der Jagd zurückgekommen und ging nach beendeter Mahlzeit zu der Tante ins Rosenstübchen. Sie stand heute auf, als er hereintrat, und kam ihm entgegen.

»Sehen Sie, lieber Neffe, so geht's, wenn man einmal nicht zu Hause ist. Sie sollten Besuch bekommen, so einen ganz superfeinen, neumodischen, im 61 prächtigen Schlitten. Ich machte gerade meine Promenade auf dem Korridor, da kam er die Treppe herauf, und hier« – sie faßte in den Pompadour – »ist seine Karte, die er daließ.«

Franz nahm die Karte und las: »Artur Fredrich – das tut mir leid«, sagte er lebhaft bedauernd. »Wann war er hier?«

»Oh, gerade um Mittag herum, wo andere Christenmenschen essen, punkt zwölf Uhr«, erwiderte sie. »Und dann war noch der Briefträger da und brachte ein Schreiben für Sie, lieber Neffe. Ja – mein Gott, wo ist es denn nur? Wo habe ich es denn hingelegt?« Sie wandte sich um, und die kleine gebeugte Gestalt begann eifrig zu suchen; zuerst auf dem Tischchen mit dem Blumenpapier, dann an der Erde, von dem jungen Manne unterstützt.

»Wie sah denn der Brief aus, liebste Tante?«

»Blau – oder grau – ich glaube blau«, antwortete sie außer Atem und durchstöberte den rotseidenen Pompadour. Eine Menge Rosenknospen holte sie heraus und ein spitzenbesetztes, riesenhaftes Schnupftuch, sonst nichts.

»War der Brief denn klein oder groß?« fragte er hinter dem Sofa hervor.

»Groß und dick«, ächzte Fräulein Rosalie. »Das ist mir noch nie passiert, das ist mir höchst fatal!« Und mit erstaunlicher Beweglichkeit hantierte sie an dem schwindsüchtigen, kleinen Spinett und klappte uralte Notenhefte auseinander.

62 »Vielleicht in den Ofen gekommen, Tantchen?«

»Nein, nein! Er ist seit heute früh zugeschraubt.«

Franz Linden ging zum Glockenzug – und schellte. »Suchen Sie nicht mehr, liebe Tante, das Schreiben muß sich finden, das Mädchen kann es ja besorgen.«

Dörte kam und suchte und suchte, hinter alle Schränke wurde geleuchtet, hinter jeden Vorhang gesehen – vergebens.

»Nun wollen wir es aufstecken«, erklärte Franz Linden endlich. »Ich denke mir, es ist ein Brief von meiner Mutter oder vom Amtsrichter – da wird es ja zu erfragen sein, was sie wollten. Trinken wir unseren Kaffee, Tantchen.«

»Ich kann nächtelang nicht schlafen«, beteuerte die alte kleine Frau aufgeregt.

»Aber, ich bitte Sie«, wandte er gutmütig ein, »es ist sicher nichts Unersetzliches darin gewesen. Erzählen Sie mir lieber ein wenig, das Wetter ist so behaglich dazu.«

Aber das runzlige Antlitz unter der großen Haube blieb verdrießlich, und über die Kaffeetasse hinweg schweiften die alten Augen immer wieder suchend im Zimmer umher und blieben, wie nachdenkend, an dem grünen Schirm der Lampe haften. Es war schlechterdings kein Gespräch mit ihr fortzuspinnen. Nach einem Weilchen erhob sich der junge Mann, um sein Zimmer aufzusuchen.

»Ja, gehen Sie nur, gehen Sie nur«, sagte sie 63 erleichtert, »nun kann ich nachdenken, was ich angefangen habe mit dem Briefe. Ach, mein Gedächtnis, mein Gedächtnis! Man wird so alt!«

Er schritt den Korridor entlang und stieg die Treppe hinauf in den oberen Stock. Die Dämmerung des kurzen Wintertags lag schon in allen Winkeln und Ecken. Es war so totenstill im Hause, nur der Hall seiner eigenen Schritte klang in sein Ohr. So ein Tag, von dem sein Freund gesprochen, entsetzlich einsam und leer spann er sich aus über diesem weltfernen Hause. Man kann nicht immer lesen, nicht immer sich beschäftigen, besonders wenn die Gedanken unruhig hinausflattern über Wald und Feld – immer nach einem bestimmten Ziel, und immer zurückkehrend, zweifelnd und bangend.

Er stand in seinem Zimmer am Fenster und verfolgte das Treiben der Schneeflocken in der dunkelnden Luft, und er dachte dasselbe wie alle Tage während der letzten Wochen. Er dachte sich so hinein, daß er deutlich einen leichten Tritt hinter sich auf dem Teppich zu hören meinte und den kosenden Klang einer Frauenstimme: »Franz, Franzi!« – Er wandte sich um und schaute in das dämmerige Zimmer zurück. Wenn sie jetzt die Tür öffnete, wenn sie hereinkäme, das Kind auf dem Arme, herüber zu ihm? Warum sollte das nicht sein, warum könnte es nicht werden? Waren diese Mauern nicht fest, diese Räume nicht heimlich und traut genug, ein Glück zu bergen?

64 Er begann auf und ab zu gehen. Torheit! Unsinn! Was wollte er denn? – Wäre er nie hierhergekommen, oder wäre sie doch tausendmal lieber die Tochter des Werkführers, wie ihre Großmutter und säße vor dem kleinen Hause auf der Bank unter dem Holunderbaum, es würde dann so einfach sein! Nicht um die Welt mochte er den tollen Wettlauf mitmachen, den man um Trudchen Baumhagens Geldsäcke immer und immer wieder wagte. Aber ihre Freundlichkeit? –

Und nun versank er wieder rettungslos in den Bann ihrer Augen.

Es war jenes Zweifeln über ihn gekommen, jenes Hangen und Bangen, das ein jeder durchzumachen hat, der liebt. Und Franz Linden hatte sich in seiner Einsamkeit längst eingestanden, daß ihm nur Trudchen Baumhagen fehle, um glücklich zu sein.

Er war eine keineswegs zaghafte oder scheue Natur, im Gegenteil. Er war mit jener bescheidenen Keckheit ausgestattet, wie sie liebenswürdige Leute, denen die Gesellschaft lächelnd allerlei nachsieht, so leicht annehmen.

Wäre er im Besitz eines Ritterguts statt dieser Klitsche, wie der Amtsrichter Niendorf bezeichnete – er hätte lieber heut wie morgen gefragt, ob sie die Seine werden wolle, ohne allzu große Furcht vor ihren Geldsäcken. Aber in dieser Lage war es ihm peinlich, er mußte zum wenigsten erst »flott« 65 sein, wie er sich ausdrückte, und ehe das der Fall wäre – wer weiß, wo Trudchen Baumhagen dann geblieben war? Er biß die Zähne zusammen bei diesem Gedanken – immer dasselbe Resultat! Aber galt denn am Ende ein ehrliches Herz nichts, und ein fester Wille? Wäre nur der Amtsrichter hier, und er könnte ihn fragen. –

Er hatte während dieser Gedanken die Lampe angezündet. Da lag die verbogene Visitenkarte auf dem Tische, die ihm Tante Rosalie gegeben. »Artur Fredrich.« Er lächelte, als er an den kleinen unbedeutenden Menschen dachte, dem die Schwester ihr Herz geschenkt hatte, und er konnte sich Trudchen nicht neben ihm vorstellen. Endlich ein Gegenbesuch von ihm! Und da standen ja auch einige mit Bleistift halbverwischte geschriebene Worte: »Bedauert herzlich, Sie nicht getroffen zu haben und bittet, am zweiten Weihnachtsfeiertage ein einfaches Souper in seinem Hause annehmen zu wollen.«

Es war die erste Einladung in Trudchens Vaterhaus. Er schrieb sofort ein zusagendes Billett. Dann besann er sich, daß er den Schlitten bestellt habe, um einige Besorgungen in der Stadt für das Fest zu machen. Die Karte wollte er durch den Hausknecht des Hotels hinüberschicken.



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