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1. Reiseplan

Wie sind wir doch bitter arm geworden! Ärmer noch, als der ärgste Pessimist das denkt. Wir gehen alle in Ketten, und wenn wir auch im Lärm des Tages ihr Klirren nicht immer hören: die einschneidenden Fesseln fühlen wir von Tag zu Tag mehr, und die Schwere des Eisens drückt uns tiefer und tiefer nieder.

Früher, wenn einer der Last der Alltagssorgen zu erliegen drohte, wenn er im kleinlichen Kampf ums tägliche Dasein, der grimmiger ist und jahraus, jahrein mehr Opfer fordert als alle Weltkriege zusammengenommen, seine Kräfte erlahmen fühlte, – früher pflegte man dann ein Weilchen auszuspannen, hinauszuflüchten in die Natur, um sich gleichsam wie der Riese Antaios in der griechischen Mythe durch die Berührung mit der mütterlichen Erde aufs neue zu stärken. Du lieber Gott, wer kann heute noch solche sonntäglichen Ausflüge machen oder gar auf Ferienwochen seiner Fron entfliehen?! Das Reisen ist teuer geworden wie – ein Butterbrot, und für das Geld, das einst eine Fahrt nach Thüringen oder an die See kostete, kann man sich heute beim Bäcker nicht mal eine Schrippe mehr kaufen.

Reisen, reisen, dem Joch entfliehen, sich eine Weile selber gehören, sich hingeben an neue Eindrücke, sich an sie verlieren, sich an ihnen bereichern, reisen, reisen!!

»Reisender Leut' Gemüt und Sinn
Gleich wie ihr Leib schwebt her und hin«,

hat schon der alte Johannes Fischart in seinem »Podagrammisch Trostbüchlein« gesungen. Das ists, das fehlt uns, dieses freie Schweifen von Gemüt und Sinn. Das bohrt in einem und läßt nicht locker, und du suchst und spähst wie ein Tier in der Falle: wohin nur, wohin? Und wie den in glutatmender Wüste Verschmachtenden wohl die Fata Morgana narrt: vor seinen fiebernden Blicken steigt die Oase auf mit üppigem Grün und sprudelndem Quell, und es rauscht in den Wipfeln der schlanken Palmen – so zieht in unserm sehnsuchtsvollen Erinnern Bild an Bild vorüber: der sommerliche Buchenwald und in der Senke darin der stille, sonnenglitzernde See mit den gelben Mummeln und den wie Gold und Edelstein flirrenden Libellen; die alte Stadt mit Mauern, Türmen und Türmchen, die Glocken läuten zu Mittag, zarter weißlicher Rauch flattert wie winkende Schleier über den roten Ziegeldächern; das Meer im Sturm, höher und höher klettern die smaragdgrünen Wogen in wildem Wettlauf, die weißlichen Kämme sind wie Geifer gehetzter Rosse, es brüllt und dröhnt; die zerfallene Burg auf fichtendunklem Berge, der blasse Frühlingsmond geistert durch Fenster und Scharten …

Reisen, reisen! Und immer wieder überschlägt man sein Geld und rechnet und kramt in allen Taschen – es wird und wird nicht mehr und reicht nicht hin und reicht nicht her. Und so verfällt man denn auf seltsame Ausflüchte und allerlei Reise»ersatz«. Den alten Robinson zur Hand genommen! Aber den hat man schon hundertmal gelesen, und das ist ja schließlich auch nur eine am Schreibtisch ersonnene und überdies gar zu moralisierende Reise. Der gute Daniel Defoe, Kleinbürger und Kaufmann von Beruf, der 1719, fast sechzig Jahre alt, nachdem er bis dahin nur bitterböse Pamphlete geschrieben, in seinem ersten Buche »das Leben und die ganz ungemeinen Begebenheiten des weltberühmten Engländers Robinson Crusoe« erzählte, ist all sein Lebtag nicht aus England hinausgekommen, und der schottische Matrose und Freibeuter Alexander Selkirk, von dem er die Geschichte hatte, war groß im Aufschneiden und ganz gewiß der beste Bruder auch nicht. Nein, nein, das tut's nicht mehr …

Wohin und wie denn sonst nur reisen?!

Nun wohl: ich habe für dich nachgedacht, verehrter Leser, und manche Stunde mir den Kopf zergrübelt, ehe ich das Rechte fand. Ich habe einen Reiseplan, der dir ganz ungeahnte Genüsse verheißt. In Gegenden will ich dich führen, die du nie vordem gesehen. Durch alle Länder und Zeiten werden wir reisen, und du magst dabei geruhig in deinem Stuhle sitzen oder gar auf deinem Sofa liegen bleiben. An einen Ort will ich dich bringen, den du am wenigsten kennst von allen Orten der Erde.

Es ist dein Zimmer!

Du lächelst spöttisch, und du meinst, du kennst es nur zu genau. Du täuschst dich, Freund, ich will es dir beweisen.

Wenn Henrik Ibsen jemandem klarmachen wollte, wie schlechte Beobachter die Menschen im allgemeinen sind, dann pflegte er den Besucher jählings zu fragen: »Wie sieht eigentlich die Tapete in Ihrem Zimmer aus?« Von hundert so Befragten wußte das kaum einer. Lieber Leser – sieh, bitte, nicht auf die Wand – kennst du die Farbe oder gar das Muster der Tapete deines Zimmers? Auf Ehre und Gewissen? Nein, nein, es ist schon so: das Zimmer ist uns der unbekannteste Ort der Welt. Im dunkelsten Afrika, an den vereisten Polen und im verschlossenen Tibet wissen wir immer noch besser Bescheid als in unserm Zimmer.

Laßt uns deshalb durch unser Zimmer reisen!

Das ist nun zwar kein ganz funkelnagelneuer Gedanke: ein vornehmer Kavalier des ancien régime, der Graf Xavier de Maistre, hat ihn schon vor fast hundertundfünfzig Jahren gehabt und ausgeführt. Aber erstens: »Alles Gescheite ist schon einmal gedacht worden, man muß nur versuchen, es noch einmal zu denken«, sagt unser Goethe. Zweitens (das unter uns): wer liest denn heut noch solche alten Schmöker? Und drittens: die Reise des Monsieur le capitaine de Maistre ist eine moralische und philosophische und zudem keine ganz freiwillige gewesen – er hatte nämlich Zimmerarrest wegen eines Duells. Mit Moral lockt man im Zeitalter des Shimmy und Schiebens gewiß keinen Hund hinterm Ofen hervor, und mit Philosophie soll ein Autor, der nach Lessings Parole »weniger erhoben und fleißiger gelesen« sein will, heut lieber auch niemandem mehr kommen. Ohnehin ist es mit den Philosophen eine eigene Sache. »Zuerst sind sie Lehrer, dann Freunde, zuletzt aber erscheinen sie als Betrüger«, urteilt Bulwer einmal sehr richtig.

O weh, war das nicht eigentlich doch schon moralisiert und gar philosophiert?!

Ich gelobe hiermit feierlichst Besserung. Wir wollen als moderne Menschen ohne allen sentimentalen Ballast reisen. Nichts von des seligen Timotheus Hermes tränenseliger »Reise Sophiens von Memel nach Sachsen«, über die unsre Großmütter sanfte Zähren vergossen; nichts von des zwar auch längst toten, aber wohl nicht gerade seligen Lawrence Sterne kecker »Empfindsamer Reise Yoricks«, die uns noch heute ein verständnisvolles Schmunzeln entlocken kann! Alle Hilfsmittel der »Jetztzeit« – nebenbei: ein Juwel von einem Wort und mit seinem »tztz« ganz in das »polyglotte« Deutschland von heute passend – wollen wir uns zunutze machen, durch die Kulturgeschichte ebenso wie durch Natur- und Erdkunde streifen, und jede Art von Wissen soll uns nach dem Worte Voltaires dabei willkommen sein außer der – langweiligen.

Doch es wird Zeit zum Antritt unsrer Reise. Komm mit, lieber Leser, es wird dich, hoff ich, nicht gereuen.


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