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Buchschmuck

Eine Straßensängerin

Buchschmuck Eine Frau, die eine Samisen in der Hand hielt und von einem etwa siebenjährigen Knaben begleitet war, kam in mein Haus, um zu singen. Sie trug das Kleid einer Bäuerin und hatte ein blaues Tuch um den Kopf gewunden. Sie war häßlich, und ihre natürliche Häßlichkeit wurde durch die grausame Entstellung durch Blatternarben noch erhöht. Das Kind trug ein Bündel gedruckter Lieder.

Alsbald strömten Nachbarn in meinen Vorhof, – zumeist junge Mütter und Kindermädchen mit kleinen Kindern auf dem Rücken, aber auch alte Frauen und Männer, – die »Inkyos« der Umgegend. Auch die Jinrikshamänner kamen von ihren Standplätzen an der nächsten Straßenecke und nun war der ganze Raum überfüllt.

Die Frau setzte sich auf meine Türschwelle nieder, stimmte ihre Samisen, spielte einige Takte als Begleitung, und alsbald senkte sich ein Zauberbann auf die Zuhörer, und sie starrten einander mit lächelndem Erstaunen an.

Denn diesen häßlichen, entstellten Lippen entströmte eine wundersame Stimme, jung, tief, unsagbar rührend in ihrer herzbewegenden Süßigkeit. »Ist's ein Weib oder eine Waldfee?« fragte einer der Zuhörer. – Nur ein Weib, – aber eine sehr große Künstlerin. Die Art, wie sie ihr Instrument handhabte, hätte die geschulteste Geisha beschämt, aber wann hätte man je bei einer Geisha eine solche Stimme gefunden und ein solches Lied gehört? Sie sang, wie nur ein Landmann singen kann, mit vokalen Rhythmen, die sie vielleicht der Cicade, oder der Nachtigall abgelauscht haben mochte, und mit Intervallen von halben und Vierteltönen, wie sie in der abendländischen Musiksprache niemals niedergeschrieben worden sind.

Und wie sie sang, begannen die Zuhörer leise zu weinen. Ich verstand die Worte nicht, aber ich fühlte, wie das Leid und die Anmut und die Geduld des japanischen Lebens mit ihrer Stimme sanft in mein Herz drangen, klagend nach etwas suchend, das nie darin gewesen. Eine unsichtbare Zärtlichkeit schien um mich zu schweben und zu vibrieren, und längst vergessene Orte und Zeiten tauchten sachte vor mir auf, verknüpft mit noch geheimnisvolleren Gefühlen, – Gefühlen, losgelöst von Zeit und Raum. Dann sah ich, daß die Sängerin blind war.

Buchschmuck

Als der Gesang verstummte, nahmen wir die Frau mit in das Haus und fragten sie nach ihrem Leben. Sie hatte einstmals bessere Tage gesehen und als junges Mädchen die Samisen spielen gelernt. Der kleine Knabe war ihr Sohn. Ihr Gatte war gelähmt, die Blattern hatten ihre Augen zerstört. Aber sie war kräftig und konnte viele Meilen gehen. Wenn der Kleine müde wurde, trug sie ihn auf ihrem Rücken. Sie war imstande, sowohl den bettlägerigen Gatten als auch das Kind zu erhalten, denn wann immer sie sang, wurden die Leute zu Tränen gerührt, und gaben ihr Kupfermünzen und Essen.

Dies war ihre Geschichte. Wir gaben ihr etwas Geld und eine Mahlzeit, und sie ging, von ihrem Knaben geleitet, fort.

Buchschmuck

Ich hatte ein Exemplar der Ballade gekauft, die von einem kürzlich stattgefundenen Doppelselbstmorde handelte: »Die traurige Weise von Tamayoné und Takejir«, komponiert von Takanaka Yoné, von Nummer vierzehn der vierten Abteilung von ›Nippon-Bashi‹ im Süddistrikte der Stadt Osaka«.

Es war offenbar ein Holzdruck, und es waren zwei kleine Bilder dabei. Eines zeigte ein Mädchen und einen Knaben, beide zu Tode betrübt. Das andere, eine Art von Schlußvignette, stellte ein Schreibpult dar, eine erlöschende Lampe, einen offenen Brief, eine Schale mit brennendem Weihrauch, und eine Vase, angefüllt mit »Shikimi«, jener heiligen Pflanze, die bei der buddhistischen Zeremonie der Opferdarbringungen für die Toten zur Anwendung kommt. Von dem wunderlichen Kursivtext, der wie senkrecht geschriebene Stenographieschrift aussah, lassen sich nur einzelne Zeilen wie die folgenden übersetzen:

»In der ersten Abteilung von Nichi-Hommachi, im weitberühmten Osaka – (oh, über das Weh dieser Shinshugeschichte!)

»Tamayoné, neunzehn Lenze zählte sie – sie sehen, hieß sie lieben für Takejiro, den jungen Arbeiter.

»Für die Zeit von zwei Leben tauschen sie Gelübde gegenseitiger Liebe – (oh, über das Weh, eine Geisha zu lieben).

»Auf ihren Arm tätowieren sie einen Regendrachen, und die Zeichen ›Bambus‹ – uneingedenk der Sorgen des Lebens ...

»Aber er kann die fünfundfünfzig Yen für ihre Freiheit nicht bezahlen – (oh, über den Kummer in Takejiros Herzen!).

»Darum geloben sie sich beide, gemeinsam in den Tod zu gehen, da sie hienieden niemals Mann und Weib werden können ...

»Sie weiß, ihre Gespielinnen werden ihr Weihrauch und Blumen darbringen – (oh, welch Jammer, daß sie dahinschwinden, gleich dem Tau!)

»Tamayoné nimmt den nur mit klarem Wasser gefüllten Weinbecher, mit dem sich die, die vor dem Tode stehen, einander geloben.

»Oh, wie traurig ist der Selbstmord der Liebenden – oh, über den Jammer ihres dahin geopferten Lebens!«

Kurz, es war nichts Ungewöhnliches an der Geschichte, und durchaus nichts Bemerkenswertes an den Versen. Das ganze Wunder des Vortrags lag in der Stimme der Frau. Lange, nachdem die Sängerin gegangen war, schien ihre Stimme noch zu verweilen, und zitterte in mir mit einem Gemisch von Wehmut und süßer Lieblichkeit nach, so eigenartig, daß ich nicht umhin konnte, über das Geheimnis dieser magischen Töne nachzusinnen.

Und was ich dachte, formte sich so:

Aller Gesang, alle Melodie, alle Musik bedeutet nur eine Evolution der ursprünglichen Gefühlsäußerung, jener ungekünstelten Sprache des Kummers, der Freude, der Leidenschaft, deren Worte Töne sind. Ebenso wie andere Sprachen variieren, ebenso variiert diese Sprache der Tonkombination. Weshalb Melodien, die uns tief bewegen, für japanische Ohren keinerlei Bedeutung haben, während Melodien, die uns Eindruck machen, das Empfindungsleben einer Rasse, deren Seelenleben von dem unserigen abweicht, wie etwa Blau von Gelb, vollständig unberührt lassen ...

Und dennoch, woran liegt es, daß in mir, dem Fremden, durch einen orientalischen Gesang, den ich nicht einmal erlernen könnte, durch den gewöhnlichen Gesang eines blinden Weibes aus dem Volke, so tiefe Gefühle ausgelöst werden?

Sicherlich mußten in der Stimme der Sängerin irgendwelche Elemente vorhanden sein, die imstande waren, an etwas Höheres zu appellieren, als an die Erfahrungssumme einer einzigen Rasse, an etwas Großes, wie das menschliche Leben selbst, und Altes, Uraltes, wie die Erkenntnis von Gut und Böse.

Buchschmuck

An einem Sommerabend vor fünfundzwanzig Jahren hörte ich in einem Londoner Park eine Mädchenstimme einem Vorübergehenden »Gute Nacht« sagen. Nichts als diese zwei kleinen Wörtchen: »Gute Nacht«. Ich weiß nicht, wer sie war, ja, ich habe nicht einmal ihr Gesicht gesehen und diese Stimme niemals wieder gehört. Und doch, nachdem seither hundert Jahreszeiten gewechselt haben, läßt mich die bloße Erinnerung an ihr »Gute Nacht« in einer unbegreiflichen, zwiespältigen Empfindung von Freud und Leid, Leid und Freud erschauern, die zweifellos nicht mir, nicht meinem eigenen Leben angehört, sondern Präexistenzen und erloschenen Sonnen.

Denn das, was den Zauber einer Stimme ausmacht, die man nur einmal vernommen hat, kann nicht von dieser Welt sein. Es gehört zahllosen, vergessenen Leben. Sicherlich hat es nie zwei Stimmen gegeben, die genau dieselbe Färbung gehabt haben. Aber in der Sprache der Liebe liegt eine Zärtlichkeit des Timbres, die den Myriaden Millionen Stimmen der ganzen Menschheit eigen ist. Ererbte Gewohnheit läßt selbst Neugeborene den Sinn des liebkosenden Tons verstehen. Zweifellos ererbt ist auch unsere Kenntnis der Laute der Sympathie, der Trauer, des Mitleids. Und so vermag die Stimme dieses blinden Weibes in der Stadt des fernen Orients selbst in einem abendländischen Geiste tiefere Empfindungen als die des individuellen Seins wiederzubeleben, das vage, stumme Pathos vergessener Schmerzen, dumpfe Liebesimpulse unvordenklicher Generationen. Die Toten sterben nie ganz. Sie schlummern in den dunkelsten Zellen müder Herzen und geschäftiger Hirne, um in seltenen Momenten durch das Echo irgendeiner Stimme, die ihre Vergangenheit zurückruft, erweckt zu werden.

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