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Buchschmuck

Ein Konservativer

Buchschmuck Er war in einer Stadt im Innern des Landes geboren, der Residenz eines Daimyo mit einem Territoriumbesitz von hunderttausend Koko (altes japanisches Maß). Kein Fremder hatte die Gegend jemals betreten. Die Yashiki Residenz eines Daimyo. seines Vaters, eines Samurai von hohem Rang, lag innerhalb der äußern Festungsmauern, von denen der fürstliche Palast umgeben war. Es war eine weitläufige Yashiki, und dahinter und ringsum dehnten sich Landschaftsgärten. In einem derselben stand ein kleiner Tempel mit dem Bildnis des Kriegsgottes. Vor vierzig Jahren gab es viele solche Residenzen. Künstleraugen erscheinen die wenigen noch übriggebliebenen wie Feenpaläste und ihre Gärten wie buddhistische Paradiesesträume.

Aber die Söhne der Samurais standen in jenen Tagen unter strenger Zucht, und der junge Edelmann, von dem ich erzählen will, hatte wenig Zeit zum Träumen. Die Zeit der Liebkosungen war ihm sehr karg zugemessen worden, denn noch ehe er mit der ersten »Hakama« (Beinkleid) bekleidet wurde, – dazumal eine große Zeremonie – wurde er verhätschelnden Einflüssen soviel als möglich entzogen und gelehrt, den natürlichen Impuls kindlicher Zärtlichkeit zu unterdrücken. Kleine Spielkameraden fragten ihn spöttisch: »Trinkst du noch aus der Milchflasche?« wenn sie ihn an der Hand seiner Mutter ausgehen sahen, – wohl konnte er daheim rückhaltlos seiner Zärtlichkeit gegen sie Ausdruck geben, aber die Stunden, die er bei ihr zubringen durfte, waren sehr wenige. Alle müßigen Vergnügungen wurden von der Erziehung strenge beschränkt, und es war ihm keinerlei kleine Bequemlichkeit, außer in Krankheitsfällen, gestattet. Schon im allerfrühsten Kindheitsstadium, – kaum daß er recht sprechen konnte –, hielt man ihn an, die Pflicht als das bestimmende Lebensmotiv zu betrachten, Selbstbeherrschung als das erste Erfordernis des Betragens, und Schmerz und Tod, insoferne sie die eigene Person betrafen, als belanglose Dinge anzusehen.

Diese spartanische Zucht hatte ein noch grausameres Erziehungsprinzip, das darauf abzielte, eine kalte Härte großzuziehen, die, außer in der traulichen Intimität der Häuslichkeit, niemals abgestreift werden durfte. Die Knaben wurden an den Anblick von Blut gewöhnt. Man nahm sie zu Hinrichtungen mit, man verlangte von ihnen, daß sie keinerlei Gemütsbewegung dabei bekundeten, und bei ihrer Rückkehr nach Hause mußten sie all ihr inneres Grauen unterdrücken und eine reichliche Mahlzeit Reis, der durch einen Zusatz von gesalzenem Pflaumensaft blutrot gefärbt war, verzehren. Ja sogar noch mehr konnte von einem jungen Knaben verlangt werden – man konnte ganz wohl von ihm fordern, zu nachtschlafender Zeit auf den Richtplatz zu gehen, und als Zeichen seines Mutes einen abgeschlagenen Kopf zurückzubringen. Denn Furcht vor den Toten wurde bei einem Samurai als nicht weniger verächtlich angesehen, wie Angst vor lebenden Menschen. Ein Samurai-Kind durfte sich vor nichts fürchten. Bei allen solchen Anlässen hatte es vollkommene Gelassenheit zu zeigen, und die geringste Prahlerei würde ebenso streng verurteilt worden sein, wie dies bei einem Zeichen von Feigheit der Fall gewesen wäre.

Wuchs ein Knabe heran, mußte er sein Vergnügen hauptsächlich in jenen Körperübungen finden, die für den Samurai die frühe und unablässige Vorbereitung für den Krieg waren – Bogenwerfen, Fechten, Reiten und Ringen. Man gesellte ihm Spielgenossen, aber sie waren älter als er, Söhne von Lehnsleuten, ausgesucht nach ihrer Begabung, ihn in der Übung kriegerischer Fähigkeit zu fördern. Es lag ihnen auch ob, ihn das Schwimmen zu lehren, ein Boot zu handhaben und seine jungen Muskeln zu entwickeln. Sein Tag war zwischen solchen körperlichen Übungen und dem Studium der chinesischen Klassiker geteilt. Seine Nahrung, obgleich reichlich, enthielt nie Leckerbissen, seine Kleidung war – außer bei großen Zeremonien, – leicht und von groben Stoffen. Feuer anzuzünden zu dem bloßen Zweck, sich daran zu wärmen, war ihm nicht gestattet. Waren seine Hände beim Studieren an frostigen Wintertagen so kalt geworden, daß sie den Schreibpinsel nicht mehr handhaben konnten, mußte er sie in Eiswasser tauchen, um die Finger wieder gelenkig zu machen, – waren seine Füße erstarrt, hieß man ihn sich im Schnee tummeln, um sie wieder zu erwärmen. Noch strenger war das System, durch das er in die Anschauungen der militärischen Kaste über die Würde eines Samurai eingeführt wurde, und man prägte ihm schon zeitig ein, daß das kleine Schwert an seiner Seite weder ein Zierat, noch ein Spielzeug sei. Man zeigte ihm, wie er damit umgehen müsse, wie er damit sein eigenes Leben ohne Zaudern vernichten könne, wenn es der Ehren-Kodex seiner Klasse so forderte. »Ist dies wirklich der Kopf deines Vaters?« fragte einst ein Prinz einen Samurai-Knaben. Das Kind erkannte allsogleich die Sachlage. Der ihm vorgezeigte, eben vom Rumpf getrennte Kopf war nicht der seines Vaters – der Daimyo war irregeführt worden, aber die Täuschung mußte fortgesetzt werden, – blitzschnell hatte der Knabe dies begriffen, und ohne sich auch nur einen Augenblick zu bedenken, vollzog er das »Harakiri« an sich, nachdem er dem Kopf mit allen Zeichen kindlicher Trauer, die gebührende Ehre erwiesen. Bei diesem blutigen Beweis schwanden alle Zweifel des Prinzen, der geächtete, verurteilte Vater konnte gerettet werden, und das Andenken des Knaben wird noch immer in japanischen Trauerspielen und Dichtungen gefeiert.

Wenn er vom Knaben zum Jüngling heranreifte, ließ die Strenge der Beaufsichtigung nach. Man gestattete ihm immer mehr und mehr nach eigener Einsicht zu handeln, aber immer in voller Erkenntnis, daß ein Irrtum nicht übersehen, ein ernstes Vergehen nicht völlig vergeben werden würde, und daß man einen wohlverdienten Vorwurf mehr fürchten müsse, als den Tod. Andererseits gab es nur wenige moralische Gefahren, vor denen man ihn zu schützen brauchte. Das professionelle Laster war damals strenge aus vielen Provinzhauptstädten verbannt, und die unmoralische Seite des Lebens, wie sie sich in den volkstümlichen Romanen und Dramen wiederspiegelt, blieb einem jungen Samurai unbekannt. Er wurde gelehrt, diese alltägliche Literatur, die sich entweder an die weicheren Empfindungen oder an die Leidenschaften wendete, als unmännlich zu verachten, und der Theaterbesuch war seinem Stande verboten. So konnte in diesem unschuldigen Provinzleben des alten Japans ein Jüngling reinen Sinnes und in völliger Unberührtheit aufwachsen.

Ganz so war auch der junge Samurai, von dem ich jetzt erzählen will. Furchtlos, höflich, selbstverleugnend, das Vergnügen verachtend, und gegebenenfalls im Augenblicke bereit, sein Leben unbedenklich hinzugeben, wenn es Liebe, Untertanenpflicht, oder die Ehre forderte. Aber obgleich er nach seiner körperlichen und geistigen Entwicklung schon als Krieger gelten durfte, war er an Jahren doch kaum mehr als ein Knabe zur Zeit, da das Land zum erstenmal durch das Kommen der »schwarzen Schiffe« aufgeschreckt wurde.

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Die Politik Jyemitsus, die jedem Japaner bei Todesstrafe verbot, das Land zu verlassen, hatte die Nation zwei Jahrhunderte hindurch in völliger Unkenntnis der übrigen Welt erhalten. Von den kolossalen Mächten, die sich jenseits des Meeres bedrohlich entwickelten, wußte man nichts. Die holländischen Kolonisten in Nagasaki hatten Japan in keiner Weise über die Lage, in der ihr Land sich befand, aufgeklärt: Ein orientalischer Feudalismus, bedroht von der um drei Jahrhunderte in der Entwicklung weiter vorgeschrittenen abendländischen Welt. Schilderungen der wirklichen Wunder jener Zivilisation hätten den Japanern wie Märchen geklungen, dazu erfunden, um Kinder zu ergötzen, oder sie hätten sie auch in eine Kategorie mit den alten Erzählungen von Horais märchenhaften Palästen gestellt. Das Landen der amerikanischen Flotte, »der schwarzen Schiffe«, – wie sie sie nannten, – brachte die Regierung zum erstenmal zum Bewußtsein ihrer eigenen Schwäche und der Gefahr, die aus der Ferne drohte.

Der Volkserregung bei der Nachricht von der zweiten Landung der »schwarzen Schiffe« folgte große Bestürzung, als das Shogunat sich außerstande erklärte, die fremden Eindringlinge abzuwehren. Dies konnte ja nur eine noch größere Gefahr bedeuten, als die der Tartaren-Invasion in den Tagen des Hojo Tokimuné, wo das Volk die Götter um Hilfe angefleht, ja der Kaiser selbst in Isé die Geister seiner Ahnen beschworen hatte. Diesem Gebete war eine plötzliche Sonnenfinsternis gefolgt. Unter schrecklichem Donnergetöse erhob sich ein wütender Orkan, von dem noch bis zum heutigen Tage unter dem Namen »Kami-kazé« (der Sturm der Götter) erzählt wird. Dieses Unwetter zerschmetterte die Flotte Kublai Khans und versenkte sie in die Tiefe. Warum sollte man nicht auch jetzt Gebete zum Himmel entsenden? Dies geschah denn in Tausenden von Häusern und vor zahllosen Altären. Aber die Allmächtigen gaben diesmal keine Antwort – der »Kami-kazé« stellte sich nicht ein. Und der Samurai-Knabe vor dem kleinen Altar in seines Vaters Garten fragte sich grübelnd, ob die Götter ihre Kraft eingebüßt hätten, oder ob gar die Völker der »schwarzen Schiffe« unter dem Schutz mächtigerer Götter stünden?

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Bald wurde es klar, daß es gar nicht auf die Vertreibung der fremden Eindringlinge abgesehen war. Sie waren zu Hunderten gelandet, aus dem Osten und aus dem Westen, und für ihren Schutz war alle mögliche Vorsorge getroffen worden. Sie hatten ihre eigenen seltsamen Städte auf japanischem Boden erbauen dürfen, – ja die Regierung hatte sogar einen Befehl ergehen lassen, daß abendländische Wissenschaft an allen japanischen Schulen gelehrt werden, das Studium des Englischen einen wichtigen Gegenstand des Unterrichtswesens bilden, und der öffentliche Schulunterricht nach abendländischem Muster umgemodelt werden sollte. Die Regierung hatte auch erklärt, daß die Zukunft des Landes auf dem Studium und der Beherrschung der fremden Sprache und der Wissenschaft der Fremden beruhen müsse. Bis diese Studien günstige Resultate erzielten, sollte Japan unter fremder Vormundschaft verbleiben. Dies gestand man freilich nicht öffentlich zu, aber die Bedeutung dieser Regierungspolitik war unverkennbar. Nach der ersten heftigen Erschütterung, die die Offenbarung der Sachlage hervorrief, nach der großen Verzweiflung des Volkes und der unterdrückten Wut der Samurais machte sich eine lebhafte Neugierde nach der Beschaffenheit dieser frechen Eindringlinge geltend, die imstande gewesen waren, durch bloße Entfaltung ihrer überlegenen Macht alles zu erreichen, was sie wünschten. Diese allgemeine Neugierde wurde teilweise durch eine ungeheure Produktion billiger Farbendrucke befriedigt, die die Sitten und Gewohnheiten der Barbaren, und die merkwürdigen Straßen ihrer Ansiedelungen darstellten. In den Augen der Ausländer würden sich diese Bilder wie reine Karikaturen ausgenommen haben, aber die Absicht der japanischen Künstler ging keineswegs darauf aus zu karikieren, – sie versuchten Fremde zu porträtieren, wie sie sie wirklich sahen, und sie sahen sie als grünäugige Ungeheuer, mit rotem Haar wie Shoyo Ein affenähnliches Fabeltier mit rotem Haar und wildem Aussehen, berüchtigt durch seine ungezügelte Trunksucht. und mit Nasen wie Tengu Mythologische Wesen, die in Felsspalten leben sollen, einige werden mit wunderlich langen Nasen dargestellt., die sich in Gewänder von absurden Formen und Farben kleideten und in Gebäuden wohnten, die Warenhäusern oder Gefängnissen ähnlich sahen. Zu Hunderttausenden im ganzen Lande verbreitet, müssen diese Bilder seltsame Vorstellungen von diesen Neuankömmlingen hervorgerufen haben und dennoch waren sie nur harmlose, aufrichtig gemeinte Versuche, das. Unbekannte darzustellen. Man sollte diese Bilder in Europa studieren, um zu verstehen, wie wir den Japanern jener Zeit erschienen sind, – wie häßlich, wie grotesk und wie lächerlich!

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Der junge Samurai aus der Stadt sah sich bald einem leibhaftigen Abendländer gegenüber, den der Fürst für ihn als Lehrer engagiert hatte. Es war ein Engländer. Er kam unter dem Schutze einer bewaffneten Eskorte, und es wurde Befehl gegeben, ihn als eine Persönlichkeit von Distinktion zu behandeln. Er sah nicht ganz so häßlich aus, wie die Fremden auf den Bildern, sein Haar war freilich rot und seine Augen hatten eine seltsame Farbe, aber sein Gesicht war nicht unangenehm. Allsogleich wurde er der Gegenstand der allgemeinen Beobachtung und blieb es lange Zeit. Wie genau seine Handlungen beobachtet wurden, kann niemand ermessen, der nicht die seltsamen Vorurteile, die vor der Meiji-Epoche über die Ausländer herrschten, kennt. Obgleich man die Abendländer als intelligente und höchst gefährliche Wesen ansah, galten sie doch nicht voll als Menschen; vielmehr meinte man, daß sie dem Tierreich näher ständen, als der Menschheit. Sie hatten haarige Körper von seltsamer Form, ihre Zähne glichen denen der Menschen nicht, ihre inneren Organe waren auch merkwürdig, – und ihre moralischen Ideen gar waren die der Kobolde. Die Einschüchterung, die damals die Fremden hervorriefen – nicht bei den Samurais, sondern bei dem Volke – war keine physische, sondern eine abergläubische Furcht. Selbst der japanische Bauer war nie ein Feigling. Aber um sein Gefühl gegen die Fremden von damals zu begreifen, müssen wir auch etwas von dem alten, sowohl den Japanern, wie den Chinesen eigentümlichen Glauben an die mit übernatürlicher Macht begabten Fabeltiere wissen, die imstande waren, menschliche Gestalt anzunehmen; an die Existenz von Halbmenschen- und Übermenschen- und an die mythischen Wesen der alten Bilderbücher: bärtige Kobolde mit langen Ohren und Beinen (Ashinaga und Tenaga), entweder von naiven Künstlern mit treuherzigem Ernst gemalt, oder von dem Pinsel Hokusais komisch behandelt. Der Anblick der Fremden schien die von einem chinesischen Herodot erzählten Fabeln zu verwirklichen, und ihre Kleidung sollte offenbar das verbergen, was sie als nicht menschliche Wesen verraten haben würde.

So wurde der junge Lehrer, ohne daß er davon eine Ahnung hatte, als ein seltsames Tier eingehend studiert. Bei alledem erwiesen ihm aber seine Schüler nur Artigkeit. Sie behandelten ihn nach jenem chinesischen Gebot, »daß man nicht einmal auf den Schatten eines Lehrers treten dürfe«. In jedem Fall fragten Samurai-Schüler wenig danach, ob ihr Lehrer ein Menschenwesen sei oder nicht, solange er zu unterrichten verstand. Hatte doch den Helden Yoshitstumé ein Tengu die Kunst ein Schwert zu handhaben gelehrt; Wesen von nicht menschlicher Gestalt hatten sich des öftern als Gelehrte und Dichter erwiesen. Aber hinter der nie gelüfteten Maske der Höflichkeit wurde über die Gewohnheiten des Fremden genau Buch geführt, und das endgültige Urteil, das aus solchen Vergleichungen und Beobachtungen resultierte, war nicht allzu schmeichelhaft. Der Lehrer selbst wäre nie imstande gewesen, sich von der Kritik seiner Schüler eine Vorstellung zu machen, noch hätte es sicherlich seine Gemütsruhe bei dem Korrigieren der Schularbeiten im Schulzimmer erhöht, wenn er die Bemerkungen der Schüler verstanden hätte:

»Du kannst an seiner Hautfarbe sehen, wie schlapp sein Fleisch ist. Es wäre ein Kinderspiel, seinen Kopf mit einem Hieb herunterzuschlagen.«

Einmal kam es ihm in den Sinn, an ihren Ringübungen teilzunehmen – zum Spaß natürlich – aber sie wollten seine physische Kraft wirklich erproben, er wurde als Athlet nicht sehr hoch veranschlagt: »Seine Arme sind ja stark,« sagte einer, »aber er versteht nicht mit dem Körper nachzuhelfen, wenn er sie benützt – und seine Hüften sind sehr schwach – ihm das Rückgrat zu brechen, wäre ein Leichtes.« »Ich glaube, es wäre sehr leicht, mit den Fremden zu kämpfen,« sagte ein Dritter. »Mit Schwertern wäre es ein Leichtes,« entgegnete ein Vierter, »aber in der Handhabung von Feuerwaffen sind sie viel geschickter als wir.«

»All dies können wir lernen,« sagte der Erste, »und haben wir erst die abendländische Kriegskunst erlernt, dann brauchen wir uns nicht vor ihren Soldaten zu fürchten.«

»Die Fremden sind nicht so abgehärtet wie wir,« bemerkte ein anderer, »sie ermüden leicht, und fürchten die Kälte, – den ganzen Winter über muß unser Lehrer in seinem Zimmer ein großes Feuer haben, – müßte ich nur fünf Minuten dort bleiben, hätte ich schon Kopfschmerzen.« –

Aber bei alledem waren die Knaben sehr fügsam ihrem Lehrer gegenüber, und er gewann sie lieb.

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Veränderungen kamen, wie große Erdbeben kommen, – ohne vorhergehende Warnung: Die feudalen Fürstentümer wurden in Präfekturen umgewandelt, die Vorrechte der Kriegerkaste abgeschafft, das ganze Gesellschaftsgebäude auf neuer Grundlage rekonstruiert. Diese Ereignisse erfüllten den Jüngling mit Trauer, obgleich es ihm nicht schwer fiel, seine Lehnspflicht vom Fürsten auf den Kaiser zu übertragen, und obgleich der Reichtum seiner Familie in keiner Weise durch diese Umwälzung Einbuße erlitt. Alle diese Veränderungen zeigten ihm jedoch, in welcher Gefahr die nationale Kultur schwebte. Sie kündeten das unvermeidliche Verschwinden der alten hohen Ideale und fast aller geliebten Dinge. Aber er war sich dessen wohl bewußt, hier half kein Trauern, – einzig durch die Selbstumwandlung durfte die Nation hoffen, ihre Unabhängigkeit zu retten. Es war Patriotenpflicht, sich der Notwendigkeit zu fügen und sich darauf vorzubereiten, in dem Drama der Zukunft eine Rolle zu spielen.

In den Samurai-Schulen hatte er so viel Englisch gelernt, daß er sich mit den Fremden gut verständigen konnte. Er stutzte sein langes Haar, legte seine Schwerter ab und begab sich nach Yokohama, um das Studium der Sprachen unter günstigern Verhältnissen fortzusetzen. Der Kontakt mit den Fremden hatte selbst die japanische Hafenbevölkerung umgewandelt – sie waren roh und vulgär, und sprachen und benahmen sich, wie die unteren Volksschichten in seiner Vaterstadt es niemals zu tun gewagt hätten. Die Fremden selbst machten auf ihn einen noch unangenehmeren Eindruck. Es war der Zeitpunkt, wo die fremden Ansiedler den Ton von Siegern gegen Besiegte anschlagen durften und wo das Leben in den offenen Häfen weit weniger anständig war, wie jetzt. Die neuen Ziegelbauten erinnerten in unangenehmer Weise an die japanischen Farbendrucke, die die Sitten und Gebräuche der Ausländer darstellten, und er vermochte seine knabenhaften, phantastischen Vorstellungen über die »Fremden« nicht so schnell abzustreifen.

Seine Vernunft ließ sich freilich davon überzeugen, daß sie wirklich Menschen waren wie er selbst, aber in seinem innersten Empfinden wollte sich das Verständnis für ihr ihm verwandtes Menschentum noch nicht einstellen.

Das Rasseempfinden ist eben älter als die intellektuelle Entwicklung, und er konnte die abergläubischen Vorstellungen, die damit zusammenhängen, nicht so leicht abschütteln. Auch geriet sein kriegerischer Sinn hie und da durch häßliche Dinge, die er sah oder hörte, in Wallung – Vorfälle, die den heißen Impuls seiner Vorfahren in ihm wachriefen, eine Feigheit zu rächen, oder ein Unrecht zu sühnen.

Aber er lernte seinen Widerwillen besiegen, der ein Hindernis für seine Fortbildung sein konnte. Es war Patriotenpflicht, die Natur des Feindes seiner Nation zu studieren. Allmählich eignete er sich die Fähigkeit an, das ihn umgebende Leben vorurteilslos zu beobachten, seine Vorzüge ebenso wie seine Mängel, seine Stärke nicht minder wie seine Schwäche. Er fand Güte, er fand Hingebung an die Ideale, Ideale, die nicht den seinigen glichen, aber denen er seine Achtung nicht versagen konnte, weil sie wie die Religion seiner Vorfahren Selbstverleugnung in vielen Dingen forderten.

Auf diese Weise faßte er Liebe und Vertrauen zu einem alten Missionär, der in seinem Erziehungs- und Bekehrungswerke ganz aufging. Dem alten Manne lag es ganz besonders am Herzen, den Jüngling zu bekehren, bei dem er Fähigkeiten ungewöhnlicher Art erkannte, und er gab sich alle erdenkliche Mühe, das Vertrauen des Knaben zu gewinnen. Er stand ihm in vielen Dingen bei, unterwies ihn im Französischen, Deutschen, Griechischen und Lateinischen und stellte ihm seine große Bibliothek zu freier Verfügung. Zutritt zu einer ausländischen Bibliothek zu haben, die Werke über Geschichte, Philosophie, Reisebeschreibungen und schöne Literatur enthielt, war damals ein seltenes Privilegium für einen japanischen Studenten. Das Anerbieten wurde daher mit größter Dankbarkeit angenommen, und dem Besitzer der Bibliothek fiel es natürlich nicht schwer, seinen Lieblingsschüler bald zur Lektüre eines Teiles des Neuen Testaments zu bestimmen. Der Jüngling drückte sein Erstaunen darüber aus, »in den Lehren der bösen Sekte« ethische Vorschriften zu finden, die denen des Confucius glichen. Er sagte dem alten Missionär: »Diese Lehre ist uns nicht neu, aber sie ist sicherlich sehr gut. Ich werde das Buch studieren und darüber nachdenken.«

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Das Studium und das Nachdenken sollten den Jüngling viel weiter führen, als er für möglich gehalten hätte. Die Erkenntnis, daß das Christentum eine große Religion sei, brachte neue Zugeständnisse anderer Art mit sich, neue Vorstellungen über die Zivilisation der christlichen Rassen. Es schien damals vielen denkenden Japanern, vielleicht sogar auch den kühnen Geistern, die die nationale Politik leiteten, daß es vielleicht Japans Los sei, unter fremde Herrschaft zu kommen. Noch war freilich Hoffnung vorhanden, dies zu vermeiden und insolange auch nur der Schatten einer Hoffnung blieb, war jedermanns Pflicht sonnenklar. Aber die Macht, die das Kaisertum bedrohte, schien unwiderstehlich. Und indem er diese ungeheure Macht studierte, konnte der junge Samurai nicht umhin, sich mit einer Verwunderung, die an Furcht grenzte, zu fragen, woher diese fremde Zivilisation ihre Stärke schöpfte. Konnte sie, wie sein alter Lehrer behauptete, in irgend einer okkulten Beziehung zu einer höheren Religion stehen? Die alte chinesische Philosophie, die behauptete, die Glückseligkeit eines Volkes stehe im Verhältnis zu seiner Befolgung göttlicher Gesetze und seinem Gehorsam gegenüber den Lehren seiner Weisen, bestätigte eine solche Theorie. Und kam die überlegene Macht der abendländischen Zivilisation wirklich von der Überlegenheit der abendländischen Ethik, war es da nicht klare Pflicht jedes Patrioten, sich diesem höheren Glauben anzuschließen und die Bekehrung der ganzen Nation anzustreben? Ein Jüngling dieser Zeit, auferzogen in dem Geiste der chinesischen Wissenschaft, und naturgemäß in Unkenntnis der Geschichte der sozialen Evolution des Abendlandes, konnte sich unmöglich vorstellen, daß die höchsten Formen des materiellen Fortschritts durch eine erbarmungslose Konkurrenz entstanden seien, die nicht nur den Prinzipien des christlichen Idealismus widerstreitet, sondern auch mit jedem ethischen Prinzip unvereinbar ist.

Selbst jetzt noch glauben Millionen gedankenloser Menschen des Abendlandes an irgend einen göttlichen Zusammenhang zwischen der Militärmacht und dem christlichen Glauben, und selbst von den Kanzeln wird göttliche Rechtfertigung für politische Raubzüge verkündet, und Erfindungen von Explosivgeschossen werden als göttliche Inspiration dargestellt. Bei uns ist der Aberglaube nicht auszurotten, daß die Rassen, die sich zum Christentum bekennen, von der Vorsehung ausersehen seien, andersgläubige Rassen zu berauben und zu vernichten. Einige Philosophen haben die Überzeugung ausgesprochen, daß wir noch Tor und Odin anbeten, nur mit dem Unterschied, daß Odin ein Mathematiker geworden ist, und daß jetzt der Hammer »Mjölne« mit Dampf arbeitet. Aber solche Männer werden von den Missionären für Atheisten und unsittliche Menschen erklärt.

Doch wie dem auch sei, es kam der Tag, da der junge Samurai beschloß, sich ungeachtet des heftigen Widerstands seiner Angehörigen zum Christentum zu bekennen. Dies war ein kühner Schritt, aber die strenge Zucht seiner Jugenderziehung hatte seinen Charakter gestählt, und nichts konnte ihn in seinem Entschlüsse wankend machen, selbst nicht der Kummer seiner Eltern. Sein Abfall von dem Glauben seiner Ahnen bedeutete für ihn mehr als einen vorübergehenden Schmerz: er verlor sein Erbrecht, er setzte sich der Verachtung seiner Kameraden aus, büßte seinen Rang ein und sah sich ohne alle Existenzmittel. Aber sein Samurai-Idealismus hatte ihn gelehrt, Eigensucht zu verachten. Er sah und dachte nur an das, was ihm als seine Pflicht als Patriot und Wahrheitssucher erschien, und er folgte diesem Gebot ohne Furcht und Zaudern.

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Diejenigen, welche hoffen, ihren eigenen abendländischen Glauben an Stelle einer alten Religion setzen zu können, die sie mit Zuhilfenahme von Argumenten der modernen Wissenschaft bekämpfen, bedenken nicht, daß die gegen den alten Glauben ins Treffen geführten Beweisgründe mit gleicher Kraft gegen den neuen angewendet werden können. Unfähig, sich selbst zu höheren Gedankensphären aufzuschwingen, vermag der Durchschnittsmissionär nicht vorauszusehen, welche Wirkung sein mangelhafter Unterricht auf Individuen von weit höherer Intelligenz als seiner eigenen, ausüben wird. Er ist deshalb erstaunt und betroffen, zu sehen, daß gerade seine intelligentesten Schüler sich am frühesten vom Christentum wieder lossagen. Den religiösen Glauben bei einem klugen Menschen zu zerstören, der mit der buddhistischen Schöpfungsgeschichte zufrieden war, weil er die modernen Wissenschaften nicht kannte, das ist nicht schwer; aber demselben Geiste abendländische Religion an Stelle orientalischen Gefühlslebens einzupflanzen, presbyterianische, lutherische oder päpstliche Dogmen an Stelle von chinesischer oder buddhistischer Ethik zu setzen, ist nicht möglich. Die psychologischen Schwierigkeiten eines solchen Vorgehens werden von den modernen Evangelisten nicht erkannt. Schon in alten Zeiten, als der Glaube der Jesuiten und der Mönche nicht weniger abergläubisch war als die Religion, die sie überwinden wollten, waren dieselben tiefwurzelnden Hindernisse vorhanden, und die spanischen Priester mochten selbst, während ihr felsenfester Glaube und ihr fanatischer Feuereifer Wunder vollbrachten, die Empfindung gehabt haben, daß sie zur völligen Verwirklichung ihres Traumes die Unterstützung des Schwertes nicht würden entbehren können. Heutzutag sind die Bedingungen für Bekehrungswerke weit ungünstiger, als es jemals im sechzehnten Jahrhundert der Fall war. Das Erziehungssystem wurde auf wissenschaftlicher Basis umgestaltet: Unser religiöser Glaube ist durch eine Moral ersetzt worden, die die ethischen Forderungen auf rein sozialer Grundlage durchführt; und die Menge unserer Kirchen beweist keine Zunahme der Gläubigkeit, sondern nur einen gesteigerten Respekt vor der Konvention. Nie werden die abendländischen Konventionen im Osten herrschend sein, und nie wird man ausländischen Missionären gestatten, in Japan die Rolle der Sittenwächter zu spielen.

Schon haben die liberalen unter unseren Kirchen, die, deren Kultur die umfassendste ist, die Vergeblichkeit der Missionsarbeit erkannt. Aber es ist nicht notwendig, den alten Dogmatismus ganz zu stürzen, wenn man ein buddhistisches Volk lehren will, der Wahrheit näher zu kommen: sorgfältige Erziehung würde allein schon genügen, und die Nation, bei der das Erziehungswesen am höchsten steht, die Deutschen, senden keine Missionäre mehr in das Innere des Landes. Ein weit bedeutsamerer Erfolg der Missionsbemühungen, als der unvermeidliche, alljährliche Bericht über neue Bekehrungen, war die Reorganisation der Landesreligion, und ein neuerlicher Regierungserlaß, der die höhere Erziehung der Priesterschaft forderte. Ja, lange vor diesem Erlaß, hatten die wohlhabenden Sekten buddhistische Schulen nach abendländischem System errichtet, und die Shinshu-Sekte kann schon auf viele in Paris und Oxford erzogene Bekenner hinweisen, Männer, die den Sanskritgelehrten der ganzen Welt bekannt sind. Sicher wird Japan höhere Glaubensformen brauchen, als es seine mittelalterlichen waren, aber diese müssen sich selbst aus den alten Formen herausentwickeln. Von innen heraus, nicht von außen, muß die Renaissance kommen. Ein durch die abendländische Wissenschaft gestärkter Buddhismus wird den zukünftigen Bedürfnissen der Nation entsprechen.

Durch den neuen Proselyten in Yokohama sollten die christlichen Missionäre bald eine ihrer beschämendsten Niederlagen erfahren.

Stellung und Reichtum hatte er aufgeopfert, um ein Christ zu werden, oder eigentlich das Glied einer fremden Religionssekte, und schon nach wenigen Jahren, fiel er öffentlich von dem Glauben ab, den er um einen solchen Preis erwählt hatte! Er hatte die großen modernen Geister studiert und war in ihre Ideen besser eingedrungen, als seine Lehrer, die nicht mehr vermochten, seine Fragen zu beantworten, – es sei denn durch die Behauptung, daß Bücher, deren teilweises Studium sie ihm empfohlen hatten, als Ganzes eine Gefahr für den Glauben bedeuteten. Da sie aber außer stande waren, die angeblichen Irrlehren dieser Bücher zu beweisen, blieben ihre Warnungen unwirksam. Er sagte sich von der Kirche los, nach einer offenen Erklärung, daß ihre Lehrsätze nicht auf wahrer Vernunft oder wirklichen Fakten beruhen, und daß er sich berufen fühle, die Anschauung der Männer anzunehmen, die seine Lehrer als Feinde des Christentums verdammt hatten. Sein Abfall machte ungeheures Aufsehen.

Der wirkliche Abfall sollte jedoch erst kommen. Im Gegensatz zu anderen, die eine solche Erfahrung gemacht hatten, wußte er, daß die Religionsfrage für ihn nur zeitweilig in den Hintergrund getreten war, und daß er kaum noch das Alphabet dessen gelernt hatte, was noch zu lernen war. Er hatte den Glauben an den relativen Wert der Religionen als bewahrende und zurückhaltende Mächte behalten. Die unklare Vorstellung einer Wahrheit, – der Wahrheit eines bestehenden Zusammenhanges zwischen den Zivilisationen und ihren Religionen, – hatte ihn zuerst auf den Pfad gelockt, der zu seiner Bekehrung führte. Die chinesische Philosophie lehrte ihn das, was die moderne Soziologie als Gesetz erkennt: Daß kein menschliches Gemeinwesen je ohne Priesterschaft höhere Entwicklung erreicht hat. Und der Buddhismus hatte ihn gelehrt, daß selbst die Wunder dem schlichten Geist in Parabelform als Wirklichkeit vorgeführt, ihren Wert und ihre Berechtigung als Hilfsmittel zur Entwicklung des ethischen Lebens des Menschengeschlechtes haben können. Von diesem Gesichtspunkt blieb sein Interesse für das Christentum unvermindert. Obgleich er das, was ihm sein Lehrer von der höheren Moral der christlichen Nationen gesagt hatte, bezweifelte, – allerdings hatte er in dem Leben der offenen Häfen keine richtigen Beispiele dafür gefunden, – wünschte er doch sich von dem Einfluß der Religion auf die Sittlichkeit durch eigene Anschauung im Abendlande zu überzeugen. Er beschloß, europäische Länder zu besuchen und die Ursache ihrer Entwicklung und den Grund ihrer Macht zu studieren.

Diesen Entschluß konnte er früher ausführen, als er gehofft hatte.

Die intellektuelle Regsamkeit, die ihn in religiösen Dingen zu einem Zweifler gemacht hatte, hatte ihn auch zum politischen Freidenker gemacht. Er zog sich die Ungnade der Regierung zu durch öffentliche Äußerungen, die in Widerspruch mit der herrschenden Politik standen, und mußte gleich anderen Unvorsichtigen, die unter dem Einflüsse der neuen Ideen handelten, sein Vaterland verlassen. Es begann für ihn eine Reihe von Wanderungen, die ihn allmählich rings um die Welt führten. Zuerst bot ihm Korea eine Zuflucht, dann China, wo er als Lehrer sein Dasein fristete, bis er sich endlich eines Tages an Bord eines Schiffes fand, das nach Marseille segelte. Er besaß nur wenig Geld, aber er machte sich keine Gedanken darüber, wie er in Europa leben können würde. Jung, stark, athletisch gebaut, genügsam und an Entbehrungen gewöhnt, fühlte er sich seiner selbst sicher, und überdies hatte er Briefe an Europäer, die ihm weiter helfen würden.

Aber Jahre sollten vergehen, ehe er sein Geburtsland wiedersehen konnte.

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Während dieser Jahre lernte er die abendländische Zivilisation so gründlich kennen wie wenige Japaner. Denn er wanderte durch Europa und Amerika, lebte in vielen Städten, und betätigte sich auf vielen Gebieten, bald geistig, häufiger durch seiner Hände Arbeit, und war so in der Lage, die höchsten und niedersten, die besten und schlechtesten Seiten dieses Lebens zu studieren. Aber er sah mit den Augen des Orientalen, und seine Art zu urteilen war anders als die unsere. Denn ebenso wie der Abendländer den fernen Osten betrachtet, betrachtet der Orientale das Abendland. – Was in der eigenen Schätzung am höchsten steht, wird naturgemäß von dem Fremden am niedrigsten gewertet werden, und beide haben darin sowohl recht wie unrecht. Es hat niemals ein vollkommenes gegenseitiges Verständnis gegeben, und wird niemals ein solches geben.

Größer und mächtiger als seine Vorstellungen erschien ihm das Abendland, eine Welt von Riesen! Und das, was auch den mutigsten Abendländer bedrückt, wenn er sich allein und ohne Mittel und Freunde in einer großen Stadt sieht, muß gar oft den Geist des orientalischen Landflüchtigen bedrückt haben. Die vage Unruhe des Vereinsamten, unbeachtet zu sein, inmitten einer Million hastender Menschen, in dem betäubenden Getöse des Verkehrs, angesichts der monströsen, seelenlosen Architektur, der überwältigenden Aufhäufungen von Reichtümern, die Geist und Hand zwingen, – maschinengleich, – ihr Arbeitsvermögen bis zur äußersten Grenze menschlicher Kraft anzustrengen. Vielleicht sah er solche Städte, wie Doré London sah: als einen mächtigen Mammonstempel, mit schweren düsteren Bogen und Steingewölben, die sich in unermeßlichen Reihen hintereinander öffneten, mit gemauerten Bergen, an deren Fuß die Arbeit glühte und dampfte, wie die Wellen eines Feuermeers, und mit unendlichen Klüften, in denen die geordnete Arbeit die Resultate von jahrhundertelangen Anstrengungen zur Schau stellte. Aber nirgends sprach etwas zu seinem Schönheitssinn in all diesen endlosen Steinklüften, die die Sonne, den Himmel und die Winde ausschlössen. All das, was uns zu großen Städten zieht, bedrückte ihn und stieß ihn ab, selbst das glänzende Paris erfüllte ihn bald mit Überdruß.

Paris war die erste fremde Stadt, wo er sich länger aufhielt. Die französische Kunst, wie sie die ästhetischen Gedanken der begabtesten europäischen Nation spiegelte, überraschte ihn sehr, aber ohne ihn zu entzücken. Worüber er sich am meisten verwunderte, waren ihre Studien des nackten Körpers, in denen er nur das offene Eingeständnis einer menschlichen Schwäche erblickte, die seine stoische Erziehung ihn gelehrt hatte, – nächst der Feigheit und Unverläßlichkeit am tiefsten zu verachten. Auch die moderne französische Literatur gab ihm Anlaß zur Verwunderung. Er vermochte die erstaunliche Kunst der Erzählung nicht zu würdigen; den Wert der Technik an sich konnte er kaum schätzen, und hätte man ihm das Verständnis hierfür erschließen können wie einem Europäer, wäre er nichtsdestoweniger überzeugt geblieben, daß eine solche Art, seelische Kräfte für eine rein ästhetische Tätigkeit zu vergeuden, ein Zeichen sozialer Entartung sei. Und bald fand er in dem luxuriösen Leben der Hauptstadt selbst die Bestätigung dessen, was er aus der Literatur und Kunst gefolgert hatte. Er besuchte die Vergnügungsorte, die Theater, die Oper, er sah mit den Augen eines Asketen und Soldaten und verwunderte sich, warum das, was in den Augen des Abendländers den Wert des Lebens ausmachte, sich so wenig von dem unterschied, was dem Orientalen als Torheit und Weichlichkeit galt. Er sah auf fashionablen Bällen von der Mode sanktionierte Entblößungen des weiblichen Körpers, auf Eindrücke berechnet, die eine japanische Frau aus Scham hätten in den Boden versinken lassen, und er verwunderte sich, daß Abendländer von der natürlichen, sittsamen, gesunden Halbnacktheit der orientalischen Bauern bei ihrer Arbeit in der sommerlichen Sonne chokiert waren. Er sah Kathedralen und Kirchen in großer Zahl, und dicht daneben die Paläste des Lasters und Geschäfte, die durch den Verkauf schamloser Abbildungen, florierten. Er lauschte den Predigten großer Kanzelredner und hörte Blasphemien gegen alle Glaubenslehren, er sah die Kreise der Reichen und die Kreise der Armut und die Abgründe, die sich unter beiden öffneten. Die versittlichende Macht der Religion sah er nirgends.

Diese Welt hatte keinen Glauben, es war eine Welt des Trugs, der Verstellung, der Vergnügungssucht, des Egoismus, nicht von der Religion beherrscht, sondern von der Politik, eine Welt, in der geboren zu sein, wahrlich kein Glück zu nennen war! Das düsterere, imposantere, überwältigendere England bot ihm andere Probleme. Er studierte seinen ins Unermeßliche wachsenden Reichtum und dessen Kehrseite, den Schmutz und das Elend, das in seinem Schatten so üppig wuchert. Er sah die großen Häfen vollgepfropft mit den Reichtümern von hundert Ländern, das meiste Raubgut, und erkannte, daß die Engländer gleich ihren Vorfahren eine Rasse von Plünderern waren, und erwog, wie das Schicksal seiner Millionen sich gestalten würde, wenn es ihnen – sei's auch nur einen Monat lang, nicht möglich wäre, andere Nationen zu zwingen, alles für sie zu beschaffen. Er sah die Liederlichkeit und die Trunksucht, die die Nacht in dieser größten Stadt der Welt zu etwas Verabscheuungswürdigem machte, und er staunte über die konventionelle Heuchelei, die sich blind stellt; über die Religion, die Dankgebete spricht, angesichts solcher Verhältnisse; über die Verblendung, die Missionäre dorthin sendet, wo man ihrer nicht bedarf; und über die gedankenlose Wohltätigkeit, die in ihrer Weise zur Verbreitung von Krankheit und Laster beiträgt. Er las auch, daß ein großer Engländer, Alfred Russel Wallace. der viele Länder bereist hatte, erklärte, ein Zehntel der Bevölkerung Englands bestehe aus berufsmäßigen Verbrechern und Armenhäuslern. Und all dies, ungeachtet der Myriaden von Kirchen, und der zahllosen Gesetzesbestimmungen! Sicherlich, die englische Zivilisation zeigte ihm weniger als irgend eine andere, die angebliche Macht jener Religion, die man ihn gelehrt hatte, als den Ursprung allen Fortschritts anzusehen. Das englische Straßenleben enthüllte ihm ganz andere Bilder. In den Straßen buddhistischer Städte sah man nichts dergleichen. – Nein, diese Zivilisation war ganz einfach das Resultat eines verruchten Kampfes zwischen dem Arglosen und dem Hinterlistigen, dem Schwachen und dem Starken, wobei sich Stärke und Findigkeit verbündeten, um den Schwachen in eine gähnende Hölle zu stürzen. In Japan würde man sich, selbst in den wildesten Fieberträumen, einen solchen Zustand nicht vorstellen können! Aber dennoch konnte er nicht umhin, zuzugestehen, daß die materiellen und intellektuellen Resultate dieser Verhältnisse überwältigend waren; und obgleich das Böse, das er sah, das Maß dessen überschritt, was er für möglich gehalten hatte, sah er auch viel Gutes bei Arm wie bei Reich – die zahlreichen Widersprüche, und die verblüffende Mischung von Gut und Böse war ihm ein Rätsel, das sein Verstand nicht lösen konnte.

Er liebte das englische Volk mehr als die anderen Nationen, die er kennen gelernt hatte. Das Auftreten der englischen Gentry erinnerte ihn an das der Samurais. Hinter ihrer förmlichen Kälte konnte er große Anlagen zu Freundschaft und Güte erkennen, eine Tiefe der Empfindung, und einen hohen Mut, der eine halbe Welt unter englische Herrschaft gebracht hatte. Aber ehe er England verließ, um nach Amerika zu gehen, wo er ein weiteres Feld menschlicher Betätigung studieren wollte, hatten die Verschiedenheiten zwischen den Nationalitäten an Interesse für ihn verloren. Sie verblaßten vor seinem Blicke bei seinem wachsenden Verständnis für die Zivilisation des Abendlandes, als eines überwältigenden Ganzen, das überall in imperialistischen, monarchischen oder demokratischen Formen, dieselben unerbittlichen Notwendigkeiten mit denselben erstaunlichen Resultaten zeigte, und überall auf Grundlagen und Ideen basierte, die das totale Gegenteil von denen des fernen Ostens waren. In einer solchen Zivilisation fand er nichts, was er lieben konnte, solange er mitten darin lebte, und nichts, was er vermissen würde, wenn er für immer davon Abschied nahm. Sie stand seinem Seelenleben ebenso fern, wie das Leben auf einem anderen Planeten und unter einer anderen Sonne. Aber er konnte begreifen, was diese Nation wert war, wenn man den Maßstab des menschlichen Leides daran anlegte, er fühlte ihre drohende Macht, und ahnte die unermeßliche Bedeutung ihrer intellektuellen Überlegenheit.

Und er haßte sie; haßte ihren ungeheuren, unfehlbar fungierenden Mechanismus; haßte ihre berechnete Stabilität, haßte ihre Konventionen, ihre Habsucht, ihre blinde Grausamkeit, ihre ungeheure Scheinheiligkeit, die abschreckende Häßlichkeit ihrer Armut und die Frechheit ihres Reichtums. Bodenlose Tiefen des Verfalls hatte sie ihm gezeigt, aber keine Ideale, die den Idealen seiner Jugend gleichwertig gewesen wären. Es war alles ein großer wilder Krieg, und es schien ihm geradezu ein Wunder, daß so viel wahre Güte, die er selbst erfahren hatte, sich dabei erhalten konnte. Die wahre Überlegenheit des Abendlandes war bloß von intellektueller Art: weitgestreckte steile Höhen des Wissens, unter deren ewigem Schnee das Gefühlsleben erstarren mußte. Sicherlich, die alte japanische Zivilisation des Wohlwollens und der Tugend stand unvergleichlich höher in ihrer Auffassung des Glücks, in ihren ethischen Bestrebungen, ihrer vertieften Gläubigkeit, ihrem freudigen Mut, ihrer Schlichtheit und Selbstlosigkeit, ihrer Mäßigkeit und Genügsamkeit! Die Überlegenheit des Abendlandes war keine ethische. Sie lag in Kräften des Intellekts, die, durch unermeßliches Leid entwickelt, an der Vernichtung des Schwachen durch den Starken angewendet wurden.

Und doch, diese abendländische Wissenschaft überzeugte ihn mit ihrer unwiderleglichen Logik, daß diese Zivilisation allmählich immer größere Macht gewinnen und wie eine unwiderstehliche, unentrinnbare, unermeßliche Sintflut des Weltleids, sich über die Erde ergießen wird.

Japan mußte sich in die neuen Lebensformen fügen und sich die neuen Denkmethoden aneignen. Es gab keine andere Alternative. Und nun überkam ihn der Zweifel aller Zweifel, die Frage, die sich den Weisen aller Länder aufgedrängt hat: Ist die Weltordnung moralisch? Auf diese Frage hatte der Buddhismus die tiefste Antwort gegeben.

Aber ob moralisch oder nicht, gemessen mit dem unzulänglichen menschlichen Empfinden, eines blieb, was keine Logik erschüttern konnte: die Gewißheit, daß der Mensch die höchsten ethischen Ideale mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft bis zum unbekannten Ende anstreben müsse, und sollten sich ihm auch die Sonnen in ihrem Lauf entgegenstellen.

Die Notwendigkeit würde die Japaner zwingen, sich die fremde Wissenschaft anzueignen, vieles von der materiellen Zivilisation ihrer Feinde zu adoptieren, aber eine solche Notwendigkeit konnte sie nicht zwingen, ihre Ideen über Recht und Unrecht, Pflicht und Ehre aufzugeben. Langsam nahm ein Vorsatz in seinem Geiste Gestalt an, ein Vorsatz, der ihn in der Folge zum Führer und Lehrer seines Volkes machen sollte. Mit all seiner Kraft wollte er für die Erhaltung des Besten der alten Zeit wirken und sich furchtlos der weiteren Einführung all dessen entgegenstemmen, das nicht wesentlich der Selbsterhaltung und Selbstentwicklung seiner Nation förderlich war. Wohl konnte er scheitern, aber er konnte doch hoffen, aus dem allgemeinen Schiffbruch etwas Wertvolles zu retten. Die Verschwendungssucht des abendländischen Lebens hatte ihm mehr Eindruck gemacht als seine Vergnügungsgier und seine Leidensfähigkeit. In der reinlichen Armut seines eigenen Landes erblickte er Kraft, in seiner selbstlosen Sparsamkeit sah er die einzige Aussicht für den Wettbewerb mit dem Abendland. Die fremde Zivilisation hatte ihn gelehrt, den Wert und die Schönheit seines eigenen Landes zu verstehen, wie er es sonst nie zu verstehen vermocht hätte, und er verzehrte sich in Sehnsucht nach der Stunde, die ihm die Erlaubnis bringen würde, in sein Geburtsland zurückzukehren.

Buchschmuck

Es war in dem durchsichtigen Halbdunkel eines wolkenlosen Aprilmorgens, kurz vor Sonnenaufgang, als die Berge seiner Heimat wieder vor ihm auftauchten. Langgestreckte Höhenzüge, die dunkelviolett aus dem tiefschwarzen Wasser emporragten. Hinter dem Dampfer, der den Verbannten heimwärts trug, färbte sich der Horizont allgemach mit rosigen Flammen. Auf dem Deck standen schon einige Fremde, die sich den ersten, schönsten Anblick des Fuyi vom Meere aus nicht entgehen lassen wollten, denn der erste Anblick des Fuyi bleibt unvergeßlich in diesem und dem künftigen Leben. Sie blickten über die stufenförmig aufsteigenden gezackten Bergriesen in die tiefe Nacht, in der noch Sterne flimmerten, und sie konnten den Fuyi nicht sehen. »Ah,« lachte ein Offizier, an den sie sich wendeten, »Sie blicken zu niedrig, Sie müssen höher blicken, höher, viel höher!«

Dann blickten sie hinauf, hinauf, hinauf in das Herz des Himmels und sahen den mächtigen Gipfel in rosigem Schimmer erglühen wie eine wundersame geisterhafte Lotosknospe im Morgenrot des kommenden Tages: ein Schauspiel, das sie sprachlos machte. Der ewige Schnee färbte sich golden und verblaßte dann wieder, als die Sonne ihre Strahlen daraufsandte. Über den dunklen Bergrücken, ja über den Sternen selbst schien der Wunderberg zu schweben, denn die mächtige Basis blieb noch unsichtbar. Und die Nacht entfloh, ein sanftes blasses Licht huschte über das Himmelsgewölbe und erweckte schlummernde Farben. Und vor den Blicken der Betrachter öffnete sich die leuchtende Bucht Yokohamas mit dem heiligen Berge, dessen gespenstischer Gipfel über dem unsichtbaren Grunde wie eine schneeverhüllte Geistererscheinung in dem unendlichen Himmelsraum über allem zu schweben schien. In den Ohren der Reisenden klang noch das Wort »Ah, Sie müssen höher blicken, höher, viel höher!« – und lieh dem mächtigen, unwiderstehlichen Gefühl, das in ihren Herzen schwoll, einen bestimmten Rhythmus. Dann versank alles für ihn in einen Nebel. Er sah weder den Fuyi dort oben, noch die nahen Berge unten, die ihr duftiges Blau unter den Strahlen der Sonne in Grün wandelten, noch das Gewirr der Schiffe in der Bucht, noch etwas von dem neuen Japan. Vor seinem Geiste tauchte das alte Japan auf: Der Landwind, erfüllt vom Duft des Frühlings, strich über ihn hin und löste aus lange verschlossenen Räumen die Schatten von allem, was er einst verlassen hatte, und vergessen wollte. Er sah die Gesichter seiner teuren Toten, er erkannte ihre Stimmen über das Grab hinaus. Er war wieder ein kleiner Knabe in seines Vaters Yashiki, der aus einem leuchtenden Zimmer in das andere lief, auf besonnten Plätzen spielte, wo Blätterschatten über den Rasen glitten, oder in den weichen grünen träumerischen Frieden der Landschaft blickte. Wieder fühlte er die sanfte Berührung von seiner Mutter Hand, die seine trippelnden Schrittchen zu der Morgenandacht vor dem kleinen Hausaltar, vor die Ahnentafel der Vorfahren geleitete, und die Lippen des Mannes murmelten wieder, mit plötzlich neuem Sinn, das schlichte Gebet des Kindes.

Buchschmuck

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