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Buchschmuck

Der Geist der japanischen Zivilisation

Buchschmuck Ohne ein einziges Schiff einzubüßen und Ohne eine einzige Schlacht zu verlieren, hat Japan die Macht Chinas gebrochen, ein neues Korea geschaffen, sein eigenes Territorium erweitert und die ganze politische Physiognomie Ostasiens verändert. Wie erstaunlich dies schon in politischer Beziehung ist, erscheint es in psychologischer noch überraschender; denn es repräsentiert ein Spiel von Kräften, die man im Auslande dieser Rasse kaum zugetraut hatte, Kräfte einer sehr hohen Ordnung. Der Psychologe weiß, daß die Adoptierung der sogenannten »abendländischen Zivilisation« innerhalb eines Zeitraums von dreißig Jahren nicht die Erwerbung von organischen Fähigkeiten bedeuten kann, die das japanische Hirn früher nicht besessen hatte. Er weiß, daß dies nicht irgend eine plötzliche Veränderung der geistigen und moralischen Beschaffenheit der Rasse zur Folge haben kann. Solche Wandlungen vollziehen sich nicht in einer Generation. Übermittelte Zivilisation wirkt noch langsamer, braucht sogar Hunderte von Jahren zur Herbeiführung bestimmter, bleibender psychologischer Resultate.

In diesem Lichte betrachtet, ist Japan das merkwürdigste Land der Welt. Und das Wunderbarste in der ganzen Episode seiner Okzidentalisierung ist, daß das Hirn der Rasse einer solchen Erschütterung standhalten konnte. Ein solches Faktum steht in der Geschichte der Menschheit einzig da. – Was hat es zu bedeuten? Nichts Geringeres als eine Neuorganisierung eines Teils des vorhandenen Denkapparats – und schon dies bedeutete den Tod für viele kühne junge Geister. Die Adoptierung westlicher Zivilisation war keineswegs eine so leichte Sache, wie gedankenlose Leute annahmen, und es ist offenbar, daß diese geistige Reorganisation, die mit hohen Kosten erkauft wurde, nur auf jenen Gebieten gute Resultate erzielte, in denen die eigenartige Begabung der Nation schon früher zutage getreten war. So war die Anwendung westlicher industrieller Erfindungen in den Händen der Japaner bewunderungswürdig, hat sich in Industrien bewährt, in denen die Japaner schon seit altersher, in ihrer eigenen besonderen Weise Bemerkenswertes leisteten. Es war keine eigentliche Umgestaltung; die alten Fähigkeiten wurden vielmehr in neue Bahnen gelenkt. Die wissenschaftlichen Berufe zeigen denselben Entwicklungsverlauf. Für gewisse wissenschaftliche Berufe, wie Medizin, Chirurgie (es gibt keine geschickteren Wundärzte als die Japaner), Chemie, Mikroskopie, besitzen die Japaner eine natürliche Begabung, und auf allen diesen Gebieten haben sie schon Weltberühmtes geleistet. In der Kriegskunst und Staatskunst haben sie wunderbares Können bewiesen, und die Geschichte Japans offenbart uns ihre großen militärischen und politischen Fähigkeiten. Auf allen dem nationalen Geiste fremden Gebieten wurde jedoch nichts Besonderes geleistet. So scheint beispielsweise das Studium abendländischer Kunst, Musik, Literatur eine reine Zeitvergeudung gewesen zu sein. In gewisser Weise hat die abendländische Kunst die japanische Literatur und Dramaturgie beeinflußt doch die Art des Einflusses beweist den Rassenunterschied, von dem ich gesprochen habe. Europäische Dramen und Romane sind für japanische Theaterbesucher und Leser umgearbeitet worden. Doch der Versuch einer wörtlichen Übertragung wird selten gewagt; denn die Geschehnisse, Gedanken und Gefühle des Originals würden dem Durchschnittsleser oder Theaterbesucher unverständlich bleiben. Das Gerüst wird beibehalten, die Gefühle und Ereignisse werden jedoch vollkommen umgemodelt »Die neue Magdalena« wird zu einem japanischen Mädchen, das einen »Eta« heiratet. Victor Hugos »Les Misérables« wird zu einer Erzählung aus dem japanischen Bürgerkrieg, und Enjolras ein japanischer Student. Es hat einige wenige Ausnahmen gegeben, zu denen eine wörtliche Übersetzung von »Werther« gehört, die einen großen Erfolg errang. Diese Dinge wenden sich in hohem Maße an unser Empfindungsleben; sie wirken aber in keiner Weise auf das Empfindungsleben der Japaner. Jeder ernste Denker weiß, daß eine Umwandlung des Empfindens des Individuums durch die Erziehung unmöglich ist. Es wäre absurd anzunehmen, daß eine solche Umwandlung des emotionellen Charakters einer orientalischen Rasse innerhalb des kurzen Zeitraums von dreißig Jahren durch den bloßen Kontakt mit abendländischen Ideen möglich wäre. Das Empfindungsleben, das älter und tiefer ist als das geistige Leben, kann durch die Veränderung des Milieus ebensowenig umgestaltet werden, wie sich die Oberfläche des Spiegels durch vorüberhuschende Bilder verändert ... Alles, was Japan so wunderbar zu leisten vermochte, hat es ohne Umgestaltung seines Selbst vollbracht, – und diejenigen, die glauben, es sei uns im Empfinden näher gerückt, als vor dreißig Jahren, verkennen unwiderlegliche Gesetze der Wissenschaft.

Unsere Sympathie wird von unserem Verständnis begrenzt. Wir sympathisieren in dem Grade, in dem wir begreifen. Ein Europäer mag sich einbilden, daß er mit einem Chinesen oder Japaner sympathisiert, aber die Sympathie kann immer nur auf eine gewisse kleine Oberfläche allgemeinmenschlicher Empfindungen beschränkt bleiben, jene Seiten, in denen der Mann und das Kind eins sind. Das komplizierte Gefühlsleben des Orientalen setzt sich aus eine Reihe von ancestralen und individuellen Erfahrungen zusammen, für die im Abendland keine Analogie vorhanden ist, und die wir deshalb nicht in vollem Maß erfassen. Aus den gleichen Gründen vermag der Japaner, selbst wenn er es wollte, dem Europäer kein vollkommenes Verständnis entgegenzubringen. Während es also dem Europäer nicht möglich ist, die richtigen Werte des Geistes- und Seelenlebens der Japaner (eines ist ja mit dem anderen verwoben) zu erkennen, vermag er sich gleichzeitig nicht des Eindrucks zu erwehren, daß dieses Innenleben im Vergleich mit dem unserigen, sehr unbedeutend ist. Es ist zierlich, es hat latente Möglichkeiten von auserlesenem Reiz und Wert, aber es ist andererseits so diminutiv, daß das des Abendländers im Vergleich damit überwältigend erscheint.

Denn wir können nur nach sichtbaren und greifbaren Manifestationen urteilen. Und tun wir dies, welch ein Kontrast ergibt sich dann zwischen westlicher und östlicher Gefühls- und Gedankenwelt! Weit größer als zwischen den gebrechlichen Holzstraßen der japanischen Hauptstadt und der massiven Solidität einer Verkehrsader in London oder Paris. Vergleicht man nun die Ausdrucksformen, die der Osten und der Westen ihren Träumen, Bestrebungen und Empfindungen gegeben haben, vergleichen wir beispielsweise eine gotische Kathedrale mit einem Shintotempel, eine Verdische Oper oder Wagnersche Trilogie, mit einer Geishaaufführung, ein europäisches Epos mit einer japanischen Dichtung: wie inkommensurabel ist der Unterschied an Gefühlsstärke, an Macht der Phantasie und künstlerischer Synthese! Unsere Musik ist freilich eine wesentlich moderne Kunst, aber auch in der Vergangenheit ist der Unterschied an schöpferischer Kraft zwischen japanischer und europäischer Kunst kaum weniger markant, sicherlich nicht in der Periode römischer Machtentfaltung, der Zeit der riesigen Amphitheater und Aquädukte, die sich über ganze Provinzen erstreckten, noch in der griechischen Periode göttlicher Skulpturen und unvergleichlicher Poesie.

Und dies führt zu einer anderen Eigentümlichkeit in der plötzlichen Entwicklung der japanischen Rasse. Wo finden wir die äußeren materiellen Zeichen jener ungeheueren Kraft, die sie in der Industrie und im Kriege an den Tag gelegt hat? Nirgends! Das, was wir in ihrem seelischen und geistigen Leben vermissen, vermissen wir auch in ihrer Industrie und in ihrem Handelsverkehr: die Großzügigkeit!

Das Land bleibt, was es war. Seine Physiognomie hat sich in all den Veränderungen der Meijiperiode kaum verändert. Die Miniatureisenbahnen und Telegraphenstangen, die Brücken und Tunnels verschwinden beinahe in dem uralten Grün der Landschaft. In all den Städten, mit Ausnahme der offenen Häfen und ihrer Fremdenniederlassungen gibt es kaum einen Straßenzug, der den Einfluß der abendländischen Ideen zeigen würde. Man könnte zweihundert Meilen durch das Innere des Landes reisen, ohne auf merkbare Zeichen moderner Zivilisation zu stoßen. Nirgends findet man, daß der Handel sich in gigantischen Warenhäusern selbstbewußt ausbreitet, oder daß die Industrie ihre Maschinen in Riesenhallen anhäuft. Eine japanische Stadt ist das, was sie vor tausend Jahren war: nicht viel mehr, als ein Gewirr kleiner hölzerner Häuschen, äußerst pittoresk wie Lampions, aber kaum weniger gebrechlich. Und nirgends ist großes Getriebe oder Geräusch, kein starker Verkehr, kein Drängen und Stoßen zu bemerken. Selbst in Tokio kann man, wenn man will, ländliche Stille genießen. Dieser Mangel sichtbarer und hörbarer Zeichen der neu entdeckten Kraft, die die Märkte des Abendlandes bedroht und die Landkarte des Ostens verändert, ruft einen seltsamen, ich möchte fast sagen, gespenstischen Eindruck hervor. Es ist beinahe dasselbe Gefühl, das einen überkommt, wenn man Meilen weit gepilgert ist, um ein japanisches Heiligtum zu sehen, und dann nichts findet als Öde, Schweigen und Einsamkeit, – ein geisterhaftes, leeres Holzgebilde, das in tausendjährigem Schatten modert. Die Kraft Japans bedarf gleich der Kraft seines uralten Glaubens keiner großen Manifestationen. Beide wurzeln da, wo die echte Kraft jedes großen Volkes wurzelt: in dem Geist der Rasse.

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Während ich in Gedanken versunken dasitze, taucht die Erinnerung an eine Stadt vor mir auf, eine himmelragende Stadt, die brüllt und tobt wie ein Meer. Zuerst höre ich nur ihr brandendes Tosen, dann gestaltet sich die Vision: Ich sehe einen Abgrund, der einer Straße gleicht, zwischen Bergen, die aus Häusern bestehen. Ich bin müde, denn ich bin viele Meilen zwischen diesen Steinabgründen gewandert, und doch hat mein Fuß keine Erde betreten, sondern nur Steinblöcke, und ich habe nichts gehört, als tosenden Lärm. Ich weiß, tief unter diesen Steinstraßen ist eine unterirdische Welt: ein System von Leitungen für Wasser, Beleuchtung und Dampfanlagen. Auf jeder Seite türmen sich Fassaden, von Fensterreihen durchschnitten – architektonische Felsen, die die Sonne ausschließen. Darüber ist der blaue Himmelsstreifen von feinen Linien durchkreuzt – einem verschlungenen Netz von Telegraphendrähten. In jenem Häuserblock zur Rechten wohnen neuntausend Seelen; die Mieter des gegenüberliegenden zahlen die jährliche Miete von einer Million Dollars. Sieben Millionen würden nicht genügen, die Kosten jener Steinkolosse zu bezahlen, die den Square drüben beschatten, und es gibt ihrer so viele, daß sie sich auf Meilen erstrecken. Stiegenaufgänge aus Stahl und Zement, aus Messing und Stein mit kostbaren Balustraden, führen über zehn und zwanzig Stockwerke hinauf, aber kein Fuß betritt sie. Durch Elektrizität und Dampf werden die Menschen hinauf und hinab befördert, die Höhen sind zu schwindelnd, die Entfernungen zu groß, um sie zu Fuß zurückzulegen. Mein Freund, der fünftausend Dollars Miete für seine Wohnung im vierzehnten Stockwerke eines solchen Monstrums bezahlt, hat seinen Stiegenaufgang nie betreten. Ich gehe nur aus Neugierde zu Fuß, sonst täte ich es nicht, denn die Entfernungen sind zu ungeheuer, die Zeit zu kostbar für solch eine langsame Beförderung. Die Menschen fahren von Bezirk zu Bezirk, vom Haus ins Bureau, per Dampf. Die Stimme kann sich durch die kolossale Höhe nicht vernehmlich machen, Befehle und Anordnungen werden durch das Telephon gegeben und entgegengenommen. Aus der Ferne wirkende Elektrizität öffnet die Türen, – ein Druck, und Hunderte von Zimmern werden erleuchtet oder geheizt.

Aber all dies Ungeheure hat den Charakter der Härte und Unerbittlichkeit. Es ist die gigantische, für Utilitätszwecke der Dauerhaftigkeit angewendete mathematische Kraft. Diese kolossalen Anhäufungen von Palästen, Warenhäusern und Geschäftsniederlagen sind nicht schön, sondern unheimlich. Man fühlt sich schon beklommen durch den bloßen Gedanken an die Kraft, und das Leben, das sie geschaffen hat, ein Leben ohne Gemeingefühl, und eine Kraft ohne Mitleid. Sie sind der architektonische Ausdruck des neuen Industriezeitalters. Und der Donner der Hufe und das Getöse der Räder hallt ununterbrochen fort. Will man an seinen Nachbar eine Frage richten, muß man sie ihm ins Ohr schreien. Es bedarf der Erfahrung, um sich in diesem Chaos zurechtzufinden oder verständlich zu machen. Dem Neuling ist zumute, als wäre er in eine Panik, einen Wirbelsturm, einen Cyklon geraten. Und dennoch bedeutet dies alles nur: Ordnung.

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Kurz zusammengefaßt: wir bauen für die Ewigkeit, die Japaner für die Vergänglichkeit. Von den Dingen, die für den täglichen Gebrauch bestimmt sind, werden in Japan nur wenige im Hinblick auf ihre Dauerhaftigkeit verfertigt. Die abgenutzten Strohsandalen werden an jeder Reisestation durch neue ersetzt; die Kleider bestehen aus einzelnen Stoffstücken, die mit großen Stichen zusammengeheftet und für die Wäsche mühelos wieder auseinandergetrennt werden können; im Gasthaus erhält jeder Gast neue Eßstäbchen; die leichten Shojirahmen dienen zugleich als Fenster und Wände und werden zweimal im Jahre neu bespannt, die Fußbodenmatten jeden Herbst erneuert, alles dies sind nur aufs Geratewohl herausgegriffene Beispiele aus zahllosen kleinen Dingen im japanischen Leben, die die Fähigkeit der Nation, sich mit dem Undauerhaften zu begnügen, beweisen.

Was ist die Geschichte eines gewöhnlichen japanischen Wohnhauses? Wenn ich des Morgens mein Heim verlasse, sehe ich an der nächsten Straßenecke, wie einige Männer an einer freien Stelle Bambuspfähle aufrichten. Bei meiner Rückkehr, nach fünf Stunden, finde ich an derselben Stelle das Gerüst eines zweistöckigen Häuschens. Am nächsten Vormittag sehe ich, daß die Mauern – mit Lehm überstrichenes Flechtwerk, – beinahe fertig sind. Bei Sonnenuntergang ist das Haus schon unter Dach. Am folgenden Morgen sehe ich die Matten schon gespannt, und die innere Verputzarbeit schon beendet, und in fünf Tagen ist das Haus fix und fertig. Dies ist freilich ein wohlfeil hergestelltes Haus, ein feineres würde weit mehr Zeit und Kosten erfordern. Aber japanische Städte bestehen zumeist aus solchen einfachen Häusern. Sie sind ebenso billig, als sie einfach sind.

Ich kann mich nun nicht mehr entsinnen, wo ich zuerst die Bemerkung las, die Kurve eines chinesischen Daches bewahre die Erinnerung an das nomadische Zelt. Diese Idee verfolgte mich lange, nachdem mir undankbarerweise der Name des Buchs entfallen war, aus dem ich diese Anregung geschöpft hatte. Und als ich zum erstenmal in Izumo die eigentümliche Struktur eines Shintotempels erblickte, mit den seltsamen Kreuzvorsprüngen an seinen gegiebelten Enden und seinen Dachfirsten, drängte sich mir die Hypothese des vergessenen Essayisten wieder auf.

Aber in Japan weist außer den primitiven architektonischen Traditionen noch vieles sonst auf eine nomadische Abkunft der Rasse hin. Überall und immer fehlt das, was wir Solidität nennen, und das ganze äußere Leben trägt, mit Ausnahme der Tracht der ländlichen Bevölkerung und ihrer unveränderten Handwerkszeuge, das charakteristische Merkmal der Vergänglichkeit. Ganz abgesehen davon, daß es während des verhältnismäßig kurzen historischen Zeitraums, den wir in der geschriebenen Geschichte von Japan aufgezeichnet finden, mehr als sechzig Hauptstädte gegeben hat, von denen viele gänzlich vom Erdboden verschwunden sind, darf man kühn behaupten, daß jede japanische Stadt innerhalb einer Generation von Grund aus umgebaut wurde. Einige Tempel und einige kolossale Festungen machen eine Ausnahme davon. Zum Teil ist dieser Umstand auf Feuersbrünste und Erdbeben zurückzuführen, hauptsächlich hat er aber darin seinen Grund, daß die Häuser nicht für die Dauer erbaut werden. Das gemeine Volk hat keinen ererbten Hausbesitz. Der teuerste Fleck Erde ist für alle die Grabstätte, nicht die Wohnstätte, und es gibt wenig Bleibendes im Lande außer den Grüften der Toten und dem Sitz der alten Heiligtümer.

Das Land selbst ist ein Land der Unbeständigkeit. Flüsse verändern ihren Lauf, Küsten ihren Umriß, Ebenen ihr Niveau, vulkanische Berge erheben sich und zerfallen, Täler werden durch Lavafluten oder Erdrutsche ausgefüllt, Seen bilden sich und versiegen wieder. Selbst der unvergleichliche Gipfel des Fuyi, jenes schneebedeckten Wunders, das die heimischen Künstler seit Jahrhunderten begeistert, soll seine Form schon in der Zeit meines Aufenthaltes im Lande verändert, und nicht wenig andere Berge sollen in derselben kurzen Zeit sogar eine völlig andere Gestalt angenommen haben. Nur die allgemeinen Linien des Landes, der Hauptcharakter der Natur bleiben. Selbst die Schönheit der Landschaft ist gleichsam ein Trugbild, eine Schönheit irisierender Farben und wallender Nebel. Nur wer wirklich die Landschaft kennt, kann ermessen, wie gut die neckischen Bergnebel Verwandlungen veranschaulichen, die sich schon vollzogen haben, und wie mystisch sie Veränderungen vorspiegeln, die sich künftig in der Geschichte des Archipels vollziehen werden.

Die Götter sind das Bleibende. Nach wie vor umschweben sie ihre Wohnstätten auf den Hügeln und verbreiten stille Andacht in dem Dämmer ihrer Haine, vielleicht gerade weil sie ohne Form und Substanz sind. Ihre Altäre fallen selten der Vergessenheit anheim wie die Wohnstätten der Menschen. Aber jeder Shintotempel muß unbedingt in kürzeren oder längeren Intervallen umgebaut und das Allerheiligste, der Schrein der Isé, nach altem Gebot alle zwanzig Jahre niedergerissen werden. Sein Holz wird in Tausenden von kleinen Amuletten an die Pilger verteilt.

Der Buddhismus mit seiner Lehre von der Unbeständigkeit alles Seins kam aus dem arischen Indien über China nach Japan.

Die Erbauer der ersten buddhistischen Tempel in Japan gehörten einer anderen Rasse an und bauten gediegen: dafür zeugen die chinesischen Bauten in Kamakura, die so viele Jahrhunderte überdauert haben, während von der großen Stadt, die sie einst umgab, keine Spur zurückgeblieben ist. Aber der psychologische Einfluß des Buddhismus war nicht geeignet, in irgend einem Lande Schätzung materieller Stabilität aufkommen zu lassen. Die Lehre, daß das Weltall eine Illusion, das Leben nur eine flüchtige Episode einer unendlichen Reise sei, daß man jede Anhänglichkeit an Menschen, Orte und Dinge mit Kummer und Leiden bezahlen müsse, daß nur Unterdrückung jedes Wunsches – selbst des Wunsches nach Nirvana, – der Menschheit zum ewigen Frieden verhelfen könne, harmonierte sicherlich mit dem alten Rasseempfinden. Obgleich die breiten Massen des Volkes nie in die tiefere Philosophie des fremden Glaubens eindrangen, muß seine Lehre von der Wandelbarkeit aller Dinge im Verlaufe der Zeit doch den nationalen Charakter tief beeinflußt haben. Sie erklärte und tröstete, sie verlieh die Kraft, alles Ungemach tapfer zu ertragen, sie stählte jene Geduld, die ein Charakterzug der Rasse ist. Selbst in der Kunst, die der buddhistische Einfluß entwickelt – wenn nicht gar geschaffen – hat, hat die Lehre der Vergänglichkeit ihre Spuren hinterlassen. Der Buddhismus lehrt, die Welt sei ein Traum, eine Illusion, eine Phantasmagorie; aber er lehrte auch die Menschen, die vorübereilenden Eindrücke dieses Traumes zu erfassen, und sie in Beziehung zu der höchsten Wahrheit zu deuten. Und sie waren gelehrige Schüler. In der strahlenden Pracht der Blütenentfaltung des Lenzes, in den wechselnden Jahreszeiten, in dem Purpur des welkenden Herbstlaubes, in der geisterhaften Schönheit des Schnees, in dem phantastisch geheimnisvollen Wallen der Fluten und Wolken, erblickten sie alte Parabeln von ewiger Bedeutung. Selbst ihr Unglück, – Feuersbrünste, Überschwemmungen, Erdbeben, Pest – kündete ihnen stets wieder die Lehre des ewigen Vergehens.

Was in der Zeitlichkeit lebt, muß vergehen. Die Wälder, die Berge – alle Dinge. Der sterblichen Zeit verfällt alles, was wünscht.

Die Sonne und der Mond, Sakra selbst, mit seinem Trabantengefolge, alle werden sie ausnahmslos vergehen; da ist nicht einer, der bestehen wird.

Im Anfange waren alle Dinge miteinander verbunden, – später trennten sie sich wieder: Neue Zusammensetzungen geben neuen Substanzen Ursprung, denn in der Natur gibt es keinen einheitlichen, bestehenden Grundstoff.

Alle zusammengesetzten Dinge müssen altern; unbeständig sind alle zusammengesetzten Dinge. Bis zum kleinsten Sesamkörnchen gibt es keine Zusammensetzung, die beständig wäre. Alles ist vergänglich. Angeborene Sterblichkeit haftet allen Dingen an.

Alle zusammengesetzten Dinge sind ausnahmslos unbeständig, unsicher, wertlos, vergänglich, zerfallend; sie sind zufällig wie Spiegelbilder, wie Traumgesichte, wie Schaum ... So wie alle irdischen Tongefäße schließlich in Scherben zersplittern, so endet auch das Leben der Menschen.

Und ein Glaube an das Dasein der Materie ist sinnlos und unmöglich auszudrücken, er ist weder ein Ding noch ein Unding: und das wissen auch Kinder und unkundige Menschen.

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Doch es lohnt wohl der Mühe, zu ergründen, ob nicht gerade diese Undauerhaftigkeit und dieser kleine Maßstab irgendwelche Eigentümlichkeiten besitzen, die vorteilhaft auf die Gestaltung des japanischen Lebens eingewirkt haben.

Nichts ist charakteristischer für dieses Leben als sein ewiges Fluktuieren. Die japanische Bevölkerung repräsentiert ein Medium, dessen Partikel in permanenter Zirkulation sind. Die Bewegung an sich ist eigentümlich. Sie ist umfassender und exzentrischer, als die einer abendländischen Bevölkerung. Sie ist auch spontaner, so spontan, daß sie in der westlichen Zivilisation nicht möglich wäre. Das Verhältnis zwischen der Beweglichkeit der Japaner und der der Europäer könnte durch einen Vergleich zwischen den Geschwindigkeitsgraden gewisser hoher und gewisser niedriger Vibrationen veranschaulicht werden. Aber der hohe Geschwindigkeitsgrad würde bei einem solchen Vergleiche das Resultat einer künstlichen Kraft repräsentieren, was hingegen bei der langsamen Vibration nicht der Fall wäre. Und dieser Artunterschied würde mehr bedeuten, als man aus oberflächlichen Andeutungen entnehmen kann.

Nach einer Richtung mögen sich die Amerikaner mit Recht für große Reisende halten. In anderer Richtung trifft es sicherlich nicht zu. Der amerikanische Mann aus dem Volke kann sich darin keineswegs mit dem Japaner derselben Klasse messen. Und vergleicht man die Beweglichkeit verschiedener Völker, so muß man natürlich in erster Linie die breiten Massen in Betracht ziehen, die Arbeiter, nicht bloß die kleine Klasse der Bemittelten. Die Japaner sind in ihrem eigenen Lande die größten Reisenden unter allen zivilisierten Völkern. Sie sind die größten Reisenden, da selbst ihr Land, das bloß aus Bergketten besteht, für sie kein Hindernis bildet. Die Japaner, die am meisten reisen, rekrutieren sich aus der Klasse, die zu ihrer Beförderung Eisenbahnen und Dampfschiffe nicht benötigt.

Bei uns ist nun aber der gewöhnliche Arbeiter unvergleichlich weniger frei, als der gewöhnliche Arbeiter in Japan. Er ist weniger frei, durch den unendlich komplizierteren Mechanismus der abendländischen Gesellschaft, deren Kräfte auf Zusammenschluß und Concentration hinarbeiten.

Er ist weniger frei, weil die soziale und industrielle Maschinerie, von der er abhängt, ihn nach ihren eigenen bestimmten Bedürfnissen ummodelt, und immer so, daß sie in ihm spezielle Fähigkeiten ausbildet auf Kosten anderer inhärenter Fähigkeiten. Er ist weniger frei, weil er eine Lebenshaltung beibehalten muß, die es ihm unmöglich macht, durch Sparsamkeit allein ökonomische Unabhängigkeit zu erreichen. Um sich unabhängig zu machen, muß er einen exzeptionellen Charakter und exzeptionelle Fähigkeiten haben, durch die er den vielen Tausend Konkurrenten überlegen ist, die ebenso begierig sind, sich demselben Joche zu entringen. Kurz, er ist weniger frei, weil der spezielle Charakter seiner Zivilisation seine natürliche Fähigkeit lähmt, ohne Zuhilfenahme von Maschinen und Kapital leben zu können. Aber ein solches künstliches Leben bedeutet früher oder später eine Einbuße der unabhängigen Bewegungsfreiheit. Ehe ein Abendländer sich zu einem Ortswechsel entschließt, hat er gar vieles zu bedenken; der Japaner wird von solchen Sorgen nicht angefochten. Er verläßt einfach den Ort, der ihm nicht mehr zusagt, und begibt sich an einen ihm genehmen, ohne weiteres Kopfzerbrechen. Er ist durch nichts behindert. Für ihn ist Armut kein Hemmnis, vielmehr ein Ansporn. Er besitzt kein bewegliches Eigentum, oder wenigstens nur ein solches, über das er in wenigen Minuten verfügen kann. Entfernungen haben für ihn keine Bedeutung. Die Natur hat ihn mit vollkommen wohlgebildeten Füßen begabt, die ihn mit Leichtigkeit fünfzig englische Meilen täglich zurücklegen lassen. Sein Magen ist so beschaffen, daß er bei einer kärglichen Kost, von der ein Europäer nicht leben könnte, genügende Ernährung findet. Seine Konstitution ist gegen Hitze, Kälte und Nässe gleich widerstandsfähig, weil er sich noch nicht durch ungesunde Kleidung, überflüssigen Komfort und den Gebrauch, Wärme bei Öfen und Kaminen zu suchen, und vor allem durch die Gewohnheit, Schuhe aus Leder zu tragen, verweichlicht hat.

Es scheint mir überhaupt, daß die Art unserer Fußbekleidung größeren Einfluß übt, als man gemeiniglich anzunehmen pflegt. Die abendländische Fußbekleidung ist an sich ein Hemmnis der individuellen Freiheit. Sie ist es schon durch ihre Kostspieligkeit, – aber weit mehr noch durch ihre Form. Sie hat den abendländischen Fuß aus seiner ursprünglichen Gestalt zu etwas Zweckwidrigem verstümmelt, das ihn zum Gehen untauglich macht. Die physischen Folgen beschränken sich nicht auf die Füße. Was, sei's direkt oder indirekt, als eine Hemmung auf die Organe der Fortbewegung wirkt, muß seinen Einfluß auf die ganze physische Konstitution erstrecken.

Aber macht das Übel da Halt? Vielleicht kommt unsere Bereitwilligkeit, uns den absurden Konventionen unserer Zivilisation zu unterwerfen, daher, daß wir uns so lange der Tyrannei der Schuhmacher unterworfen haben. Unsere Staatskunst, unsere soziale Ethik, unsere Religionen, mögen viele Schwächen aufweisen, die mehr oder weniger mit unserer Gewohnheit, Lederschuhe zu tragen, zusammenhängen. Die Duldsamkeit gegenüber einer körperlichen Verkrüppelung muß zur Entwicklung der Nachsicht gegenüber seelischer Unterdrückung beitragen.

Der japanische Mann aus dem Volke, dieser geschickte Handwerker, der imstande ist, mühelos jeden abendländischen Handwerker in demselben Industriezweig zu unterbieten, war so glücklich, von der Schuster- und Schneiderplage verschont zu bleiben. Seine Füße sind schön, sein Körper gesund, sein Sinn frei. Gefällt es ihm, hundert Meilen weit fortzureisen, kann er sich für seine Fahrt in fünf Minuten bereit machen, seine ganze Ausrüstung braucht nicht mehr als fünf Cents zu kosten, und sein ganzes Gepäck kann in einem Sacktuch untergebracht werden. Mit zehn Dollars kann er ein ganzes Jahr lang reisen ohne arbeiten zu müssen, oder er kann einfach seine Reisekosten durch Arbeit verdienen, aber er kann auch als Pilger reisen. Man mag einwenden, jeder Wilde könne dasselbe tun. Zugegeben, – aber jeder zivilisierte Mensch vermag es nicht, – und der Japaner ist seit mindestens tausend Jahren ein hochzivilisierter Mensch. Daher seine jetzige Befähigung, den abendländischen Markt zu bedrohen.

Wir waren allzusehr gewöhnt, diese Art freizügige Beweglichkeit mit dem Leben unserer Bettler und Landstreicher daheim zu vergleichen, als daß wir imstande wären, sie nach ihrem richtigen Werte zu schätzen. Wir haben uns auch gewöhnt, dies Wanderleben in unangenehme Zusammenhänge mit Unredlichkeit und üblen Gerüchen zu bringen. Aber wie Professor Chamberlain treffend sagt: »Eine japanische Volksmasse ist die wohlriechendste in der Welt.« Der japanische »Landstreicher« nimmt täglich sein warmes Bad, solange er auch nur über den Bruchteil eines Cents verfügt, und tut er dies nicht, dann begnügt er sich mit einem kalten. Sein kleines Bündel enthält Kämme, Zahnstocher, Rasierzeug und Zahnbürsten. Er vernachlässigt sich nie. An seinem Bestimmungsort angekommen, verwandelt er sich in einen Reisenden von gefälligen Manieren und tadelloser, wenn auch schlichter Erscheinung. Man hat versucht Sir Edwin Arnolds Beobachtung ins Lächerliche zu ziehen, daß eine japanische Volksmasse denselben Duft habe wie eine Geraniumblüte. Und doch ist der Vergleich ganz zutreffend! Der »Jako« genannte Parfüm kann leicht wenn er diskret angewendet wird, mit Geranium verwechselt werden. In jeder japanischen Volksmasse, unter der sich Frauen befinden, kann man einen leisen Jakoduft bemerken. Denn ihre Kleider werden in Laden aufbewahrt, in denen ein paar Jakokörner liegen. Wenn man von diesem schwachen Duft absieht, ist die japanische Volksmasse ganz geruchlos.

Die Fähigkeit, ohne Möbel, ohne Habe und mit einem ganz minimalen Kleidervorrat zu existieren, ist nicht nur ein Beweis der Überlegenheit der japanischen Rasse im Kampf ums Dasein, sondern offenbart den wahren Charakter einiger Schwächen unserer eigenen Zivilisation. Sie veranlaßt uns, uns über die nutzlose Mannigfaltigkeit unserer eigenen täglichen Bedürfnisse klar zu werden. Wir können uns nicht ohne Fleisch, Brot und Butter behelfen, ohne Glasfenster und Öfen, ohne Hüte und weiße Hemden, ohne Koffer und Schachteln, Bettstellen und Matratzen, Laken, Polster und Decken – und all dies und anderes mehr kann der Japaner missen und ist dabei in Wahrheit besser dran. Man bedenke doch, welche wichtige Rolle in der abendländischen Toilette dem Stärkhemd eingeräumt ist. Und dennoch ist dieses Leinenhemd, – das sogenannte Kennzeichen des Gentleman, – an sich ein nutzloses Kleidungsstück. Es gibt weder Wärme, noch ist es bequem. Es repräsentiert in unserer Kleidung das Überbleibsel eines Etwas, das einst eine luxuriöse Klassendistinktion war, aber heute sinnlos und unnütz ist, wie die Knöpfe, die man an die Außenseite unserer Paletotärmel näht.

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Das Fehlen großer Denkmäler zur Erinnerung an die wirklich großen Dinge, die Japan vollbracht hat, ist bezeichnend für den merkwürdigen Entwicklungsgang seiner Zivilisation. Japan produziert ohne Kapital, in unserem Sinne des Wortes. Es ist ein Industrieland geworden, ohne daß seine Kultur wesentlich mechanisch und artifiziell wurde. Die große Reisernte wird in Millionen winziger Farmen gezogen; die große Seidenernte in Millionen kleiner Hütten; die Teeernte wächst auf zahllosen winzigen Grundstücken. Kommt man nach Kyôto, um bei einem der größten Porzellanerzeuger der Welt eine Bestellung zu machen, wird man finden, daß diese Waren, die man in London und Paris besser kennt als im Lande selbst, in einer hölzernen Hütte erzeugt werden, in der kein amerikanischer Bauer leben wollte. Der größte Erzeuger von Cloisonnévasen, der für einen fünf Zoll hohen Gegenstand zweihundert Dollars verlangen kann, vollbringt seine Wunder in einem zweistöckigen Rahmenhaus, das vielleicht kaum sechs kleine Stübchen enthält. Die schönen im ganzen Lande berühmten Seidengürtel werden in Häusern gewebt, deren Errichtung keine fünfhundert Dollars kostete. Natürlich sind sie Handarbeit. Aber selbst Fabrikswebereien, die mit der Maschine betrieben werden, – und dies zwar so gut, daß sie weit größere abendländische Unternehmungen übertreffen, – sind mit wenigen Ausnahmen, kaum imponierender. Es sind langgestreckte, niedrige, ein- oder zweistöckige Holzschuppen, deren Erbauung etwa so viel kostet, als bei uns ein paar Holzställe. Aber aus diesen Hütten gehen Seidenwaren hervor, die auf allen Weltmärkten verbreitet sind. Manchmal kann man nur durch das Surren der Maschinen eine Fabrik von einer alten Yashiki, oder einem alten japanischen Schulhaus unterscheiden, es sei denn, daß man die chinesische Inschrift über dem Gartentor zu deuten vermag. Es existieren wohl einige große, aus Ziegelsteinen erbaute Fabriken und Brauereien; aber es sind ihrer nur wenige, und obgleich sie den fremden Ansiedelungen ganz nahegerückt sind, wirken sie doch in der Landschaft als eine Art Anachronismus.

Unsere eigenen Riesengebäude und Maschinenmonstren sind aus großen Kapitalsvereinigungen hervorgegangen. Aber im fernen Osten gibt es keine derartigen Assoziationen, ja, das hierfür erforderliche Kapital ist überhaupt nicht vorhanden. Und selbst gesetzt, es würde sich in Japan im Verlauf von Generationen eine Kapitalistenvereinigung bilden, so wäre doch die Errichtung solcher architektonischer Monstrositäten nicht zu befürchten. Selbst zweistöckige Ziegelgebäude haben sich in den Haupthandelszentren nicht als praktisch erwiesen. Es ist, als ob die häufigen Erdbeben Japan zu der Beibehaltung der ursprünglichen Einfachheit der Bauart zwängen. Die Beschaffenheit des Bodens selbst sträubt sich gegen die Einführung der abendländischen Architektur und stemmt sich gelegentlich gegen die neuen Verkehrswege durch die Zerstörung ganzer Schienenstränge.

Nicht nur die Industrie ist in dieser Weise unorganisiert, sondern auch das ganze Regierungssystem weist einen ähnlichen Zustand auf. Feststehend ist nur der Thron. Die Staatsregierung ist in fortwährendem Wechsel begriffen. Minister, Statthalter, Oberaufseher, Inspektoren, alle hohen Militärs und Staatswürdenträger werden in überaus schnellen Zeiträumen abgesetzt, und eine Menge Unterbeamten fallen jedesmal mit ihnen. Die Provinz, in der ich die ersten zwölf Monate meines japanischen Aufenthaltes zubrachte, hat in fünf Jahren vier verschiedene Gouverneure gehabt. Während meines Aufenthaltes in Kumamoto vor Ausbruch des Krieges wurde der militärische Oberbefehl an diesem wichtigen Posten dreimal gewechselt. Die höchste staatliche Lehranstalt hatte in drei Jahren drei Direktoren. Auf dem Erziehungsgebiete insbesonders war der Wechsel ein ganz phänomenaler. Während meines dortigen Aufenthaltes lösten nicht weniger als fünf Unterrichtsminister einander ab, und mehr als fünf verschiedene Unterrichtssysteme kamen zur Anwendung. Die sechsundzwanzigtausend öffentlichen Schulen sind so abhängig von den lokalen Behörden, daß, wenn sich auch kein anderer Einfluß geltend machen würde, ein konstanter Wechsel unvermeidlich wäre, eben wegen des Wechsels der Behörden. Direktoren und Lehrer werden von Posten zu Posten versetzt. Es gibt da Männer von kaum dreißig Jahren, die beinahe in allen Provinzen des Landes unterrichtet haben. Es ist fast ein Wunder zu nennen, daß unter solchen Verhältnissen ein Unterrichtssystem so gute und dauernde Resultate erzielen konnte.

Wir sind gewohnt von der Ansicht auszugehen, daß ein gewisses Maß von Stabilität für jeden wahren Fortschritt und jede Entwicklung unerläßlich sei. Aber Japan hat den Beweis erbracht, daß eine große Entwicklung ohne jegliche Stabilität möglich ist.

Die Erklärung hierfür liegt im Rassecharakter, der dem unserigen diametral entgegengesetzt ist. Durch und durch beweglich und durch und durch impressionabel, hat dieses Volk einmütig große Ziele angestrebt und sich darein gefügt, daß die ganze Masse seiner vierzig Millionen Einwohner nach den Ideen seiner Herrscher geformt wird, wie das Wasser oder der Sand vom Winde. Und diese gefügige Bildsamkeit beruht auf einer Folge von Eigenschaften, die zu allen Zeiten das geistige Leben des Volkes ausgezeichnet haben: auf ihrer außerordentlichen Selbstlosigkeit, ihrer unerschütterlichen Loyalität. Der relative Mangel des individuellen Egoismus im Nationalcharakter war die Rettung des Kaiserreiches, hat ein großes Volk in stand gesetzt, seine Unabhängigkeit gegenüber einer ungeheuren Übermacht zu behaupten. Deshalb schuldet Japan den zwei Begründern seiner Religionen die größte Dankbarkeit: dem Shintoismus, der lehrt, daß der Mensch an Kaiser und Reich denken müsse, ehe er an sich und seine Angehörigen, denken dürfe, und dem Buddhismus, der ihn dazu erzog, zu entsagen, sich zu verleugnen, Leiden zu ertragen und den Verlust der Dinge, die wir lieben, und die Abhängigkeit von den Dingen, die wir hassen, als ein unabänderliches Gesetz hinzunehmen.

Heutzutage macht sich eine sichtliche Tendenz zu größerer Stabilität geltend, ein Streben, das zu einem ebensolchen Bureaukratismus führen kann, wie er sich als der Fluch und die Schwäche Chinas erwiesen hat. Die moralischen Resultate des neueingeführten Erziehungssystems haben den materiellen Errungenschaften nicht entsprochen. Der Vorwurf des Mangels an »Individualität« (in der üblichen Bedeutung unverfälschter Selbstsucht) wird gegen die Japaner des nächsten Jahrhunderts kaum erhoben werden. Selbst die Aufsätze der Studenten spiegeln bereits die neue Weltanschauung des aggressiven Egoismus wieder. »Die Wandelbarkeit,« – schreibt ein Schüler mit leisem Anklang an den Buddhismus, »ist das Wesen unseres Lebens. Wir sehen oft Leute, die gestern reich waren und heute arm sind. Dies ist das Resultat, das nach den Entwicklungsgesetzen der Wettbewerb hervorbringt. Wir können uns diesem Wettbewerb nicht entziehen, wir müssen einander bekämpfen, selbst wenn wir es nicht wollen. Mit welcher Waffe werden wir kämpfen? Mit der Waffe der Wissenschaft, geschmiedet durch die Erziehung.«

Nun, es gibt zwei Arten, seine Persönlichkeit auszubilden: eine führt zur ausschließlichen Entwicklung der edlen Eigenschaften, und die andere bedeutet etwas, wovon es am besten ist, so wenig als möglich zu sprechen. Aber es ist nicht die erstere, die das neue Japan jetzt zu studieren beginnt. Ich gestehe, zu jenen zu gehören, die der Ansicht sind, daß das menschliche Herz selbst in der Geschichte der Rasse mehr zu bedeuten hat als der Intellekt, und daß es sich früher oder später zeigen wird, daß das Herz die grausamen Fragen der Lebenssphinx besser zu lösen vermag, als der Intellekt. Ich glaube noch immer, daß die alten Japaner der Lösung dieser Rätsel näher standen, weil sie die moralische Schönheit als etwas Höheres ansahen, als die intellektuelle ... Und zum Schluß möchte ich aus einem Artikel über Erziehung von Ferdinand Brunetière, folgendes zitieren:

»Alle unsere erziehlichen Maßnahmen werden sich als vergeblich erweisen, wenn wir uns nicht der Richtigkeit von Lamennais' schönem Ausspruch bewußt werden: ›Die menschliche Gesellschaft beruht auf dem gegenseitigen Geben, oder der Opferwilligkeit des einen für den anderen, oder jedes einzelnen für alle. Die Aufopferungsfähigkeit ist der Kern des wahren Gesellschaftslebens.‹ Bisher haben wir das fast ein Jahrhundert lang außer acht gelassen, und nun haben wir es aufs neue zu lernen. Ohne daß dieses Prinzip anerkannt wird, kann es keine Gesellschaft und Erziehung geben, zum mindesten nicht, wenn das Ziel der Erziehung dahin geht, Menschen für die Gesellschaft zu bilden ... Der Individualismus ist heutzutage der Feind der Erziehung, wie er auch zugleich der Feind der sozialen Ordnung ist. Es war nicht immer so, aber es ist so geworden. Es wird nicht immer so sein, aber jetzt ist es so. Und ohne die Ausrottung des Individualismus zu wollen, – was aus einem Extrem in das andere verfallen hieße, – müssen wir erkennen, daß, was immer wir für die Familie, die Gesellschaft, die Erziehung und das Vaterland tun wollen, die Bekämpfung des Individualismus das erste Ziel sein muß.«


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