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Buchschmuck

Auf einer Eisenbahnstation

Buchschmuck Gestern meldete ein Telegramm aus Fukuoka, daß dort ein großer Verbrecher festgenommen worden sei, der mit dem heutigen Mittagszuge zur Hinrichtung nach Kumamoto gebracht werden solle. Man hatte Polizisten entsendet, um den Missetäter in Gewahrsam zu nehmen.

Vor vier Jahren war ein verwegener Dieb des Nachts in ein Haus der Ringerstraße eingebrochen, hatte die Bewohner überwältigt und gebunden und war mit einer Menge Kostbarkeiten entflohen. Dem geschickten Spürsinn der Polizei gelang es, ihn innerhalb vierundzwanzig Stunden festzunehmen, noch ehe er imstande war, seinen Raub in Sicherheit zu bringen. Aber auf dem Wege ins Gefängnis glückte es ihm, seine Fesseln zu sprengen, blitzschnell riß er dem Polizisten das Schwert von der Seite, tötete ihn damit und entfloh. Inzwischen hatte man nichts mehr von ihm gesehen und gehört, bis zu dieser Woche.

Als nämlich ein Polizeibeamter zufällig das Gefängnis in Fukuoka besuchte, fiel ihm in der dortigen Arbeitsabteilung ein Gesicht auf, das sich vor vier Jahren seinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hatte. »Wer ist dieser Mann?« fragte der Polizeibeamte. »Ein Dieb,« lautete die Antwort, »der hier unter dem Namen Kusabé eingetragen ist« Der Detektiv schritt auf den Gefangenen zu und sagte:

»Sie heißen nicht Kusabé«! – Nomura Teichi, Sie sind in Kumamoto des Mordes bezichtigt« Der Verbrecher gestand alles.

Ich begab mich mit einer großen Volksmenge zur Bahnhofstation, um Zeuge der Ankunft zu sein. Ich erwartete Zornausbrüche zu sehen und zu hören, ja, ich fürchtete sogar Tätlichkeiten. Der Ermordete war sehr beliebt gewesen, sicherlich würden seine Angehörigen unter der Menge sein – und eine Volksmenge in Kumamoto ist nicht sehr sanftmütig. Ich glaubte auch ein großes Polizeiaufgebot zu finden, meine Voraussetzungen waren irrig.

Als der Zug hielt, spielte sich nur die gewohnte geräuschvolle und eilige Ankunftsszene ab: man hörte das lärmende Treiben der zahllosen Reisenden, die aneinander vorbeihasteten, und die Rufe der kleinen Verkäufer, die Zeitungen und Kumamotolimonade ausboten. Wir warteten etwa fünf Minuten hinter der Barriere. Dann von dem Polizisten durch die Tür geschoben, erschien der Gefangene, eine stämmige wilde Gestalt. Sein Kopf war geneigt, die Hände waren auf dem Rücken festgebunden. Der Gefangene und sein Wächter blieben an der Tür stehen, und das Volk drängte nach vorwärts, um zu sehen, aber alles schwieg. Nun rief der Polizeibeamte mit lauter vernehmlicher Stimme:

»Sugihara San! Sugihara O – Kibi! Ist sie anwesend?«

Eine zarte kleine Frau mit einem Kind auf dem Rücken, die neben mir stand, antwortete: »Hai!« und ging einige Schritte durch die Menge vor. Es war die Witwe des Ermordeten, das Kind auf ihrem Rücken sein Söhnchen.

Auf einen Wink des Polizeibeamten wich die Menge zurück und ließ um den Gefangenen und seine Eskorte einen freien Raum. Dort stand die Witwe mit ihrem Knaben und blickte dem Mörder ins Antlitz. Es herrschte Totenstille. Nicht an die Frau wandte sich der Polizeibeamte, er wandte sich an das Kind, und er sprach leise, aber so deutlich, daß ich jede Silbe verstehen konnte:

»Kindchen, dies ist der Mann, der deinen Vater getötet hat. Du warst noch nicht geboren, ruhtest noch im Mutterschoß. Daß du die Liebe eines Vaters entbehren mußt, ist das Werk dieses Mannes. Sieh ihn an,« – hier faßte der Wärter den Gefangenen barsch am Kinn und zwang ihn, aufzusehen – »sieh ihn gut an, kleiner Junge, fürchte dich nicht, es ist peinvoll, aber es ist deine Pflicht. Sieh ihn an!«

Über die Schultern der Mutter blickte der Knabe mit weit geöffneten Augen, wie in Furcht, dann begann er zu schluchzen, dann stürzten Tränen aus seinen Augen, aber unverrückt und gehorsam, sahen sie unverwandt auf das zuckende Gesicht des Gefangenen.

Die Menge schien nicht zu atmen.

Ich sah, wie das Gesicht des Gefangenen sich verzerrte, – plötzlich warf er sich, ungeachtet seiner Fesseln, auf die Knie, schlug sein Gesicht auf den Boden, und mit einer Stimme, die in leidenschaftlicher Reue erbebte und jedes Herz erschütterte, rief er:

»Verzeih mir, Kleiner, verzeih mir!

»Was ich tat, geschah nicht aus Haß, es geschah nur aus Furcht, in dem Wunsch, mich zu retten. Ich habe Furchtbares, Furchtbares an dir verbrochen – aber nun werde ich mein Verbrechen sühnen, – ich gehe in den Tod – ich will sterben – ich sterbe gern – o Kleiner, sei erbarmungsvoll, – vergib mir!«

Das Kind weinte noch immer schweigend. Der Gefangenwärter hob den schluchzenden Verbrecher vom Boden auf, die stumme Menge wich links und rechts zurück, um sie vorbeizulassen. Dann ganz unversehens begann die ganze Menge zu schluchzen. Und als der gebräunte Wächter mir näher kam, sah ich, – was ich nie gesehen hatte, was wenige Menschen je sehen – was ich wahrscheinlich nie wieder sehen werde, – Tränen in den Augen eines japanischen Polizisten.

Die Menge zerstreute sich und ließ mich in Gedanken über die seltsame Moral dieses Schauspiels zurück. Hier war unerschütterliche aber mitleidsvolle Gerechtigkeit, die dem Schuldigen das Bewußtsein seines Verbrechens durch den pathetischen Anblick der natürlichen Folgen desselben vor Augen führte. Hier war verzweifelte Reue, die vor dem Tode nur noch Vergebung wollte. Und hier war eine Volksmasse, – vielleicht wenn sie gereizt wurde, die gefährlichste im ganzen Kaiserreich, – alles verstehend, allen Regungen der Rührung zugänglich, über die Zerknirschung und Schmach des Gefangenen Genugtuung empfindend, und doch nicht von blinder Rachsucht erfüllt, sondern nur von großem Kummer über die Sünde, durch das schlichte intuitive Erfassen der Schwere des Lebens und der Schwäche der menschlichen Natur.

Aber das Bezeichnendste, weil für den Orient am meisten Charakteristische in dieser Episode war, daß der Appell an das Gewissen sich an das Vatergefühl in dem Verbrecher gewendet hatte – diese potentielle Liebe zum Kinde, die in der Seele jedes Japaners so tief gründet.

Es gibt eine Geschichte, die von dem berüchtigten Räuber Ishikawa Goëmon erzählt, dieser sei bei dem nächtlichen Einbruch in einem Hause von dem Lächeln eines Kindes, das ihm seine Händchen entgegenstreckte, so bezaubert gewesen, daß er sein verbrecherisches Vorhaben völlig vergass und im Spiele mit dem Kinde so lange verweilte, daß er darüber den geeigneten Zeitpunkt zur Ausführung seines Anschlags versäumte.

Diese Geschichte ist durchaus nicht unglaubhaft. Die Polizeiberichte erzählen jedes Jahr solche Züge des Mitleids und der Schonung von Berufsverbrechern Kindern gegenüber.

Vor einigen Monaten berichteten Lokalblätter von einem schrecklichen Fall verruchter Abschlachtung eines ganzen Haushalts. Sieben Personen waren im Schlafe förmlich zerstückelt worden. Aber die Polizei fand in einer Blutlache unversehrt ein schreiendes Kindchen, und es war unverkennbar, daß der Mörder außerordentliche Sorgfalt aufgewendet haben mußte, um das Kind nicht zu verletzen.

Buchschmuck

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