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Roger Malvins Bestattung

Eines der wenigen Ereignisse aus den Indianerkriegen, das aus seiner Natur heraus für den Mondschein der Romantik geeignet ist, war die Expedition zur Verteidigung der Grenzen im Jahre 1725, die in dem wohlbekannten Kampfe Lovells endigte. Die Phantasie, die wohlweislich gewisse Umstände im Schatten verschwinden läßt, kann viel Bewundernswertes sehen in dem Heldenmute einer kleinen Truppe, die sich mitten im Feindesland mit der doppelten Anzahl der Feinde schlug. Die offene Tapferkeit, die auf beiden Seiten entfaltet wurde, stimmte mit den zivilisierten Begriffen von Mut überein, und die Ritterlichkeit selber brauchte sich nicht zu schämen, die Taten einiger Leute zu berichten. Die Schlacht, die so verhängnisvoll für die Kämpfer war, hatte doch keine ungünstigen Folgen für das Land; denn sie brach die Stärke eines Stammes und führte zu einem Frieden, der mehrere Jahre lang anhielt. Geschichte und Überlieferung sind ungewöhnlich genau in ihren Berichten über diese Sache, und der Führer einer Streifpatrouille der Grenzer hat ebenso wirklichen militärischen Ruhm erlangt wie mancher siegreiche Führer von Tausenden. Einige der Ereignisse, die in den folgenden Seiten enthalten sind, werden trotz der eingesetzten falschen Namen von den Leuten erkannt werden, die aus dem Munde alter Männer das Schicksal der wenigen Kämpfer erfahren haben, die lebendig aus »Lovells Kampf« zurückkehrten.

* * *

Die frühen Sonnenstrahlen zitterten auf den Spitzen der Bäume, unter denen zwei matte, wunde Männer am Abend vorher ihre Glieder ausgestreckt hatten. Ihr Lager aus welken Eichenblättern war auf einer kleinen horizontalen Fläche am Fuße eines Felsens, neben dem Gipfel einer der sanften Anhöhen, die dort das Bild der Landschaft beleben. Der große Granitblock am Ende der glatten, ebenen Fläche, der fünfzehn oder zwanzig Fuß über ihre Köpfe hinausragte, sah einem riesigen Grabstein nicht unähnlich, auf welchem die Adern eine Inschrift in verschollenen Lettern bildeten. In weitem Umkreis um diesen Felsen vertraten Eichen und andere Hartholzbäume die Stelle der Fichten, die sonst allgemein im Lande wuchsen; ein junger, kraftvoller Tännling stand dicht bei den Wanderern.

Die schwere Verwundung des Älteren hatte ihn wahrscheinlich am Schlaf gehindert; denn sobald der erste Sonnenstrahl auf der höchsten Baumspitze ruhte, richtete er sich mühsam aus der liegenden Stellung auf und saß aufrecht da. Die tiefen Furchen im Gesicht und die zum Teil ergrauten Haare zeigten, daß er die mittleren Jahre überschritten hatte. Aber seine sehnige Gestalt hätte sicher noch wie in erster Jugendkraft alle Strapazen ertragen können, wenn ihn die Folgen der Verwundung nicht geschwächt hätten. Entkräftung und Erschöpfung lagen nun auf seinen hageren Zügen, und der verzweifelte Blick, den er in die Tiefe des Waldes hineinschickte, zeigte klar, daß er selber überzeugt davon war, daß seine Wanderschaft sich dem Ende nahte. Dann wandte er seine Augen auf den Gefährten, der an seiner Seite ruhte. Der Jüngling, denn er hatte kaum das Mannesalter erreicht, hatte den Kopf auf die Arme gelegt und lag in unruhigem Schlummer, aus dem ihn jeden Augenblick ein bohrender Schmerz in seinen Wunden reißen konnte. Seine Rechte umklammerte ein Gewehr und, nach der heftigen Bewegung in seinen Zügen zu urteilen, schien ihn der Schlaf in den Kampf zurückzuführen, aus dem er als einer der wenigen Überlebenden entronnen war. Ein Schrei, laut und tief in seiner träumenden Vorstellung, stieg als leises Gemurmel auf seine Lippen, und vom schwachen Klang der eigenen Stimme erschreckt wachte er plötzlich auf. Als die Erinnerung zurückkehrte, fragte er sofort besorgt nach dem Zustand des verwundeten Gefährten. Dieser schüttelte das Haupt.

»Reuben, mein Junge,« sagte er, »dieser Felsen, unter dem wir sitzen, wird der Grabstein eines alten Jägers werden. Gar viele Meilen öder Wüste liegen noch vor uns. Aber es könnte mir auch nichts nützen, wenn der Rauch meines eigenen Schornsteins auf der andern Seite jenes Hügels aufstiege. Die Indianerkugel traf tödlicher als ich dachte.«

»Ihr seid müde von der dreitägigen Wanderung,« erwiderte der Jüngling, »wenn wir noch etwas länger ruhen, werdet Ihr Euch erholen. Bleibt hier sitzen, ich will den Wald nach Kräutern und Wurzeln durchsuchen; wenn wir gegessen haben, sollt Ihr Euch auf mich stützen, und wir wollen uns heimwärts kehren. Ich glaube fest, daß Ihr mit meiner Hilfe eine der Grenzgarnisonen erreichen könnt.«

»Ich habe keine zwei Tage mehr zu leben, Reuben,« sagte der andere ruhig, »und ich will dich nicht länger mit meinem wertlosen Körper belasten, wo du kaum den eigenen aufrechterhalten kannst. Deine Wunden sind tief und deine Kräfte nehmen rasch ab; aber wenn du allein weitereilst, kannst du noch gerettet werden. Für mich ist keine Hoffnung mehr; ich will hier auf den Tod warten.«

»Wenn es so sein muß, dann will ich auch hier bleiben und Euch bewachen,« sagte Reuben entschlossen.

»Nein, nein, mein Sohn,« fiel sein Gefährte ein. »Gib dem Wunsch eines Sterbenden Gehör. Drücke mir noch einmal die Hand und dann geh. Glaubst du, daß es meine letzten Augenblicke erleichtern wird, wenn ich denken muß, daß dich nach mir ein noch langsamerer Tod erwartet? Ich habe dich wie ein Vater geliebt, Reuben, und in solchem Augenblick solltest du mir auch wie einem Vater gehorchen. Ich befehle dir, fortzugehen, damit ich in Frieden sterben kann.«

»Und weil Ihr mir ein Vater wart, deshalb soll ich Euch hier sterben und unbegraben in der Wildnis liegen lassen?« rief der Jüngling. »Nein, wenn wirklich Euer Ende nahe ist, dann will ich bei Euch wachen und Eure letzten Worte hören. Hier bei dem Felsen will ich ein Grab schaufeln, und wenn ich der Schwäche unterliege, so wollen wir beisammen darin ruhen. Oder, wenn der Himmel mir Kraft genug läßt, will ich dann den Heimweg suchen.«

»In den Städten, und wo sonst Menschen wohnen,« erwiderte der andere, »da begräbt man die Toten in der Erde; man verbirgt sie vor den Blicken der Lebenden. Aber hier, wo vielleicht in hundert Jahren kein Schritt vorüberkommt, warum sollte ich hier nicht unter dem freien Himmel ruhen, nur von den Blättern der Eiche bedeckt, die der Herbstwind über mich streut? Und als Denkmal steht der graue Felsblock hier, in den ich mit sterbender Hand den Namen Roger Malvin graben will. Der Wanderer in künftigen Zeiten wird dann wissen, daß hier ein Jäger und ein Krieger schläft. Um solcher Torheit willen sollst du also nicht zögern. Eile weiter, und ist es nicht um deinetwillen, so tue es ihr zuliebe, die sonst verlassen bleibt.«

Die letzten Worte sprach Malvin mit zitternder Stimme, und ihr Einfluß auf seinen Gefährten war deutlich sichtbar. Sie mahnten ihn, daß es noch andere Pflichten gab, über die sich weniger streiten ließ als über die, das Schicksal eines Mannes zu teilen, dem sein Tod nichts nützen konnte. Auch läßt sich nicht leugnen, daß selbstische Gefühle Einlaß begehrten in seinem Herzen. Aber dieses Bewußtsein ließ ihn den Bitten des Freundes noch stärkeren Widerstand entgegensetzen.

»Wie furchtbar, in dieser Einsamkeit das langsame Nahen des Todes zu erwarten!« rief er aus. »Ein tapferer Mann zuckt nicht vor ihm zurück in der Schlacht, selbst eine Frau vermag gefaßt zu sterben, wenn ihre Freunde das Lager umstehen. Aber hier –«

»Ich werde auch hier nicht zurückschrecken, Reuben Bourne,« unterbrach ihn Malvin, »ich habe kein ängstliches Herz, und wenn ich es hätte, so gibt es einen festeren Halt als den irdischer Freunde. Du bist jung und liebst das Leben. Wenn du stirbst, so brauchst du viel mehr Trost als ich. Wenn du mich in die Erde gelegt hast und allein bist, und die Nacht senkt sich über den Wald, dann wirst du die ganze Bitterkeit des Todes fühlen, dem du jetzt noch entrinnen kannst. Doch ich will deiner edlen Seele kein eigennütziges Motiv aufdrängen. Verlaß mich um meiner selbst willen, daß ich für dein Heil beten und dann, ungestört von irdischen Sorgen, Zeit habe, meine Rechnung abzuschließen.«

»Und Eure Tochter! Wie soll ich ihr unter die Augen treten!« rief Reuben. »Sie wird mich nach dem Schicksal ihres Vaters fragen, dessen Leben ich wie mein eigenes zu verteidigen geschworen habe. Muß ich ihr erzählen, daß er drei Tage lang mit mir vom Schlachtfeld fortgewandert ist, und daß ich ihn dann allein in der Wildnis sterben ließ? Wäre es nicht besser, ich legte mich neben Euch zum Sterben nieder, als lebend heimzukehren und Dorcas solches zu berichten?«

»Sag meiner Tochter,« sagte Roger Malvin, »daß du selber schwer verwundet und matt und müde meine strauchelnden Schritte viele Meilen weit geleitet hast und nur auf meine ernste Bitte mich verließest, weil ich meine Seele nicht mit deinem Blut belasten wollte. Sag ihr, daß du mir treu warst in Schmerz und in Gefahr, und daß du den letzten Tropfen Lebensblut vergossen hättest, wenn es mich hätte retten können. Und sag ihr, daß du ihr Lieberes sein willst als ein Vater, und daß mein Segen mit euch beiden ist, und daß meine Augen einen langen, frohen Weg vor sich sehen, auf dem ihr zusammen wandert.«

Als Malvin sprach, hob er sich fast vom Boden auf, und die Begeisterung seiner letzten Worte schien den wilden einsamen Wald ganz zu erfüllen mit einer Vision des Glücks. Aber als er erschöpft auf sein Lager aus Eichblättern zurücksank, erlosch das Licht, das in Reubens Augen aufgeleuchtet war. Er empfand es wie Sünde und Torheit, in solchem Augenblick an Glück zu denken. Sein Gefährte beobachtete den Wechsel auf seinem Gesicht und wollte ihn in wohlgemeinter Täuschung zum eigenen Besten überlisten.

»Vielleicht täusche ich mich auch über die Zeit, die ich noch zu leben habe,« fing er wieder an. »Möglich, daß ich bei rascher Hilfe mich wieder erholen könnte. Die früheren Flüchtlinge müssen jetzt schon Kunde von der unseligen Schlacht an die Grenzen gebracht haben, und es werden Abteilungen unterwegs sein, die Leute in unserer Lage in Sicherheit bringen sollen. Wenn du eine solche anträfest und sie hierher führtest – wer weiß, ob ich dann nicht doch noch wieder am eignen Herd sitzen könnte?«

Ein trübes Lächeln ging über die Züge des Sterbenden, als er diese leere Hoffnung ersann. Aber sie blieb nicht ohne Wirkung auf Reuben. Kein selbstsüchtiger Grund, nicht einmal die Verlassenheit seiner Dorcas hätte ihn dazu bringen können, seinen Gefährten in diesem Augenblick zu verlassen. Aber seine Wünsche klammerten sich an den Gedanken, daß Malvins Leben gerettet werden könnte, und seine zuversichtliche Natur steigerte die entfernte Möglichkeit, menschliche Hilfe zu beschaffen, schon fast zur Gewißheit.

»Gewiß, es besteht Hoffnung, berechtigte Hoffnung, daß Freunde in der Nähe sind,« sagte er halblaut. »Ein Feigling floh unverwundet am Anfang des Kampfes, und höchstwahrscheinlich hat er sich sehr beeilt. Jeder echte Grenzer wird das Gewehr ergreifen bei dieser Nachricht, und wenn auch keine Abteilung bis hierher in die Wälder vordringt, könnte ich doch vielleicht nach einem Tagesmarsch auf sie stoßen. Sagt mir ehrlich,« fügte er hinzu und wandte sich an Malvin, denn er mißtraute seinem eigenen Motive, »wenn Ihr in meiner Lage wärt, würdet Ihr mich verlassen, solange noch Leben in mir wäre?«

»Es ist jetzt zwanzig Jahre her,« erwiderte Roger Malvin, doch er seufzte heimlich über die große Verschiedenheit der beiden Fälle – »es ist jetzt zwanzig Jahre her, als ich mit einem lieben Freunde aus der Gefangenschaft der Indianer in der Nähe von Montreal entfloh. Wir reisten viele Tage durch die Wälder, bis schließlich mein Freund, von Hunger und Mattigkeit überwältigt, liegen blieb und mich bat, ihn zu verlassen; denn er wußte, wenn ich blieb, mußten wir beide umkommen. Und trotzdem nur wenig Hoffnung auf Hilfe bestand, legte ich ihm ein Kissen aus trocknen Blättern unter den Kopf und eilte weiter.«

»Und kamt Ihr rechtzeitig zu seiner Rettung zurück?« fragte Reuben, der an Malvins Lippen hing, als sollten sie ihm den eigenen Erfolg vorauskünden.

»Ja,« antwortete der andere, »ich stieß auf das Feldlager einer Jagdgesellschaft, noch bevor die Sonne dieses Tages unterging. Ich führte sie zu der Stelle, wo mein Kamerad den Tod erwartete. Und er ist jetzt ein kräftiger, gesunder Mann auf seiner eigenen Farm, weit hinter der Grenze – und ich liege hier verwundet mitten in der Wildnis.«

Dieses Beispiel wirkte mächtig auf Reubens Entschluß ein, unbewußt unterstützt von der verborgenen Kraft vieler anderer Motive. Roger Malvin bemerkte, daß der Sieg fast gewonnen war.

»Nun geh, mein Sohn, und der Himmel steh dir bei!« sagte er. »Kehre nicht mit den Freunden zurück, wenn du sie triffst, damit die Wunden und die Ermattung dich nicht überwältigen; sende zwei oder drei Leute hierher, mich zu suchen. Und glaub mir, Reuben, mit jedem Schritt, den du der Heimat zu tust, wird mein Herz leichter werden.« Doch es ging eine leichte Änderung durch seine Stimme und über sein Gesicht. Es war schließlich doch ein grauenvolles Geschick, sterbend in der Wildnis zurückzubleiben.

Reuben Bourne, der von der Rechtlichkeit seiner Handlung nur halb überzeugt war, erhob sich schließlich und rüstete sich zum Aufbruch. Zuerst sammelte er gegen Malvins Willen einen Vorrat von Wurzeln und Kräutern, die auch während der beiden letzten Tage ihre einzige Nahrung gebildet hatten. Diesen wertlosen Proviant legte er neben den todwunden Mann, für den er auch ein frisches Lager aus trockenen Eichblättern zurechtmachte. Dann kletterte er auf den Felsen hinauf, der an einer Seite rauh und zerklüftet war, bog den jungen Baum herunter und band sein Taschentuch an den obersten Zweig. Dies war eine notwendige Maßnahme, um die zu leiten, die Malvin suchen würden; denn der ganze Felsen, außer der breiten, glatten Vorderseite, verschwand schon in geringer Entfernung in dem dichten Unterholz des Waldes. Das Taschentuch hatte einer Armwunde Reubens als Verband gedient. Als er es an den Baum band, schwor er bei dem Blut, mit dem es getränkt war, daß er zurückkehren wolle, entweder um das Leben des Gefährten zu retten, oder um seinen Leichnam zu bestatten. Dann stieg er herab und erwartete mit gesenktem Blick Roger Malvins letzte Worte.

Die große Erfahrung Malvins ließ ihn viele und genaue Ratschläge geben für die Reise des Jünglings durch den pfadlosen Wald. Darüber sprach er ernst und ruhig, als ob er Reuben in die Schlacht oder zur Jagd schicke, während er selber sicher zu Hause blieb; nicht so, als ob das Menschenantlitz, das ihn jetzt verlassen wollte, das letzte sei, das er je erblicken sollte. Aber die Festigkeit verließ ihn, bevor er schloß.

»Bring Dorcas meinen Segen und sag ihr, daß mein letztes Gebet euch beiden gilt. Sie soll nicht hart darüber denken, daß du mich hier verlassen hast« – Reuben gab es einen Stich durchs Herz – »denn dein Leben wäre dir nicht zu teuer gewesen, wenn mir sein Opfer hätte nützen können. Sie wird dein werden, wenn sie eine kleine Weile um ihren Vater getrauert hat. Der Himmel gebe euch lange und glückliche Tage! Eure Kindeskinder sollen um euer Sterbelager stehen. Und – Reuben,« fügte er hinzu, als ihn schließlich doch die Schwäche der Sterblichen überkam, »komm zurück, wenn deine Wunden geheilt sind und deine Mattigkeit überwunden ist, komm zu diesem wilden Felsen zurück, lege meine Gebeine ins Grab und sprich ein Gebet darüber.«

Fast abergläubigen Wert legten die Grenzbewohner auf die Beachtung der Begräbnisbräuche; es kam vielleicht daher, weil die Indianer nicht nur mit den Lebenden, sondern auch mit den Toten Krieg führten. Es gab viele Beispiele dafür, wie die Leute ihr Leben aufs Spiel setzten bei dem Versuch, die zu begraben, die von dem »Schwert der Wildnis« gefallen waren. Daher empfand Reuben die ganze Tragweite des Versprechens, das er feierlich gab, zurückzukehren und für Roger Malvins Bestattung zu sorgen. Es war auffallend, daß dieser, der sein ganzes Herz in seine Abschiedsworte legte, sich gar nicht mehr bemühte, den Jüngling zu überreden, daß die schleunigste Hilfe die Rettung seines Lebens noch möglich mache. Reuben war im Innersten überzeugt, daß er Malvins Gesicht nicht lebend wiedersehen würde. Sein edler Charakter hätte ihn fast doch noch um jeden Preis zurückgehalten, bis der Todeskampf vorüber war. Aber der Wunsch zu leben und die Hoffnung auf Glück waren wieder stark geworden in seinem Herzen, und er konnte ihnen nicht mehr widerstehen.

»Es ist genug,« sagte Roger Malvin, der Reubens Versprechen angehört hatte, »eile jetzt, und Gott sei mit dir!«

Der Jüngling drückte ihm schweigend die Hand, wandte sich und ging. Seine langsamen und schwankenden Schritte hatten ihn aber erst eine kurze Strecke weggeführt, als Malvins Stimme ihn zurückrief.

»Reuben, Reuben!« rief er matt. Reuben kehrte um und kniete neben dem Sterbenden nieder.

»Richte mich auf und lehne mich an den Felsen,« war seine letzte Bitte. »So wird mein Gesicht der Heimat zugekehrt sein, und ich kann dich einen Augenblick länger sehen, wenn du unter den Bäumen dahingehst.«

Reuben änderte die Stellung seines Gefährten, wie er es wünschte, und nahm seine einsame Wanderung wieder auf. Er ging zuerst rascher, als für seine Kräfte gut war. Ein Schuldgefühl, wie es die Menschen manchmal bei den gerechtfertigsten Handlungen quält, drängte ihn eilig aus Malvins Blicken. Aber nachdem er ein gutes Stück durch die raschelnden Blätter gegangen war, kroch er im Schutz der Erdwurzeln eines gestürzten Baumes zurück, von wilder, schmerzlicher Neugierde getrieben, und starrte ernsthaft auf den verlassenen Mann. Wolkenlos stand die Morgensonne am Himmel, die Bäume und Sträucher waren durchtränkt von süßer Mailuft, und doch erschien das Antlitz der Natur verdüstert, als habe sie Mitgefühl mit menschlichen Sorgen und Schmerzen. Roger Malvins Hände waren in inbrünstigem Gebet gefaltet; einige Worte stahlen sich durch die Stille des Waldes, drangen Reuben ins Herz und quälten es mit unaussprechlicher Pein. Es waren zerstreute Laute aus einer Bitte um Glück für ihn und Dorcas. Als der Jüngling lauschte, drängte das Gewissen oder eine ähnliche Stimme stark in ihm, zurückzukehren und sich wieder beim Felsen hinzulegen. Er fühlte, wie hart das Geschick des gütigen und edlen Menschen war, den er in seiner letzten Not verlassen hatte. Langsam und in Leichengestalt würde der Tod herankommen, sich allmählich durch den Wald auf ihn zuschleichen, sein geisterhaft bewegungsloses Gesicht bald hinter dem, bald hinter einem näheren und dann nächsten Baum hervorlugen lassen. Doch das wäre auch Reubens eigenes Schicksal geworden, hätte er den nächsten Sonnenuntergang erwartet. Wer sollte ihn tadeln, wenn er ein so ganz nutzloses Opfer scheute? Als er zum letztenmal zurückschaute, bewegte ein leichter Wind die kleine Fahne auf dem Bäumchen und mahnte Reuben an seinen Schwur.

* * *

Allerhand Umstände hielten den verwundeten Wanderer auf seinem Wege zur Grenze auf. Am zweiten Tage nahmen ihm die Wolken, die sich dicht am Himmel ballten, die Möglichkeit, die Wegrichtung nach dem Stand der Sonne zu bestimmen, und er konnte nicht wissen, ob ihn nicht alle Anstrengung der fast erschöpften Kräfte nur noch weiter von der gesuchten Heimat entfernte. Beeren und was sonst wild im Walde wuchs, war seine kärgliche Nahrung. Freilich sprangen manchmal ganze Herden von Wild an ihm vorüber, und Rebhühner schwirrten vor seinen Füßen auf. Aber seine Munition war in der Schlacht verbraucht, und er hatte keine Möglichkeit, die Tiere zu töten. Seine Wunden, durch die dauernde Anstrengung gereizt, in der doch die einzige Hoffnung auf Erhaltung lag, verzehrten seine Kräfte und machten ihn bisweilen fast besinnungslos. Doch selbst in irren Träumen klammerte sich Reubens junges Herz fest an das Leben, und erst als ihm jede Bewegung ganz unmöglich geworden war, sank er unter einem Baum zusammen, um dort den Tod zu erwarten.

In dieser Lage wurde er von einigen Leuten entdeckt, die man auf die erste Nachricht von dem Kampfe hin zur Rettung der Überlebenden ausgeschickt hatte. Sie brachten ihn zur nächsten Niederlassung – und es war seine eigene Heimat.

Dorcas, in der Schlichtheit alter Zeiten, wachte am Bett des wunden Liebsten und gab ihm alle Linderung und Pflege, wie nur das Herz und die Hand einer Frau sie gewähren kann. Mehrere Tage lang irrte Reubens Geist verworren durch die erlittenen Gefahren und Strapazen, und er war nicht imstande, klare Antworten auf die Fragen zu geben, mit denen ihn viele eifrig bestürmten. Keine authentischen Einzelheiten über die Schlacht waren bis jetzt bekannt geworden. Mütter, Frauen und Kinder wußten nicht, ob ihre Lieben von der Gefangenschaft oder der stärkeren Kette des Todes zurückgehalten wurden. Dorcas bewahrte ihre Ahnungen schweigend bis zu einem Nachmittag, wo Reuben aus unruhigem Schlummer erwachte und sie deutlicher zu erkennen schien als bisher. Sie sah, daß sein Gehirn sich beruhigt hatte und konnte ihre kindliche Besorgnis nicht länger beherrschen.

»Mein Vater, Reuben?« begann sie; aber der Wechsel auf dem Gesicht des Geliebten ließ sie stocken.

Der Jüngling schrak wie in bitterem Schmerz zusammen und das Blut schoß ihm lebhaft in die blassen, hohlen Wangen. Zuerst wollte er unwillkürlich sein Gesicht verbergen; aber dann richtete er sich in offenbar verzweifelter Anstrengung halb auf, sprach erregt und verteidigte sich gegen eine vorgestellte Anklage.

»Dein Vater wurde schwer verwundet in der Schlacht, Dorcas, und er bat, mich nicht mit ihm zu belasten. Nur an den See sollte ich ihn führen, daß er seinen Durst löschen und dann sterben könnte. Aber ich wollte den alten Mann in seiner Not nicht verlassen, und trotzdem ich selber blutete, stützte ich ihn. Meine halbe Kraft gab ich ihm und führte ihn mit mir fort. Drei Tage lang reisten wir zusammen, und dein Vater hielt sich besser aufrecht, als ich gehofft hatte; aber als wir am vierten Tage beim Sonnenaufgang erwachten, fand ich ihn schwach und erschöpft, – er konnte nicht mehr weiter – seine Kräfte schwanden schnell – und–«

»Er starb!« rief Dorcas mit schwacher Stimme.

Es war Reuben nicht möglich, zuzugeben, daß seine selbstische Liebe zum Leben ihn fortgetrieben hatte, bevor das Schicksal ihres Vaters sich erfüllt hatte. Er sprach nicht. Er senkte nur den Kopf, und unter Scham und Erschöpfung sank er zurück und verbarg das Gesicht in den Kissen. Als Dorcas ihre Befürchtungen so bestätigt sah, weinte sie; aber der Schmerz, der so lange vorausgeahnt war, war dadurch weniger heftig.

»Hast du meinem Vater ein Grab in der Wildnis gegraben, Reuben?« Das war die Frage, in der ihre kindliche Liebe sich ausdrückte.

»Meine Hände waren schwach, aber ich tat, was ich konnte,« erwiderte der Jüngling mit erstickter Stimme. »Ein prächtiger Grabstein steht ihm zu Häupten; wollte Gott, daß ich so fest schliefe wie er!«

Dorcas fühlte das Fieber in diesen letzten Worten und fragte nicht mehr weiter; aber ihr Herz fand Trost in dem Gedanken, daß es Roger Malvin nicht an den Bestattungsbräuchen gefehlt hatte, die man ihm hatte zuteil werden lassen können. Die Geschichte von Reubens Mut und Treue verlor nichts, als sie sie ihren Freunden erzählte. Und der arme Jüngling, der aus seinem Krankenzimmer wankte, um die sonnige Luft zu atmen, erfuhr aus jedem Munde die schmerzliche und demütigende Quälerei unverdienten Lobes. Alle gaben zu, daß er mit Recht die Hand des schönen Mädchens verlangen konnte, dessen Vater er »getreu bis in den Tod« gewesen war. Und da ich keine Liebesgeschichte erzähle, genügt es zu sagen, daß Reuben nach etwa zwei Jahren Dorcas Malvins Gatte wurde. Bei der Trauung war das Gesicht der Braut errötet, doch der Bräutigam war blaß.

Reuben Bourne trug nun einen Gedanken in der Brust, den er nicht mitteilen konnte, etwas, was er sorgfältig vor der verbergen mußte, der all seine Liebe und sein Vertrauen gehörte. Tief und bitter bereute er die moralische Feigheit, die ihm die Zunge gefesselt hatte, als er Dorcas die Wahrheit gestehen wollte. Aber Stolz, die Furcht, ihre Liebe zu verlieren, die Angst vor allgemeiner Verachtung, das alles hinderte ihn daran, den Fehler gutzumachen. Er fühlte, daß er keinen Tadel verdiente, weil er Roger Malvin verlassen hatte. Seine Gegenwart, das überflüssige Opfer seines eigenen Lebens hätte nur einen neuen und nutzlosen Schmerz in den letzten Augenblicken des Sterbenden bedeutet. Aber die Verheimlichung hatte der einwandfreien Handlung viel von der geheimen Wirkung einer Schuld verliehen. Und Reuben, dem doch sein Verstand sagte, daß er recht gehandelt habe, erfuhr in hohem Maße die seelischen Qualen, die einen heimlichen Verbrecher verfolgen. Durch eine gewisse Ideenverbindung bildete er sich manchmal förmlich ein, ein Mörder zu sein. Jahrelang kam ihm ab und zu ein Gedanke, den er nicht zu bannen vermochte, obwohl er seine ganze Torheit und Überspanntheit einsah: Es verfolgte ihn die quälende Vorstellung, daß sein Schwiegervater noch immer am Fuße des Felsens saß, auf den welken Waldblättern, noch lebendig, noch immer auf den versprochenen Beistand wartend. Diese Sinnestäuschungen jedoch kamen und gingen wieder, und er nahm sie nie als Wirklichkeiten; aber bei ruhigster und klarster Überlegung war er sich doch bewußt, daß er ein heiliges Gelöbnis nicht eingelöst hatte, und daß ein unbestatteter Leichnam aus der Wildnis nach ihm rief. Daß er diesem Rufe nicht folgen konnte, das war die Folge seiner Unoffenheit. Jetzt war es zu spät, die Hilfe der Freunde zu erbitten, um Roger Malvins lang verschobene Bestattung vorzunehmen; und eine abergläubige Furcht, der niemand mehr unterworfen war als die Leute der vorgeschobenen Niederlassungen, verbot Reuben, allein zu gehen. Auch wußte er nicht, wo er im unendlichen, pfadlosen Walde den glatten Felsen mit den seltsamen Schriftzeichen finden sollte, an dessen Fuß der Tote lag. Seine Erinnerung an die einzelnen Teile seines Weges von dorther war nur undeutlich, und der letzte Abschnitt hatte sich ihm gar nicht mehr eingeprägt. Beständig aber fühlte er einen inneren Antrieb, hörte er eine Stimme, die nur er vernahm, die ihm befahl auszuziehen, um sein Versprechen einzulösen. Und er hatte das sonderbare Gefühl: wenn er es nur versuchte, er würde sofort den Weg zu Malvins Gebeinen finden. Doch Jahr um Jahr hörte er zwar die Mahnung, folgte ihr aber nicht. Sein einziger heimlicher Gedanke ward zu einer Kette, die seinen Geist zu Boden zerrte, zu einer Schlange, die sich in sein Herz einfraß. Er wurde ein trauriger, niedergeschlagener, aber reizbarer Mensch.

Im Laufe einiger Jahre nach ihrer Hochzeit machte sich eine Änderung im äußeren Fortkommen Reubens und Dorcas bemerkbar. Reubens einziger Reichtum hatte in seinem wackeren Herzen und starken Arm bestanden; aber Dorcas, die einzige Erbin ihres Vaters, hatte ihren Gatten zum Besitzer einer Farm gemacht, die länger kultiviert, größer und besser ausgestattet war als die meisten auf den Grenzniederlassungen. Reuben Bourne aber war ein lässiger Hausherr, und während die Ländereien der andern Siedler alljährlich fruchtbarer wurden, verschlechterten sich die seinen in dem gleichen Maße. Die Mutlosigkeit in der Landbestellung ließ sehr nach beim Aufhören des Indianerkrieges, während dessen die Leute den Pflug in der einen Hand und in der andern die Flinte gehalten hatten und glücklich gewesen waren, wenn ihnen der wilde Feind die Frucht ihrer Arbeit nicht auf den Feldern oder in den Scheunen vernichtete. Aber Reuben zog keinen Vorteil aus den geänderten Bedingungen des Landes; auch läßt sich nicht leugnen, daß der Fleiß, den er zeitweilig an sein Besitztum wandte, nur von geringem Erfolg belohnt war. Die Reizbarkeit, die ihn in jüngster Zeit auszeichnete, war ein weiterer Grund für den Verfall seines Vermögens, da sie häufig bei dem unvermeidlichen Verkehr mit benachbarten Siedlern zu Streitigkeiten führte. Daraus ergaben sich zahlreiche Prozesse; denn die Bewohner Neuenglands in jenen frühesten Zeiten und ungeordneten Zuständen des Landes betraten, wenn irgend möglich, den gesetzlichen Weg zur Entscheidung ihrer Zwistigkeiten. Kurzum, es stand nicht gut um Reuben Bourne und schließlich, wenn auch erst viele Jahre nach seiner Heirat, war er ein ruinierter Mann, dem nur noch eine Hilfe blieb gegen das widrige Schicksal, das ihn verfolgt hatte. Er mußte die Sonne scheinen lassen in einen verborgenen Winkel des Waldes und seinen Unterhalt in der unberührten Wildnis suchen.

Dorcas und Reubens einziges Kind war ein Sohn, der jetzt fünfzehn Jahre alt war, ein schöner Junge, der ein prächtiger Mann zu werden versprach. Er war besonders geeignet für die kriegerischen Tugenden des Grenzerlebens und zeichnete sich schon darin aus. Sein Fuß war hurtig, er zielte sicher, faßte rasch auf und sein Herz war froh und hochgemut. Und alle, die einen neuen Indianerkrieg ahnten, sprachen von Cyrus Bourne als einem künftigen Führer des Landes. Der Knabe wurde von seinem Vater mit tiefer, schweigender Liebe geliebt, als sei alles, was gut und glücklich an ihm selber war, auf das Kind übertragen worden und alle seine Neigungen dazu. Selbst Dorcas, die ihn liebte und von ihm geliebt ward, war ihm lange nicht so teuer. Denn Reubens heimliche Gedanken und verschwiegenen Aufregungen hatten ihn allmählich selbstsüchtig gemacht. Er konnte nur noch da aufrichtig leben, wo er sein Abbild oder eine Ähnlichkeit mit seinem Geiste sah oder zu sehen glaubte. In Cyrus erkannte er das, was er selber in früheren Tagen gewesen war; mitunter schien er teilzunehmen am Geiste des Jungen und frisch und glücklich aufzuleben. Reuben nahm seinen Sohn mit, um ein Stück Land auszusuchen und das Bauholz zu fällen, was der Verlegung des Haushalts notwendig vorausgehen mußte. Zwei Herbstmonate verbrachten sie damit. Dann kehrte Reuben mit seinem jungen Gefährten zurück, um den letzten Winter in der Niederlassung zu verbringen.

* * *

Früh im Monat Mai zerriß die kleine Familie alle Bande der Anhänglichkeit, die sie an leblose Dinge geknüpft hatte, und sagte den wenigen Lebewohl, die sich noch im Unglück ihre Freunde nannten. Die Traurigkeit des Abschieds trug für jeden der drei Wanderer eine besondere Note. Reuben, ein mißmutiger Mann, ohne Menschenfreundlichkeit, weil er unglücklich war, ging mit seinem gewohnten finsteren Gesicht und mit niedergeschlagenen Augen dahin. Er fühlte wenig Kummer oder wollte es wenigstens nicht zugeben. Dorcas, die viele Tränen vergoß über die gelösten Bande, die ihr schlichtes und liebevolles Gemüt mit allem verknüpft hatten, fühlte doch, daß alles mit ihr ging, was sie in ihr Herz geschlossen hatte, und alles andere würde schon gut werden, wohin sie auch ginge. Der Knabe wischte sich eine Träne aus den Augen und dachte dann an die Freuden und Abenteuer des unerforschten Waldes. Wer hätte sich in begeisterten Träumen noch nicht gewünscht, in sommerliche Wildnis hinauszuwandern – ein schönes, sanftes Wesen leicht auf seinen Arm gestützt? Die Jugend weiß für ihren freien, begeisterten Schritt keine andere Grenze als die wogende See oder die schneebedeckten Bergesgipfel. Das ruhigere Mannesalter wählt sich die Heimat im Fall eines klaren Stroms, wo die Natur verschwenderischen Reichtum streute. Und wenn das greise Alter nach vielen langen Jahren solcher ungetrübten Lebenszeit sich näherschleicht, um dort den Mann zu finden, dann sieht es ihn als Vater eines neuen Geschlechts, als Führer eines Volkes, als Gründer einer mächtigen Nation, die da noch kommen soll. Wenn dann der Tod, sanft wie der willkommene Schlaf nach einem Tage voll Glück, zu ihm gekommen ist, dann weint die Sippe rings im Lande um den verehrten Staub. Wunderbares wird die Sage von ihm berichten und göttergleich wird er den künftigen Geschlechtern scheinen. Die späte Nachwelt sieht ihn noch verklärt hoch auf dem Gipfel der Jahrhunderte!

Der düstere und wirre Wald, durch den die Helden dieser Geschichte wanderten, war gar verschieden von dem Land der Phantasie verträumter Schwärmer; und doch war etwas in ihrer Lebensweise, was eng zur Natur gehörte. Die nagenden Sorgen, die aus der Welt mit ihnen kamen, waren das einzige, was jetzt ihr Glück verschattete. Der kräftige gescheckte Gaul, der ihren ganzen Reichtum trug, nahm auch geduldig Dorcas noch dazu auf seinen Rücken; doch sie war nicht weichlich erzogen und wanderte den größten Teil des Tages an der Seite ihres Gatten. Reuben und sein Sohn schritten rüstig aus. Sie trugen die Flinten auf der Schulter und die Axt auf dem Rücken und spähten mit Jägerblicken nach dem Wild, das ihre Nahrung bildete. Wenn der Hunger mahnte, machten sie halt und bereiteten ihr Mahl am Ufer eines ungetrübten Waldbaches, der sanfte Abwehr murmelte, wenn sie sich mit dürstenden Lippen zu ihm neigten, so wie ein Mädchen noch dem ersten Kuß der Liebe wehrt. Zum Schlafe bauten sie aus Zweigen eine Hütte und wachten auf beim ersten Strahl des Lichts, erfrischt für die Anstrengungen eines neuen Tages. Dorcas und der Knabe gingen freudig weiter, und selbst Reubens Geist schien manchmal froh zu leuchten; doch innen hockte eine eiskalte Sorge, die er mit den Schneewehen verglich, die noch in tiefen Tälern und Flußspalten lagen, wenn oben schon die grünen Blätter glänzten.

Cyrus Bourne war schon geübt genug im Wandern durch den Urwald, um zu bemerken, daß sein Vater nicht die gleiche Richtung innehielt wie auf ihrer Fahrt im letzten Herbst. Sie hielten sich diesmal weiter nach Norden, in geraderer Richtung von der Niederlassung aus, in ein Gebiet hinein, in dem bis jetzt nur Raubtiere und Wilde die Herrscher waren. Der Knabe deutete manchmal seine Ansicht darüber an; Reuben hörte ihn aufmerksam an und änderte ein- oder zweimal die Marschrichtung nach den Ratschlägen seines Sohnes. Aber jedesmal schien er danach sich unbehaglich zu fühlen. Er schickte rasche, unstete Blicke voraus, als suche er nach Feinden, die hinter den Bäumen lauerten; wenn er dort nichts erblickte, schaute er rückwärts, als fürchte er Verfolger. Cyrus, der bemerkte, daß sein Vater doch allmählich wieder die frühere Richtung einschlug, unterließ bald seine Einmischung. Wenn auch ein leiser Druck auf ihm zu lasten begann, so bereute es sein abenteuerdurstiges Gemüt doch nicht, daß der Weg immer länger und geheimnisvoller wurde.

Am Nachmittag des fünften Tages rasteten sie und schlugen ihr einfaches Lager eine Stunde vor Sonnenuntergang auf. Das Gesicht der Landschaft war während der letzten Meilen wechselvoller geworden durch hügeliges Gelände, das den ungeheuren Wogen eines erstarrten Ozeans glich. In einem dieser Wellentäler hatte die Familie ihre Hütte errichtet und das Feuer entfacht. Es liegt etwas Grausiges und doch Herzerwärmendes in dem Gedanken an drei Menschen, die, durch starke Bande der Liebe vereint, ganz abgeschnitten sind von allem, was sonst noch lebt.

Die schwarzen, düsteren Tannen schauten auf sie herab, und als der Wind durch ihre Wipfel fuhr, ging ein klagender Ton durch den Wald. Oder stöhnten die alten Bäume aus Angst, daß nun doch noch die Menschen gekommen waren, um die Axt an ihre Wurzeln zu legen? Während Dorcas das Mahl bereitete, wollten Reuben und sein Sohn nach Wild ausgehen, da sich an diesem Tage kein Vorrat geboten hatte. Der Knabe versprach, sich nicht aus dem Umkreis des Lagers zu entfernen, und sprang davon. Seine Füße waren so leicht und elastisch wie die des Wildes, das er erlegen wollte. Sein Vater fühlte sich einen Augenblick lang glücklich, als er ihm nachschaute; dann schickte er sich an, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Dorcas hatte sich inzwischen neben dem Reisigfeuer auf den bemoosten, morschen Stamm eines Baumes gesetzt, der seit Jahren entwurzelt war. Sie beschäftigte sich mit dem Durchblättern des letzten Jahresalmanachs aus Massachusetts, der neben der Bibel in Frakturschrift den ganzen literarischen Reichtum der Familie bildete; dazwischen warf sie hier und da einen Blick auf den Topf, der jetzt über der Flamme zu singen begann. Niemand beachtet aufmerksamer die Zeiteinteilungen des Jahres als Leute, die von der menschlichen Gesellschaft abgeschnitten sind. Und Dorcas erwähnte wie eine wichtige Angelegenheit, daß heute der zwölfte Mai sei. Ihr Gatte schrak zusammen.

»Der zwölfte Mai! An den sollte ich mich wohl erinnern,« murmelte er, und eine Fülle von Gedanken verwirrte ihn einen Augenblick lang. »Wo bin ich? Wohin gehe ich? Wo habe ich ihn verlassen?«

Dorcas war zu sehr gewöhnt an die zerstreuten Stimmungen ihres Gatten, als daß ihr etwas Besonderes in seinem Benehmen aufgefallen wäre. Sie legte den Almanach beiseite und sprach in dem traurigen Tonfall, wie ihn weichherzige Menschen altem, längst begrabenem Kummer anzupassen pflegen.

»In diesen Tagen des Monats ging mein armer Vater vor achtzehn Jahren aus dieser Welt in eine bessere ein. Ein guter Arm stützte sein Haupt, und eine liebe Stimme tröstete ihn in seinen letzten Augenblicken, Reuben. Der Gedanke an deine treue Fürsorge hat mich seitdem so oft getröstet. Oh! Wie schrecklich hätte der Tod für einen einsamen Mann an so wildem Orte sein müssen!«

»Bete zum Himmel, Dorcas,« sagte Reuben mit gebrochener Stimme – »bete zum Himmel, daß keiner von uns dreien einsam stirbt und in dieser wilden Wildnis unbestattet liegt!« Er stürzte davon, und sie blieb zurück und bewachte das Feuer unter den düsteren Tannen.

Reuben Bournes rascher Schritt verlangsamte sich, als der Schmerz, den die Worte seines Weibes unbeabsichtigt ihm zugefügt hatten, nachzulassen begann. Seltsame Gedanken bedrängten ihn. Er streifte mehr wie ein Traumwandler als wie ein Jäger umher; und so verdankte er es nicht seiner Sorgfalt, daß sein achtloser Weg ihn doch in der Nähe des Lagers hielt. Unmerklich wurden seine Schritte fast im Kreise gelenkt, und er bemerkte nicht, daß er an den Rand eines Gebietes kam, das dicht bewaldet war, aber nicht mit Tannenwuchs. Eichen und andere Harthölzer traten hier an die Stelle der Tannen. Um ihre Wurzeln drängte sich dichtes, buschiges Unterholz, das jedoch kahle Stellen zwischen den Bäumen freiließ, die hoch mit welken Blättern bedeckt waren. So oft die raschelnden Zweige oder die knackenden Stämme einen Laut verursachten, als erwache der Wald vom Schlummer, hob Reuben unwillkürlich die Flinte, die er im Arm hielt, und spähte scharf nach allen Seiten aus. Durch diese flüchtige Beobachtung überzeugt, daß kein Tier in der Nähe war, gab er sich wieder seinen Gedanken hin. Er sann über den merkwürdigen Einfluß nach, der ihn so weit von der geplanten Richtung fort, so tief in diese Wildnis hineingeführt hatte. Er vermochte nicht in seine innerste Seele einzudringen, wo seine Beweggründe verborgen lagen, und er glaubte, eine übernatürliche Stimme hätte ihn weiter gelockt und eine übersinnliche Macht ihm den Rückweg abgeschnitten. Er hoffte, daß es in der Absicht des Himmels lag, ihm eine Gelegenheit zur Sühne seiner Schuld zu bieten; er hoffte, daß er die so lange unbestatteten Gebeine finden möchte, und wenn er sie unter die Erde gelegt hätte, sollte der Friede wieder die Sonne in das finstere Grab seines Herzens scheinen lassen. Aus diesen Gedanken schreckte ihn ein Rascheln im Walde, in einiger Entfernung von der Stelle, zu der er gewandert war. Er bemerkte, daß sich irgend etwas hinter dem dicken Unterholz bewegte, und feuerte mit dem Instinkt des Jägers und der Sicherheit eines geübten Schützen. Ein dumpfes Stöhnen, durch das selbst Tiere ihre Todesnot zum Ausdruck bringen, zeigte den Erfolg des Schusses an; doch Reuben Bourne beachtete es nicht. Welche Erinnerungen stürmten jetzt auf ihn ein?

Das Dickicht, in das Reuben gefeuert hatte, lag neben dem Gipfel eines Hügels und drängte sich um den Fuß eines Felsens, der in der Gestalt und Glätte seiner einen Seite einem ungeheuren Grabstein glich. Wie ein Spiegelbild trug Reuben einen gleichen in der Erinnerung. Er erkannte sogar die Adern, die eine Inschrift in verschollenen Lettern zu bilden schienen. Alles war genau das gleiche, bis auf ein dichtes Gebüsch, das den unteren Teil des Felsens verhüllte und Roger Malvin verborgen hätte, wenn er noch immer dasäße. Doch im nächsten Augenblick fiel Reubens Auge auf eine andere Veränderung, die die Zeit bewirkt hatte, seit er zuletzt da gestanden hatte, wo er nun wieder stand – hinter den Erdwurzeln eines gestürzten Baumes. Der junge Baum, an den er das blutige Unterpfand seines Gelübdes gebunden hatte, war gewachsen und zu einer Eiche geworden, die freilich lange noch nicht ausgewachsen war, aber doch schon weit die schattigen Zweige breitete. Etwas Sonderbares konnte man an diesem Baume sehen, und Reuben zitterte davor. Die mittleren und unteren Zweige zeigten üppiges Leben, und fast bis zum Boden war der Stamm reich bewachsen. Aber auf den oberen Teil der Eiche war offenbar ein Frost gefallen, und der alleroberste Zweig war welk, saftlos und ganz abgestorben. Reuben dachte daran, wie die kleine Fahne vom obersten Zweig geweht hatte, als er noch grün und lieblich war, vor achtzehn Jahren. Durch wessen Schuld war er verdorrt?

* * *

Nachdem die beiden Jäger fortgegangen waren, vollendete Dorcas die Vorbereitungen zur Abendmahlzeit. Ihr Tisch war der moosbewachsene Stamm eines gestürzten Baumes. Wo er am breitesten war, hatte sie ein weißes Tuch aufgelegt und alles aufgestellt, was ihr von dem glänzenden Zinngeschirr geblieben war, das in der Siedlung ihr Stolz gewesen. Es sah seltsam aus – dieser kleine Fleck anheimelnder Behaglichkeit mitten in der trostlosen Natur. Der Sonnenschein zögerte noch auf den höheren Zweigen der Bäume, die am Abhang standen. Aber in der Niederung, wo das Lager aufgeschlagen war, lagen schon tiefe Abendschatten. Der Feuerschein ward rot, wenn er auf den schlanken Fichtenstämmen erstrahlte oder auf der dichten, dunklen Laubmasse ruhte, die den Platz rings umschloß. Dorcas war nicht traurig im Herzen. Sie fühlte, daß es besser sei, durch die Wildnis zu wandern mit zwei Menschen, die sie liebte, als eine einsame Frau zu sein in einer Menge von Menschen, die sich nicht um sie kümmerte. Als sie sich mühte, Sitze aus morschem Holz und Blättern für Reuben und den Sohn herzurichten, tanzte ihre Stimme durch den düstern Wald im Takte eines Liedes, das sie in ihrer Jugend gelernt hatte. Die schlichte Melodie, das Werk eines Sängers, den kein Ruhm belohnte, erzählte von einem Winterabend in einer Grenzerhütte, wo die Familie, sicher vor dem Eindringen hoher Schneewehen, froh am eigenen Kamin sitzt. Das ganze Lied hatte den unbenannten Reiz ursprünglicher Gedanken; aber die vier Zeilen des Kehrreims erglänzten vor den andern wie der Schein des Feuers, dessen Freuden sie rühmten. In sie hatte der Dichter, mit schlichten Worten Wunder wirkend, die Grundidee häuslicher Liebe und heimatlichen Glückes hineingelegt, und die Dichtung war eng mit dem Bilde verwoben. Als Dorcas sang, schienen die Wände des verlassenen Heims sie zu umschließen. Sie sah nicht mehr die düstern Fichten, sie hörte nicht mehr den Wind, der vor jeder neuen Strophe einen schweren Seufzer durch die Zweige schickte und nach dem Kehrreim des Liedes in dumpfem Stöhnen erstarb. Der Knall einer Flinte in der Nähe des Lagers schreckte sie auf. Der unerwartete Laut oder die Einsamkeit am verglimmenden Feuer ließ sie plötzlich heftig zittern. Doch im nächsten Augenblick lachte sie im frohem Mutterstolz.

»Mein stolzer junger Jäger! mein Junge hat ein Wild erlegt!« rief sie, denn sie erinnerte sich, daß Cyrus in der Richtung, aus der der Schuß ertönte, zur Jagd gegangen war.

Sie wartete ein wenig auf den leichten Schritt ihres Sohnes in den raschelnden Blättern; denn er würde doch gesprungen kommen, um seinen Erfolg zu melden. Aber er kam nicht sofort, und sie schickte ihre frohe Stimme nach ihm aus.

»Cyrus! Cyrus!«

Er kam noch immer nicht; da beschloß sie, ihn selber zu suchen, da der Schuß offenbar ganz nahe gefallen war. Vielleicht konnte er auch ihre Hilfe gebrauchen, um das Wildbret heranzubringen, das er erlegt hatte, wie sie hoffte. Sie ging also fort, richtete ihre Schritte nach dem längst verklungenen Hall und sang beim Gehen, damit der Knabe ihr Kommen hören und ihr entgegenlaufen sollte. Hinter jedem Baumstamm, aus jedem Versteck im dichten Laubwerk des Unterholzes hoffte sie das Gesicht ihres Sohnes zu sehen, lachend in fröhlicher Neckerei, hinter der die Liebe steckt. Die Sonne stand jetzt unter dem Horizont, und das Licht, das durch die Bäume drang, war so schwach, daß es ihrer Erwartung viele Trugbilder vortäuschte. Manchmal schien sein Gesicht undeutlich aus den Blättern hervorzuspähen, und einmal war ihr, als winke er ihr vom Fuße eines zerklüfteten Felsens aus. Richtete sie aber die Augen fest dahin, so war es nur der Stamm einer Eiche, die bis zum Boden mit kleinen Zweigen bewachsen war, von denen der Wind einen bewegte, der weiter hervorragte. Sie ging um den Felsen herum und sah sich plötzlich ihrem Gatten gegenüber, der von der andern Seite gekommen war. Er stützte sich auf den Kolben seiner Flinte, deren Lauf in den dürren Blättern steckte, und war offenbar ganz versunken in der Betrachtung eines Gegenstandes, der zu seinen Füßen lag.

»Na, Reuben? Hast du das Wild erlegt und bist darüber eingeschlafen?« rief Dorcas und lachte fröhlich, nachdem sie seine Stellung und Erscheinung flüchtig betrachtet hatte.

Er regte sich nicht, wandte auch die Augen nicht nach ihr – eine kalte, grausige Furcht, deren Grund und Gegenstand sie nicht kannte, kroch ihr ins Blut. Nun sah sie, daß das Gesicht ihres Gatten geisterbleich war und seine Züge bewegungslos, als könnten sie nie wieder einen andern Ausdruck tragen als die große Verzweiflung, die auf ihnen erstarrt war. Er verriet nicht im geringsten, daß er ihr Kommen bemerkte.

»Um Gottes willen, Reuben, sprich!« schrie Dorcas, und der fremde Klang ihrer eigenen Stimme erschreckte sie noch mehr als die tödliche Stille.

Ihr Gatte fuhr zusammen, stierte ihr ins Gesicht, zog sie bis vor den Felsen und deutete mit dem Finger. Ach! Da lag der Knabe, schlafend, aber traumlos, auf den Blättern des Waldes! Die Wange ruhte auf dem Arm, die geringelten Locken fielen von der Stirn zurück, die Glieder waren leicht gelöst. Hatte eine plötzliche Müdigkeit den jungen Jäger befallen? Konnte die Stimme seiner Mutter ihn wecken? Sie wußte, daß das der Tod war!

»Dieser breite Felsen ist der Grabstein deiner nächsten Verwandten, Dorcas,« sagte ihr Gatte. »Deine Tränen werden auf deinen Vater und deinen Sohn zugleich fallen.«

Sie hörte ihn nicht. Mit einem wilden Schrei, der aus dem Innersten der gequälten Seele zu kommen schien, sank sie bewußtlos an der Seite ihres toten Knaben nieder. In diesem Augenblick löste sich der oberste dürre Zweig der Eiche und fiel sacht in leichten Splittern auf den Felsen, auf die Blätter, auf Reuben, auf sein Weib und sein Kind und auf Roger Malvins Gebeine. Das traf Reubens Herz und seine Tränen strömten, wie das Wasser aus einem Felsen. Der gebrochene Mann war gekommen, das Gelübde einzulösen, das der wunde Jüngling getan hatte. Seine Schuld war gesühnt, der Fluch war von ihm gewichen. In der Stunde, da er Blut vergossen hatte, das ihm teurer war als das eigene, stieg ein Gebet, das erste seit langen Jahren, von Reuben Bournes Lippen zum Himmel auf.


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