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Ein Mann namens Wakefield

Aus irgendeinem alten Journal erinnere ich mich einer Erzählung, als wahr erzählt von einem Manne namens Wakefield, der sich für eine lange Zeit von seiner Frau entfernte. Das ist, so kurz mitgeteilt, nichts Ungewöhnliches und wäre ohne den Bericht der begleitenden Umstände auch weder als schlecht noch unsinnig zu verurteilen. Aber was diesen Wakefield betrifft, so ist es sicher nicht das schlimmste, aber das sonderbarste Beispiel ehelicher Vernachlässigung und zudem das Grillenhafteste unter allen menschlichen Sonderbarkeiten.

Das Ehepaar lebte in London. Der Mann nahm unter dem Vorgeben, eine Reise machen zu wollen, eine Wohnung in der seinem Hause zunächst belegenen Straße und lebte da, ungesehen von seiner Frau und seinen Freunden und ohne vernünftigen Grundes Schatten zu solcher Selbstverbannung länger als zwanzig Jahre. Während dieser Zeit sah er sein Haus täglich, öfter sogar auch Frau Wakefield, und nach einer so großen Kluft in seinem ehelichen Glücke, nachdem sein Tod bereits als gewiß angenommen, sein Name dem Gedächtnis entschwunden war und seine Frau sich lange zuvor schon in ihren herbstlichen Witwenstand gefunden hatte – da öffnete er eines Tages ganz ruhig die Tür, als wenn er nur einen Tag lang fort gewesen wäre, und wurde wieder der freundliche Gatte, blieb es bis zu seinem Absterben.

Das ist alles, was ich aus jenem Journale behalten habe, Umrisse, nichts weiter. Aber der Vorfall ist, wenn auch originell und ohne Beispiel, doch, wie mir scheint, von einer Art, die menschliche Sympathie in Anspruch nimmt. Natürlich weiß jeder für sich, daß keiner von uns solcher Torheit fähig wäre, trauen sie aber doch andern zu. Meine Erinnerung kehrte oft zu diesem merkwürdigen Manne zurück, der immer wieder meine Verwunderung erregte, und mit dem immer deutlicheren Gefühle, die Geschichte müsse wahr sein – ich sah den Mann.

Ergreift unsern Geist ein Gegenstand mit solcher Gewalt, so ist die Zeit, über ihn nachzudenken, wohl angewandt. Mag nun der Leser seine eigenen Gedanken darüber haben oder es vorziehen, mit mir durch die zwanzig Jahre dieses Mannes Wakefield zu wandern – im letztern Fall wird er am Schlusse auch eine Moral finden. Jedes Nachdenken hat seine Wirkung. Jedes auffallende Geschehnis hat seine Moral.

Was war das für ein Mann, dieser Wakefield? Wir gewinnen sein Bild, indem wir nichts tun, als der ihn beherrschenden Idee folgen. Er stand jetzt im Mittag seines Lebens. Seine eheliche Liebe, nie leidenschaftlich gewesen, hatte sich in zur Gewohnheit gewordenes ruhiges Gefühl abgekühlt, und von allen Ehemännern würde er, dank einer gewissen Trägheit, die sein Herz in beständiger Ruhe hielt, für den treuesten, beständigsten gehalten worden sein. Er hatte natürlichen Verstand, aber ohne ihn tätig anzuwenden. Denn sein Denken hing nur langen und trägen Betrachtungen nach, die ohne Ziel waren oder nicht die Kraft hatten, es zu erreichen. Was er dachte, war selten so energisch und bestimmt, daß es sich in Worte faßte. Phantasie in der engsten Bedeutung des Wortes hatte gar kein Teil an Wakefields Gaben. Mit einem kalten, aber weder verderbten noch flackrigen Herzen, und mit einem Geiste, der nie am Fieber aufrührerischer Gedanken litt oder sich von einem Streben nach Originalität verleiten ließ – wer hätte geahnt, daß sich dieser Mann einen ersten Platz unter all denen erwerben würde, die jemals Exzentrisches begangen haben? Ein ganz gewöhnlicher Mann namens Wakefield. Hätte man seine Bekannten gefragt, wer in London am wenigsten geeignet sei, heute etwas zu tun, wovon man morgen noch redete, so würden sie an Wakefield gedacht haben. Nur sein Weib hätte vielleicht gezaudert. Ohne ihn genauer geprüft zu haben, wußte sie, daß eine ruhige Selbstsucht sich in seinem untätigen Geiste eingerostet hatte, der eine gewisse Art Eitelkeit besaß, seine unliebenswürdigste Eigenschaft, und eine Neigung zur List, die sich kaum in deutlicheren Wirkungen gezeigt hatte, als dem Fürsichbehalten geringfügiger Geheimnisse, und dann zuweilen eine gewisse Fremdigkeit, wie sie es nannte, welche Eigenschaft, wenn sie überhaupt vorhanden war, sich nicht näher beschreiben läßt als mit dem Worte selber, das die Frau dafür anwandte: Fremdigkeit.

Wakefield sagt seiner Frau Lebewohl. Es geschieht in der Dämmerung eines Oktobertages. Seine Reiseausrüstung besteht aus einem dicken, wollenen Überrock, einem mit Wachstuch überzogenen Hut, Stulpenstiefeln, einem Regenschirm in der einen, einer kleinen Reisetasche in der andern Hand. Er wolle mit der Nachtpost über Land fahren, hat er wohl seiner Frau gesagt. Sie hätte ihn gern nach der Dauer seiner Reise, ihrem Zweck und Ziel gefragt, auch wann er wohl zurück zu sein gedenke, aber aus Nachgiebigkeit gegen seine harmlose Neigung zur Geheimniskrämerei drückt sie dies nur durch einen Blick aus. Sie möge ihn nicht mit der wendenden Post erwarten, sagt er nur, auch daß sie nicht unruhig werden solle, wenn er drei oder vier Tage länger ausbleibe. Aber daß sie ihn jedenfalls am Freitage zum Abendessen erwarten könne. Wohl zu beachten ist: Wakefield hat selber keine Ahnung dessen, was ihm bevorsteht. Er streckt seine Hand, sie gibt ihm die ihre und erwidert seinen Abschiedskuß in der ruhigen Weise zehnjähriger Eheleute –, und fort geht der bereits im mittleren Alter stehende Mann, beinah entschlossen, seine brave Frau durch eine vollwöchentliche Abwesenheit in Unruhe zu versetzen. Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen, sieht sie diese nochmals ein wenig aufgehn und durch die Öffnung das ihr zulächelnde Gesicht des Mannes, der gleich darauf verschwunden ist. Im Augenblick beachtet sie diesen unwesentlichen Umstand nicht weiter; aber lange nachher, nachdem sie mehr Jahre eine Witwe als eine Frau gewesen ist, da kehrt dieses Lächeln in ihr Gedächtnis zurück und überschimmert in ihrer Erinnerung Wakefields Züge. Oft in ihrem Sinnen umgibt sie dieses Lächeln mit einer Menge Phantasien, die es schrecklich und fremdartig machen: wenn sie sich ihn in einem Sarge denkt, ist dieser lächelnde Abschiedsblick auf bleichen Zügen eingefroren; träumt sie von ihm im Himmel, so trägt selbst sein seliger Geist dieses ruhige verschmitzt-listige Lächeln an sich. Alle andern halten ihn schon für tot, sie selber aber zweifelt um seiner selbst willen daran, daß sie Witwe ist.

Aber ich muß hinter Wakefield her, ehe er seine Person verliert und in der Masse des Londoner Lebens verschmilzt. Dicht auf den Fersen folge ich ihm durch vieles Hin und Her in den Gassen bis an das Feuer eines kleinen Zimmers, das er vorher für sich bestellt hat, gestern oder vor acht Tagen. Nun sitzt er vor dem Feuer in der seiner Wohnung zunächst gelegenen Gasse und ist am Ende seiner Reise. Kaum traut er seinem Glück, unbemerkt bis hierher gekommen zu sein, denn, noch fällt es ihm mit Schrecken ein, mitten unter dem Licht einer Laterne war er durch die Menge einmal aufgehalten worden und hatte Fußtritte hinter sich gehört, ganz deutlich vom Geräusch der schreitenden, eilenden Menge unterschieden, und daß er dann ganz fern eine Stimme gehört hatte, die seinen Namen rief. Sicher haben wichtigtuerische Freunde ihn beobachtet und die ganze Sache seiner Frau hinterbracht. So denkt der arme Wakefield, ohne Ahnung von seiner Unbedeutendheit in der Welt, und daß keines Menschen Auge ihn verfolgt hat außer das meine. Geh zu Bett, alter Mann, törichter Mann, und morgen, wenn du klug bist, gehst du wieder nach Haus zu Frau Wakefield und sagst ihr, was war.

Seinen Scherz, oder wie sonst er es nennen wollte, fast bereuend, legte sich Wakefield zeitig zur Ruh und streckt, aus dem ersten Schlaf erwachend, seine Arme in die weite und einsame Wüste des ungewohnten Bettes. »Nein,« denkt er und legt die Decken enger um sich, »ich will keine zweite Nacht allein schlafen.«

Am nächsten Morgen steht er früher als gewöhnlich auf und gibt sich so Gedanken hin, was er eigentlich tun will. So zerlaufen und unstet sind seine Gedanken, daß er, was er Sonderbares getan hat, zwar mit dem Bewußtsein einer Absicht getan hat, aber ohne imstande zu sein, sich diese klarzumachen. Das ganz Unbestimmte seines Unternehmens und die krampfartige Anstrengung, mit der er sich in dessen Ausführung stürzte, zeigen einen Menschen seltsam schwachen Geistes. Wakefield durchsucht und wendet seine Gedanken und sie bleiben an einem haften: wie er außerordentlich neugierig ist, zu wissen, wie die Sachen zu Hause weitergehen – wie sein vortreffliches Weib ihren einwöchentlichen Witwenstand ertragen wird und wie überhaupt der kleine Kreis von Kreatürlichem und Verhältnissen, deren Mittelpunkt er bildete, von seiner Entfernung berührt werden wird. Der ganzen Sache scheint nur eine klägliche Eitelkeit zugrunde zu liegen. Dies zunächst. Wie soll er seine Neugierde befriedigen? Wohl dadurch, daß er in seiner neuen Wohnung sitzen bleibt, wo er, obgleich er nur in der nächsten Gasse schlief und erwachte, in Wahrheit so weit weg von seinem Hause ist, als wäre er mit der Post die ganze Nacht ins Land gefahren. Zeigte er sich schon, wäre der ganze Plan zerstört. Er müht sein armes Hirn ab in hoffnungsloser Verlegenheit, bis er sich schließlich hervorwagt, halb entschlossen, am obern Ende seiner Gasse nur gerade so vorbeizugehen und einen raschen Blick auf seine verlassene Wohnung zu werfen. Gewohnheit aber – er ist ein Mensch der Gewohnheit – nimmt ihn bei der Hand und fuhrt ihn, seiner unbewußt, nach seiner Haustür, und da erwacht er gerade im kritischen Moment, am Türtritt, am Geräusch seiner Schuhe am Abstreifeisen. Wakefield! Wohin willst du gehen?

In diesem Augenblicke stand sein Schicksal im Wendepunkt. Nicht ahnend das Los, zu dem ihn dieser erste Schritt zurück verurteilt, eilt er atemlos und aufgeregt wie nie zuvor in seinem Leben davon, wagt kaum, an ferner Ecke den Kopf zu wenden. Hat ihn, ist es möglich, daß ihn niemand gesehen hat? Wird nicht der ganze Hausstand, die ehrbare Frau Wakefield, die kleine Magd, der schmutzige Laufbursch hinter ihm die Straßen Londons herschreien und den flüchtigen Hausherrn verfolgen? Er findet sein Entkommen wunderbar. Er gibt sich Mut, still zu stehen und zurück nach seinem Haus zu schauen. Aber er ist von einem Gefühl der Veränderung betroffen, die er an dem so vertrauten kleinen Haus wahrnimmt – es ist ihm, wie es uns geht, wenn wir nach Jahren wieder einen Hügel, einen See, ein Kunstwerk wiedersehen, mit dem wir einst Freund waren. In gewöhnlichen Fällen wird dieser seltsame Eindruck durch Vergleich und Gegensatz zwischen unserer unvollkommenen Erinnerung und der Wirklichkeit hervorgerufen. Aber bei Wakefield hatte die Magie einer einzigen Nacht eine ähnliche Veränderung bewirkt, denn in dieser Nacht kurzer Zeit war eine große Veränderung in seinem Geiste vorgegangen. Dies blieb ihm selber aber Geheimnis. Ehe er den Ort, wo er steht, verläßt, gewahrt er für eines Augenblickes Dauer seine Frau, die am Vorderfenster vorbeigeht, ihr Gesicht dem oberen Ende der Gasse zugewendet. Wakefield macht sich sofort auf die Sprünge, von dem Gedanken gejagt, daß ihr Auge unter Tausenden solcher sterblicher Nichts gerade ihn entdeckt haben müsse. Es schwindelt ihn im Kopfe, aber in seinem Herzen ist Freude, als er sich wieder am Kohlenfeuer seiner neuen Wohnung befindet.

Dieses ist der Anfang einer langen Posse.

Nachdem erst der Gedanke bei dem Manne Eingang gefunden und sein träges Wesen in Bewegung gesetzt hat, läuft die ganze Sache auf ganz natürlichem Wege von selbst. Er kauft nach reichlichem Nachdenken eine rötliche Perücke und verschiedene Kleidungsstücke, abweichend von seiner gewöhnlichen Tracht in Schnitt und Farbe; lange suchte er danach bei einem Trödler. Nun ist er soweit; Wakefield ist ein anderer. Nachdem das neue System einmal hergestellt ist und funktioniert, würde eine rückgängige Bewegung nach dem alten beinahe so schwierig sein wie der Schritt, der ihn in diese Lage ohne Beispiel gebracht hat. Ja, es wäre die Anstrengung des Zurück größer als die Kraft, die er zu seinem Beharren braucht. Dann ist er auch aus einer gewissen Übellaunigkeit, die ihm zuweilen eigen, hartnäckig geworden, unmittelbar dazu veranlaßt durch die Idee, seine Frau habe beim Abschied nicht gerade ein sonderlich starkes Gefühl geäußert. In ihrer Frage, wie lange er bliebe, sei nicht gerade besonders viel Sorge über seine Trennung von ihr gelegen gewesen. So will er nicht früher zurück zu ihr, als bis sie vor Angst und Sorge halb tot ist. Zwei- oder dreimal ist sie in der Zeit an ihm vorbeigekommen, jedesmal mit schwererem Gang, blasserer Wange, trüberer Stirn. Und in der dritten Woche sah er einen Unglückbringer in Gestalt des Apothekers in das Haus gehen. Am nächsten Tage ist der Türklopfer umwickelt mit Tuch. Und gegen Abend fährt der Wagen des Arztes vor und setzt seine feierliche, mit hoher Perücke versehene Last an Wakefields Haustür ab, aus der sie nach einem viertelstündigen Besuche, vielleicht als Vorbote eines Leichenbegängnisses, wieder hervortritt. Das liebe Weib! Wird sie sterben? Das Gefühl Wakefields bekam da wohl einige Energie, doch fand er seinem Gewissen bald Entschuldigung dafür, daß er nicht nach Hause ging, und Beruhigung, indem er sich sagte, sein Weib dürfe unter solchen Umständen nicht aufgeregt werden.

In einigen Wochen ist Frau Wakefield wieder genesen, die Krisis ist vorüber, ihr Herz traurig vielleicht, aber ruhig – er mag nun zurückkehren wann immer, es wird nicht mehr heftig für ihn schlagen, nie wieder fiebrig für ihn schlagen. Solche Gedanken schimmern durch den Nebel in Wakefields Hirn, und sie lassen ihn dunkel dessen bewußt werden, daß ein Abgrund, unüberbrückbar fast, sein Haus, das er bewohnt, trennt von dem andern, das er eine Gasse weiter bewohnte. »Meine Wohnung ist ja nur in der nächsten Gasse«, sagt er zuweilen. Der seltsame Narr weiß nicht, daß sie in einer andern Welt ist. Bisher hat er seine Rückkehr von einem Tag auf den andern verschoben. Von jetzt ab läßt er den Zeitpunkt unbestimmt. Er sagt sich: morgen nicht. Wahrscheinlich nächste Woche. Oder: so bald als möglich. Die Toten haben fast ebensoviel Aussicht, ihre irdischen Wohnungen wiederzusehen wie der in Selbstverbannung lebende Mann namens Wakefield.

Wäre es mir erlaubt, ein dickes Buch statt dieser kleinen Geschichte von zwölf Seiten zu schreiben, würde ich durch Beispiele erläutern können, wie ein über unsere Kräfte hinausgehender Einfluß seine starke Hand auf jede unserer Taten legt und deren Folgen in ein eisernes Netz von Notwendigkeit verwebt. Wakefield war wie festgebannt in einen magischen Kreis. Jahre, zehn Jahre lang umschleicht er, wie ein Spuk, sein Haus, treu seinem Weibe mit all der Zuneigung, deren er fähig ist, während sein Bild in ihrem Herzen langsam verblaßt. Daß das, was er tue, sonderbar ist, solche Erkenntnis hat er seit langem verloren.

Im Gewühl einer Londoner Straße erblickt man einen Mann, dem Alter nah, ohne bemerkenswerte Züge, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnten. Aber des alten Mannes ganze Erscheinung zeigt das Gepräge eines nicht gewöhnlichen Schicksals, denen so, die zu lesen verstehen. Er ist mager und die niedre, schmale Stirn ist gefurcht, die kleinen, glanzlosen Augen irren wie furchtsam, wenn sie nicht, wie meist, nach innen schauen. Er läßt den Kopf sinken und bewegt sich mit einer seltsamen Haltung weiter, so als ob er mit Absicht nicht seine ganze Vorderseite der Welt zeigen wolle. Er nimmt das Kinn zurück im Vorwärtsgehen, zieht die Brust ein, geht etwas schief gedreht nach vorne. Er schwenkt leise in eine schmale Seitengasse ab. An deren oberen Ende erscheint eine Frau, stattlich, doch in vorgerückten Jahren, ein Gebetbuch in der Hand, auf dem Weg in die Kirche dort. Sie hat die ruhige Miene einer resignierten Witwe, ihr Gram ist entweder geschwunden oder ein so wesentlicher Teil ihres Charakters geworden, daß Freude ein schlechter Austausch dagegen für sie wäre. In dem Augenblick, da der magere Mann und die stattliche Frau aneinander vorübergehen, ist durch Passanten der Weg gehemmt und bringt dies die beiden in unmittelbare Berührung. Ihre Hände begegnen sich, der Druck der Menge preßt ihre Brust an seine Schulter und sie stehen von Angesicht zu Angesicht und sich gegenseitig in die Augen schauend einander gegenüber. Auf diese Weise begegnet Wakefield seinem Weibe nach zehnjähriger Trennung.

Das Gedränge löst sich und führt sie wieder voneinander weg. Die ehrbare Witwe nimmt wieder ihren früheren Schritt auf, geht zur Kirche. Aber im Portal bleibt sie für eine ganz kleine Weile stehen und wirft einen etwas unruhigen Blick zurück, die Gasse entlang. Nun tritt sie in die Kirche und öffnet ihr Gebetbuch, während sie eintritt.

Der Mann? Der stürzt mit einem aufgeregten Gesicht, daß selbst der geschäftige und selbstbedenkende Londoner nachstarrt, nach seiner Wohnung, verriegelt die Tür und wirft sich aufs Bett. Alte eingeschlafene Gefühle aus alten Jahren taumeln auf und geben dem schwachen Geiste von ihrer nur mehr kleinen Kraft eine kurze Stärke; die ganz elende Verlassenheit seines Lebens wird ihm in einem Blicke offenbart, daß er sich fragt: »Bist du verrückt, Wakefield?«

Vielleicht war er verrückt. Die Sonderbarkeit seiner Lage mußte ihn so in ihre Formen gepreßt haben, daß er in seinen Beziehungen zu den Mitmenschen und den Geschäften des Lebens kaum als im vollen Besitz seiner Geisteskräfte erachtet werden konnte. Er hatte sich mehr durch Zufall als durch eigene Bemühung von der Welt getrennt; er war verschwunden; er hatte seinen Platz und dessen Vorrechte bei den Lebenden aufgegeben, ohne unter die Toten aufgenommen zu sein. Das Leben des Einsiedlers ist mit dem seinen nicht zu vergleichen. Er lebte im Gewühl und Gelärm einer Stadt wie früher, aber die Menge floß an ihm vorüber und sah ihn nicht; er war, bildlich gesprochen, stets an der Seite seines Weibes und seines Herdes, ohne je die Wärme des einen und die Liebe des andern empfinden zu dürfen. Es war dieses Mannes namens Wakefield beispielloses Schicksal, seinen ursprünglichen Anteil an den menschlichen Sympathien bewahrt zu haben und noch in menschliche Interessen verwickelt zu sein, während er seinen eigenen Einfluß auf diese gänzlich verloren hatte. Aber so verändert er auch war, er wurde sich dessen kaum oder nur sehr selten bewußt, sondern hielt sich immerzu noch für denselben Menschen, wenn auch dann und wann, doch nur für einen ganz kurzen Augenblick, ein Strahl der Wahrheit auf ihn fiel und er wieder sagte: »Ich werde bald zurückkehren, in der nächsten Woche«, ohne zu denken, daß er das seit zwanzig Jahren gesprochen hatte.

Sicher werden rückblickend darauf diese zwanzig Jahre ihm kaum länger erscheinen als die Woche, auf welche Wakefield anfangs die Dauer seiner Anwesenheit hatte begrenzen wollen. Er werde auf die ganze Sache wie auf eine Episode in den Hauptgeschäften seines Lebens blicken; und wenn er es nach einiger Zeit für angemessen halten sollte, wieder in das Wohnzimmer seiner Frau zu treten, so würde sie beim Anblick des in guten mittleren Jahren stehenden Herrn Wakefield vor Freude die Hände zusammenschlagen. So meinte er. Als ob die Zeit nur auf die Beendigung unserer Lieblingstorheiten wartete! Wäre es so, dann würden wir allerdings junge Leute bleiben bis zum Jüngsten Gericht.

Eines Abends im zwanzigsten Jahre seit seinem Verschwinden machte Wakefield seinen gewohnten Spaziergang nach der Gegend jener Wohnung, die er noch immer die seine nannte. Es ist ein stürmischer Herbstabend mit häufigen Regengüssen, die auf das Pflaster niederklatschen und wieder verschwunden sind, ehe noch ein Mensch Zeit hat, seinen Regenschirm zu öffnen. Er bleibt in der Nähe des Hauses stehen, sieht in den Fenstern des ersten Stockwerkes den roten Schein und das flackernde Licht eines behaglichen Feuers. An der Decke des Zimmers erscheint der riesige Schatten der guten Frau Wakefield; Haube, Nase und Kinn bilden ein groteskes Zerrbild, das mit dem flackernden und niedersinkenden Feuerschein fast zu lustig für den Schatten einer älteren Witwe tanzt. Da klatscht wieder ein Regen nieder, den der Wind Wakefield ins Gesicht treibt. Die Kälte schüttelt ihn. Soll er hier naß und frierend stehen, und sein eigener Herd hat ein gutes Feuer, ihn zu wärmen, und seine Frau ist bereit, ihm den grauen Hausrock zu holen, den sie doch sicher in dem Wandschrank aufgehoben hat, der in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer steht. Nein, ein solcher Narr ist Wakefield nicht. Er steigt die Treppe hinauf, langsam und schweren Schrittes, denn zwanzig Jahre, seitdem er sie zum letztenmal herunterstieg, haben seine Beine steif werden lassen. Aber er weiß es nicht. Wakefield! Willst du die einzige Heimat suchen, die dir noch geblieben ist, so geh in dein Grab. Er macht die Tür auf, und während er eintritt, erhaschen wir noch einen letzten Anblick seines Gesichtes und sehen jenes listige Lächeln, das der Vorbote jenes kleinen Spaßes war, den er seitdem zwanzig Jahre gespielt hat. Zunächst auf Kosten seines Weibes. Er hat doch wirklich unbarmherzig dieses arme Weib zum Narren gehalten. Gute Nacht, Herr Wakefield!

Dies glückliche Ereignis seiner Heimkehr, angenommen, es war wirklich ein solches, konnte nur in einem unbewachten Momente eintreten. Ob es ein glückliches Ereignis war, können wir nicht sagen, denn wir wollen dem Manne namens Wakefield nicht über die Schwelle zu Frau Wakefield folgen.

Unter der scheinbaren Verworrenheit dieser geheimnisvollen Welt sind wir Individuen so genau in ein System und die Systeme aneinander und zu einem Ganzen gepaßt, daß ein Mensch, tritt er nur einen Augenblick lang heraus und zur Seite, sich der Gefahr aussetzt, seinen Ort für immer zu verlieren. Er kann ein Ausgestoßener des Universums werden wie dieser Mann namens Wakefield.


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