Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

David Swan

Nur teilweise vermögen wir mit den Geschehnissen bekannt zu werden, die einen wirklichen Einfluß auf den Lauf unseres Lebens und unsere endliche Bestimmung äußern. Andere Ereignisse, wenn wir sie überhaupt so nennen können, treten hinwieder in unsere nächste Nähe und verschwinden wieder ohne Folgen, und ihre Annäherung und Präsenz verrät sich nicht durch den leisesten Reflex von Licht oder Schatten auf unseren Geist. Vermöchten wir es, alle Wechselfälle unseres Schicksals zu kennen, es würde das Leben zu voll von Hoffnungen und Furcht, Entzücken und Enttäuschung sein, als daß uns eine Stunde ruhiger Heiterkeit bliebe – wir lebten in Extremen und lebten so nicht. Ich will etwas aus David Swans geheimer Geschichte erzählen.

Nicht eher haben wir mit seinem Leben zu tun, als bis wir ihn, zwanzigjährig, auf der Landstraße zwischen seinem Geburtsort und der Hauptstadt treffen, wo sein Onkel, ein kleiner Materialwarenhändler, ihn hinter den Ladentisch nehmen sollte. Er ist der Sohn rechtlicher Leute, hat eine gewöhnliche Schulbildung mit einiger Kenntnis des Lateinischen bekommen. Nachdem er eines Sommertages von Sonnenaufgang bis um Mittag zu Fuß gereist war, bestimmten ihn Müdigkeit und wachsende Hitze, am nächsten schattigen Ort sich hinzusetzen, um das Kommen des Postomnibus abzuwarten. Bald zeigte sich ein kleines Ahorngebüsch, in dessen Mitte ein schattiger Platz neben einem frischlaufenden Wasser war, das noch für keinen anderen Reisenden als David Swan entsprungen zu sein schien. Er warf sich hin, legte das Kissen unter den Kopf, ein Bündel mit Hemden und Hosen, und fiel in tiefen Schlaf, der vielleicht Träume barg. Aber ich habe von Begebenheiten zu erzählen, von denen er sich nichts träumen ließ.

Während er schlief, kamen Leute die Landstraße lang, gingen, ritten, fuhren an seiner grünen Schlafstube vorüber. Manche schauten nicht rechts noch links, andere sahen wohl den Schlafenden, erlaubten ihm aber keinen Zutritt in ihre vielbeschäftigten Gedanken, andere wieder lachten beim Anblick seines gesunden Schlafes, und mehrere, deren Herz mit Galle gefüllt, schütteten ihren giftigen Überfluß auf David Swan aus. Eine Witwe in mittleren Jahren steckte, als niemand in der Nähe war, ihren Kopf ein wenig in das Gebüsch hinein und fand, daß der junge Bursche ganz reizend aussehe. Ein Mäßigkeitsprediger sah ihn und flocht den armen David als ein schreckliches Beispiel totaler Betrunkenheit an der Landstraße in seine Abendpredigt ein. Aber Tadel, Lob, Heiterkeit, Fluch und Gleichgültigkeit galten David Swan nichts.

Er hatte erst ganz wenig geschlafen, als eine gute braune Kutsche, von zwei schönen Pferden gezogen, heranrollte und fast dicht vor Davids Ruheplatz plötzlich hielt. Eine Lünse war losgegangen und hatte das eine Rad ablaufen lassen. Der Schade war gering und verursachte nur einen kleinen Aufenthalt einem ältlichen Kaufherrn und seiner Frau, die in ihrem Wagen nach der Stadt zurückkehrten. Während Kutscher und Diener das Rad wieder anlegten, gingen der Herr und die Dame in den Schatten der Ahorne, sahen den Quell und an seiner Seite den schlafenden David.

Berührt von der Ehrfurcht, die auch der niederste Schläfer um sich verbreitet, trat der Kaufmann so leise auf, wie es seine Gicht ihm erlauben wollte, und seine Gattin nahm sich möglichst in acht, kein Geräusch mit ihrem Seidenkleide zu machen, damit David nicht plötzlich erwachen möchte.

»Der schläft gut,« sagte der Kaufherr, »ein Schlaf wie der, ohne Schlafmittel erreicht, hätte für mich mehr Wert als die Hälfte meiner Einkünfte. Er würde Gesundheit und ein nicht beunruhigtes Gehirn voraussetzen.«

»Und Jugend,« sagte die Dame.

Je länger das Paar auf den Schläfer schaute, um so mehr fühlte es sich zu ihm hingezogen. Als ein verirrter Sonnenstrahl über sein Gesicht spielte, bemühte sich die Dame, ihn durch einen vorgebogenen Zweig abzuhalten, worauf sie begann, eine Art Muttergefühl für den jungen Mann zu bekommen.

»Die Vorsehung scheint ihn hierher gelegt zu haben,« sagte sie leise zu ihrem Gatten, »und uns selber hierhergeführt, um ihn zu finden, jetzt, wo wir vom Sohn unseres Vetters so enttäuscht worden sind. Weißt du, er hat Ähnlichkeit mit unserem verstorbenen Henry. Sollen wir ihn wecken?«

»Wozu?« sagte der Mann. »Wir kennen doch den Charakter des jungen Mannes nicht im mindesten.«

»Er hat so ein offenes, ehrliches Gesicht,« bestand die Frau, »und sein Schlaf ist so unschuldig.«

Währenddem schlug das Herz des Schläfers weder unruhiger, noch wurde sein Atem bewegter, noch verrieten seine Züge das geringste Interesse. Und doch beugte sich eben das Glück über ihn und war im Begriff, eine Last Gold auf ihn herabfallen zu lassen. Der Kaufherr hatte seinen einzigen Sohn verloren und hatte keinen Erben für seinen Reichtum außer einen entfernten Verwandten, mit dessen Leben er unzufrieden war. In solchen Lagen tun die Menschen zuweilen noch sonderbarere Dinge, als die Rolle eines Zauberers zu übernehmen und einen Jüngling, in Armut eingeschlummert, zu Glanz und Reichtum zu erwecken. »Sollen wir ihn nicht wecken?« wiederholte die Dame, und ihr Ton war sehr ermunternd.

»Der Wagen ist wieder in Ordnung!« meldete da der Diener hinter ihnen.

Das alte Paar erschrak und hastete zum Wagen, im Innern verwundert, daß sie je daran hätten denken können, so was Lächerliches zu tun. Der Mann legte sich in den Wagen zurück und beschäftigte sich in Gedanken mit seinem Plane eines Asyls für verunglückte Geschäftsleute. Inzwischen schlief David Swan seinen guten Schlaf.

Der Wagen konnte noch nicht weit sein, als ein junges Mädchen des Weges kam, deren Schritt genau anzeigte, wie ihr kleines Herz hüpfte. Vielleicht war es diese fröhliche Art ihres Ganges, welche ihr Strumpfband sich lösen ließ. Sie fühlte das Rutschen des seidenen Gürtels und wandte sich in den Schatten der Ahorne und fand dort unseren Schlafenden. Rot wurde sie wie eine rote Rose darüber, in ein männliches Schlafgemach, und noch dazu zu einem solchen Zwecke, gedrungen zu sein und wollte rasch wieder umkehren. Nur noch einen Blick auf des Jungen Gesicht warf sie und sah eine Gefahr über ihm schweben. Eine Biene umschwärmte ihn, ließ sich nieder, gerade auf des Schlafenden Augenlid. Ist nicht der Stich einer Biene zuweilen tödlich? So frei wie unschuldig ging das Mädchen das Ungeheuer mit dem Taschentuch an, jagte es aus dem Schatten der Bäume. Dies war getan, und mit kürzerem Atem und tieferer Röte gab sie dem Fremden noch einen Blick, um dessentwillen sie mit einem Drachen gekämpft hatte. »Wie hübsch er ist,« dachte sie und wurde noch röter.

Wie war's möglich, daß kein Traum von Glück so lebendig in ihm wurde, daß er, von der eigenen Kraft erschüttert, zersprang und ihn das Mädchen in seinen Traumbildern wahrnehmen ließ? Weshalb lächelte er nicht wenigstens in seinem Gesichte einen Gruß zu dem Mädchen hin? Es war doch gekommen, das reine Weib, dessen Seele nach dem alten Bilde von seiner eigenen abgetrennt worden war, und die er zu finden sich sehnte mit allen seinen unbestimmten und leidenschaftlichen Wünschen! Nur sie konnte er wahrhaft lieben, nur ihn konnte sie in die Tiefe ihres Herzens nehmen – und jetzt errötete ihr Bild in der Quelle. Verschwand es, schimmerte sein glücklicher Glanz nie wieder über dem Leben des Jünglings.

»Wie ruhig er schläft,« flüsterte das Mädchen.

Und sie ging, aber ihr Schritt war nicht mehr so lustvoll, wie eh' sie kam.

Der Vater des Mädchens, ein wohlhabender Kaufmann auf dem Lande, sah sich gerade zu dieser Zeit nach einem jungen Mann um, wie David Swan einer war. Hätte David hier am Wege die Bekanntschaft der Tochter gemacht, er würde des Vaters Gehilfe geworden sein, und alles andere wäre von selber erfolgt. Das gute Glück hatte sich abermals an ihn herangestohlen, so nah, daß es seine Kleider streifte, und er ahnte nichts davon.

Das Mädchen war aus dem Gesicht, als zwei Männer unter den Schatten der Ahorne traten, Spitzbubengesichter hatten sie und ihre Kleider waren schmutzig, aber seltsam zusammengestellt. Es waren zwei Kerle, die von dem lebten, was ihnen der Teufel schickte. Sie hatten ihren gemeinsamen Gewinn aus dem nächsten Schurkenstreich auf ein Spiel Karten gesetzt, das unter diesen Bäumen entschieden werden sollte. Aber als sie David sahen, brummte der eine: »Still, das Bündel da unterm Kopf.«

Der andere nickte, winkte und schielte zur Seite.

Sagte der erste: »Irgendwas wird er schon drin haben, Geld wohl auch. Da oder in seinen Hosentaschen.«

»Aber wenn er aufwacht.«

Der andere schob seine Weste etwas zur Seite, daß der Griff eines Messers sichtbar wurde.

»Na los!«

Der eine hatte sein Messer locker gemacht und hielt es dem Schläfer über das Herz, während der andere das Bündel untersuchte. Die beiden hätten wohl ihre bösen Gesichter nicht erkannt, hätten sie sich zur Seite gewandt und das Spiegelbild in der Quelle gesehen. David Swan hatte nie ein ruhigeres Gesicht gezeigt als jetzt – als ob er schlafend an seiner Mutter Brust läge.

»Ich muß das Bündel hervorziehen,« sagte der eine.

»Wenn er sich rührt, stoß ich zu,« sagte der andere.

In diesem Augenblick tauchte am Boden schnüffelnd ein Hund auf unter den Bäumen, nun schaute er die zweie an, dann den Schläfer.

Sagte der eine der Raubbuben: »Da ist nichts mehr zu tun. Der Herr des Hundes wird dicht hinter ihm sein.«

»Wollen einen Schluck nehmen und dann fort,« sagte der andere und steckte sein Messer ein. Der andere zog seine Branntweinflasche hervor, und jeder tat einen Schluck daraus. Dann zogen sie mit einem Gelächter weiter, daß man wohl hätte sagen können, sie zogen jubelnd ihren Weg. In kaum einer Stunde hatten sie die ganze Sache vergessen und dachten nicht einen Augenblick daran, daß der wachende Engel das Verbrechen des Mordes in ewig unauslöschlichen Buchstaben gegen ihre Seele verzeichnet hatte. David Swan aber, der schlief noch immer und hatte weder den Schatten des Todes gefühlt, als dieser über ihm hing, noch die Glut des erneuten Lebens, als er wieder verschwunden war.

Er schlief noch, aber nicht mehr so fest wie anfangs. Eine Stunde Rast hatte seine Glieder wieder von der Ermüdung befreit, die die Stunden der Anstrengung ihnen aufgeladen hatte. Er regte sich, bewegte lautlos seine Lippen, und nun hub er innen an, mit den Mittagsgespenstern seines Traumes zu reden. Aber das Rollen von Rädern kam lauter und rasselnd die Landstraße entlang, bis es dröhnend durch den sich bereits zerstreuenden Nebel von Davids Schlummer brach, und – da war der Postwagen. David sprang auf mit voller Besinnung.

»Holla! Kutscher! Ein Passagier!«

»Oben ist noch Platz!« rief es vom Bock.

David kletterte auf den Wagen und ließ sich nach der Stadt fahren, ohne auch nur einen Blick des Abschieds auf jene Quelle traumartiger Wechselfälle zurückzuwerfen. Weder wußte er, daß ein Phantom des Reichtums seine goldene Farbe auf ihr Wasser geworfen, noch daß ein anderes der Liebe bei ihrem Rauschen aufgeseufzt, noch daß ein drittes Phantom des Todes ihr Wasser mit seinem Blute hochrot zu färben gedroht hatte – und alles dies in der kurzen Zeit eines Schlummers zu Mittag.

Schlafend oder wachend – nie hören wir die luftigen Fußtritte jener seltsamen Ereignisse, die sich beinahe verwirklichen. Man möchte auf eine alles überwachende Vorsehung schließen, daß, während Unsichtbares und Unerwartetes sich fortwährend über unseren Weg legt, dennoch Regel genug in unserem irdischen Leben wirkt, Regel genug, als daß ein selbst teilweises Vorhersehen ohne Nutzen wäre.


 << zurück weiter >>