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Edward Randolphs Gemälde

In einem der Räume der Statthalterei wurde lange Zeit ein altes Bild aufbewahrt. Der Rahmen war so schwarz wie Ebenholz und die Leinwand selber von Alter, Rauch und Dumpfigkeit gedunkelt, daß kein Strich von der Kunst des Malers mehr zu erkennen war. Die Zeit hatte einen undurchdringlichen Schleier darüber geworfen, und es blieb der Überlieferung, dem Bericht und der Vermutung überlassen zu sagen, was einst darauf abgebildet war. Während der Regierungszeit vieler aufeinander folgender Statthalter hatte es mit unangefochtener, verjährter Berechtigung über dem Kamin des gleichen Zimmers gehangen; und es behauptete seinen Platz auch noch, als der stellvertretende Statthalter Hutchinson die Verwaltung der Provinz nach dem Abgang Sir Francis Bernards übernahm.

Eines Nachmittags saß Hutchinson in seinem prunkvollen Lehnstuhl, lehnte den Kopf gegen die geschnitzte Lehne und schaute nachdenklich zu dem leeren schwarzen Bild hinauf. Es war wohl kaum die Zeit für solche müßige Träumerei, wenn Geschäfte von weittragendster Bedeutung der Entscheidung des Herrschers warteten, denn vor noch nicht einer Stunde hatte Hutchinson Nachricht von der Ankunft einer britischen Flotte erhalten, die drei Regimenter von Halifax herüberbrachte, welche die unbotmäßige Bevölkerung einschüchtern sollten. Diese Truppen warteten auf seine Erlaubnis, die Festung Castle William und die Stadt selber zu besetzen. Doch anstatt seine Unterschrift unter einen amtlichen Befehl zu setzen, saß der Statthalter da und forschte so aufmerksam in der schwarzen Leere der Leinwand, daß sein Benehmen die Aufmerksamkeit zweier junger Leute auf sich zog, die ihm Gesellschaft leisteten. Der eine in Soldatenkleidung und Lederkoller war sein Verwandter, Francis Lincoln, der Provinzialkommandant von Castle William, und auf einem Schemel neben seinem Sessel saß Alice Vane, seine Lieblingsnichte.

Sie war ganz weiß gekleidet, ein blasses, überzartes Geschöpf. Obwohl sie in Neuengland geboren war, hatte man sie im Auslande erzogen, und sie schien nicht nur eine Fremde aus anderm Klima, sondern fast ein Wesen aus einer andern Welt. Mehrere Jahre lang, bis sie verwaiste, hatte sie mit ihrem Vater im sonnigen Italien gewohnt und hatte dort begeisterte Vorliebe für Skulptur und Malerei gewonnen, die nur selten Befriedigung fand in den schmucklosen Wohnungen des Adels der Kolonie. Man sagte, daß die ersten Versuche ihres eigenen Pinsels kein geringes Talent verrieten, wenn auch vielleicht das rauhe Klima Neuenglands ihre Hand schwer gemacht und die glühenden Farben ihrer Phantasie gedämpft hatte. Aber als sie den gespannten Blick beobachtete, mit dem ihr Onkel durch den Nebel der Jahre hindurch nach dem Gegenstand des Bildes zu forschen schien, wurde ihre Neugierde erregt.

»Ist es bekannt, lieber Oheim,« sagte sie, »was dieses alte Bild einst darstellte? Möglicherweise stellte es sich als Meisterstück eines großen Künstlers heraus, wenn man es sehen könnte – warum behauptet es sonst solange einen solchen Ehrenplatz?«

Da ihr Onkel, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit – denn er gab allen Stimmungen und Launen Alices nach, als sei sie sein eigenes liebstes Kind – nicht sofort antwortete, übernahm der junge Kommandant von Castle William diese Aufgabe.

»Dieses alte dunkle Stück Leinwand, schöne Cousine,« sagte er, »ist seit unvordenklichen Zeiten ein Erbstück in der Statthalterei. Über den Maler kann ich dir nichts sagen, aber wenn nur die Hälfte der Geschichten wahr ist, die man darüber erzählt, so hat nicht einer der großen italienischen Meister je ein so wunderbares Werk geschaffen wie dies vor dir.«

Lincoln erzählte darauf einige der seltsamen Fabeln und Phantasien über dieses Bild, die allmählich sich allgemein verbreitet hatten, da es ja nicht möglich war, sie durch sichtbare Beweise zu widerlegen. Einer der wildesten und dabei am meisten geglaubten Berichte behauptete, daß es das wirkliche und wahrhaftige Bild des Bösen bei einem Hexensabbat in der Nähe von Salem sei, und seine große und erschreckliche Ähnlichkeit sei von mehreren geständigen Zauberern und Hexen zugegeben worden, als man sie in öffentlicher Gerichtssitzung peinlich verhört habe. Man behauptete auch, daß ein Geist oder Dämon unter dem schwarzen Bild verborgen sei und sich schon mehr als einmal in den einheitsschweren Zeiten des Staates mehr als einem der königlichen Statthalter gezeigt habe. Shirley zum Beispiel hatte diese verhängnisvolle Erscheinung am Vorabend der schmachvollen und blutigen Niederlage des Generals Abercrombie vor den Mauern von Ticonderoga geschaut. Viele der Bedienten in der Statthalterei hatten plötzlich ein Gesicht auftauchen sehen, das drohend auf sie herabblickte, am Morgen oder in der tiefen Abenddämmerung – oder in der tiefen Nacht, wenn sie das Feuer schürten, das im Kamin darunter glimmte; und doch, so oft einer Mut genug hatte eine Fackel vor das Bild zu halten, so schien es schwarz und unerkennbar wie immer. Der älteste Einwohner von Boston erinnerte sich, daß sein Vater, zu dessen Zeit das Bild noch nicht zu völliger Unsichtbarkeit verblaßt war, es einst beschaut hatte, sich dann aber nie über das Gesicht befragen ließ, das darauf dargestellt war. In Verbindung mit solchen Geschichten war auffällig, daß über dem Rahmen einige zerfetzte Überreste schwarzer Seide hingen, die andeuteten, daß früher ein Schleier vor dem Bilde gehangen hatte, bevor die Düsterkeit der Zeit es so vollkommen verborgen hatte. Aber schließlich war doch das Auffallendste an der Sache, daß so viele prunkliebende Statthalter von Massachusetts das zerstörte Bild in dem Staatszimmer der Statthalterei hatten hängen lassen.

»Manche von diesen Geschichten sind wirklich furchtbar,« bemerkte Alice Vane, die manchmal geschaudert und manchmal gelächelt hatte, während ihr Vetter sprach. »Es wäre fast der Mühe wert, die schwarze Oberfläche der Leinwand abzureiben, da das wirkliche Bild kaum so furchtbar sein kann wie jene, die die Phantasie statt seiner darauf malt.«

»Wäre es denn möglich,« fragte ihr Vetter, »dieses schwarze Bildnis in den früheren Farben wieder herzustellen?«

»Solche Künste kennt man in Italien,« sagte Alice.

Der Statthalter war aus seiner geistesabwesenden Stimmung erwacht und hörte lächelnd der Unterhaltung seiner jungen Verwandten zu. Und doch hatte seine Stimme einen sonderbaren Klang, als er es unternahm, das Geheimnis aufzuklären.

»Es tut mir leid, Alice, deinen Glauben an die Geschichten, die du so gerne magst, zerstören zu müssen,« sagte er; »aber meine Altertumsforschungen haben mich längst mit dem Gegenstand des Bildes vertraut gemacht – wenn man es überhaupt ein Bild nennen kann, was nicht sichtbarer ist, noch jemals werden wird, als das Gesicht des lange begrabenen Mannes, den es einst darstellte. Es war das Bildnis Edward Randolphs, des Gründers dieses Hauses – ein berühmter Mann in der Geschichte Neuenglands.«

»Desselben Edward Randolph,« rief Lincoln, »der die Aufhebung der ersten provinzialen Gesetzgebung erreichte, unter der unsere Vorfahren fast demokratische Rechte genossen! Er, den man den Erzfeind Neuenglands nannte, und dessen Gedächtnis noch heute verabscheut wird als des Zerstörers unserer Freiheiten!«

»Es war dieser Randolph,« antwortete Hutchinson und rückte unruhig auf seinem Stuhl; »es war sein Los, die Bitterkeit allgemeiner Abneigung zu kosten.«

»Unsere Berichte erzählen,« fuhr der Kommandant von Castle William fort, »daß der Fluch des Volkes Randolph auf allen seinen Wegen verfolgte und Unheil brachte über alle späteren Ereignisse seines Lebens; ja, daß man seine Wirkung noch an der Art seines Todes erkannte. Sie sagen auch, daß das Verhängnis des Fluches von innen nach außen wirkte und auf dem Gesicht des Unglücklichen geschrieben stand, das so grauenvoll wurde, daß niemand es anschauen konnte. Wenn dem so ist, und wenn dieses Gemälde sein Aussehen getreulich wiedergab, so war es eine Gnade, daß die schwarze Wolke sich darüber legte.«

»Diese Berichte erscheinen närrisch für den, der, wie ich, herausgefunden hat, wie wenig historische Wahrheit ihnen zugrunde liegt,« sagte der stellvertretende Statthalter. »Was das Leben und den Charakter Edward Randolphs angeht, so hat man Doktor Cotton Mather zu blinden Glauben geschenkt. Er hat – das muß ich sagen, obwohl von seinem Blut in meinen Adern fließt – unsere frühe Geschichte mit Altweibergeschichten erfüllt, so phantastisch und übertrieben wie die von Rom und Griechenland.«

»Und doch,« flüsterte Alice Vane, »kann nicht eine Lehre in solchen Erzählungen liegen? Mir scheint, wenn das Gesicht dieses Bildes so furchtbar ist, dann hat es wohl nicht ohne Grund solange in einem Zimmer der Statthalterei gehangen. Wenn die Herrscher sich verantwortungsfrei dünken, dann könnte ihnen die Mahnung an die furchtbare Last eines Volksfluches nur frommen.«

Der Statthalter fuhr auf und starrte seine Nichte eine Weile an, als hätten die wunderlichen Gedanken des Mädchens eine Empfindung in seiner eigenen Brust berührt, die er trotz aller Politik und Grundsätze nicht ganz unterdrücken konnte. Er wußte freilich, daß Alice trotz der Erziehung im Ausland die angeborenen Neigungen eines Kindes von Neuengland bewahrt hatte.

»Sei still, törichtes Kind,« rief er schließlich barscher, als er je die zarte Alice angeredet hatte. »Der Vorwurf eines Königs ist mehr zu fürchten als das Geschrei einer wilden, irregeleiteten Menge. Hauptmann Lincoln, es ist entschieden. Die Festung Castle William ist von den königlichen Truppen zu besetzen. Die beiden übrigen Regimenter sollen in der Stadt einquartiert werden oder auf der Gemeindeflur lagern. Es ist an der Zeit, nach Jahren des Aufstandes und fast der Empörung, daß die Regierung seiner Majestät einen Wall von Heeresmacht um sich zieht.«

»Ich bitte Euch, vertraut noch eine Weile auf die Treue des Volkes,« sagte Lincoln, »und lehrt es nicht, daß es jemals mit britischen Soldaten anders als auf brüderlichem Fuße stehen könnte, wie damals, als es Seite an Seite mit ihnen im französischen Kriege focht. Verwandelt nicht die Straßen Eurer Vaterstadt in ein Feldlager. Überlegt es zweimal, bevor Ihr das alte Castle William, den Schlüssel zu der Provinz, unter andere Obhut als die eingeborener Neuengländer stellt.«

»Junger Mann, es ist entschieden,« wiederholte Hutchinson und erhob sich. »Der diensttuende britische Offizier wird heute abend die notwendigen Instruktionen für die Verteilung der Truppen entgegennehmen. Auch Eure Gegenwart wird nötig sein. Bis dahin auf Wiedersehen.«

Mit diesen Worten verließ der Statthalter hastig das Zimmer, während Alice und ihr Vetter ihm langsamer folgten; sie flüsterten miteinander, und einmal blieben sie stehen, um nach dem geheimnisvollen Bild zurückzublicken. Dem Kommandanten von Castle William schienen Miene und Aussehen des Mädchens so, wie man sie bei Fabelwesen – Feen oder Gestalten noch älterer Sage – sich vorstellen kann, die sich bisweilen in die Angelegenheiten der Sterblichen mischen, halb aus Laune nur, und doch mit feinem Gefühl für menschliches Wohl und Wehe.

»Tritt hervor, du dunkle, schlimme Gestalt!« rief sie, »deine Stunde ist da!«

Am Abend saß der stellvertretende Statthalter in demselben Zimmer, in dem diese Szene sich abgespielt hatte. Ihn umgaben mehrere Personen, die verschiedene Interessen hier zusammengeführt hatten. Da waren die Stadtvorsteher von Boston, schlichte, ehrwürdige Väter des Volkes, vorzügliche Vertreter der alten puritanischen Gründer, deren düstere Strenge den Charakter Neuenglands so nachhaltig beeinflußt hatte. Im Gegensatz zu ihnen standen einige Ratsmitglieder, reich gekleidet, in gepuderten Perücken, gestickten Westen und anderem Prunk der Zeit; sie stellten höfische Förmlichkeit etwas auffällig zur Schau. Ein diensttuender Major der britischen Armee erwartete die Befehle des Statthalters für die Landung der Truppen, die noch an Bord der Transportschiffe waren. Der Kommandant von Castle William stand mit verschränkten Armen neben Hutchinsons Stuhl und sah ziemlich hochmütig auf den britischen Offizier, von dem er bald seines Oberbefehls enthoben werden sollte. Auf einem Tisch in der Mitte des Zimmers stand ein silberner Armleuchter, der den Schein von sechs Wachskerzen auf ein Schriftstück warf, das offenbar auf die Unterschrift des Statthalters wartete.

Halb verhüllt schimmerte durch die reichen Falten einer der Fenstervorhänge, die von der Decke bis zur Erde fielen, ein weißes Frauenkleid. Es mag seltsam erscheinen, daß Alice Vane zu solcher Zeit da war, aber es lag etwas so kindliches, seltsames in ihrem eigenartigen Charakter, etwas, das sich so wenig nach allgemeinen Regeln richtete, daß ihre Gegenwart die wenigen, die sie bemerkten, gar nicht erstaunte. Inzwischen hielt der Vorsitzende der Stadtältesten dem Statthalter eine lange und feierliche Protestrede gegen die Aufnahme britischer Truppen in der Stadt.

»Und wenn Euer Gnaden,« schloß dieser vortreffliche, aber etwas langweilige Herr, »trotzdem darauf bestehen werden, diese Söldner mit Schwert und Flinte in unsere ruhigen Straßen zu bringen, dann fällt die Verantwortung dafür nicht auf uns. Bedenket, Herr, solange es noch nicht zu spät ist: wenn auch nur ein Tropfen Blut vergossen wird, so wird dieses Blut ein ewiger Makel am Gedächtnis Euer Gnaden sein. Ihr habt mit geschickter Feder die Taten unserer Vorfahren beschrieben. Um so mehr ist es zu wünschen, daß Ihr selber ehrenhafte Erwähnung finden werdet als guter Patriot und gerechter Herrscher, wenn Eure eigenen Taten einmal in der Geschichte verzeichnet werden.«

»Mir ist der begreifliche Wunsch, gut in den Annalen meines Landes dazustehen, nicht fremd,« erwiderte Hutchinson und zwang seine Gereiztheit zur Höflichkeit, »und ich sehe keinen besseren Weg, dieses Ziel zu erreichen, als den sicher nur vorübergehenden Geist des Aufruhrs zu bekämpfen, von dem, verzeiht, daß ich es sage, ältere Männer als ich angesteckt scheinen. Wollen Sie, daß ich warte, bis der Pöbel die Statthalterei erstürmt, wie er mein Privathaus zerstört hat? Glauben Sie nur, die Zeit kann kommen, wo Sie gerne unter den Schutz des Königsbanners fliehen werden, dessen Aufrichtung jetzt so verabscheuenswert erscheint.«

»Ja,« sagte der britische Major, der ungeduldig auf die Befehle des Statthalters wartete, »die Volksverführer in dieser Provinz haben den Teufel heraufbeschworen und können ihn nun nicht wieder bannen. Wir wollen ihn austreiben im Namen Gottes und des Königs.«

»Wenn Ihr Euch mit dem Teufel einlaßt, hütet Euch vor seinen Klauen!« antwortete der Kommandant von Castle William, gereizt durch den Angriff auf seine Landsleute.

»Verzeiht, junger Herr,« sagte der würdige Stadtälteste, »laßt keinen bösen Geist in Eure Worte eindringen. Wir wollen mit Gebet und Fasten den Unterdrücker bekämpfen, wie unsere Väter getan haben würden. Dann wollen wir, wie sie, uns dem Los unterwerfen, das eine weise Vorsehung uns sendet – doch immer nur, wenn wir selber unser Äußerstes getan haben, es zu verbessern.«

»Und da lugt des Teufels Klaue hervor!« murmelte Hutchinson, der gut wußte, wie es um puritanische Unterwürfigkeit bestellt war. »Diese Angelegenheit muß sofort beschleunigt werden. Erst wenn ein Posten an jeder Ecke steht und eine Wache vorm Stadthaus, dann kann ein königstreuer Mann wagen, umherzugehen. Was bedeutet mir der Schrei des Pöbels in dieser entfernten Provinz des Königreichs? Der König ist mein Herz, und England ist mein Vaterland. Von ihrer Heeresmacht gestützt, setze ich den Fuß auf das Gesindel und biete ihm Trotz!«

Er ergriff die Feder und wollte seine Unterschrift unter das Papier auf dem Tisch setzen, als ihm der Kommandant von Castle William die Hand auf die Schulter legte. Diese freimütige Handlung, die so sehr im Gegensatz stand zu der steifen Hochachtung, die damals Rang und Würden gegenüber für schicklich galt, rief allgemeines Erstaunen hervor, und bei niemand mehr als bei dem Statthalter selber. Er schaute zornig auf und sah, daß sein junger Verwandter mit dem Finger auf die Wand gegenüber deutete. Hutchinsons Auge folgte dem Zeichen, und er sah, was bis jetzt niemand beachtet hatte, daß ein schwarzer Seidenvorhang vor dem unheimlichen Bilde hing, so daß es vollständig verborgen war. Seine Gedanken kehrten sofort zu der Szene am Nachmittag zurück. Trotz der Verwirrung durch unbestimmte Empfindungen war er sich in seiner Überraschung doch bewußt, daß Alice irgendwie an dieser sonderbaren Erscheinung teilhaben mußte, und er rief sie laut an.

»Alice! – Komm her, Alice!«

Kaum hatte er gerufen, als Alice aus ihrem Versteck hervorglitt, eine Hand fest vor die Augen preßte und mit der andern den schwarzen Vorhang wegzog, der das Bild verhüllte. Ein Ausruf der Überraschung entfuhr allen Beschauern; aber in der Stimme des Statthalters lag Entsetzen.

»Beim Himmel,« sagte er mit leisem Flüstern und sprach mehr in sich hinein als zu seiner Umgebung, »wenn der Geist Edward Randolphs von der Stätte der Qual unter uns erscheinen sollte, so könnten keine größeren Schrecken der Hölle auf seinem Gesicht geschrieben stehen!«

»Aus irgendeinem weisen Grunde,« sagte der alte Stadtvorsteher feierlich, »hat die Vorsehung den Nebel der Jahre zerstreut, der so lange dieses furchtbare Bildnis verhüllt hatte. Bis zu dieser Stunde hat kein Lebender geschaut, was wir hier schauen!«

In dem alten Rahmen, der so kurz vorher noch die schwarze Leinwandfläche eingeschlossen hatte, erschien jetzt ein deutliches Bild; freilich noch dunkel in den Farben und Schatten, aber doch stark hervortretend. Es war die Halbfigur eines Mannes in reicher, sehr altmodischer Kleidung aus gesticktem Sammet und breiter Halskrause; er war bärtig und trug einen Hut, dessen Rand seine Stirn überschattete. Unter diesem Schatten hervor sahen seine Augen mit einem seltsamen Blick, der wie lebendig war. Das ganze Bildnis hob sich so deutlich vom Hintergrund ab, daß es ganz so wirkte, als blicke ein lebender Mensch von der Wand herab auf die erstaunten und entsetzten Zuschauer. Der Gesichtsausdruck – wenn Worte ihn überhaupt wiederzugeben vermögen – war der eines Unseligen, den man bei irgendeinem scheußlichen Verbrechen entlarvt und dem bitteren Haß, dem Hohn und der vernichtenden Verachtung einer ungeheuren Menge preisgegeben hat. Man sah den Kampf des Trotzes, den das erdrückende Bewußtsein der Schmach niederzwang. Die Qual der Seele spiegelte sich auf dem Gesicht. Es war, als habe das Bild, hinter der Wolke unzähliger Jahre verborgen, doch immer schärfer den düsteren Ausdruck vertieft, bis es jetzt wieder aufglühte und als schlimmes Vorzeichen diese Stunde bedrohte. So sah Edward Randolph aus, wenn man der verworrenen Sage glauben darf, als man ihn erblickte, nachdem der Fluch eines Volkes seine Wirkung an ihm gezeigt hatte.

»Es könnte mich wahnsinnig machen – dieses furchtbare Gesicht!« sagte Hutchinson, der ganz gebannt schien von seiner Betrachtung.

»Dann laßt Euch warnen!« flüsterte Alice. »Er trat das Recht eines Volkes mit Füßen. Seht seine Strafe – und meidet ein Verbrechen wie das seine!«

Einen Augenblick lang zitterte der Statthalter wirklich, doch er riß sich zusammen – was jedoch keiner seiner eigentümlichsten Züge war – und versuchte, sich aus dem Bann des Gesichtes frei zu machen.

»Mädchen!« rief er und lachte höhnisch, als er sich zu Alice wandte, »hast du deine Malerkünste hierher gebracht – deine italienischen Ränke – deine Bühnenkniffe – und gedenkst damit die Pläne von Herrschern und Staatsgeschäfte zu beeinflussen – mit solch einfältigen Anschlägen? Sieh her!«

»Wartet dennoch einen Augenblick,« sagte der Stadtvorsteher, als Hutchinson wieder die Feder ergriff, »denn wenn je einem Sterblichen die Warnung einer verdammten Seele zuteil ward, dann seid Ihr es!«

»Fort!« schrie Hutchinson wütend; »und wenn auch jenes leblose Bild mir Halt! zuriefe, es sollte mich nicht rühren!«

Er warf einen herausfordernden Blick auf das gemalte Gesicht – auf dem sich in diesem Augenblick das Schreckliche des jammervollen und verworfenen Ausdrucks noch zu vertiefen schien – und kratzte den Namen Thomas Hutchinson auf das Papier, in Buchstaben, die deutlich zeigten, daß es eine Tat der Verzweiflung war. Dann soll er geschaudert haben, als habe er mit dieser Unterschrift sein Seelenheil verspielt.

»Es ist geschehen,« sagte er und stützte den Kopf in die Hand.

»Der Himmel vergebe die Tat!« sprach die sanfte, traurige Stimme Alice Vanes, wie die letzten Worte eines guten Geistes, der davonhuscht.

Als der Morgen kam, ging ein Flüstern durch das Haus und verbreitete sich von dort durch die Stadt, daß das dunkle, geheimnisvolle Bild aus der Wand getreten sei und von Angesicht zu Angesicht mit dem stellvertretenden Statthalter gesprochen habe. Allein wenn ein solches Wunder geschehen war, so hatte es keine Spuren hinterlassen. Denn in dem alten Rahmen konnte man nichts unterscheiden als die undurchdringliche Wolke, die schon seit Menschengedenken die Leinwand bedeckt hatte. Wenn die Gestalt wirklich herausgetreten war, so war sie, wie die Geister tun, bei der Dämmerung zurückgeflohen und hatte sich hinter der Dunkelheit eines Jahrhunderts versteckt. Wahrscheinlich war es so, daß Alice Vanes geheimes Mittel zur Auffrischung der Farben nur eine vorübergehende Wiederherstellung bewirkte. Aber alle, die in dieser kurzen Spanne das furchtbare Antlitz Edward Randolphs erblickt hatten, wünschten es nicht zum zweitenmal zu sehen und zitterten stets bei der Erinnerung an die Szene, als sei ein böser Geist sichtbar unter ihnen erschienen. Und Hutchinson – als weit überm Meer seine Todesstunde kam, rang er nach Atem und klagte, daß das Blut des Gemetzels von Boston ihn erblicke; Francis Lincoln, der ehemalige Kommandant von Castle William, der an seinem Lager stand, bemerkte in seinem irren Blick eine Ähnlichkeit mit dem Edward Randolphs. Fühlte seine gebrochene Seele in dieser furchtbaren Stunde die entsetzliche Last, von einem ganzen Volke verflucht zu sein?


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