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John Inglefields Dankfest

Am Abend des Erntedankfestes saß John Inglefield, der Schmied, in seinem Lehnstuhl, umgeben von denen, die an seinem Tisch das Festmahl gehalten hatten. Da er doch die Hauptfigur war im häuslichen Kreis, warf auch das Feuer den stärksten Schein auf seine massige, kraftvolle Gestalt und rötete sein derbes Gesicht, daß es aussah wie der Kopf eines eisernen Standbildes, das mit kunstlos auf dem eigenen Amboß geformten Zügen noch glühend von der eigenen Esse kam. Zu seiner Rechten stand ein leerer Stuhl. Die andern Plätze vorm Kamin hatten die Familienglieder inne. Sie alle saßen ruhig da, doch wie in wunderlicher Ausgelassenheit tanzten ihre Schatten hinter ihnen an der Wand. Einer aus der Gruppe war John Inglefields Sohn, der auf dem Gymnasium erzogen war und jetzt in Andover studierte. Auch eine sechzehnjährige Tochter war dabei, die niemand ansehen konnte, ohne an eine fast erblühte Rosenknospe zu denken. Als einziger Fremder saß nur noch Robert Moore am Kamin, ein früherer Lehrling des Schmiedes, jetzt sein Geselle. Er sah eher einem Sohne John Inglefields gleich als der blasse, schmale Student.

Nur diese vier hatten Neuenglands Fest unter diesem Dache gefeiert. Der leere Stuhl zur Rechten John Inglefields stand zum Gedächtnis seines Weibes dort, das ihm der Tod seit dem letzten Dankfest entrissen hatte. Mit einem Zartgefühl, das kaum einer in diesem rauhen Menschen erwartet hätte, hatte der verwaiste Gatte selber den Stuhl an seinen Platz neben seinen eigenen hingestellt. Oft ging sein Blick dahin, als ob er es für möglich hielte, daß das kalte Grab sie zurückschicken könnte zum freundlichen Herd, wenn auch nur für diesen Abend. So hegte er den Kummer, der ihm lieb geworden war. Doch er trug noch einen anderen, den er gern aus seinem Herzen gerissen oder, da das nicht möglich war, tief begraben hätte, zu tief für andere Augen und selbst für die eigene Erinnerung. Im letzten Jahre war noch ein Mitglied seiner Familie von ihm gegangen, aber nicht zum Grabe – und dafür wurde kein Stuhl frei gehalten.

Während John Inglefield mit seinen Angehörigen am Feuer saß und die Schatten an den Wänden hinter ihnen tanzten, wurde die Außentür geöffnet, und ein leichter Schritt kam den Gang entlang. Eine bekannte Hand drückte auf die Klinke der inneren Tür, und ein junges Mädchen kam herein, in Mantel und Kapuze, die sie abnahm und auf den Tisch unterm Spiegel legte. Einen Augenblick lang betrachtete sie die Gruppe am Kamin, dann kam sie näher und setzte sich zur Rechten John Inglefields, als sei dieser Platz eigens für sie freigelassen.

»Da bin ich endlich, Vater,« sagte sie. »Das Dankfestmahl habt ihr ohne mich gehalten, aber ich bin gekommen, den Abend bei euch zu verbringen.«

Ja, es war Prudence Inglefield. Sie trug das gleiche schmucke, mädchenhafte Kleid, das sie anzulegen pflegte, wenn die Tagesarbeit im Haushalt getan war, und ihr Haar war über der Stirn gescheitelt in der schlichten, bescheidenen Art, die sie am allerbesten kleidete. Mochten ihre Wangen sonst bleich sein, die Glut des Feuers ließ sie jetzt gesund und blühend scheinen, und hatte sie die langen Monate ihrer Abwesenheit in Schuld und Sünde verbracht, es waren keine Spuren auf ihrem sanften Bilde zurückgeblieben. Sie hätte nicht weniger verändert aussehen können, wenn sie auf eine halbe Stunde vom Herde ihres Vaters fortgewesen und wieder heimgekommen wäre, als die Flammen aus denselben Kohlen zuckten, die schon brannten, als sie wegging. Und für John Inglefield war sie das Abbild seines toten Weibes, so wie er es vor sich sah beim ersten Dankfest, das sie unterm eigenen Dach gefeiert hatten. Und darum konnte er, obwohl er streng und rauh war von Natur, nicht lieblos reden mit seinem sündigen Kinde; doch er konnte sie auch nicht in seine Arme schließen.

»Willkommen daheim, Prudence,« sagte er und sah sie von der Seite an, und seine Stimme zitterte. »Deine Mutter hätte sich gefreut, dich zu sehen; doch sie ist von uns gegangen vor vier Monaten.«

»Ich weiß, Vater, ich weiß,« erwiderte Prudence hastig. »Und doch, zuerst, als ich hereinkam, waren meine Augen so geblendet vom Feuerschein, daß es mir war, als säße sie hier auf diesem Stuhl.«

Inzwischen hatten sich die andern allmählich von ihrem Erstaunen erholt und merkten, daß es kein Gespenst aus dem Grabe war oder ein Gestaltwerden ihres lebhaften Gedenkens, sondern Prudence in eigener Person. Ihr Bruder grüßte sie zuerst. Er kam heran und streckte ihr liebevoll die Hand entgegen, wie ein guter Bruder; und doch nicht ganz wie ein Bruder; denn, bei aller Güte war er doch der Priester, der zu einem Kind der Sünde sprach.

»Schwester Prudence,« sagte er voll Ernst, »ich freue mich, daß eine gnädige Vorsehung deine Schritte heimwärts gelenkt hat, rechtzeitig genug, daß ich dir ein letztes Lebewohl sagen kann. In wenigen Wochen soll ich als Missionar nach den fernen Inseln des Stillen Ozeans segeln. Nicht eines dieser geliebten Gesichter darf ich hoffen auf dieser Erde jemals wiederzusehen. Ach, möchte ich sie alle – auch das deine – jenseits des Grabes wiedersehen!«

Ein Schatten glitt über das Gesicht des Mädchens.

»Das Grab ist sehr dunkel, Bruder,« antwortete sie und zog ihre Hand etwas hastig aus der seinen, »du mußt mich schon beim Schein dieses Feuers zum letztenmal betrachten.«

Während dies vor sich ging, stand die Zwillingsschwester – die Rosenknospe, die an einem Stamm mit der Sünderin gewachsen war – und starrte ihre Schwester an und sehnte sich, ihr an die Brust zu fliegen, daß ihre Herzen wieder ineinanderranken möchten. Kummer und Scham zugleich hielten sie anfangs zurück und die Furcht, daß Prudence sich zu sehr geändert hätte, um ihre Liebe zu erwidern, oder daß die Verlorene ihre eigene Reinheit wie einen Vorwurf fühlen könnte. Doch als sie der vertrauten Stimme lauschte, als auch das Gesicht immer vertrauter wurde, vergaß sie alles und wußte nur noch, daß Prudence heimgekommen war. Sie sprang vor und wollte sie fest in die Arme schließen. Im letzten Augenblick jedoch fuhr Prudence von ihrem Stuhle empor und streckte warnend beide Hände aus.

»Nein, Mary – nein, liebe Schwester,« rief sie, »berühr du mich nicht. Du darfst nicht deine Brust an meine lehnen!«

Mary schauderte und stand still, denn sie fühlte, daß etwas, schwärzer noch als das Grab, zwischen ihr und Prudence stand, obwohl sie doch einander so nahe schienen im Scheine des väterlichen Herdes, an dem sie miteinander aufgewachsen waren.

Prudence ließ ihre Augen durch das Zimmer gehen und suchte einen, der ihr noch keinen Gruß geboten hatte. Er hatte seinen Platz am Kamin verlassen und stand mit abgewandtem Gesicht bei der Tür, so daß man seine Züge nur im flackernden Schatten seines Profiles an der Wand unterscheiden konnte. Doch Prudence rief ihn heiter und freundlich an.

»Komm, Robert,« sagte sie, »willst du deiner alten Freundin die Hand nicht reichen?«

Robert Moore zögerte einen Augenblick, doch die Liebe kämpfte mit Macht und überwand den Stolz und die Abneigung. Er stürzte auf Prudence zu, faßte ihre Hand und drückte sie ans Herz.

»Nein, nein, Robert,« sagte sie und lächelte traurig, als sie ihre Hand zurückzog, »du darfst mich nicht zu herzlich willkommen heißen.«

Und nun, nachdem sie jedes Glied der Familie begrüßt hatte, setzte sich Prudence wieder auf den Stuhl zur Rechten John Inglefields. Sie war von Natur ein Mädchen von lebhaftem und zartem Empfindungsvermögen, fröhlich im Grunde ihres Wesens; aber eine bezaubernde Würde lag über ihren heitersten Worten und Handlungen. Man hatte auch von Kindheit an beobachtet, daß sie die Fähigkeit besaß, ihre eigene Stimmung wie einen Zauberbann über ihre Umgebung zu werfen. Wie sie in ihren unschuldigsten Tagen gewesen, so erschien sie an diesem Abend. Trotz des Erstaunens und der Verwirrung über ihre Rückkehr vergaßen ihre Freunde fast, daß sie sie je verlassen, oder daß sie irgendeinen Anspruch auf ihre Liebe verscherzt hätte. Am Morgen hätten sie sie vielleicht aus anderen Augen angesehen, aber beim Kaminfeuer am Dankfest fühlten sie nur, daß ihre geliebte Prudence wiedergekommen war und waren dankbar. John Inglefields rauhes Gesicht erglühte wie sein Herz, das warm und froh in ihm wurde. Einmal oder zweimal lachte er sogar, daß es von den Wänden schallte; doch er schien erschreckt durch den Widerhall seiner eigenen Fröhlichkeit. Der ernste junge Priester ward so ausgelassen wie ein Schuljunge. Auch Mary, die Rosenknospe, vergaß, daß ihre Zwillingsschwester je vom Stamm gerissen und in den Staub getreten worden war. Und Robert Moore – er schaute Prudence an mit dem schüchternen Ernst neuerstandener Liebe, während sie ihn in süßer, mädchenhafter Spielerei halb lächelnd lockte, halb entmutigte.

Kurz, es war einer jener Augenblicke, in denen die Sorge in schattenhafte Tiefen schwindet und die Freude in kurzem Glanz hervorstrahlt. Als es acht Uhr schlug, goß Prudence ihres Vaters gewohnten Kräutertee ein, der schon, seit es dämmerte, aufgegossen neben dem Kamin stand.

»Gott segne dich, mein Kind!« sagte John Inglefield, als er die Tasse aus ihrer Hand nahm; »du hast deinen alten Vater wieder glücklich gemacht, aber deine Mutter fehlt uns schmerzlich, Prudence, sehr schmerzlich. Mir ist, als sollte sie jetzt hier sein.«

»Jetzt oder nie,« erwiderte Prudence.

Nun kam die Zeit des Hausgottesdienstes. Doch als die Familie sich dazu anschickte, bemerkte sie plötzlich, daß Prudence Mantel und Kapuze angelegt hatte und die Türklinke in der Hand hielt.

»Prudence, Prudence! Wohin gehst du?« riefen sie alle wie aus einem Munde. Als Prudence zur Tür hinausging, wandte sie sich nach ihnen um und winkte mit der Hand ein Lebewohl. Aber ihr Gesicht hatte sich so verändert, daß sie es kaum wiedererkannten: Sünde und böse Leidenschaft glühten unter seiner Anmut auf und bewirkten eine furchtbare Entstellung. Ein Lächeln glänzte in ihren Augen, wie in Triumph und Hohn über ihre Sorge und Überraschung.

»Tochter,« schrie John Inglefield zwischen Kummer und Zorn, »bleib hier und sei deines Vaters Segen, oder nimm seinen Fluch mit dir!«

Einen Augenblick zauderte Prudence und sah zurück in das Zimmer im Feuerschein, und ihr Gesicht trug fast den Ausdruck, als kämpfe sie mit einem Unhold, der die Macht hatte, sein Opfer selbst in den geheiligten Grenzen des väterlichen Herdes zu packen. Er trug den Sieg davon und Prudence verschwand in der Dunkelheit draußen. Als ihre Familie zur Tür eilte, sahen sie nichts; sie hörten nur das Rasseln von Rädern auf der gefrorenen Erde.

An diesem selben Abend war unter den geschminkten Schönheiten des Theaters einer Nachbarstadt eine, deren ausgelassene Lustigkeit unvereinbar schien mit irgendeiner Fähigkeit zu reiner Liebe und den Freuden und Leiden, die in ihr geheiligt werden. Und doch war das Prudence Inglefield. Ihr Besuch am Dankesfestkamin war nur die Verwirklichung eines jener wachen Träume, in denen die schuldige Seele manchmal zu ihrer Unschuld zurückfindet. Doch die Sünde wacht gut über ihre Sklaven. Sie hören ihre Stimme oft gerade in ihren heiligsten Augenblicken und müssen gehen, wohin sie ruft. Dieselbe dunkle Gewalt, die Prudence Inglefield von ihres Vaters Herd fortzog, – dieselbe im Grunde, wenn sie auch dann zu furchtbarer Notwendigkeit verdichtet ist – reißt eine schuldige Seele vom Himmelstor zurück, und ihre Strafe ist ewig wie ihre Sünde.


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