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Fünftes Buch

1

Es ist lange her.

Die Zeit steht nicht still, und der die weichen Flügelschläge ihres Wehens nicht achtet, auch nicht.

Und es gibt tief im Menschen Einsamkeiten, wie ferne Öden, darin der Mensch ziellos umirrt. Und die draußen sehen hin, und nennen ihn doch noch immer mit demselben Namen. Es gibt tief in ihm eine Welt der Trauer, wie in Schemengewändern gehen darin Rätsel um, ewig ist der Blick gebannt in dem Kommen und Verwehen derselben Düsterwesen, und nach außen blicken noch immer dieselben Augen mit einem Lächeln voll Güte und Einfalt, das wie bekannt deucht, und doch nur wie eine Maske eine ganze Welt Verwüstung und Trümmer verhüllt, wo kein goldenes Götterbild ragt, die Säulen zerborsten, die Tempelstufen umwuchert sind, und das Dach von Geiern umkreischt und den Stürmen aus den Tiefen der Sehnsucht offen.

Auch in Einhart war es so, baß die Geschehnisse und Dinge der weiten Erde lange nicht den schrillen Laut eigener, einsamer Stille, das Wehen und Jagen der Rätselgesichte, übertönen konnten.

Daheim war Einhart trotz allem immer ein süßes Wort. Auch daheim war jetzt verhallt, wie eine Saite, die gesprungen.

Herr Geheimrat Selle war nicht mehr. Die Schwestern hatten geschrieben. Aber ehe Einhart herzukommen konnte, war es mit dem letzten Atemhauche des Herrn Selle am Ende gewesen.

Nun hatte Einhart nur erst unter einigen Verwandten gestanden, die ihn ganz fremd dünkten: Männer der Praxis, einer ein Richter und einer ein Fabrikant, und einer ein Arzt, und einer ein Geistlicher. Und wie wunderlich! alle auch untereinander fremd. Keiner dem anderen als nur mit seinem Wort und gewohnter Höflichkeit eine flüchtige Minute durch Blick und Gebärde verbunden.

Nur die Frauen dieser Männer erkannte Einhart wieder. Sie waren alle Mütter geworden.

Die Männer alle sahen Einhart mit Bevorzugung an.

Auch Rosa, die außermaßen sanft war, rund und behaglich schien, streichelte Einhart.

Alle waren für sich und doch auch angesichts der Trauer liebevoll und mit leisen Tönen.

Einhart war in einer sonderlichen Entartung aller Gewohnheit. Der Kreis Männer und Frauen in dem Trauerhause, darin auch seine Jugendgefühle einst umgegangen, erschütterte sein Lebensgefühl, wie selten etwas. Einhart konnte so scheinen, als wenn unter all den trauergeschäftigen Menschen, Müttern und Vätern und den Kleinen, die längst jetzt unter ihnen heranwuchsen, und die alle in Dunkelkleidern herumstanden und -huschten, er allein ragte, wie ein dunkler, stummer Schmerz, der aus fremden Augen lächelte. Gar nicht anders war Einhart. So erlesen und schlank und gehalten. Und wenn er einen ansah, so scharf fassend mit Blick und Sinn er auch dastand.

Einhart war innerlich dem unruhigen Treiben um ihn völlig abgewendet.

Als der Tag der Beerdigung herangekommen, war Einhart nicht zum Weinen und Wehklagen, weder im Vaterhause am Sarge, noch am Grabe erschienen.

Der Mann Katharinas, der Geistlicher war, hatte eintönende, klagende Feier in dem Sterbezimmer begonnen. Katharina, die streng und fromm geworden, hatte Gesänge des Leides selbst zusammengesucht. Das Haus widerhallte von Wehmutsliedern. Die Tränen aller rannen. Und einer jeden dieser zerrissenen Seelen war unterdessen unbegreiflich geworden, daß Einhart nicht unter sie getreten war.

Auch dann nicht, wie man den Sarg aus dem Hause und weiter in den Gräbergarten hineingetragen.

Es war Herbst. Die braunen Blätter trieben sanft um die schwarzen Kleider und wehenden Flore. Goldene Fäden fingen sich überall. Die behaglichen Muttergestalten Katharinas, Emmas, Rosas und Johannas, eine jede sah sich voll Schmerz und doch heimlicher Verwunderung auch während der tönenden Worte, die schrill in die milchige Dunstluft des Herbstes und in die dunkelgrünen Zypressen am Grabe klangen, nach Einhart um.

Einhart war nicht zu entdecken, so daß man, wie man dann ohne den Toten heimgekommen war, ganz irdisch, mit kaum noch freundlichem Vergeben, ein wenig ungehalten redete.

Man wartete dann auch am späten Nachmittag unter den schwarzgekleideten Verwandten vergeblich auf den einsam fremdartigen Einhart.

Einhart stand noch immer jetzt draußen in Friedhofsnähe, als die Sonne schon tief hinabsank.

Die Luft schwamm in sanften Rubinfarben. Die Zypressen ragten längst seltsam schwarz.

Einhart hatte alle Schuld neu gefühlt, die der Einsame an denen begeht, die sich nach ihm sehnen. Etwas von dem Sündergefühl heißer Begierde, noch einmal zu der Seele des Toten zu kommen, hatte er empfunden, als er in seines Vaters Totengesicht gesehen. Etwas von der ganzen Klarheit, daß darin ihm, dem einzigen Sohne, viel Liebe ewig verborgen gewohnt, hatte ihn angefaßt mit unbegreiflicher Kraft.

Da war es gewesen, daß er plötzlich ungesehen hinausgewandert aus dem Trauergetümmel, und daß er in dem fernen Eichwalde gestanden, und nicht recht aus Netzen und Schleiern, die der Tote um ihn gesponnen, mit denen ihn der Tote mit sich zog, herausgekommen.

Und wie nun die Erde eine weite Herbsteinöde mit blanken Goldgespinsten über den Stoppeln dalag, darin mitten der Garten der ewigen Schläfer rosig umflossen dunkel ragte, da hatte Einhart sich endlich wie in sinnlosem Triebe herangemacht, eilig zur Grube, die jetzt ein Totengräber mit magerem, grauem Stoppelgesicht zuscharrte, hatte ihm, dem lächelnden Alten, selber ein wenig mit scharfem Augenglanz lächelnd, das Grabscheit aus der Hand genommen, sagend, daß er der Sohn des Toten wäre, hatte den Alten geheißen und mit einem Geldstücke bewegt, ferne zu gehen, und hatte mit eigener Hand Schaufel um Schaufel auf den Sarg zu werfen angefangen. Und als wenn er allein dem Toten der rückbleibende Hüter und Sorger wäre, ihn sanft und klar in die tiefe Sandhöhle zu betten, worein nicht Sonne noch Mond mehr scheint, hatte er die Erde über dem Sarge wachsen gesehen, und den Erdhügel ins Abendlicht getürmt.

Einhart stand dann lange. Die Schweißtropfen rannen ihm ums Auge. Keine Träne fiel. Die Stirn war glühend heiß. Der Blick eilig und innerlich. Einhart war kein feiner Herr jetzt. Er hatte den schwarzen Rock an den Zaun gehangen und stand in Hemdärmeln, wie ein Arbeitsmann auf das Grabscheit sich stützend.

Es war ganz einsam in dem Gräbergarten.

Auch der alte Gräbermann traute sich nicht heran.

Als Einhart endlich wieder die Kühle des Abends wehen gefühlt, war er in innerem Schauen achtlos fortgehastet über die verbleichenden Felder, gleich hin zum Bahnhof und zurück an seinen Ort.

Es gab eine Aufregung unter den Schwestern. Wie man Einhart gar nicht wiedergesehen, war man einig geworden, daß man es mit einem unheilbaren Sonderling zu tun hätte. Man war gelinde gesagt durchaus enttäuscht.

»Die wenigen Male mit uns! und bei einem solchen Anlaß!« hieß es, »und er benimmt sich so!«

Einhart fühlte dann zu Hause in seiner Arbeitsstätte wieder auch etwas Liebloses in seinem Handeln. Deshalb schrieb er an Rosa:

»Ich bin ein Einsiedler, geliebte Rosa. Und außerdem bin ich ein Mensch, der über gewisse Dinge im Leben nie hinwegkommt. Ich sehne mich immer nach dem innersten Sinn. Der Sinn ist ein Geschenk, der uns wird aus jeder Trauer, wie aus jeder Freude. Aber den Sinn hört nur der, der ganz einig lebt und hinhorcht. Was mir vorgesprochen wird, tönt mir nur im Ohr«, und ist mir wie ein Lärm, der mich stört im Erfassen.

Seid nicht böse! Ich hatte an Vater viel abzutragen. Wie wäre das noch möglich jetzt? Aber mit Tränen vor den Leuten erst gar nicht. Ich konnte nur einsam noch einmal fühlen, daß dort unter der Erde einer ruht, der ich selber bin, und für den ich sorgen mußte, selber mit eigener Hand, soweit hier unter uns noch für ihn zu tun möglich war.

Ihr seid auch desselben Blutes. Deshalb werde ich euch immer lieben müssen. Es ist ein uraltes Geheimnis, alt wie die Hügel, alt wie Steine. Ich glaube, das Blut liebt sich selbst. Wer kann sagen, wie alles zusammenhängt?

Ich fühlte unter euch, daß uns das Leben ganz und gar ferne gebracht. Nichts von dem Trachten eurer Seelen, das nicht bei mir verhallte und von mir bei euch. Und doch liebe ich euch, als wäret ihr ein Bilderbuch meines Lebens, und Mutters und Vaters. Ich liebe euch sehr. Ich liebe euch wie ein Kind. Und ich werde euch, wenn ich ein ganz Alter bin, noch lieben, als wäre ich ein Kind.«

Das war jetzt Einharts Art und Einsamkeit. Und er arbeitete daheim auch in den Jahren in derselben Art, wie er an der Grabhöhle seines toten Vaters Schaufel um Schaufel warf, versunken in den Sinn seines Tuns. Und er atmete und schaute und ließ die Zeit ungehört gehen Jahre um Jahre.


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