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Sechzehntes Kapitel

Castelli wurde nach Rom zurückbeordert. Er war ein Galilei-Schüler, am Bo erzogen, man traute ihm nicht. Der Großherzog von Toskana war der heiligen Inquisition gegenüber tatsächlich machtlos. Man mußte also einen neuen Mann suchen, der noch zu Lebzeiten Galileis dessen nautische Entdeckung auszuwerten bereit war. Die Wahl fiel auf einen jungen Florentiner Gelehrten, Vincenzo Renieri, der beim Santo Offizio sehr gut angeschrieben war. Er durfte ungestört und ohne Zeugen mit dem Greis verhandeln. Nun fühlte sich der Blinde nicht mehr allein. Es kam sogar noch mehr Besuch: eines Tages trat ein ängstlicher Jemand vor ihn hin und fragte mit bebender, kindlicher Stimme:

»Euer Gnaden … Euer Gnaden …«

Weiter kam er nicht. Der gelehrte Greis ermunterte ihn.

»So rede doch, mein Sohn, ich fresse dich nicht. Wer bist du und was willst du? Nenne mir deinen Namen. Den wirst du doch noch wissen, wie?«

»Jawohl. Ich heiße Vincenzo Viviani.«

»Also das hätten wir. Und was wünschest du?«

»Ich möchte Euer Schüler werden.«

»Was?«

»Laßt mich doch hierbleiben, Euer Gnaden! Ich will gerne im Holzschuppen schlafen, und ich esse auch sehr wenig. Aber ich will Euer Schüler werden! Von niemandem anderen will ich Mathematik lernen als von Euch. Ich möchte Euer Famulus werden.«

»Wie alt bist du denn?«

»Siebzehn.«

»Wer ist dein Vater? Wo hast du bisher gelernt? Erzähle mir einmal etwas von dir.«

Der junge Mensch erzählte, daß er aus einer florentinischen Patrizierfamilie stamme, sein Vater jedoch verarmt sei. Bis jetzt habe er bei einem Franziskanermönch gelernt, doch habe ihm dieser jetzt gesagt, er könne ihm nichts mehr beibringen, er solle zu Galilei gehen. Nun wäre er also hier und bäte mit gefalteten Händen, ihn als Famulus aufzunehmen. Seine Eltern seien einverstanden. Er könne auch gleich hierbleiben, sein Bündel habe er mitgebracht, es läge draußen in der Küche. Der begeisterte Jüngling rührte Galilei. Er versuchte ihn zu examinieren. Und schon nach den ersten Fragen sah er, daß er es mit einem gescheiten Burschen von klarem Verstande und leichter Auffassungsgabe zu tun hatte. Seine Hauptstärke war die Geometrie. Und davon wußte er schon so viel, wie nicht jeder Sachverständige des heiligen Offizio. Galilei rief Porzia herein und teilte ihr mit, daß der junge Mensch von heute an hier wohnen werde. Man solle ihm im Vorzimmer ein Bett aufstellen, und wenn er hungrig sei, solle er zu essen erhalten. Der Junge war aber nicht hungrig, er wollte sofort mit dem Lernen beginnen. Er dachte, ein so großer und berühmter Gelehrter erwache beim ersten Hahnenschrei, beginne sofort zu lehren, unterrichte bis zum Sonnenuntergang die ganze Welt und lege sich dann mit der Sonne zur Ruhe.

Der große Gelehrte hatte seine Gedanken augenblicklich aber ganz wo anders. Er fühlte deutlich, daß ihm nicht mehr viel Zeit übrigblieb. Seine Hoffnung, als freier Mann zu sterben, schwand immer mehr. Wie gerne hätte er für die kurze Zeit seines sich dem Ende zuneigenden Lebens eine Erleichterung gehabt! Es wäre so gut, ab und zu in den Dom gehen zu können, einer Messe beizuwohnen, oder das Grab seiner Eltern in der Kirche Santa Croce zu besuchen. Die Verwandten Sestilias wohnten in der Nähe des Prato, wie sehnte er sich bei großer Hitze für einige Tage dorthinaus! Aus solchen Kleinigkeiten bestanden seine Wünsche. Da faßte er eines Tages einen kühnen Entschluß und wandte sich an den Papst, seinen einstigen Freund, der ihm eine Ode gewidmet, der ihn in Rom mit einer Umarmung empfangen und Briefe voller Anerkennung und Begeisterung über seine Person an den Großherzog geschrieben hatte. Auf die alte Freundschaft spielte er in diesem Briefe nicht an. Er schrieb nur von seinem traurigen Alter, von seiner Blindheit, von seinem von hunderterlei Krankheiten heimgesuchten, gebrechlichen. Körper. Er bat um Gnade für die ihm noch verbleibende kurze Zeit, um ein wenig Bewegungsfreiheit, um eine ganz bescheidene Erleichterung. Er schrieb auch, daß dies wahrscheinlich die letzte Bitte seines dahinsiechenden Lebens sei.

Er hatte wohl damit gerechnet, daß man das Gesuch ablehnen, nicht aber, daß die Ablehnung so hart ausfallen würde. Pater Fanano, der Oberinquisitor von Florenz, teilte ihm mit, daß man nunmehr von seinen ewigen Klagen genug habe. Er erhalte nicht nur keinerlei Vergünstigungen mehr, sondern man wolle seine Gefangenschaft von jetzt an strenger halten: er dürfe die Kirche des Klosters nicht betreten, wenn sich dort Gläubige aufhielten. Habe er die Absicht, dort zu verweilen, so sei dies der Oberin rechtzeitig mitzuteilen, die dann dafür zu sorgen habe, daß die Kirche leer sei.

Galilei beugte sein Haupt und nahm diesen Befehl zur Kenntnis. Er begriff endlich, daß er in diesem Leben auf nichts mehr hoffen könne. Er suchte Trost bei seinem Sohn, vergeblich, Nencio fühlte nicht so mit ihm, wie er es gebraucht hätte.

» Piace cosi a Dio«, meinte Galilei achselzuckend, » deve piacere cosi ancora a noi.«

Das wurde sein geflügeltes Wort am Abend seines Lebens. »Gefällt es Gott so, muß es auch uns so gefallen.« Er gebrauchte es häufig; es bot sich nur zu oft Gelegenheit dazu. Sein Körper strebte unaufhaltsam dem Zerfall entgegen. Vier oder fünf Krankheiten überfielen ihn zu gleicher Zeit, und wenn eine vorüber war, kamen zwei neue. Sein Geist blieb aber klar. Es war beinahe, als ob das Schicksal seinen Körper dem langsamen Siechtum preisgegeben habe, nur um seinen Geist makellos zu erhalten. Ja, sogar in den Stunden des Leidens. Wenn er über seinen Geist nachdachte, so konnte er feststellen, daß dessen Schärfe seit seiner Jugend in nichts nachgelassen hatte.

Und bald bot sich Gelegenheit, seinen Erfindergeist noch einmal, zum letzten Male, spielen zu lasten. Bei der Berechnung der geographischen Längen mit Hilfe der Jupitertrabanten war eine Schwierigkeit aufgetaucht. Sie bestand in dem Mangel an einem präzisen Instrument zur Messung der Zeit. Wie ein Posaunenton rüttelte es ihn auf, daß er noch etwas erfinden müsse. Und er geriet in Feuer, wie ein Schlachtroß beim Trompetensignal. An Stelle der Sand- und Sonnenuhr und anderer derartiger Instrumente mußte man eine neuartige Uhr erfinden! Der blinde Greis machte sich daran, sie zu erfinden. Er ging an diese Aufgabe genau so heran wie einst: gespannt konzentrierte er alle seine Gedanken auf das eine Ziel und schaltete alles andere aus. Nur wenige Tage währten die Überlegungen, dann rief er seinen Famulus an seine Seite und diktierte ihm eine kleine Studie, in der er klarlegte, daß eine neuartige Uhr auf dem Prinzip des Pendels beruhen müsse. Die neue Uhr der Menschheit müsse man also Pendeluhr nennen. Nachdem er diese Abhandlung diktiert hatte, diktierte er anschließend noch eine Zeichnung. Das ging nicht ganz so leicht. Nur ganz langsam kam die Zeichnung zustande. Dann mußte schnell jemand in die Stadt, um die Bestandteile bei einem Feinmechaniker anfertigen zu lassen. Das war erst eine langwierige Arbeit! Der Feinmechaniker mußte Teile für ein Instrument anfertigen, die er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte. Wenn auch erst nach vielen Wochen, so wurden die Teile aber dennoch fertig. Der blinde Greis legte und schraubte sie mit tastenden Fingern zusammen. Lange wollte es nicht gelingen, er mußte die Versuche immer von neuem wiederholen, schließlich aber gelang es doch. Das Instrument war fertig. Ein langes Pendel hing daran. Dieses Pendel wurde von einem kleinen Hammer bewegt, der in die Zähne eines Zahnrades griff. Dieses Rad setzte durch Übertragungen andere Räder in Bewegung, und diese trieben den Zeiger auf dem Zifferblatt im Kreise.

Und der es erfunden hatte, war ein blinder Greis! Er konnte seine Erfindung nicht sehen. Er setzte das Pendel in Bewegung, und eine ganze Zeitlang ging es mit lautem Ticktack hin und her, dann blieb es wieder stehen. Er setzte es von neuem in Bewegung, ticktack … ticktack … dann wieder Ruhe.

»Es ist gut«, meinte der Gelehrte, »nur das wollte ich erreichen.«

»Aber was ist denn eine Uhr wert, die man wieder vorwärtsstoßen muß?« erkundigte sich Viviani.

»Ich wollte nur das Prinzip der Pendeluhr erfinden, damit sie ein Instrument für den täglichen Gebrauch werde. Hierzu ist nun noch ein Bestandteil erforderlich: irgendeine Kraft, die dieses Pendel nicht zur Ruhe kommen läßt. Aber das mag ein anderer erfinden. Ich habe meine Aufgabe erfüllt.«

Ruhig und friedlich lebte er in der Gesellschaft Vivianis, den er täglich unterrichtete, dem er täglich neue Aufgaben zu lösen gab und den er logisch denken lehrte. Es schien zweifelsfrei, daß aus dem jungen Menschen später ein berühmter Gelehrter werden würde. Ein Gelehrter, der nicht nur seiner Zeit etwas bedeuten, sondern in die Geschichte der Geometrie eingehen würde. Und damit die allerletzten Tage seines Lebens nicht ganz so einsam verlaufen sollten, zog zu seiner größten Freude auch noch der Physiker Torricelli zu ihm. Bisher hatte er in Rom gelebt, neben seinem Professor Castelli. Da es aber Castelli nicht mehr vergönnt war, seinen Meister zu sehen, wenigstens nicht ohne Zeugen, schickte er dem gelehrten Greis seinen besten Schüler: der möge ihn unterhalten und zerstreuen, ihm bei der Abfassung seiner wissenschaftlichen Briefe behilflich sein und ihn von seinen Grübeleien ablenken.

Torricelli hatte als Gelehrter schon einen hohen Ruf. Er war über dreißig Jahre alt, hatte bereits einige eigene Entdeckungen gemacht und mehrere Schriften veröffentlicht. Auch für ihn war es eine große Freude, neben dem ersten Naturforscher der Welt leben zu können. Er erhielt gleichfalls ein Zimmer in der Villa in Arcetri eingerichtet. Diese Villa wurde eine regelrechte kleine Akademie: der siebenundsiebzigjährige Astronom, der einunddreißigjährige Physiker und der achtzehnjährige Geometriker. Galilei wurde. wieder lebensfroh und ruhiger. Den ganzen Tag konnte er lehren und disputieren. Der kleine Viviani beschäftigte sich damit, daß er zunächst alle geometrischen Systeme, die sich während der Jahrhunderte herausgebildet hatten, beiseite warf, bis auf Euklid zurückging, und von dort aus wieder von neuem anfing. Er war erst achtzehn Jahre alt und stand im Begriff ein neues geometrisches System aufzustellen. Torricelli, der reifere Physiker, hatte sich eine nicht minder große Aufgabe gestellt: das Gewicht der Luft zu messen. Im Prinzip lag der Weg, auf dem er zum Ziele gelangen wollte, schon vor ihm. Er hatte sich mit dem greisen Gelehrten viel darüber unterhalten, daß der Wasserstand der Zisterne im großherzoglichen Garten der Druckkraft des Wassers nicht entspräche. Das Niveau des Wassers sei viel zu niedrig. Ob eine entgegengesetzt wirkende Kraft die Wassermasse zurückdränge? Das konnte dann nichts anderes sein, als das Gewicht der Luftmasse, die über der Wasserfläche der Zisterne lastete. Man müßte also das Gewicht der Luft auf irgendeine Weise, in einer mit Flüssigkeit gefüllten Röhre messen können.

»Ihr werdet es herausfinden«, sagte Galilei, »ich sehe, ihr werdet es erfinden! Eine einzige Idee fehlt noch, ja nur ein einziger Funke einer Idee. Eine wunderschöne Aufgabe ist die Messung des Gewichtes der Luft, fast beneide ich Euch darum. Nein, nein, habt keine Angst, ich zerbreche mir den Kopf nicht darüber. Ich werde in diesem Leben nichts mehr erfinden.«

Die Post der drei Gelehrten wurde immer umfangreicher. Jeden Brief lasen sie einander laut vor und besprachen die Neuigkeiten dann lebhaft. Im Augenblick sprachen sie viel von einem Franzosen namens Descartes, der sich mit Gassendi in einen großen wissenschaftlichen Kampf eingelassen hatte.

»Ein eigenartiger Philosoph!« sagte Torricelli. »Er hat einen sehr merkwürdigen Spruch: ›Ich denke, also bin ich.‹ Cogito, ergo sum.«

»Das Zitat ist nicht sein Eigentum«, erwiderte der Greis, »sondern es gehört meinem Freund Campanella, der erst kürzlich im Exil starb. Er formulierte das wie folgt: › Cognoscere est esse.‹«

»Nicht deswegen ist dieser Mensch so groß«, warf Viviani dazwischen, »sondern weil er die Lehrsätze der Geometrie auf algebraische Formeln zurückzuführen vermag. Für jede krumme Linie, jede Kurve hat er eine algebraische Formel. Wenn er diese Formel hinschreibt, kann man danach sofort die Kurve aufzeichnen. Das ist einzigartig! Das hat er erfunden! Die Zeit kommt noch einmal, wo wir alles algebraisch ausdrücken können. Die kompliziertesten Geschehnisse. Das Leben selbst.«

»Warum nicht?« entgegnete Galilei. »Ich hatte einen Bekannten, einen sogenannten »Luchs‹, von der Akademie der ›Luchse‹, als diese durch den Tod des Herzogs Cesi noch nicht zerfallen war. Er hieß Giambattista Porta und stammte aus Neapel. Der dachte immer nur darüber nach, welche Wunder die Menschheit noch erfinden würde. Er behauptete zum Beispiel, daß es einmal eine Zeit geben würde, wo zwei Menschen in einer Entfernung von tausend Meilen miteinander sprechen werden und einer die Stimme des anderen wird hören können. Denn wenn man mit Hilfe von Spiegeln den Lichtstrahl auf die kompliziertesten Wege leiten könne, warum solle man dann einst nicht auch einen Tonspiegel erfinden können? Er schrieb darüber auch ausführlich in seinem Buche. Es trägt den Titel: › Magia Naturalis‹. Ein jeder lachte ihn damals aus. Ich nicht. Für das menschliche Gehirn gibt es nichts Unmögliches.«

So plauderten sie von früh bis spät. Torricelli war an einem Oktobertag zu Galilei gezogen. Der folgende Monat war einer der schönsten im Leben Galileo Galileis, wenn er auch blind war und dem Verfall entgegenschritt. Frühmorgens, wenn er erwachte, freute er sich auf den bevorstehenden Tag. Wenn er sich abends niederlegte, dachte er daran, daß er nach der quälenden Schlaflosigkeit am anderen Tage mit seinen beiden lieben Hausgenossen einen schönen Tag erleben würde.

Eines Tages im November fühlte er sich mit einem Male ohne jeden Übergang schlecht. Er bekam hohes Fieber. Mit kurzem Atem keuchend lag er in seinem Bett. Da wußte er, daß die große Zeit gekommen war.


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