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Vierzehntes Kapitel

Monatelang dauerte es, bis sich der Einsiedler von diesem Schlage erholt hatte. Als er endlich soweit war, daß er sich wieder an die Arbeit setzen konnte, wußte er, daß er in den wenigen Jahren, die ihm von seinem Leben noch blieben, sich stets als Krüppel, als halber Mensch fühlen würde. Seine beiden Kinder kümmerten sich nicht viel um ihn. Suor Angela machte sich nicht viel aus den Besuchen ihres Vaters, sie wußte nicht, was sie mit ihm reden sollte, und machte kein Hehl daraus, daß sie sich in seiner Gesellschaft langweilte. So ging Galilei zwar ins Kloster, aber nach wie vor nur zu Celeste: er saß in der kleinen Kirche, in der die Nonnen beigesetzt wurden. Dort war auch der frische Gedenkstein für Celeste in die Wand eingelassen. Nencio kümmerte sich ebenfalls nicht viel um seinen Vater. Seine Stellung hatte er tatsächlich verloren, und nur mit größter Mühe und Not war es gelungen, ihn anderweitig unterzubringen: er kam als Sekretär zu dem Vikar von San Giovanni. Während dieser Zeit besuchte er seinen Vater allerdings oft, brachte sogar die beiden Enkelkinder mit und bewog auch Sestilia, den langen Weg nach Arcetri zu machen. Das währte aber nur so lange, bis Galilei seinem Drängen nachgegeben und das zum Hauskauf erforderliche Geld bewilligt hatte. Nencio kaufte das Haus und ließ nun die beiden Gebäude miteinander verbinden. Er wohnte bequem und vornehm, bekam dann auch eine Stellung in Florenz und kümmerte sich von da an überhaupt nicht mehr um seinen Vater.

Der aber sehnte sich unendlich danach, geliebt zu werden. Wenigstens den tausendsten Teil jener tiefen Liebe wollte er wieder haben, die er durch Celeste verloren hatte. Er fühlte sich so einsam, daß er sich vor Angela und Nencio fast erniedrigte, so warb er um ihre Zuneigung. Es konnte ihm aber nicht entgehen, daß er ihnen lästig war. Sie wollten ihr eigenes Leben führen. Von ihm wußten sie, daß er versorgt war, und so war ihr Gewissen ruhig.

Er konnte also nichts Besseres tun als arbeiten. Er vollendete sein schönes Buch. Und es war wirklich das geworden, was er hatte schaffen wollen: ein in Felsen gehauener neuer Weg für alle, die nach ihm kommen würden. Eine einheitliche, neue Anschauung der physikalischen Welt. Nur für die Gelehrten schrieb er dieses Buch, nicht für die große Menge. Bislang hatte er sich in seinen Schriften der italienischen Sprache bedient, die er über alles liebte. Außerdem wußte er sehr gut, daß seine Zeit keinen besseren Schriftsteller in dieser Sprache besaß als ihn. Und dann hatte es auch seiner bisherigen Lebensauffassung entsprochen, die wissenschaftlichen Fragen dem Dunstkreis des Kirchenlateins zu entziehen, um sie jedem vernünftig denkenden Menschen zugänglich zu machen. Nun aber war er auch in der Wissenschaft ein Einsiedler geworden. Er wollte nur zu wenigen Auserwählten sprechen. In dem neuen Buch wechselten die lateinische und italienische Sprache miteinander ab. Trotz dieser zweierlei Zungen war aber die Arbeit wie aus einem Guß. Und alles das, was er hier behauptete, waren Dinge, die er als erster auf dieser Welt aussprach.

Wieder führte er Sagredo und Salviati im Gespräch vor. Im Arsenal zu Venedig unterhalten sie sich über die Materie der Maschinen. Die Gestalt des Simplicio ließ er bald verschwinden; der Papst wäre imstande zu glauben, der Greis wolle ihn mit verstockter Kühnheit weiter verspotten. Aber Sagredo und Salviati bleiben und sprechen darüber, wie sonderbar es doch sei, daß kleinere Maschinen besser arbeiten als die aus dem gleichen Material und nach demselben Plan erbauten Maschinen größerer Dimensionen. Das allein war schon eine Frage, die noch nie jemand zur Sprache gebracht hatte. Er hielt sich bei dieser Frage jedoch nicht allzulange auf, er hatte ja noch so viel zu sagen. Die beiden Sprecher kommen auf die Haltbarkeit der Materie zu reden. In welchem Maße eine Säule, eine Stange, ein Balken oder ein Strick haltbar seien. Was überhaupt die Materie widerstandsfähig machte. Warum ein Tau, das einen Marmorblock hebe, nicht reiße. Offenbar hängen die Fasern untereinander so zusammen, daß das Tau auch dann noch hält, wenn einzelne dieser Fasern reißen. Wie ist dann aber dieser Widerstand bei Stein und Eisen zu erklären, die keine Fasern haben? Und dann: wie verhält sich die Materie, die aus Tausenden und aber Tausenden von Atomen zusammengesetzt ist? Wie schmilzt sie zum Beispiel? Durch Atombewegungen von außerordentlicher Geschwindigkeit, die für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar sind. Sagredo und Salviati kommen dann auf die Geschwindigkeit des Lichtes zu sprechen. Seit seinem Aufenthalt in Siena hatte Galilei ununterbrochen darüber nachgegrübelt, wie man beweisen könnte, daß das Licht auf seiner Bahn eine gewisse Zeit brauche. Endlich löste er das Problem durch einen höchst einfachen Versuch. Erforderlich sind dazu drei Personen und eine weite Fläche: zwei haben jeder eine Lampe in der Hand, der dritte sieht ihnen zu. Es wird vereinbart, daß der eine die Lampe löscht und der andere, sobald er das sieht, dasselbe mit seiner Lampe tut. Die beiden Männer stellen sich zuerst in einer Entfernung von einer Meile auf, dann in einer Entfernung von fünf Meilen, schließlich von zwanzig Meilen. Der Zuschauer entdeckt, daß das Auslöschen der zweiten Lampe um so später erfolgt, je weiter die beiden anderen Personen voneinander entfernt sind. Das Licht braucht also eine gewisse Zeit, um einen gewissen Weg zurückzulegen, es bewegt sich demnach mit einer Geschwindigkeit, die sich messen läßt. Das hat er als erster entdeckt! Dann kam der Ton an die Reihe. Das schier unübersehbare Gebiet der Akustik. Lauter neue Feststellungen. Weiter – der freie Fall, das spezifische Gewicht. Eine wunderbare Erkenntnis und Entdeckung nach der anderen. Häufig kam er dabei dem Kopernikus sehr nahe. Aber der Greis zuckte nicht zurück. Nur die Macht seiner Feinde fürchtete er, nicht deren Geist. Nur er und einige wenige seiner Anhänger wußten, daß dieses Buch in seinen Grundlagen ebenso auf der Idee der Bewegung der Erde beruhte, wie sich die Finger der zum Beten gefalteten Hände ineinander legen. Der Betende begreift die Bewegung der Gelenke, auch wenn er nur eine Hand sieht.

Das Buch wurde fertig. Der Verfasser dachte lange nach, wem er es widmen sollte. Er wußte niemanden. Schließlich kam ihm der unberechenbare Zufall zu Hilfe.

Zwei seiner einstigen Schüler tauchten aus der Vergangenheit auf. Der eine war nur kurze Zeit sein Schüler gewesen, aber er erinnerte sich seiner noch recht gut. Er hieß Nicolo Peiresc. Während der letzten dreißig Jahre hatte er nichts von sich hören lassen, jetzt aber meldete er sich wieder, und zwar aus einem sehr eigenartigen Anlaß. Campanella, der unbeständige, ruhelose Geist, hatte sich auch mit Papst Urban überworfen und mußte aus Rom flüchten. Er floh nach Frankreich zu dem berühmtesten französischen Mathematiker Gassendi, der in Aix wohnte. Gassendi war zwar gleichfalls Geistlicher, er bekleidete die Würde eines Propstes von Digne, aber er war trotzdem noch überzeugter Kopernikaner. Die beiden sprachen oft über Galilei und zu ihnen gesellte sich als dritter Peiresc, Rat im Parlament der Provence, ein vielbelesener und einflußreicher Staatsmann. Von Campanella erfuhr er, wie das Santo Offizio mit seinem weltberühmten Lehrer verfahren war, und er beschloß daraufhin, dem Greis zu helfen. Er schrieb nach Arcetri, brachte sich bei ihm in Erinnerung und erbot sich, seinen politischen Einfluß für ihn geltend zu machen. Gleichzeitig richtete er einen Brief nach dem anderen an den jüngeren Bruder des Papstes, den Kardinal Barberini. Von jedem seiner Briefe sandte er gleichzeitig eine Abschrift an Galilei. Er führte eine sehr offene Sprache. So sagte er unter anderem:

 

»– Wahrlich, man wird ein solches Vorgehen sehr hart finden, und zwar die Nachwelt noch weit mehr als die Gegenwart, in welcher jedermann, wie es scheint, nur Sinn für den eigenen Nutzen hat. Ja, es wird geradezu einen Flecken auf den Glanz und den Ruhm des Pontifikats Urbans VIII. werfen, wenn sich Eure Eminenz nicht entschließen, sich dieser Sache ernsthaft anzunehmen …«

 

In einem anderen Briefe sagte er:

»– Mein Eifer entspringt ebensosehr der Liebe zu dem ehrwürdigen, berühmten Greis Galilei als der Besorgnis um die Ehre und den guten Namen des gegenwärtigen Pontifikats, da es, wenn dieses strenge Verfahren gegen Galilei fortgesetzt wird, leicht geschehen könnte, daß die Nachwelt sein Schicksal mit dem des unschuldig verfolgten Sokrates vergleichen würde –«

 

Peiresc war katholisch, aber kühn und unabhängig. Seine Briefe, die bis an die Grenze des Erlaubten gingen, blieben jedoch vorerst noch ohne Wirkung.

Der andere Schüler war der Graf Noailles, der einstige, immer lustige Student, der beim Abendessen im großen Hause in Padua zur Rechten Galileis gesessen hatte. Auch er. war jetzt im besten Mannesalter: der Kardinal Richelieu hatte ihn als Nachfolger des nach Venedig versetzten Créqui als Gesandten nach Rom geschickt. Auch der Graf Noailles wandte sich an seinen alten Professor mit einem freundlichen Brief. Als französischer Gesandter konnte er sich bei dem Papst für Galilei einsetzen wie kein anderer. Was keiner wagte, tat er: er sprach mit dem Papst über die Simplicio-Angelegenheit. Er sagte ganz freimütig, daß in Rom das Gerücht umgehe, in der Gestalt Simplicios sei der Papst dargestellt. Das sei aber ganz unmöglich! Er bewies dem Papst eindringlich, wie töricht es sei, dem Autor derartiges zu unterstellen, da er ja keinerlei Grund gehabt habe, den Papst zu verspotten, sondern im Gegenteil alle Ursache, ihm zu Gefallen zu sein. Am Ende des Gespräches erklärte der Papst, daß er nun überzeugt sei. Er habe Galilei stets hochgeschätzt und das tue er auch jetzt noch. Die Lehre von der neuen Weltordnung bedeute aber eine große Gefahr für die Kirche und deshalb könne und dürfe man sie nicht dulden. Trotz alledem gab der Graf Noailles die Sache nicht auf. Er wurde der Verbündete Niccolinis und trat bei jeder Gelegenheit so begeistert und selbstlos für Galilei ein, daß dieser beschloß, ihm sein Buch zu widmen. In der Widmung betonte er besonders, »welch wohltuendes Gefühl es für ihn sei, sich unter dem Schutze eines vornehmen Ausländers zu wissen«. Damit bedeutete er gleichzeitig dem Großherzog von Toskana, daß er als sein Untertan von seinem Schutze nur sehr wenig halten könne.

Das Buch war fertig, es fehlte nur noch ein Verleger. Ursprünglich hatte er den Gedanken erwogen, es in Wien erscheinen zu lassen. Er beabsichtigte, an Kaiser Ferdinand zu schreiben, den er in Florenz noch als Thronfolger kennengelernt hatte. Er fragte aber erst bei seinen Bekannten in Wien an, welche Aussichten für ihn bestünden. Und sein einstiger Schüler Pieroni schrieb ihm, er möge von diesem Vorhaben absehen. Am Wiener Hofe seien die Jesuiten die Allmächtigen und hätten auch in jeder literarischen Frage das letzte Wort. Dazu käme noch, daß sich in unmittelbarer Umgebung des Kaisers auch der Pater Scheiner aus Ingolstadt befände, der nach Wien übergesiedelt sei.

Diese Möglichkeit schied also aus. Dann dachte er, sich in Verbindung mit den berühmten Buchdruckern Elzevier in Holland zu setzen. Der eine der Brüder hielt sich gerade studienhalber in Venedig auf. Galilei schrieb deshalb an Micanzio, den einstigen Sekretär Fra Paolos, und bat ihn zu vermitteln. Aber auch daraus wurde nichts. Rom schied von vornherein aus, dort würde wohl schwerlich jemand den Mut finden, sein Buch zu verlegen. Auch von der Zensur hatte er nichts zu hoffen. Der jetzige Zensor hatte sicherlich noch nicht vergessen, daß Papst Urban seinen Vorgänger, den Pater Riccardi, Galileis wegen seines Postens enthoben hatte. Und da auch der Zensor in Florenz bestraft worden war, so hatte er auch in seiner Vaterstadt nichts zu erwarten. Das Buch war fertig, und er stand da wie ein unbekannter Anfänger, von dem niemand etwas wissen will.

Zu dieser Zeit besuchte ihn der Bischof Piccolomini. Auch jetzt redete er zu dem Freunde in seiner unbekümmerten und selbstsicheren Art. Und zwar von Dingen, die sich Galilei nie hätte träumen lassen.

»Euer größter Fehler war es, daß Ihr Euch nicht mit einem geschickten Rechtsberater der Kirche in Verbindung gesetzt habt. Ihr seid zu Unrecht verurteilt worden! Das Kardinalkollegium hätte Euch gar nicht verurteilen dürfen.«

»Wieso?«

»Warum hat man Euch verurteilt? Daß die kopernikanische Lehre der Heiligen Schrift widerspräche, hat die Kirche nie behauptet. Unterbrecht mich nicht! Die Kirche hat nie etwas dergleichen verlautbart. Die sechzehn Kardinäle, also das Kollegium, konnten es damals wohl erklären, nicht aber die Kirche. Papst Paul hat nie eine derartige Erklärung unterzeichnet, und auch kein Konzil und keine Synode hat damals verkündet, daß Kopernikus im Gegensatz zur Heiligen Schrift stehe. Ihr habt Euch also der Kirche niemals widersetzt. Deswegen hätte man Euch nicht verurteilen dürfen. Man hätte Euch verurteilen können, wenn Ihr Euch dem Gebote des Santo Offizio widersetzt hättet, wenn Ihr Euer Buch dem Santo Offizio nicht vorgelegt hättet. Die Druckerlaubnis der Zensur hattet Ihr aber erhalten, somit fiel die gesamte Verantwortung einzig der Zensur zur Last und das Santo Offizio hätte also nur sich selbst verurteilen können. Wie gesagt, dieses Urteil ist de jure falsch, mithin ist auch der Schwur, den Ihr abgelegt habt, nichtig. Ihr könnt also Euer Gewissen beruhigen. Ich habe das in Siena einigen von meinen Bekannten klarzumachen versucht, und deswegen hat man mich angezeigt.«

»Und was ist geschehen? Habt Ihr keine Unannehmlichkeiten gehabt, Monsignore?«

»Nein. Ich habe es geleugnet. Das war das einfachste. Aber ich will Euch noch etwas sagen. Das Urteil ist schon deswegen nicht gültig, weil es schwere Formfehler aufweist. Von zehn Kardinälen haben drei nicht unterzeichnet.«

Erstarrt blickte Galilei den Bischof an. Er erhob sich sofort, ging zu seinem Schreibtisch und suchte das Urteil hervor.

»Gebt es einmal her«, rief der Bischof, »seht Ihr, hier! Ich habe mir das Urteil ganz genau angesehen. Es beginnt mit einer Aufzählung sämtlicher Richter. ›Wir Caspare Borgia …‹ und so weiter, insgesamt zehn Kardinäle. Jetzt sehen wir uns mal den Schluß an, zählt nach, wie viele unterschrieben haben? Nun? Sieben! Und wer hat nicht unterschrieben? Die Wichtigsten. Es fehlen die Unterschriften Borgias, Zacchias und Francesco Barberinis, des päpstlichen Neffen. Ich kenne alle drei. Sie sind kluge und anständige Menschen. Die stärksten Stützen des Papsttums. Offenbar haben sie ihre Unterschrift mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können. Sie haben dem Papst die Stirn geboten. Von Francesco will das noch gar nicht einmal etwas besagen, er ist der vielgeliebte Neffe, der sich alles erlauben kann. Er geht ja auch nie zu einer Inquisitionssitzung, sie langweile ihn, sagt er. Ein Wunder, daß er an Eurem Prozesse teilgenommen hat. Auch Borgia kann leicht reden. Abgesehen davon, daß er Kardinal ist, ist er zugleich Vizekönig von Neapel. Aber Zacchia! Wißt Ihr denn, was das bedeutet? Eine Unterschrift zu verweigern, die der Papst Urban befohlen hat? Kurz und gut also, ein Teil der Richter hat das Urteil nicht unterschrieben.«

»Aber dann …«

»Dann ist es ungültig! Das sage ich ja. Und was bedeutet es, daß es ungültig ist? Ich versichere Euch, daß Euch der Scheiterhaufen gewiß ist, wenn Ihr jetzt Lärm schlagt. Ich sage Euch das alles nur um Eures Gewissens willen, weil ich in Siena gesehen habe, was Ihr Euch für Selbstvorwürfe sowohl als Gelehrter als auch als Katholik gemacht habt. Soll ich meinen kirchenrechtlichen Vortrag fortsetzen? Kopernikus steht auch heute noch nicht im Gegensatz zur Kirche. Papst Urban hat weder in einer päpstlichen Bulle Stellung dagegen genommen, noch hat ein Konzil Kopernikus verdammt. Kopernikus steht nur zum Santo Offizio im Gegensatz. Ihr habt also den Mund zu halten, aber nur aus Angst. In Eurer tiefsten Seele bleibt Ihr der beste Katholik, auch wenn Ihr weiter an dem festhaltet, was Ihr bis heute geglaubt habt. Das ist meine Auffassung. Aber fragt nun nicht etwa einen anderen Kirchenrechtler noch um Rat; denn sonst zeigt man Euch an.«

Dann begann der Bischof in seiner weltmännischen Art von anderen Dingen zu sprechen. Er erzählte von seinem Vetter, der nach der Ermordung Wallensteins in der Tat kaiserlicher Generalissimus geworden war. Jener kleine Junge, der einstmals in der Villa der Medicis hin und her tollte, war jetzt einer der berühmtesten Heerführer Europas. Aber Galilei hatte dafür jetzt zu wenig Sinn. Die juristische Auslegung seines Urteils, wie er sie von diesem Fachmann gehört hatte, bedeutete für seine Seele eine unsagbare Erleichterung. Im tiefsten Winkel seines Herzens hatte er sich immer für einen gläubigen Christen und guten Katholiken gehalten. Die Sünden gegen die Kirche hatten seine Seele wie eine schwere Last bedrückt. Nun wurde die Seele mit einem Male frei und beschwingt. Plötzlich sah er die Angelegenheit mit ganz anderen Augen an. Die Buchstaben und Paragraphen glitten ab von seinem Gewissen, und nur der Kern blieb, nur das Wesentliche: er war ein aufrechter Christ geblieben, er hatte zum Ruhme Gottes immer nur das verkündet, was er für wahr hielt. Das aber konnte keine Sünde sein. Die Sünde fing erst an, als er unter Eid zu lügen begann. Die Formulierung des Bischofs Piccolomini, daß der unrechtmäßige Urteilsspruch eines Gerichtes ohne jegliche Rechtsgrundlage sein Gewissen nicht belasten könne, kam ihm sehr gelegen. Ein inneres Gefühl sagte ihm zwar, daß diese Auslegung vielleicht sehr willkürlich sei, aber er sah seine ganze wissenschaftliche Tätigkeit vor dem Antlitz des allmächtigen Gottes so rein und makellos, daß er sich über diese innere Mahnstimme hinwegsetzte. Seine Lebensfreude und sein Selbstvertrauen kehrten wieder. Alles, was in diesem großen Prozeß häßlich und erniedrigend gewesen war, unterzog er jetzt einer neuerlichen Untersuchung. Sorgfältig abwägend las er jeden Satz seines Eides noch einmal … »Ich verwünsche und verfluche die der heiligen Kirche feindliche Sekte.« Nein, das ist nicht wahr! Und jetzt braucht er es nicht mehr als für sich verbindlich anzusehen. Kann er denn das Gedächtnis Keplers verwünschen und verfluchen? Es ist unmöglich, daß dem lieben Gott eine solche Lieblosigkeit wohlgefällig wäre. Soll er den Bürgermeister von Augsburg, der so gut zu ihm war und sich stets als ein so aufrechter Mensch gezeigt hat, verwünschen und verfluchen? Soll er Bernegger, den Straßburger Professor, seinen begeisterten Verehrer, verwünschen und verfluchen, weil er eine der führenden Persönlichkeiten des elsässischen Protestantismus ist? Ist es denn Gott gefällig, daß jemand für das Gute mit Schlechtem belohnt werden soll?

Irgend etwas regte sich im tiefsten Innern seines Katholikentums. Irgend etwas ist doch da nicht in Ordnung! Irgendwie kann das doch nicht richtig sein, daß die heilige Kirche Christi bewaffnete Söldner und Kanonen nach Urbino schickt! Und es ist wohl auch nicht ganz in der Ordnung, daß die Kirche von den Beamten des Florentiner Gesundheitsamtes eine Entschuldigung verlangt, und in der Stadt die Madonna dell'Impruneta in einer feierlichen Prozession von zahlreichen Menschen, die zum Teil schon von der Pest befallen sind, umhertragen läßt, wenn der Großherzog von Florenz gegen die Seuche Verordnungen erläßt und jede Menschenansammlung oder Zusammenrottung strengstens verbietet! Und auch das kann nicht richtig sein, daß in schweren, grundlegenden wissenschaftlichen Angelegenheiten nicht die Fachleute bestimmen, was das Gehirn in Dingen, die mit Religion nichts zu tun haben, glauben darf oder nicht glauben soll! Zu Zeiten des Columbus hat man ja auch erklärt, daß die Erde nicht rund sein könne, und daß es eine unsinnige Vorstellung sei, daß menschliche Wesen auf der jenseitigen Hälfte dieser angeblichen Kugel mit dem Kopfe nach unten leben. Heute hat die Kirche längst zugegeben, daß sie sich damals geirrt hat. Ebenso wird sie in hundert Jahren wissen, daß sie sich auch diesmal geirrt hat. Und ebenso, wie man Columbus niemals der Ketzerei bezichtigen kann, obwohl ihn Torquemada ohne weiteres hätte verbrennen lassen können, genau so wird man in hundert Jahren Galilei, der fest daran glaubte, daß sich die Erde dreht, für einen guten Katholiken halten. Wenn das aber alles so ist, dann stimmt doch etwas mit dem Papst nicht, dann ist seine Herrschaft über die Geister nicht vollkommen. Und wo der Fehler liegt, das ist schon einmal von einem katholischen Mönch in Venedig und einem peripatetischen Professor in Padua gesagt worden: Fra Paolo Sarpis Lebensprinzip war es, daß das Papsttum nur in religiösen Sachen, nicht aber in weltlichen herrschen solle; und Cremoninis Leitsatz war es, daß die Theologie sich nur in ihre, nicht aber in andere Wissenschaften einmischen dürfe.

»Ob ich nun jetzt ein Protestant bin?« fragte er sich erregt nach solchen Erwägungen. Aber sogleich verneinte er dies. Er glaubte an all die Dogmen, die die Reformation verwarf. Der Glaube an die mystische Umwandlung während der Messe machte ihn selig. Den künstlerischen Pomp der Kirchen, die Orgel, die von Weihrauch umwallte Stimmung der farbenprächtigen Fenster, die unter dem gotischen Spitzbogen erklingende Glocke, die das große Mysterium verkündete, alles das hätte er um nichts in der ganzen Welt preisgeben wollen. Auch nicht die Reliquien der Heiligen, nicht die goldgestickten Meßgewänder, nicht den erhabenen Frieden der Klöster. Aber auch an die kopernikanische Weltordnung glaubt er, selbst dann noch, wenn Himmel und Erde darüber einstürzen sollten. Und solange er atmet, kann er davon nicht lassen. Offen dafür einzutreten ist ihm versagt, also ist er gezwungen, heimlich weiterzuarbeiten, mit erhobenem Haupt, im Bewußtsein seines wahren Katholikentums. Ohne Zweifel wäre es schöner und erhabener gewesen, den Märtyrertod zu erleiden, so aber ist es nützlicher. Die ganze Arbeit seiner letzten Jahre, dieses verstohlene, heimliche Schaffen soll einzig und allein dazu dienen, daß er beweist: die Welt Gottes ist viel schöner und viel herrlicher, als Ptolemäus sie sich einst vorgestellt hat! Der wunderbaren Weisheit der Schöpfung kann man viel andächtiger huldigen, wenn man das weiß. Was soll denn sonst die Pflicht eines Gelehrten sein, wenn nicht das? Und wenn er seine Pflicht tut, ist er sicherlich katholischer als ein aus Ignoranten bestehendes Kollegium, das mit gefälschten Protokollen arbeitet, Unsinnigkeiten für Wissenschaft erklärt, die Gesetze verletzt und nicht einmal imstande ist, sein Urteil von allen Richtern vollständig unterzeichnen zu lassen.

Endlich wagte er auch, sich selbst eine Freude einzugestehen: daß er mit Diodati in Paris so gut befreundet war. Diodati war Protestant und Kopernikaner. Das von der Kirche verdammte Buch Galileis gelangte in seine Hände, und er war davon so entzückt, daß er beschloß, es auch der protestantischen Welt zugänglich zu machen. Nach langwierigen Verhandlungen hatte er es tatsächlich zuwege gebracht, daß die Elzevier das Buch verlegten. Der Straßburger Bernegger übersetzte es ins Lateinische. Die »Dialoge«, das heißumstrittene Buch, das wirklich weltberühmt war, obwohl es nur sehr wenige lesen konnten, fand auf einmal ohne jedes Hindernis seinen Weg in die Weltöffentlichkeit. Die Arme des Santo Offizio reichten nicht bis Leyden und der Papst Urban hatte über die protestantischen Länder keine Macht. Er konnte nicht einmal über jedes katholische Land verfügen. Die französischen Protestanten durfte er zum Beispiel nicht anrühren.

Der Greis saß in seiner Villa in der Nähe von Florenz als Gefangener. Sein Buch war beschlagnahmt und auf den Index gesetzt und ihm selbst war ewiges, unverbrüchliches Schweigen auferlegt. Aber es war schon zu spät. Die Exemplare der Elzevier-Ausgabe gelangten überall hin. Die Dialoge Salviatis, Sagredos und Simplicios las man in London genau so wie in Paris, in Breslau wie in Krakau, in Lissabon wie in Augsburg. Jedermann konnte sie in die Hand nehmen und darin blättern. Nur der Verfasser nicht. Wegen der Übersetzung hatte er nur ganz im geheimen über eine dritte Person korrespondieren können; in der lateinischen Ausgabe stand offiziell vermerkt, daß Bernegger das Buch herausgegeben habe. Ein Exemplar durfte sich der Verfasser jedoch nicht verschaffen. Wenn es bekannt geworden wäre, daß er an den Vorarbeiten zu dieser Ausgabe mitgewirkt hatte, so hätte man ihn zweifellos sofort nach Rom beordert, und sein Schicksal wäre besiegelt gewesen. So aber tat er, als ob er von dieser lateinischen Ausgabe gar nichts wüßte. Gespannt wartete er darauf, ob die Inquisition in dieser Angelegenheit eine Untersuchung einleiten würde, und war entschlossen, die Sterne vom Himmel zu leugnen. Aber es geschah nichts. In seinem tiefsten Herzen fühlte er sich wie erlöst. Der große Gedanke, den er verraten hatte, ist stärker als er! Er lebt weiter, und jetzt kann man ihn nicht mehr töten!

In dieser Freude erlebte er die Geburt seines dritten Enkels. Wieder ein Knabe, und weil der Großvater bei der Taufe nicht erscheinen konnte, mußte er sich mit der Nachricht begnügen, daß man das Kind auf seine Fürbitte hin Cosimo taufen würde. Der Kleine war schon drei Monate alt, als er ihn endlich sehen konnte. Sestilia selbst brachte ihn im Wagen mit. Er betrachtete das kleine Lebewesen, hielt ihm seinen Zeigefinger zum Spielen hin, schnipste mit den Fingern und freute sich. Plötzlich sagte er aber bedrückt:

»Ich kann das Kind leider gar nicht gut sehen. Meine Augen werden immer schlechter.«

»Wieso werden sie schlechter?« fragte Sestilia, nur um etwas zu sagen.

»Ich sehe von Tag zu Tag weniger. Das Schreiben ist eine Qual für mich geworden. Ich schreibe Meister Torto schon selbst vor, welche Linsen er mir für meine Brille schneiden soll, aber auch das hilft nichts mehr. Besonders mein rechtes Auge ist schlecht. Ich kann kaum noch etwas damit sehen.«

»Nehmt es nicht schwer, es wird sich schon wieder bessern.«

»Kaum. Aber vielleicht geht es noch einigermaßen, solange ich lebe. Hat denn Nencio keine Zeit gehabt, dich zu begleiten?«

»Er hat sehr viel zu tun. Er läßt vielmals Eure Hand küssen.«

Nencio kam nur sehr selten nach Arcetri heraus. Dieser Ausflug war zwar eine Kleinigkeit, aber der Sohn empfand diese Besuche an sich als Last. In der Regel kam er nur dann, wenn er etwas brauchte. Wenn er auftauchte, wußte der Vater sogleich, daß es sich entweder um Geld handelte, oder daß der Sohn ihn bitten wollte, jemandem in irgendeiner Sache zu schreiben. Als Nencio kurz nach dem Besuche des Enkelkindes unerwartet bei Galileo erschien, begann er deshalb selbst gleich mit der Erklärung, daß er diesmal nichts nehmen, sondern etwas bringen wolle. Er tat auch sehr aufgeregt.

»Also sprich! Aber verschnaufe dich erst einmal, du keuchst ja!«

»Ich bringe Euch eine ganz große Sache, mein Herr Vater. Dreißigtausend Goldstücke.«

»Ein hübscher Betrag, lege sie nur schön auf den Tisch, wenn du sie mir mitgebracht hast«, scherzte Galilei.

»Spottet nicht, es ist eine ernste Sache. Die niederländische Regierung hat demjenigen, der die richtige Formel dafür findet, wie man die geographische Länge auf dem offenen Meer bestimmen kann, eine Belohnung von dreißigtausend Goldstücken ausgesetzt. Ihr, mein Herr Vater, habt das doch schon einmal einwandfrei festgestellt. Ihr habt dieserhalb auch schon mit den Spaniern verhandelt, ließet aber dann die Angelegenheit einschlafen.«

Im Tonfall des Sohnes lag ein versteckter Vorwurf: der Vater kümmert sich nicht genügend um seine Einkünfte, obwohl er doch genug Menschen um sich hat, für die er sorgen sollte.

»Langsam, langsam! Was sagst du? Handelt es sich denn wirklich um die Bestimmung der geographischen Länge? Woher willst du das denn wissen?«

»Ich habe es von einem Freund gehört. Er besitzt auch den Aufruf. Wenn Ihr wollt, will ich ihn mir für Euch geben lassen. Ich wollte die Angelegenheit nur nicht so auffällig machen.«

»Aber warum? Was hindert dich daran?«

»Mein Herr Vater, Holland ist ein protestantischer Staat, und Ihr habt doch geschworen, daß Ihr mit Ketzern …«

»Gut, gut. Mache mir eine Abschrift und sprich mit keinem darüber. Es ist nicht nötig, daß die Inquisition etwas davon erfährt.«

»Überlaßt das ruhig mir. Glaubt Ihr, daß Ihr diese Aufgabe lösen könnt? Das wäre großartig. Ich möchte gern einen Wagen halten, damit die Kinder viel an der frischen Luft sein können. Dreißigtausend Goldstücke, du gütiger Gott! Aber ich will Euch nicht von der Arbeit abhalten. Nicht wahr, Ihr beginnt sogleich damit?«

Er tat es und legte schriftlich nieder, wie man im offenen Meer mit Hilfe der Jupitermonde die Längengrade und somit den Standort berechnen könne. Die ganze Arbeit umfaßte kaum einige Seiten. Einem Staate aber, der eine große Flotte besaß, war sie nicht nur dreißigtausend, sondern hundertmal dreißigtausend Goldstücke wert. Nencio brachte inzwischen auch die Abschrift des Aufrufs. Es war richtig: die niederländische Regierung veranstaltete ein wissenschaftliches Preisausschreiben. Der Preis wurde von den Kapitalisten der Handelsmarine gestiftet. Galileis Abhandlung gelangte durch zuverlässige Vermittler auf geheimen Wegen nach Livorno und von dort nach Paris zu Diodati, der die Angelegenheit weiter verfolgen sollte. Alsbald traf auch die Antwort ein, daß die Arbeit in Holland angelangt sei.

Seitdem Galilei in seinem eigenen Vaterlande kein Prophet mehr sein durfte, schweifte sein Blick ständig über die Grenzen hinaus. Sein Interesse gehörte ausschließlich Frankreich, den deutschen Staaten und Holland. Stolz vernahm er, daß sein Ruf draußen in der fremden Welt noch einen reinen Klang hatte. Die Elzevier hatten mit dem »Dialog« einen Riesenerfolg gehabt, so daß sie alsbald ein weiteres Manuskript von ihm verlegten, und zwar jene umfangreiche Denkschrift, in der er einstmals der Großherzogin-Mutter auseinandergesetzt hatte, daß die kopernikanische Lehre der Heiligen Schrift nicht widerspreche. Zu gleicher Zeit kam die Nachricht, daß das verdammte Werk ins Englische übertragen werde. Das Interesse Europas wurde immer größer und größer. Abermals bewahrheitete es sich, daß jedes Ding durch ein Verbot erst recht begehrenswert gemacht wird. So drang der kopernikanische Gedanke überall dort ein, wo er infolge der Machtentfaltung der gegnerischen Inquisition niemals hätte eindringen können.

Er wartete beinahe darauf, daß die Inquisition eines Tages ihren Zorn erneut an ihm auslassen würde. Aber es geschah wiederum nichts. Sein Urteil lautete, daß er für unbestimmte Zeit in Haft zu nehmen sei. Aber nicht einmal vom Papst konnte man etwas über das Maß der unbestimmten Zeit erfahren. Er selbst machte keine Gesuche mehr, denn an dem Abend, bevor Celeste starb, hatte man es ihm ja strengstens untersagt. Nur seine Gönner, der Graf Noailles, Peiresc und der Großherzog legten immer wieder ein gutes Wort für ihn ein. Allerdings ohne Erfolg; denn der Papst Urban hatte schon die Bewilligung zweier Bitten, die er nur sehr schwer hätte abschlagen können, als außerordentliche Gnade bezeichnet.

Die eine bestand darin, daß der Gefangene für einen einzigen Tag Arcetri verlassen durfte: der Großherzog hatte ihn in seine Villa, wo er den Sommer verbrachte, eingeladen. In der Frühe holte ihn die Hofkutsche ab, und am Abend brachte sie ihn wieder nach Hause. Zum ersten Male seit drei Jahren verließ Galilei sein eigenes Heim. Doch nur seiner Freiheit konnte er sich freuen, nicht des Anblicks der Welt. Seine Augen waren inzwischen so schlecht geworden, daß er nunmehr noch kaum drei Schritte weit sah. Die ganze Gegend vor ihm zerfloß in einen nebligen Schleier.

Die großherzogliche Familie empfing ihn mit betonter Liebenswürdigkeit. Der Hof lebte sehr still, der Lärm der rauschenden Festlichkeiten war verstummt. Es herrschte noch Hoftrauer um den jüngeren Bruder des Herrschers, den die Pest im vorigen Jahre dahingerafft hatte. Der einst so strahlende Medicihof war kaum wiederzuerkennen. Als ob die Gattin des verstorbenen Cosimo den eisigen Glauben des Spanierkönigs Philipp hierher verpflanzt hätte! An Stelle der einstigen andächtigen Frömmigkeit lastete jetzt auf dem Palast die schwere, dumpfe Luft des düsteren Buchstabenglaubens.

Man stellte Galilei der neuen Großherzogin vor, den gebeugten Greis dem fünfzehnjährigen Kinde. Sein ältestes Enkelkind war nicht viel jünger. Und diese erlauchte Dame war schon seit einem Jahre Frau, allerdings nur dem Namen nach. Die Hochzeit hatte zwar stattgefunden, aber das Ehepaar wohnte noch in getrennten Räumlichkeiten, und in den Prunksälen der Gattin des Herrschers befanden sich noch sehr viel Puppen und allerlei anderes Spielzeug. Sie wußten auch nicht, worüber sie reden sollten, der Gelehrte und die Großherzogin. Die meiste Zeit des Besuches nahm die Großherzogin-Mutter Christina, die Großmutter des Herrschers, für sich in Anspruch. Jene Christina, die der Gelehrte als ganz junge Frau vor vierzig Jahren in Pisa kennenlernte, als er die von Giovanni Medici erfundene Baggermaschine begutachten sollte. Seit dieser Zeit war viel Wasser den Arno hinuntergeflossen. Christina war eine alte Frau geworden. Und wie die beiden Alten, abgesondert von den anderen, im Garten der Villa nebeneinander auf einer Bank saßen, schufen die Jahre zwischen ihnen eine innige Stimmung. Von Cosimo unterhielten sie sich am meisten, und beide tupften ihre Augen häufig mit dem Taschentuche ab.

»Ich habe das Gefühl«, sagte die alte Großherzogin-Mutter beim Abschied, »daß ich Euch das letzte Mal gesehen habe. Wenn es an dem sein sollte, so nehmt meinen Segen und meine Liebe mit Euch; denn mein Sohn hat Euch sehr lieb gehabt. Beobachtet Ihr denn noch manchmal die Medici-Sterne?«

»Ich würde es schon gerne tun, Hoheit, aber ich sehe sie nicht mehr. Seit einigen Monaten schon habe ich mein Fernrohr nicht mehr angerührt. Meine Augen sind sehr schwach.«

Als er nach Hause zurückgekehrt war und die Hofkutsche mit den Schimmeln im Dunkel verschwand, war er wieder ein Gefangener. Er setzte sich zu den Medici-Sternen, aber er suchte sie nicht mehr am Himmel, sondern auf dem Papier. Er versuchte, die holländische Angelegenheit noch genauer auszuarbeiten in der Hoffnung, daß sich dann vielleicht auch die deutschen Reeder dafür interessieren würden. Um das Geld war es ihm nicht zu tun, aber der Gedanke, daß er von seinem Arbeitszimmer aus das ganze System der Weltschiffahrt ändern könne, ließ sein Herz höher schlagen.

Die zweite Gnade des Papstes bestand darin, daß er die Erlaubnis erhielt, sich mit dem Grafen Noailles zu treffen. Der Graf war aus Rom abberufen worden und bat Papst Urban bei seinem Abschiedsbesuch, Galilei zu gestatten, in ein kleines Dorf fahren zu dürfen, das am Wege Rom – Livorno lag, weil er seinen einstigen Professor und geliebten Meister gern wiedersehen möchte. Nur für einige Stunden. Der Papst konnte diese Bitte nicht abschlagen, und der Graf teilte dem Gefangenen noch am selben Tage die freudige Nachricht mit. Treffpunkt: am sechzehnten Oktober in dem kleinen Dorfe Poggibonsi.

Galilei war in einer Sänfte, die ihm der Hof zur Verfügung gestellt hatte, als erster am Treffpunkt angelangt. Plötzlich stand jemand vor ihm:

»Erkennt Ihr mich denn nicht, Meister? Das ist nicht schön von Euch!«

»Vergebt mir«, bat er gerührt, »mein Sehvermögen ist sehr schlecht geworden. Ich danke aber Gott, daß er mir erlaubt hat, Euch, Herr Graf, wiederzusehen …«

Sie lagen sich lange glückselig in den Armen. Der Graf bestellte ein Zimmer, in dem sie sich vertraulich unterhalten konnten. Sie nahmen Platz, Galilei griff in seine Tasche und brachte ein umfangreiches Manuskript zum Vorschein.

»Das Manuskript meines neuen Buches! Ich möchte es Euch widmen, wie ich schon schrieb. Würdet Ihr es nun bitte Diodati übergeben, wenn es Euch nicht widerstrebt, mit einem Ketzer zusammenzukommen. Er ist ein treuer und guter Freund von mir. Er weiß schon, was er damit machen soll. Euer Gepäck wird man sicherlich nicht untersuchen.«

»Warum? Handelt denn Euer neues Buch wieder von verbotenen Dingen?«

»Nicht im geringsten. Aber die Inquisition darf nicht erfahren, daß Diodati mein Beauftragter in Paris ist.«

»Gut. Wird erledigt. Unterwegs werde ich es lesen. Jetzt müssen wir aber schnell machen, denn ich muß weiter. Ich will Euch vom Papst berichten, das ist doch das Wichtigste.«

Er schilderte eingehend seine Audienz beim Papst. Es war nichts erreicht worden. Von einer Begnadigung wollte der Papst unter keinen Umständen etwas hören. Und eine Erleichterung der Haft käme auch erst nach Ablauf einer längeren Zeit in Frage.

»– einer längeren Zeit«, nickte Galilei, »wo werde ich da sein? Aber was ist denn mit unseren Bekannten? Wie ich höre, durfte Castelli endlich wieder nach Rom zurückkehren?«

»Ja, er hat seinen Lehrstuhl wieder eingenommen. Ich habe auch schon mit ihm gesprochen und er läßt Euch eine wichtige Mitteilung ausrichten. Er hat mit einem gewissen … ach, wie heißt er doch gleich, ein Jesuit aus Tirol …«

»Grienberger?«

»Ja, richtig! Also wie gesagt, Castelli hat ihn getroffen. Dieser Grienberger scheint zu Euch zu stehen, denn er bedauert Euch unendlich. Er hat unter anderem zu Castelli folgendes gesagt: ›Wenn sich Galilei die Zuneigung der Väter jenes Kollegiums zu erhalten gewußt hätte, so würde er heute ruhmvoll vor der ganzen Welt dastehen; er wäre von seinem Unglück verschont geblieben und hätte ganz nach seinem Belieben über alle Dinge schreiben können, sogar über die Bewegung der Erde …‹ Ist das nicht merkwürdig? Daher will mir scheinen, daß Euch die Jesuiten zu Fall brachten.«

Galilei schüttelte den Kopf.

»Ja, die Jesuiten, aber nicht ›die‹ Jesuiten. Nein, mein Herr Graf, ich weiß ganz genau, warum ich zu Fall gebracht worden bin. Mein Schicksal war es, daß jener, dem nur die kirchliche Macht gebührt, auch nach der weltlichen verlangt hat. Und mich haben jene zu Fall gebracht, die die Hüter dieser weltlichen Macht sind. Auch die Jesuiten. Vielleicht hauptsächlich die Jesuiten. Aber nicht der Orden. Der Streit ist ja nun auch entschieden. Jetzt ist doch alles ganz gleichgültig.«

»Leider. Ihr seid besiegt.«

»Bei weitem nicht! Ich habe gesiegt, mein Herr Graf, und nicht jene! Auch dann noch, wenn man mich weiter quält und ich als Gefangener sterben muß.«

»Ihr seid immer noch der alte«, sagte Graf Noailles, »ich habe mich wieder als Euer Schüler gefühlt, wie ich Euch zuhörte. Aber die Zeit ist um. Ich muß weiter. Gott segne Euch!«

Die Kutsche des Grafen Noailles entschwand gen Livorno, die Sänfte des alten Mannes schlug den Weg nach Florenz ein, zurück in die Gefangenschaft.

Bald bekam er Nachricht von Diodati. Die Niederländer hatten seine Arbeit mit großer Freude empfangen und unverzüglich eine Kommission einberufen, um die Angelegenheit zu untersuchen. Sie stünde für ihn sehr gut. Auch das Manuskript, das er dem Grafen Noailles mitgegeben, erreichte seinen Bestimmungsort. Die Druckerei der Elzevier hatte bereits mit dem Druck begonnen.

Der Gefangene bangte mehr denn je um sein Leben. Um jeden Preis wollte er das Erscheinen dieses Buches noch erleben. Als die Großherzogin-Mutter Christina starb – ihre Ahnung hatte sie also nicht getäuscht –, ging er tagelang ganz benommen einher. Immer wieder betete er von neuem, und diese Gebete hatten immer die gleichen wenigen Worte: »Noch nicht, mein lieber Gott, jetzt noch nicht.« Er betete seit kurzem jeden Abend, daß er, wenn seine letzte Stunde schlüge, als freier Mann sterben möge.

Die Druckerei in Paris arbeitete langsam, aber sorgfältig. Die niederländischen Sachverständigen hatten seine Arbeit inzwischen auch untersucht und ließen ihn wissen, daß die Regierung dem Gedanken im Prinzip zustimme, daß über die praktische Anwendung jedoch noch verhandelt werden müsse, da in seinem Konzept noch manches unklar sei. Die Regierung würde die Sache aber auf alle Fälle ernst nehmen und als Zeichen dafür einen ihrer Sachverständigen nach Florenz schicken. Eine persönliche Aussprache würde dann alles klären. Der weltberühmte Gelehrte könne sich aber schon jetzt des Dankes der Niederlande versichert halten.

Diesen Brief konnte Galilei nicht mehr selbst lesen. Es gab keine Linse mehr, die ihm geholfen hätte. Sein linkes Auge sah nur sehr trübe, das rechte ahnte die Helligkeit bloß noch. Nur die Konturen der Gegenstände konnte er noch unterscheiden. Seine Angehörigen erkannte er, weil ihm die Eigenart ihres Ganges vertraut war. Wenn aber jemand von draußen kam, so erkannte er ihn kaum noch. Sein Augenleiden verschlimmerte sich mit jedem Tage, die Sehkraft ließ erschreckend schnell nach.

Vier Monate später war er auf dem rechten Auge vollkommen erblindet. Zuerst bemerkte er es gar nicht. Als er im Garten spazieren ging, rieb er sich das linke Auge, das ihn juckte, und mit einem Male wurde die ganze Welt finster, obwohl sein rechtes Auge offen stand. Erschüttert riß er die Augen auf, dann schloß er das rechte und ließ das linke offen, dann schloß er das linke und ließ das rechte offen, – es bestand kein Zweifel mehr: er hatte die Sehkraft seines rechten Auges verloren.

Da rief er seinen Sohn zu sich. Dreimal mußte er nach ihm schicken, ehe Nencio sich bequemte, der Bitte des Vaters Folge zu leisten. Galilei teilte ihm diesen neuen Schicksalsschlag mit. Dann vereinbarte er mit ihm, daß der Sohn gegen ein besonderes Entgelt wöchentlich zweimal auf einen ganzen Tag zu ihm komme. Es seien sehr viele Briefe da, die er nun nicht mehr lesen könne, und die Antworten müsse er ja nun auch diktieren. Nencio gefiel dieser Vorschlag nicht sonderlich. Da es aber wesentlich mehr Geld gekostet hätte, einen Sekretär zu halten, willigte er ein. Ganz eingehend fragte er seinen Vater nach der niederländischen Angelegenheit. Diese Sache lag ihm außerordentlich am Herzen.

Galilei tat es unendlich weh, daß sein Sohn so wenig Liebe für ihn übrig hatte. Dieselbe Gleichgültigkeit zeigte Angela, wenn er sich ihr zu nähern versuchte. Und er brauchte die Familie doch. Sie bedeutete ihm Glück. Das verwandtschaftliche Gefühl wurzelte tief in ihm. Da fiel ihm die Familie Michelagnolos ein. Was mochte wohl mit der Witwe und den vielen Kindern geschehen sein? Er rechnete sich aus, daß Cencio jetzt dreißig Jahre alt sein müsse und die jüngste, Fulvia, schon zehn. Vielleicht darbten sie im Elend, sehnten sich nach ihm und wagten nur nicht, sich an ihn zu wenden?

Als Nencio am Nachmittag kam, brachte er das Gespräch auf Michelagnolos Familie. Er wollte sie suchen lassen. Darüber gerieten sie fast in Streit. Nencio wollte von der Verwandtschaft nichts wissen. Aber Galilei bestand auf seinem Wunsch und führte auch aus, was er wollte. Eines Tages kam ein Brief aus München. Alberto hatte ihm geschrieben, der zwanzigjährige, zweitälteste Sohn Michelagnolos. Er schrieb, daß inzwischen auch seine Mutter gestorben sei und alle drei Schwestern. Von der großen Familie waren nur die drei Söhne übrig. Sie lebten zu dritt ganz behaglich von einer bescheidenen Pension, die sie dem Wohlwollen des bayrischen Hofes zu danken hätten.

Celeste hatte von allen Verwandten diesen Alberto am liebsten gehabt, und wenn Nencio auch noch so dagegen war, bestand Galilei doch darauf, seinen leiblichen Neffen hierherkommen zu lassen. Vater und Sohn gerieten arg aneinander und beide sagten sich schonungslos, was sie auf dem Herzen hatten. Nach diesem Wortgefecht hielt es Nencio für klüger, um Verzeihung zu bitten, und Galilei beeilte sich zu verzeihen. Aber die Erbitterung nistete sich in seinem Herzen ein. Zu deutlich hatte er erkennen müssen, wie wenig der Sohn ihn liebte. Er ließ sich von seinem kleinen Diener ins Kloster führen, denn allein konnte er nicht mehr gehen. Im Kloster ließ er sich bei Angela gar nicht erst melden, sondern ging sogleich in die Kirche zu Celestes Grab. Er tastete mit seiner welken Hand den Grabstein ab und klagte ihr seine armselige Verlassenheit.

An einem Septembertage kam Alberto aus München an. Er war frisch, bescheiden, heiter und liebenswürdig. Galilei konnte seine Gesichtszüge nicht mehr erkennen, aber Porzia raunte ihm zu, sie sei lange nicht mehr einem so gutgewachsenen hübschen jungen Menschen begegnet und er sähe ihm, Galilei, auffallend ähnlich. Der Jüngling richtete sich im Hause ein und bezauberte jeden durch seine Liebenswürdigkeit. Ehe er irgend etwas anderes unternahm, schmückte er Celestes Grab mit Blumen. Seinen Onkel unterstützte er zärtlich und suchte ihm in allem zu Gefallen sein. Aber Nencios Mißtrauen wollte nicht weichen. Erst als Alberto ihn, Sestilia und seine Kinder besuchte und alle im Sturm eroberte, beruhigte sich auch Nencio allmählich und sah ein, daß er diesen Verwandten nicht zu fürchten brauchte.

»Sonderbar«, sagte Porzia, »dieser Junge ist ein so liebenswerter Mensch; als wenn ich Euch nochmals als jungen Mann sähe.«

»Wirklich«, fragte er mit eitler Freude, »ist er ein hübscher Junge? Schade, daß ich ihn nicht sehen kann.«

Jetzt ließ auch das linke Auge immer mehr nach. Von Woche zu Woche drang das Licht immer spärlicher ein. Und eines Morgens, im Dezember, wachte Galilei auf und mußte die Wahrnehmung machen, daß er völlig erblindet war. Dieser Schicksalsschlag berührte ihn nicht allzusehr. Während der vergangenen Monate hatte er sich allmählich an den furchtbaren Gedanken gewohnt. Er lernte, daß man auch so leben könne.

In den kalten Wintertagen kam Nencio immer seltener, und so trat Alberto an dessen Stelle. Wenn er seine anderen Arbeiten erledigt hatte, begann er zu schreiben. Galilei nahm bequem neben dem Kamin Platz, streckte seine Füße aus, blickte mit seinen leeren Augen in die Ferne und diktierte.

»Schreibe recht schön, mein Sohn, denn dieser Brief geht an Diodati, den ich sehr hoch schätze. Also:

 

›In Beantwortung Eures mir sehr angenehmen Schreibens vom zwanzigsten November sechzehnhundertsiebenunddreißig teile ich Euch bezüglich Eurer Nachfrage um meine Gesundheit mit, daß zwar mein Körper einen etwas besseren Kräftezustand als in der letzten Zeit wiedererlangt hat, aber ach! verehrter Herr, Galilei, Euer ergebener Freund und Diener, ist seit einem Monat völlig und unheilbar blind. Und zwar so, daß dieser Himmel, diese Erde, dieses Weltall, welche ich mit meinen merkwürdigen Beobachtungen und klaren Darlegungen hundert-, ja tausendfach über die von allen Gelehrten aller früheren Jahrhunderte allgemein angenommenen Grenzen erweitert habe, nun für mich auf einen so engen Raum zusammengeschrumpft sind, daß derselbe nicht über jenen hinausreicht, den mein Körper einnimmt …‹


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