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Achtes Kapitel

Er schlief keine Nacht mehr. Und wenn er im Dunkel der Nacht seine Schlacht mit den Hirngespinsten austrug, tauchte Sagredo, der einstige gute Freund und Teilnehmer am »Dialog«, aus der Vergangenheit auf. Jener Brief fiel ihm ein, den Sagredo ihm geschrieben hatte, als er Padua verließ. Erst jetzt erkannte er in vollem Umfange die kluge Weitsicht des venezianischen Patriziers. Wenn er jetzt noch in Padua wäre, im Professorenkollegium des Bo als der Nestor, der angesehenste Gelehrte der ganzen Universität, dann mochte die Inquisition schreiben was sie wollte; er hätte um den Schutz der Serenissima gebeten, und der Doge hätte sich bestimmt auf seine Seite gestellt; denn auch heute noch war der Standpunkt Fra Paolo Sarpis in Venedig maßgebend. Wohl hatte die Republik Venedig seinerzeit den Giordano Bruno ausgeliefert. Aber diese Auslieferung hatte persönliche Gründe: Giordano Bruno hatte sich mit den weltlichen Autoritäten überworfen. Ihn aber, Galileo Galilei, hätte man nicht ausgeliefert, ihn hätte man nicht gehen lassen! Fernando hingegen, der Zögling der Jesuiten und blinde Anhänger der weltlichen Macht des Papstes, hatte ihn nicht nur nicht in Schutz genommen, sondern schickte ihn geradezu nach Rom.

Jetzt also sah er ein, daß der Papst Herr über Leben und Tod war. Daß er über die Weltmacht der Inquisition nach Belieben verfügte. Es bedurfte nur eines Winkes von ihm, und die Inquisition fällte ein Todesurteil. So sehr er sich bemühte, solche Gedanken von sich fernzuhalten, um so nachdrücklicher tauchte diese furchtbare Möglichkeit immer wieder in seiner Vorstellung auf. Manchmal meinte er ganz klar zu sehen, daß sein Schicksal besiegelt sei. Man würde ihn verbrennen. Bei diesem Gedanken stöhnte er jedesmal auf in seiner Todesangst, richtete sich im Bett hoch und preßte die Hände unwillkürlich gegen seinen Bruch. Unverständliche Worte murmelte er ächzend vor sich hin und rief in seinem Jammer nach Celeste.

Am Morgen stand er auf und zog sich an, ohne auch nur ein Auge geschlossen zu haben. Laut Befehl hatte er sich unverzüglich beim Rate der Inquisition zu melden. Das war Pater Boccabella. Der Gesandte kannte diesen Priester und hatte nur Gutes von ihm berichten können. Er sei ein liebenswürdiger, friedfertiger, verständnisvoller Mann, der schon vielen Menschen, auch in den schwierigsten Angelegenheiten, geholfen habe. Es wäre ein wahrer Segen, daß er mit zu jenen gehöre, die den Fall Galilei bearbeiteten.

Noch ganz benommen von der schlaflosen Nacht, ließ er sich in der Sänfte zur Inquisition tragen. Als er den Trägern das Ordenshaus der Santa Maria Sopra Minerva, den Sitz des Santo Offizio, als Ziel angab, war seine Kehle wie zugeschnürt. Und als er vor diesem großen Gebäudekoloß anlangte, aus dem er vor vielen Jahren mit freiem und frohem Herzen herausgetreten war, verschlug es ihm den Atem. Er mußte erst Kraft sammeln, um sich aufzurichten und aussteigen zu können. Die vornehmen Gänge, auf die der schwache Strahl der Februarsonne fiel, waren auch heute nicht im geringsten furchterregend. Man konnte sich gar nicht vorstellen, daß von hier aus Menschen zum Tode befördert würden. Ratlos schleppte er sich einen der Gänge entlang, sah sich um und mußte sich durchfragen, bis er endlich das Zimmer des Monsignore Boccabella erreicht hatte.

Dieser Priester erweckte in der Tat das beruhigende Gefühl in ihm, die verkörperte Güte vor sich zu haben. Er stellte sich vor, und eine leise Freude stahl sich in sein Herz. Aber diese schüchterne Freude währte nur bis zum ersten Satz.

»Während Ihr unterwegs wart«, erklärte der gütige Geistliche, »ist hier eine Umgruppierung vorgenommen worden. Ich habe einen anderen Wirkungskreis zugeteilt erhalten, was ich aus ganzem Herzen bedauere; denn ich hätte Euch vielleicht behilflich sein können. Aber verschnauft Euch erst einmal! Ihr keucht ja noch vom Treppensteigen. Ich stelle Euch dann meinem Nachfolger vor.«

»Weshalb hat man Euch dieses Postens enthoben?« klagte er. »Warum könnt Ihr mir nun nicht mehr helfen. Monsignore?«

»Verfügungen des Heiligen Offiziums darf man nicht bekritteln! Aber einen guten Rat kann ich Euch trotzdem noch geben. Vorausgesetzt, daß Ihr ihn annehmen wollt.«

»Ich bitte Euch sogar von ganzem Herzen darum.«

»Dann hört auf mich und widersprecht Euren Anklägern nicht, gebt alles zu! Zeigt, daß Ihr gehorsam seid! Wenn überhaupt etwas den Zorn Unseres Herrn mildern kann, so nur Fügsamkeit und vollkommene Reue. Auch das will ich nur gesagt haben, weil die Gelehrten meistens starrköpfig an ihren Lehrsätzen festhalten. Seid nicht halsstarrig!«

Geduldig und dankbar hörte Galilei zu. Er nickte mit der Bereitwilligkeit eines Schulkindes. Boccabella redete ihm noch lange zu, wiederholte aber immer wieder: nicht widersprechen. Schließlich tröstete er ihn noch, er habe keine strenge Strafe zu erwarten. Die Hauptsache sei die Hoffnung. Man müsse immer hoffen. Aber diese Aufmunterung wirkte unheilvoller als jene Drohung; denn der verängstigte Greis kehrte mit seinen zerrütteten Nerven immer wieder zu der Folgerung zurück, daß ihm eine große Gefahr drohen müsse, wenn man ihn so tröste. Dann geleitete ihn Boccabella in ein anderes Amtszimmer, stellte ihn seinem Nachfolger vor und verabschiedete sich.

Der Nachfolger, Pater Firenzuola, war ein ganz anderer Mann. Kalt, mit unbeweglicher Miene, warf er auf den Eintretenden nur einen flüchtigen Blick und begann sofort in der vor ihm liegenden Akte zu blättern.

»Galileo Galilei. Ja. Vorerst habe ich Euch lediglich mitzuteilen, daß zunächst Beschluß gefaßt worden ist, wo Ihr die Untersuchungshaft zu verbringen habt. Bis dahin dürft Ihr Eure derzeitige Wohnung, also das Gesandtschaftsgebäude von Florenz, nicht verlassen.«

»Untersuchungshaft …«

»Ja. Für die Dauer des Prozesses habt Ihr Euch in diesem Gebäude hier aufzuhalten.«

»Aber Verzeihung … als Gefangener … davon war doch keine Rede …«

»Widersprechen ist ganz überflüssig. Was Ihr hier vernehmt, habt Ihr lediglich zur Kenntnis zu nehmen. Jetzt geht in Eure Wohnung zurück und wartet auf den Befehl, hierher überzusiedeln.«

Der Geistliche nickte kurz mit dem Kopf zum Zeichen, daß die Audienz beendet sei. Wankend schleppte sich Galilei zu seiner Sänfte. Zu Hause angekommen, wollte er sofort mit dem Gesandten sprechen, aber er traf nur Frau Katharina an.

»Exzellenz, ich flehe Euch an, laßt mich nicht dorthin schaffen! Man wird mich dort peinigen, und ich kann das nicht mehr ertragen, ich kann nicht … Ich bitte Euch flehentlich, habt doch Erbarmen mit mir …«

Die Frau des Gesandten konnte ihn kaum beruhigen. Nachdem er sich niedergelegt hatte, setzte sie sich an sein Bett und tröstete ihn. Als der Gesandte aus der Stadt zurückkehrte und hörte, was vorgefallen war, ließ er sogleich seinen Sekretär kommen, schickte ihn zu dem jüngeren Bruder des Papstes, dem Kardinal Barberini, und ließ ihn um eine Unterredung bitten. Der Kardinal setzte diese auf den folgenden Tag fest.

»Nur bis dahin soll man mich nicht abholen … Nur solange soll man mich hier lassen!«

»Habt keine Angst, man wird Euch nicht fortschaffen. Wenn man käme, würde ich schon etwas ausdenken. Ich werde noch zwei Kardinäle aufsuchen, die ich sehr gut kenne. Der eine ist Scaglia, der andere Bentivoglio. Habt nur keine Angst!«

Die halbe Nacht blieben sie bei ihm; dann mußte ein Diener im Vorzimmer Wache halten. Kurz vor Tagesgrauen begann der Greis einzuschlummern und schlief etwa zwei Stunden. Als er erwachte, verspürte er einen stechenden Schmerz in seinem linken Handgelenk. Er wußte nur allzu gut, was das zu bedeuten hatte: es war der Anfang eines neuerlichen Gelenkrheumatismus und bedeutete Höllenqualen. Wenn man ihn in diesem Zustand in das Inquisitionsgefängnis einlieferte, so mußte das furchtbar werden. Aber der Gesandte brachte gute Kunde: der Kardinal Barberini hatte versprochen, zu vermitteln. Eigentlich wäre das nicht statthaft, denn es widerspreche den Gesetzen des Heiligen Offiziums, aber man könne vielleicht stillschweigend Rücksicht darauf nehmen, daß der Angeklagte krank sei. Er möge also keinesfalls Gäste empfangen, auch das Haus nicht verlassen und außer mit seinen Gastgebern mit niemandem sonst sprechen.

Als ihm am anderen Tage ein Besucher gemeldet wurde, ließ er bestellen, es stünde nicht in seiner Macht, jemanden zu empfangen. Der Besucher ließ sich jedoch nicht abweisen, er bäte trotzdem um einige Minuten Gehör, da er vom Heiligen Offizium käme. Und ein alter Bekannter trat ein, Monsignore Serristori, einer der Lektoren der »Dialoge«, von dem Galilei nicht einmal geahnt hatte, daß er in irgendeiner Verbindung zur Inquisition steht.

»Ich komme als Privatmann«, erklärte Serristori, »mein Besuch steht mit dem Prozeß in keinerlei Zusammenhang. Meine Hochachtung und jetzige Anteilnahme führten mich zu Euer Gnaden.«

Galilei nahm das alles für bare Münze. Er klagte und war zugleich glücklich. Das Gespräch wandte sich schon in den ersten Minuten dem Prozeß zu. Ohne Zögern antwortete Galilei auf jede Frage. Der Besuch blieb ziemlich lange und verabschiedete sich mit dem Versprechen, bald wiederzukommen. Von Dankbarkeit erfüllt, erzählte der Kranke dem Gesandten von diesem Besuch.

»Habt Ihr denn nicht bemerkt, worauf das hinausläuft«, fragte der Gesandte, »was das alles zu bedeuten hat?«

»Nein, was sollte es zu bedeuten haben?«

»Ein Verhör. Sie haben ihre ganz eigene Art zu verhören. Der entsandte Inquisitor erforscht die Denkweise des Angeklagten, stellt fest, wo die Schwächen seiner Verteidigung liegen und wo man deshalb einhaken könnte, welches seine Hauptargumente sind, um zu gegebener Zeit gleich Gegenargumente bereit zu haben. Wenn Serristori also noch einmal kommen sollte, so achtet nur gut auf Eure Worte. Hoffentlich habt Ihr Euch mit ihm nicht über Kopernikus unterhalten?«

»Doch, doch«, erwiderte Galilei außer sich, »ich sagte, daß dies meine Überzeugung sei, ich hätte es jedoch als Hypothese vor die Öffentlichkeit gebracht, weil man mir dieses erlaubt habe.«

»Das war nicht recht. Macht doch nicht soviel Wesens aus diesem Kopernikus!«

»Aber was soll ich machen, Eure Exzellenz? Soll ich ihn verleugnen?«

»Natürlich! Verleugnet ihn! Wem schadet Ihr denn damit? Kopernikus oder Kepler? Beide sind schon tot! Ich will nicht gerade sagen, daß Ihr Eure Überzeugung, an der Ihr bislang festhieltet, nun mit einem Male verächtlich machen sollt; das würde auch einen schlechten Eindruck erwecken. Aber sprecht doch nicht immerzu davon! Im übrigen habe ich eine gute Nachricht für Euch. Der Bruder des Papstes pflegt den Sitzungen des Santo Offizio im allgemeinen nicht beizuwohnen. Sie langweilen ihn. Auf meine Bitte ging er jedoch hin. Und ich glaube, es wird gerade jetzt auch Eure Angelegenheit besprochen. Das Erscheinen des Kardinals hat ohne Zweifel großen Eindruck gemacht. Erfahren kann man natürlich nichts. Die fürchterliche Macht der Inquisition liegt ja gerade darin, daß jedes ihrer Mitglieder schweigt wie das Grab. Sie können auch diejenigen, die ihr gar nicht angehören, zum Schweigen verpflichten.«

»Wieso? Wen?«

»Zum Beispiel mich. Ich wußte längst, daß Ihr vor die Inquisition kommt. Der Papst selbst hat es mir gesagt. Er nahm mir aber gleich das Versprechen ab, niemandem etwas zu sagen. Ich schwieg also. Nicht einmal meiner Frau gegenüber erwähnte ich es. Cioli habe ich es dann auf Geheiß des Papstes offiziell gemeldet. Aber auch er war verpflichtet zu schweigen. Oder hat Euch Cioli etwas gesagt?«

»Nein! Er hat es also auch gewußt!«

»Natürlich hat er es gewußt. Hätte er jedoch irgend etwas verlauten lassen, so wäre er gleichfalls vor die Inquisition gekommen. Aber zurück zur Sache. Es steht nun so, daß Euch der Bruder des Papstes, des weiteren die Kardinäle Scaglia und Bentivoglio, wohlgesinnt sind. So hoffe ich, daß dieser Prozeß einen milden Verlauf nehmen wird. Kerker, Ketten und dergleichen wird es nicht geben, das könnt Ihr mir glauben, wenn ich es Euch auf Ehre und Gewissen versichere und nicht nur sage, um Euch zu beruhigen. Jetzt warte ich nur auf die Gelegenheit, noch einmal mit dem Papst sprechen zu können. Ich habe nämlich um eine Audienz nachgesucht. Ich muß offiziell melden, daß Ihr angekommen seid, das ist Vorschrift. Ich will versuchen, herauszubekommen, was er eigentlich mit Euch vorhat, und ob er immer noch so zornig auf Euch ist. Eines möchte ich Euch auf alle Fälle wieder ans Herz legen: zeigt Gehorsam und Fügsamkeit. Es ist nicht klug, sich gegen Papst Urban aufzulehnen. Insbesondere für Euch ist es nicht klug.«

Der Kranke versprach alles. Er litt und wartete. Unterhalten durfte er sich mit niemandem. Er diktierte Briefe, denn das hatte man ihm nicht untersagt. Er erhielt auch Briefe. Celeste schrieb fleißig: Arcangela habe die Gicht in der linken Schulter, Suor Grazia sei gestorben, der Diener Giuseppe habe einen Gallenanfall, Piera, die Wirtschafterin, fühle sich wohl, der Weingarten werde gepflegt, und der Salat stehe sehr schön; die Wirtschafterin habe schon so viel davon verkauft, daß sie einen ganzen Goldgulden beisammen habe. Ihren Briefen an den Vater legte Celeste stets ein Schreiben an Frau Katharina bei. Schon seit langem standen sie im Briefwechsel und obwohl sie einander nie gesehen hatten, entwickelte sich eine aufrichtige Freundschaft zwischen der Nonne und der Frau des Gesandten. Celeste war ihr unendlich dankbar, daß sie so gut zu ihrem Vater war, und Frau Katharina zollte dieser wahrhaft großen Seele, die sie mit keiner anderen vergleichen konnte, ehrliche Bewunderung. Frau Katharina, die ständig am Krankenbett des Greises saß, wollte immer nur von Celeste hören und der Kranke sprach von niemand lieber als von seiner Tochter.

Galilei befand sich bereits seit zwei Wochen in Rom, als der Gesandte endlich mit dem Papst sprechen durfte. Die Audienz währte sehr lange; nach Hause zurückgekehrt, gab er die ganze Unterredung fast wörtlich wieder. Zunächst habe er gemeldet, daß der Angeklagte eingetroffen sei. Das habe der Papst mit düsterer Miene zur Kenntnis genommen. Dann habe der Gesandte gebeten, man möge dem Kranken gegenüber Milde walten lassen. Sogleich fuhr der Papst entrüstet hoch:

»Ich soll Milde walten lassen? Noch mehr Wohlwollen zeigen? Ist es denn nicht genug an dem, was ihm bislang zuteil wurde? Wir dulden sogar, daß er in der Stadt wohnt. Wissen Eure Exzellenz nicht, was für eine hohe Gunst das ist? Den Sohn des Fernando Gonzaga habe ich in einer Sänfte nach Rom schleppen, und in die Engelsburg sperren lassen und ihn während des ganzen Prozesses dort behalten. Und das war ein Gonzaga! Bei Galilei hätten Wir es nicht anders gemacht, aber da es sich um einen hohen Beamten des Großherzogs von Florenz handelt, möchten Wir den Medicis unsere Freundschaft beweisen.«

Ließe sich der Prozeß nicht wenigstens beschleunigen, wagte der Gesandte abermals zu bitten, da der Angeklagte alt und sehr krank sei.

»Das tut Uns leid«, erwiderte der Papst kühl, »die Prozesse der Heiligen Inquisition pflegen sich meist in die Länge zu ziehen. Das liegt im Wesen der Sache. Nach dieser Richtung hin bedauern Wir nichts versprechen zu können.«

Das Wichtigste hatte der Papst aber doch verlauten lassen, als der Gesandte fragte, worauf eigentlich die Anklage gegen Galilei hinauslaufe: er habe doch schließlich sein Buch mit Genehmigung der päpstlichen Zensur herausgegeben. Der Gesandte hatte gehofft, das Gespräch auf Simplicio lenken zu können, um dann Gelegenheit zu haben, diesen ungeheuerlichen Irrtum aufzuklären. Darauf ließ sich der Papst aber nicht ein. Es wäre wohl gerade von ihm auch kaum zu erwarten gewesen, daß er eine Vermutung, die seinen Stolz und sein Ansehen verletzte, über die Lippen gebracht hätte. Statt dessen erwiderte er nur:

»Es war verfehlt, diese Lehre vor die Öffentlichkeit zu bringen, insbesondere in einer so doppeldeutigen Form. Galilei wollte die ganze Angelegenheit als Hypothese behandeln und hat statt dessen Erklärungen und Beweise gebracht, also für Kopernikus Zeugnis abgelegt. Damit hat er schwer gegen jenes offizielle Verbot verstoßen, auf das ihn der Kardinal Bellarmin im Jahre sechzehnhundertsechzehn im Auftrage der Inquisition hinwies. Ein Protokoll über die Mitteilung dieses Verbotes ist in der Bibliothek des Santo Offizio vorhanden. Es ist gefunden worden. Galilei hatte dieses offizielle Verbot zur Kenntnis genommen. Er hätte sich unbedingt daran erinnern müssen. Aber er hat geschwiegen. Auch Riccardi gegenüber schwieg er. Er war unehrlich, er hat Riccardi betrogen. Und auch Uns hat er betrogen. Dafür wird er büßen.«

Als der Gesandte alles das ausführlich berichtete und sogar versuchte, den Tonfall des Papstes nachzuahmen, horchte Galilei erschrocken auf. Obwohl er sich sonst wegen seines Gelenkleidens im Bett nicht rühren konnte, fuhr er jetzt überrascht von seinem Lager auf.

»Protokoll? Welches amtliche Protokoll?«

»Ich weiß nicht. Aus den Worten des Papstes ging nur hervor, daß man Euch sechzehnhundertsechzehn offiziell ein Verbot mitgeteilt habe, worüber ein Protokoll vorliege. Und das will man jetzt gefunden haben.«

»Das ist nicht möglich! Gegen mich lief doch damals gar kein Verfahren. Nur von Kopernikus war damals die Rede und von dem armen Foscarini. Lorini aus Florenz hatte seinerzeit meine Anhänger angeklagt. Ich war in der ganzen Angelegenheit nur Zeuge. Ich kann mich heute noch ganz klar daran erinnern, daß mich der Kardinal Bellarmin in seine Wohnung kommen ließ und mir mitteilte, daß … was hat er denn gleich gesagt …? Das liegt ja schon sechzehn Jahre zurück … Ich muß einmal meine Gedanken sammeln …«

»Das tut, denn es ist sehr wichtig.«

Galilei starrte zurück in die Vergangenheit und strengte sein Gehirn an, als ob er die Sonnenflecke untersuchen wollte.

»Einen Augenblick, einen Augenblick! … Ich hatte vorher eine lange Unterredung mit Bellarmin. Der Kardinal suchte mir in einer sehr gründlichen Auseinandersetzung zu beweisen, daß diese neue Lehre sehr verwegen sei, die Autorität gefährde und geeignet sei, die weltliche Macht des Papsttums zu erschüttern. Ich folgte ihm mit großer Aufmerksamkeit, zollte seiner außerordentlichen Klugheit auch die gebührende Anerkennung, zu überzeugen vermochte er mich jedoch nicht. Da setzte sich das Santo Offizio zusammen und erklärte, die Sonne bewege sich um die Erde, setzte Foscarini auf den Index und verhängte über Kopernikus das » donec corrigeretur«. Dann kam das päpstliche Dekret. Aber zuvor bestellte mich Bellarmin ganz unerwartet zu sich. Ich erinnere mich jetzt ganz genau an unsere Unterhaltung. Auch einige Dominikanermönche, die ich nicht kannte, waren mit dabei. Vor jenen hat er nur sehr oberflächlich und nur für mich allein verständlich gesprochen. Daß nämlich meine Lehre das Gebäude der Kirche umstoße. Dann teilte er mir mit, daß ich diese Lehre in einer anderen Form als in der einer Hypothese nicht verkünden dürfe.«

»Und er hat sie nicht grundsätzlich und schlechthin verboten?«

»Aber Eure Exzellenz! Zu gleicher Zeit hat man doch das Buch des Kopernikus erscheinen lassen! Nur einige Worte sind darin geändert worden. Aus der Widmung des Kopernikus an Papst Paul V. ist zum Beispiel nur der Satz gestrichen, daß diese Lehre der Heiligen Schrift nicht widerspreche. Man wollte den peripatetischen Theologen freie Hand lassen. Aber sonst blieb Kopernikus unangetastet. Seine gesamten Lehren ließ man für die katholischen Leser als Hypothese bestehen. Warum soll man mir also verboten haben, was Kopernikus erlaubt war? Ich erinnere mich ganz klar und deutlich, daß von einem ausgesprochenen Verbot überhaupt nicht die Rede war.«

»Nach der Mitteilung des Papstes aber ist im Archiv ein Protokoll darüber vorhanden.«

»Aber worauf soll sich denn dieses Protokoll beziehen? Es hat doch nie eine Sitzung oder eine Verhandlung oder ein Verhör stattgefunden, an dem ich teilgenommen habe!«

»Messer Galileo, glaubt doch nicht immer so leichtfertig alles, was Ihr Euch einredet. Erst vor kurzem war Serristori hier. Er betonte zwar, nicht in offizieller Eigenschaft zu kommen, aber glaubt Ihr denn, daß man darüber kein Protokoll aufgenommen hat? Ich bin überzeugt, daß eins angefertigt worden ist. Und genau so hat man ein Protokoll über Eure private Unterredung mit Bellarmin anfertigen können. Jetzt nun, nachdem es irgend jemand gelungen ist, den Papst gegen Euch aufzubringen, hat wahrscheinlich Seine Heiligkeit bei der Inquisition zurückgefragt, man möge nachforschen, wie man Euch fassen könnte. Da lag natürlich nichts näher, als die alten Akten hervorzukramen, und da fand man eben das Protokoll und das Verbot. Das wird man dem Papst gemeldet haben. ›Was?‹ wird der Papst gefragt haben, ›davon habe ich doch bisher nichts gewußt! Es war ihm also verboten, über Kopernikus zu sprechen, und er hat es trotzdem getan. Riccardi gegenüber hat er dieses Verbot verschwiegen und sich die Druckerlaubnis erschlichen. Das soll ihm schlecht bekommen‹ Und so sind wir bei dem jetzigen Stand der Sache angelangt. Das ist doch ganz einleuchtend.«

»Aber wenn schon hinter meinem Rücken ein Protokoll angefertigt worden ist, dann muß doch auch darin stehen, daß Bellarmin gegen eine Hypothese nichts einzuwenden hatte. Später hat mir doch der Kardinal selbst eine amtliche Bestätigung gegeben, daß ich meine Lehre nicht zu widerrufen brauchte. Die besitze ich heute noch. Ich habe sie auch hervorgesucht und mitgebracht. Bitte, zieht doch die oberste Schublade dort auf, da liegt sie ganz vorne.«

Der Gesandte nahm das Dokument aus dem Kasten und las es durch. Dann schüttelte er den Kopf und meinte bedenklich:

»Das ist sehr schlau abgefaßt! Daß man Euch nicht zwang, Eure Lehre zu widerrufen und zu verleugnen, steht tatsächlich drin. Was steht aber da noch? ›… sondern nur, daß die von Unserem Herrn abgegebene und von der Heiligen Kongregation des Index publizierte Erklärung mitgeteilt worden sei, laut welcher die dem Kopernikus zugeschriebene Lehre, daß die Erde sich um die Sonne bewege und die Sonne im Zentrum der Welt stehe, ohne sich von Ost nach West zu bewegen, der Heiligen Schrift zuwider sei, und deshalb weder verteidigt noch festgehalten werden dürfe.‹ Von einer Hypothese ist hier keine Rede. Es ist klüger, wenn Ihr diesen Brief gar nicht erst vorzeigt. Und was in jenem bewußten Protokoll steht, könnt Ihr gar nicht wissen. Das haben sie damals aufgenommen, wie es ihnen gepaßt hat. Und es ist sehr wahrscheinlich, daß Bellarmin die Erlaubnis, das Problem als Hypothese zu behandeln, gar nicht in dieses Protokoll aufnehmen ließ, um sich zu decken.«

»Aber Papst Urban hat mir doch selbst gesagt, daß von dieser Lehre als Hypothese zu sprechen ganz etwas anderes sei und daß dies gestattet wäre.«

»Gut, nehmen wir das an. Aber wer kann sagen, wo eine Hypothese beginnt und wo sie aufhört? Und wer entscheidet darüber, ob das, was Ihr geschrieben habt, eine Hypothese oder eine eindeutige Behauptung ist? Der Papst! Und der zürnt Euch. Gegen eine Erklärung Seiner Heiligkeit gibt es keinen Widerspruch. Es ist schon richtig, was ich Euch sage, Messer Galileo, und ich kann es nicht genug betonen: freut Euch, daß Ihr noch lebt, streitet nicht, widersprecht nicht, sondern erklärt Euch mit allem einverstanden, was sie wollen, auch dann, wenn es nicht den Tatsachen entspricht; sagt zu allem ›ja‹ und zeigt Euch gefügig. Denn das fehlte gerade noch, daß man dem Papst meldet: ›Galilei macht noch immer Ausflüchte und widersetzt sich. Er stellt den Papst in der Gestalt des Simplicio, also eines einfältigen Menschen, dar, und lehnt sich noch gegen die wohlverdiente Maßregelung auf!‹ Messer Galilei, wenn Ihr nicht auf der Hut seid, setzt Ihr Euer Leben aufs Spiel. Wenn Ihr dagegen acht gebt, kommt Ihr vielleicht noch glimpflich weg. Ich bitte Euch also flehentlich, hört auf mich!«

»Aber um Himmels willen, wie kann man mir nur so etwas andichten? Wie kann man mir so etwas Verwerfliches zumuten? Warum soll ich denn den Papst verspottet haben, der immer so gut zu mir war, der mir eine Ode gewidmet hat, der mich auszeichnete, umarmte, mir eine Jahresrente schenkte? Wer kann mir bloß so etwas zumuten?«

»Messer Galileo, nicht mich, sondern den Papst müßt Ihr davon überzeugen.«

»Könnte ich denn nicht mit ihm sprechen? Wenn ich mich ihm zu Füßen werfen würde … Wenn er in meine Augen sehen und wahrnehmen könnte, daß ich aufrichtig bin … Er hatte mich doch sehr lieb … und ich kann es einfach nicht begreifen, wie es möglich war, daß ich die von ihm gehörten Worte dem Simplicio in den Mund legte. Der liebe Gott muß, als ich das schrieb, mein Erinnerungsvermögen geschwächt haben. Ich schwöre vor dem Altar, die Hand auf der Bibel, daß mir nichts ferner lag, als der Wahnsinn, den Papst zu verspotten. Was meint Ihr, – so redet doch! – könnte ich wirklich nicht mit dem Papst sprechen?«

»Es ist unmöglich. Der Papst hat schon gesagt: ›Daß mir dieser Galilei nicht unter die Augen kommt.‹ Aber selbst wenn es möglich wäre, würde ich Euch mit Gewalt davon zurückhalten. Wir kennen den Papst Urban nur zu gut. Allein bei Eurem Anblick würde er in eine derartige Wut geraten, daß man gut täte, sich nicht erst auszumalen, was weiter kommen könnte. Bleibt Ihr nur hübsch ruhig, gebt jedem recht und tragt unbedingten Gehorsam zur Schau. Was mich betrifft, so werde ich alles Menschenmögliche tun. Ich habe schon an unseren Großherzog geschrieben, er möge ein eigenhändiges Schreiben an die Kardinäle Scaglia und Bentivoglio richten. Das gefällt Cioli zwar nicht, aber …«

»Cioli? Was hat denn Cioli gegen mich?«

»Kennt Ihr ihn immer noch nicht? Er ist wetterwendisch, wie der Hahn auf dem Kirchturm, der nur auf den aus Rom wehenden Wind reagiert. Solange Ihr der Liebling des Papstes wart, hat er Euch hoch geschätzt. Seitdem der Papst sich aber von Euch abgewendet hat, spricht auch er ganz anders von Euch. Ich will aufrichtig sein, obwohl ich von meinem Vorgesetzten rede: am Hofe in Florenz arbeitet Cioli gegen Euch. Gott sei Dank hört aber der Großherzog doch noch mehr auf mich. Das mit den Briefen wird schon in Ordnung kommen.«

Und Niccolini behielt recht: der Großherzog Fernando schrieb außerordentlich herzlich gehaltene Briefe nach Rom. Er schrieb sogar auch an den Papst selbst und dankte ihm, daß sein Hofgelehrter den Verlauf des Prozesses im Gebäude der Gesandtschaft abwarten dürfe. Außerdem bat er, den Verlauf des Prozesses, wenn nur irgend möglich, beschleunigen zu lassen. Diese Bitte fruchtete allerdings nichts. Der heftige Zorn des Papstes legte sich nicht. Als der Gesandte abermals zu einer Audienz erschien und die Briefe seines Herrschers überreichte, geschah etwas Überraschendes: der Papst begann selbst von der Ursache seiner Empörung zu sprechen.

»Es tut Uns leid, daß Wir Galilei, der einstmals Unser Freund war und mit dem Wir an einem Tische saßen, Schwierigkeiten bereiten müssen, aber die Belange des Glaubens sind wichtiger als alles andere.«

»Eure Heiligkeit«, erwiderte darauf der Gesandte, »ich bin felsenfest davon überzeugt, daß Galilei, wenn er verhört wird, auf jede Frage eine zufriedenstellende Antwort geben wird.«

»Das glauben Wir nicht«, fiel der Papst sofort ein, »denn es gibt eine Frage, die er nicht beantworten kann. Daß Gott allmächtig ist, kann nicht bezweifelt werden, Galilei aber will mit wissenschaftlichen Argumenten beweisen, daß dieses und jenes, zum Beispiel Ebbe und Flut, nur auf eine einzige Art entstehen könne und nicht anders. Das heißt: Gott wäre nicht fähig gewesen, diese Dinge anders zu schaffen, als er sie eben schuf.«

»Sicherlich«, sagte der Gesandte, »aber Gott hat es eben nur auf diese Art gewollt. Galilei behauptet doch auch nur, daß der Allmächtige von den vielen Tausend Möglichkeiten, die ihm zu Gebote standen, diesen einen Weg gewählt hat.«

Das war also jenes fatale Argument, das Simplicio sich in Galileis Buch zu eigen gemacht hatte. Das war die Stelle, die den Papst in seiner Meinung bestärkte, die Gegner hätten recht in ihren Anschuldigungen und mit Simplicio sei eben der Papst gemeint. Allem Anschein nach hatte dieser aufrührerische Spott den Papst bis aufs Blut verletzt. Man konnte ihm ansehen, daß ihn immer nur diese Beleidigung beschäftigte, gegen die sich das Gefühl seiner geistigen Überlegenheit und seiner Würde empörte. Plötzlich brach aus ihm der Zorn hervor. Er wurde feuerrot und rief heftig:

»Das wird aber nicht Galilei bestimmen! Gott ist allmächtig! Und nicht Galilei wird bestimmen, was der Allmächtige zu tun und zu lassen hat!«

Als der Gesandte dem Kranken von diesem Vorfall erzählte, erschrak er selbst von neuem über den Zorn des Papstes und ging schnell auf ein anderes Gesprächsthema über. Die Beschuldigung, die zwar keiner aussprach, aber jeder flüsternd weiterverbreitete, war solcher Art, daß man sie überhaupt nicht zur Sprache bringen konnte. Der Papst konnte selbstverständlich die Ungeheuerlichkeit, daß man ihn zu verspotten wagte, nicht offiziell zur Kenntnis nehmen. Andererseits konnte ihm auch keiner etwa entgegnen, die Annahme sei irrig: »Es ist nicht wahr und keine Rede davon, daß mit Simplicio Eure Heiligkeit gemeint sein könnte.« Diese unglückselige Angelegenheit, durch die er in Ungnade gefallen war, hatte also eine Wendung erhalten, die nicht zu klären war. Allem Anschein nach war das Verfahren gegen ihn in eine Sackgasse getrieben worden, in der er unter keinen Umständen Recht finden konnte. Die Heilige Inquisition war zweifellos in der Lage, ein vor sechzehn Jahren abgefaßtes Protokoll vorzuweisen, in dem die Erlaubnis zur Behandlung des Problems als Hypothese nicht enthalten war. Das war ja auch ganz selbstverständlich; denn es war lediglich die persönliche Meinung des Kardinals Bellarmin, daß er ein Auge zudrücken und es mit der »Hypothese« nicht allzu streng nehmen werde. Solche Mitteilungen persönlicher Art pflegte man nicht in einem Protokoll festzulegen. Aber was hätte es ihm auch genützt, wenn die Erlaubnis in dem Protokoll zum Ausdruck gekommen wäre? Das Heilige Offizium hatte ausdrücklich erklärt, daß der Begriff Hypothese auf dieses Werk keinesfalls mehr angewendet werden könnte. Sollte der Angeklagte sich damit verteidigen, daß die päpstliche Zensur ja vorher Einblick in das Manuskript genommen und den Tatbestand nicht als Übergriff angesehen habe, dann würde das Heilige Offizium erwidern, daß sich eben auch die päpstliche Zensur geirrt habe und daß auch gegen die päpstliche Zensur das Verfahren eingeleitet sei.

Und so geschah es auch. Der Papst ließ gegen den unglücklichen Riccardi ein Disziplinarverfahren anstrengen. Er wurde seines Postens enthoben. Der Groll des Kirchenoberhauptes hatte schon Ciampoli in die Verbannung geschickt, jetzt kam Riccardi an die Reihe. Auf Gnade war also nicht zu rechnen. Auch andere Anzeichen sprachen dafür, daß der Papst strafen wolle, und zwar hart. Castelli, der mit Leib und Seele zu seinem Meister stand, und im Vatikan keinen geringen Einfluß besaß, wurde plötzlich in Urlaub geschickt. Er mußte abreisen. Boccabella, der weiche, gütige Mann, war abgelöst worden. Campanella hatte unter allen Umständen in das Kollegium des Heiligen Offiziums eintreten wollen, er hatte auch Aussichten gehabt. Nun ließ man ihm mitteilen, er möge nicht einmal mehr davon träumen: denn jedermann wisse ja, daß auch er Kopernikaner sei. Die beiden einflußreichsten Kardinäle Scaglia und Bentivoglio erhielten inzwischen den Brief des Großherzogs. Beide machten einen Entschuldigungsbesuch bei dem Gesandten: sie seien tief ergriffen und konnten in vollem Umfang die Ehre würdigen, daß Seine Hoheit, der Großherzog, sich in allerhöchsteigener Person an sie gewendet habe, zu ihrem größten Bedauern seien sie jedoch nicht in der Lage den Brief zu beantworten, da die Gesetze der Inquisition jede Äußerung, gleichviel ob mündlich oder schriftlich, strengstens verbiete.

Der Zustand des Kranken verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Seine Schmerzen erreichten wieder den Höhepunkt. Er stöhnte und litt, die Tränen rollten ihm aus den Augen, und er schrie laut auf, wenn er glaubte, diese Höllenqualen nicht mehr ertragen zu können. Allmählich verlor er auch den Überblick über seine Angelegenheit. Seine furchtbar mitgenommenen Nerven versagten. Sein Bruch war wieder weiter aufgerissen, das Bauchfell klaffte nunmehr unter der Haut vom Brustfell bis zum Leisten. Frau Katharina rief einen Arzt nach dem anderen, sie schüttelten aber nur den Kopf und konnten nicht helfen. Und es schien, als wolle das Heilige Offizium nur darauf warten, bis der Nervenzustand des Kranken den Tiefpunkt erreicht hätte; denn er gab kein Lebenszeichen von sich. Niccolini machte einen Besuch nach dem anderen. Er sprach am päpstlichen Hofe vor, bei den Kardinälen, um die Angelegenheit zu beschleunigen, aber überall wurden ihm nur ausweichende Antworten und Achselzucken zuteil. An die Heilige Inquisition selbst konnte er sich nicht wenden, da deren Satzungen strengstens jedwede Äußerung untersagten. Eben dieses unnahbare, geheimnisvolle Schweigen machte die grausige Institution so furchterregend. Das Opfer, das in ihre Krallen geriet, lebte in ständiger Spannung. Es wußte nie, was die nächste Minute bringen würde, und die Entscheidung über Leben und Tod konnte ebenso innerhalb einer Viertelstunde wie im Verlaufe eines halben Jahres fallen. Giordano Bruno hatte man Jahre hindurch in dieser peinvollen Ungewißheit gehalten, bis man ihn verbrannte …

Der Greis war kaum noch als normal denkender Mensch anzusehen. Seine entsetzlichen körperlichen Qualen waren von ebensolchen seelischen begleitet. Vom körperlichen Schmerz und von der unerträglichen Spannung gepeinigt und gehetzt, brach er manchmal wie ein Irrsinniger in ein wildes Schluchzen aus und bat, man möge ihn endlich mitnehmen, verurteilen, ganz gleich wozu, denn er könne das alles nicht mehr ertragen. Nur mühsam konnten sie ihn dann beruhigen. Frau Katharina verabreichte ihm dreimal am Tage Getränke, die ihn besänftigen sollten, damit er ein wenig schlafen könne. Aber den Augenblicken der Ruhe folgten nur neuerliche heftige Anfälle. Mit dem verzweifelten Instinkt des gehetzten Wildes empfand der Kranke, daß ihm der Gesandte etwas verheimlichte. Er flehte ihn an, nichts vor ihm zu verbergen, es wäre viel bester, wenn er wüßte, was er zu erwarten habe, denn in diesem Hause fühlte er sich doch vorerst noch in Sicherheit. Aber der Gesandte wich immer wieder aus, tröstete ihn und war stets bestrebt, ihn bei Hoffnung zu erhalten.

Endlich aber kam der Tag, an dem er erfuhr, was ihm der Gesandte solange vorenthalten hatte. Eines Morgens, zwei Monate nach seiner Ankunft in Rom, trat Niccolini unerwartet in sein Zimmer. Mit einem ganz anderen Gesichtsausdruck als sonst.

»Ist etwas geschehen?« fragte der Greis erschrocken.

Der Gesandte setzte sich auf das Bett und nahm die verwelkte Hand zwischen seine beiden Hände.

»Messer Galileo, bewahrt Ruhe! Ich gebe Euch mein Wort, daß Ihr nichts zu befürchten habt. Euch wird nichts Schlimmes widerfahren.«

»Was soll mit mir geschehen?« fragte der Kranke flüsternd.

»Man wird Euch vor dem Heiligen Offizium verhören.«

»Gott sei Dank! Endlich! Ich will mich verteidigen! Jede dieser bei den Haaren herbeigezogenen Beschuldigungen werde ich widerlegen können. Das ist doch eine Freudenbotschaft!«

»Fangt Ihr schon wieder an? Wollt Ihr widersprechen? Debattieren? Habt Ihr mir denn nicht versprochen, blind, taub und stumm zu sein? Auf alles ›ja‹ zu sagen? Merkt Euch, wenn Ihr dieses Versprechen nicht haltet, stehe ich für nichts mehr ein. Ihr müßt absoluten Gehorsam an den Tag legen! Habt Ihr verstanden? Aber nicht dies wollte ich Euch mitteilen. Die Statuten des Heiligen Offiziums bestimmen leider, daß der Angeklagte, solange das Verfahren läuft, sich im Gebäude der Inquisition aufzuhalten hat. Ihr werdet jetzt also übersiedeln ins …«

»Nein«, rief der Kranke entsetzt, »nein! Ich gehe nicht dorthin! Ich habe Angst! Man wird mich quälen! Man wird mich in den Keller sperren! Mit glühenden Zangen wird man mich peinigen. Ich gehe nicht!«

Mit seiner gesunden Hand krallte er sich am Bettrand fest, als ob ihn die Häscher schon mitschleppen wollten und er bereit sei, sich solange als möglich zu widersetzen.

»Seid doch vernünftig und beruhigt Euch! Habe ich Euch denn nicht mein Wort gegeben, daß Euch kein Leid zugefügt wird? Ich habe alles schon erledigt. Ihr werdet ein gutes Zimmer erhalten, die Tür wird nicht verschlossen werden. Sogar meinen Diener dürft Ihr mitnehmen, der Euch pflegen soll. Wir werden Euch von hier aus beköstigen, auch dazu habe ich die Erlaubnis erhalten. Wenn Ihr aufstehen könnt, dürft Ihr auf dem Gang spazieren gehen, selbst das hat man zugelassen. Beruhigt Euch also und glaubt mir. Ich habe diese traurige Nachricht bis zur letzten Minute aufgespart, aber jetzt muß ich es Euch doch sagen: macht Euch fertig. Ihr müßt noch heute fort.«

Der Kranke starrte den Gesandten an, plötzlich erfaßte ihn ein Taumel. Er wurde im Bett ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, stand auch Frau Katharina an seinem Bett und rieb seine Stirn mit einem wohlriechenden Wasser ein.

»Faßt Euch«, mahnte sie zärtlich, »Ihr müßt Euch bereit halten. Wenn die Worte Francescos Euch nicht genügen, so schwöre auch ich Euch, daß man Euch dort kein Leid zufügen wird. Seid stark. und denkt an Celeste.«

Da traten auch schon die beiden Diener ein, um ihn, im Bette liegend, anzukleiden. Aber so behutsam sie auch verfuhren, bei jeder Berührung seiner Hand und seines Fußes empfand er entsetzliche Schmerzen. Er bat um seine zurechtgelegten Schriftstücke und steckte sie in die Tasche. Nur mit Mühe und Not konnten sie ihn aufrichten, so daß seine Füße die Erde berührten. Die Leute umfaßten ihn und hoben ihn hoch. Mit unendlicher Kraftanstrengung stellte er sich auf sein gesundes Bein. Sie halfen ihm die Treppe hinabsteigen. Er konnte sich nur auf sein gesundes Bein stützen und stöhnte ununterbrochen vor Schmerz auf. Vor dem Portal wartete die Sänfte. Als man ihn mit großer Mühe hineingehoben hatte, neigte sich die Frau des Gesandten zu ihm und küßte ihn auf die Stirn.

»Um Eure Sachen braucht Ihr Euch nicht zu kümmern. Leibwäsche, Arznei, Papier und Schreibgerät schicke ich Euch noch heute. Gott segne und behüte Euch!«

Der Gesandte nahm neben ihm Platz. Die Sänfte setzte sich in Bewegung. Der Weg von Trinita dei Monti durch die Stadt bis zur Minerva war weit und beschwerlich. Seine Schmerzen ließen trotzdem etwas nach, als ob der seelische Schmerz sie betäubt hätte. Den ganzen Weg entlang schärfte ihm der Gesandte immer wieder ein und dasselbe ein: jede Frage bejahen, ohne zu zögern, und blind gehorchen. Vor dem Tore umarmten sie sich. Das Aussteigen war wiederum mit großen Qualen verbunden. Dann schloß sich hinter ihm das Tor der Inquisition.


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