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Neuntes Kapitel

Es war der zwölfte April, als man ihn in den großen Beratungssaal der Heiligen Inquisition führte. Er ging wie ein Gelähmter auf Krücken gestützt, nur waren es zwei Menschen, die ihm als Krücken dienten: der Diener der Gesandtschaft und ein Dominikanermönch. Im Vorzimmer hieß man ihn niedersitzen. Er hatte unbändige Schmerzen, preßte die Zähne aufeinander und stöhnte. Mit aller Macht versuchte er, sich zu beherrschen. Aus dem Beratungssaale drangen Stimmen an sein Ohr, mehrere Menschen sprachen, aber man konnte nichts verstehen.

»Ist drinnen schon mein Gericht versammelt?« fragte er den Dominikaner.

»Ich kann über nichts Auskunft erteilen«, entgegnete der Mönch.

Er wartete weiter und Lastete mit seiner rechten Hand nach seinem linken Arm, um ihn behutsam in eine bequemere Lage zu bringen. Dann tastete er das straff gewickelte Bruchband auf seinem Leibe ab und wartete, wartete klopfenden Herzens und schluckte immer wieder. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Mönch nannte laut seinen Namen. Seine beiden Begleiter halfen ihm, sich zu erheben, und stützten ihn beim Gehen. In einem großen, hellerleuchteten Saale fand er sich wieder. In der Mitte des Saales ein langer Tisch, darauf das Kruzifix. Drei Geistliche an der einen Seite des Tisches: Firenzuola und zwei andere. Man führte den Angeklagten bis zur Mitte des langen Tisches, feinen Richtern gegenüber. Firenzuola, der in der Mitte saß, also den Vorsitz hatte, blickte auf.

»Ist der Angeklagte krank?« fragte er in lateinischer Sprache.

»Ich habe ein schweres Gelenkleiden und müßte eigentlich das Bett hüten.«

»Dann werden wir gestatten, daß Ihr Euch im Laufe des Verhörs setzt. Einstweilen müßt Ihr aber noch stehen, da Ihr einen Eid abzulegen habt. Ich eröffne hiermit die Sitzung.«

Der Dominikanermönch und der Gesandtschaftsdiener standen noch immer rechts und links neben ihm und stützten ihn. Seine Personalien hatte der Vorsitzende schnell aufgenommen: Galileo Galilei, Hofmathematiker, siebzig Jahre alt, wohnhaft in Florenz. Dann erhob sich Firenzuola und gleichzeitig mit ihm auch die beiden anderen Richter. Firenzuola sprach die Eidesformel vor: »Ich werde die Wahrheit aussagen …

So wahr mir Gott, die Heilige Jungfrau und alle Heiligen helfen mögen!«

Dann setzten sich die Richter wieder. Und auch ihm gab man einen Stuhl. Langsam, schwerfällig und stöhnend nahm er Platz. Firenzuola gab ein Zeichen, und der Dominikaner und der Diener entfernten sich.

»Der Angeklagte soll mir sagen, ob ihm der Grund bekannt ist, aus welchem er hier vor dem Heiligen Offizium zu erscheinen hat.«

»Der offizielle Grund ist mir nicht bekannt, aber ich glaube hierher zitiert zu sein, um über mein zuletzt erschienenes Buch Rechenschaft abzulegen.«

»Handelt es sich um dieses hier?« fragte der Vorsitzende und hob das vor ihm liegende Buch in die Höhe.

»Ja.«

»Das Buch ist betitelt: › Dialogo di Galileo Galilei‹ und so weiter. Der Einfachheit halber nennen wir im Laufe des Verhörs dieses Buch nur ›Dialog‹ Antwortet mir, ob Ihr alles, was in diesem Buche enthalten ist, als von Euch verfaßt anerkennt?«

»Ich erkenne es an.«

»Gut«, erwiderte der Inquisitor, »kehren wir zunächst zu den Vorereignissen zurück. Und zwar beginnen wir gleich mit dem Jahre sechzehnhundertsechzehn. Hieltet Ihr Euch damals in Rom auf?«

»Allerdings.«

»Und warum?«

»Weil ich erfahren hatte, daß die kopernikanische Lehre von der Unbeweglichkeit der Sonne und der Beweglichkeit der Erde Gegner bei der Geistlichkeit habe. Ein gewisser Pater Caccini hatte in Florenz von der Kanzel herunter gegen die Anhänger dieser Lehre Stellung genommen. Ich kam nach Rom, um mir Gewißheit darüber zu verschaffen, wie die Kirche diese Lehre offiziell beurteilt. Genau genommen war das aber nicht im Jahre sechzehnhundertsechzehn, sondern bereits im Dezember sechzehnhundertfünfzehn. Ich blieb jedoch damals bis zum sechzehnten April des nächsten Jahres in Rom.«

»Das ist ohne Bedeutung. Der Einfachheit halber wollen wir sagen, Ihr wart sechzehnhundertsechzehn hier. Seid Ihr damals aus eigenem Antriebe nach Rom gekommen?«

»Ja, aus eigenem Antriebe.«

»Ihr hattet keinerlei Vorladung erhalten?«

»Nein.«

»Denkt einmal nach. Hat Euch damals nicht das Heilige Offizium nach Rom bestellt?«

»Nein«, erwiderte er verwundert, »ich habe mit dem Heiligen Offizium nie etwas zu schaffen gehabt. Es war mir zwar bekannt, daß man eine Anzeige erstattet hatte, aber ein gewisser Lorini hatte nicht mich angezeigt, sondern meine angeblichen Anhänger.«

»Könnt Ihr Euch genau daran erinnern, daß man Euch nicht vorgeladen hat? Habt Ihr einen Zeugen, daß Ihr aus freien Stücken hierhergekommen seid?«

»Ich hatte das seinerzeit mit dem erlauchten Großherzog Cosimo so vereinbart. Auch dem derzeitigen Kanzler Picchena war mein Entschluß bekannt. Und auch Guicciardini, der damalige florentinische Gesandte, wußte Bescheid.«

»So. Und diese sind natürlich schon alle gestorben.«

Galilei erwiderte nichts. Sein Gehirn arbeitete rege. Er wußte sofort, was man mit dieser Frage bezweckte. Das Gericht wollte konstruieren, daß er damals schon als Angeklagter vor der Inquisition gestanden habe; wenn man damals jenes bewußte Protokoll als Endbeschluß eines Inquisitionsverfahrens ausgenommen hätte, dann wäre er selbstverständlich viel schwerer belastet. Denn es ist ein großer Unterschied, ob die kirchlichen Behörden einem Gelehrten etwas lediglich in der Form einer Ermahnung mitteilen, oder ob der Angeklagte in einer wissenschaftlichen Frage zum Schweigen verurteilt worden ist. Der Lebenstrieb eines flüchtenden Tieres erhellte abermals seinen Verstand.

»Ihr bleibt also dabei«, ertönte da die Stimme des Vorsitzenden, »daß Ihr keinerlei offizielle Vorladung erhalten habt und aus freiem Willen nach Rom gekommen seid?«

»Jawohl. Daran kann ich mich ganz klar und deutlich erinnern. Das steht zweifelsfrei fest. Wenn ich von irgendeiner Behörde eine Vorladung erhalten hätte, so müßte doch in den Akten ein Nachweis über diese Vorladung zu finden sein. Aber bei keiner Behörde ist ein derartiger Vermerk vorhanden, weil ich damals eben aus freien Stücken hierher gekommen bin.«

»Gut, lassen wir das zunächst einmal. Sagt uns nun, mit welchen geistlichen Personen Ihr seinerzeit in Rom zusammengekommen seid.«

Galilei nannte vor allem den Kardinal Bellarmin. Dann Pater Grienberger, den Grafen Querengo, die Kardinäle del Monte und Orsini. Den Ordenspräfekten der Dominikaner, Maraffi, und den Kardinal Gaetani. Weitere Namen fielen ihm nicht mehr ein.

»Mit welchem von diesen Herren habt Ihr damals gesprochen?«

»So gut wie mit allen. Auf den Kardinal Bellarmin komme ich später zurück, weil ich mit ihm am meisten und über die wichtigsten Dinge gesprochen habe. Mit Pater Grienberger tauschte ich hauptsächlich Erinnerungen an meinen einstigen hochverehrten Meister, Pater Clavius, aus. Ich sprach mit ihm aber auch über das kopernikanische System. Der Graf Querengo war mir noch von Padua her bekannt. Auch mit ihm unterhielt ich mich über den Sinn des kopernikanischen Weltsystems und darüber, ob man die Kirchenfürsten nicht mit der Lehre des Kopernikus vertraut machen könnte. Über dasselbe Thema sprach ich ferner mit dem Kardinal del Monte und mit dem Kardinal Orsini, der sich der besonderen Zuneigung des Papstes Paul erfreute. Mit Pater Maraffi unterhielt ich mich über die gegen mich gerichteten Angriffe der Dominikaner. Den Kardinal Gaetani, der seinerzeit eines der wichtigsten Mitglieder des Santo Offizio war, bat ich, über das kopernikanische Weltsystem ein Gutachten von Campanella, der damals in den Kerkern von Neapel lag, einzuholen, was auch geschah. Am meisten beriet ich mich jedoch mit dem Kardinal Bellarmin. Er war der Meinung …«

Da hielt er plötzlich inne. Er hatte gerade sagen wollen: Bellarmin war der Meinung, daß die Verbreitung der kopernikanischen Lehre das geistliche und weltliche Gebäude der Kirche zum Einsturz bringen würde. Wenn er das gesagt hätte, hätte er ja selbst die Waffen gegen sich aus der Hand gegeben. Ihm war es bewußt gewesen, daß seine Lehre die Kirche gefährden könne, und trotzdem hatte er sie weiter gepredigt. Zudem stand es doch außer Zweifel, daß Papst Urban von jedem Wort, das hier gesprochen wurde, unterrichtet würde. Und die Behauptung, durch eine Lehre, ganz gleich welche, könnte die weltliche Macht des Papstes erschüttert werden, hätte sicherlich den Zorn des Heiligen Vaters über die Verletzung seiner Würde hervorgerufen. So etwas hätte er dem Papst allenfalls unter vier Augen sagen können, wenn sie noch in dem alten Freundschaftsverhältnis zueinander stünden. Jetzt aber hätte das geradezu wie eine Lästerung geklungen.

»Nun, warum bliebt Ihr stecken?«

»Ich bitte um Vergebung, ich habe nur meine Gedanken geordnet. Der Kardinal Bellarmin war der Meinung, daß die kopernikanische Lehre in Widerspruch zu einer wortwörtlichen Deutung gewisser Stellen der Heiligen Schrift stünde. Wir haben uns hierüber des öfteren und längeren unterhalten, aber ich vermochte ihn nicht zu überzeugen.«

»Was gab denn damals zu diesen Unterredungen Anlaß?«

»Das Interesse der hohen Geistlichkeit. Damals war gegen die Werke von Foscarini, Zuñiga und Kopernikus ein Verfahren im Gange. Die hohen Würdenträger der Kirche wollten sich über die wissenschaftliche Bedeutung der neuen Lehre orientieren und traten deshalb mit mir, dem Fachmann, in Gedankenaustausch. Aber ich wurde lediglich in meiner Eigenschaft als Fachmann befragt, eine andere Qualifikation besaß ich nicht. Ich war ja auch nur Gast in Rom, die vor dem Santo Offizio laufenden Prozesse berührten meine Person nicht im geringsten. Ich war einzig und allein als Astronom interessiert. Mir war es aber selbstverständlich von Wert, zu wissen, wie die Kirche über die Lehre, deren Anhänger auch ich war, eigentlich denkt.«

»Nun, und wie war die Meinung der Kirche?«

»Der Streit über die obenerwähnte Meinung von dem Stillstand der Sonne und der Bewegung der Erde wurde von der heiligen Indexkongregation dahin entschieden, daß eine solche Meinung, als den wirklichen Tatsachen entsprechend vorgetragen, der Heiligen Schrift widerspräche und daher nur als Vermutung, als Hypothese geäußert werden dürfe, wie das einst auch Kopernikus dargestellt habe.«

»Ist dieser Beschluß dem Angeklagten mitgeteilt worden? Und wenn ja, von wem?«

»Er ist mir mitgeteilt worden. Vom Kardinal Bellarmin.«

»Gut. Sagt mir genau, was Euch der Kardinal mitgeteilt hat, ob er auch noch über andere Dinge gesprochen hat und worüber.«

»Der Herr Kardinal teilte mir mit, daß die kopernikanische Auffassung als Hypothese behandelt werden dürfe, und zwar in der Weise, wie es Kopernikus getan habe. Seiner Eminenz war es auch bekannt, daß ich, gleich Kopernikus, diese Lehre auch nur als Hypothese ansehe. Das geht auch aus dem Briefe hervor, den Seine Eminenz an den Provinzial der Karmeliter, Pater Foscarini, gerichtet hat und von dem ich eine Abschrift besitze.«

Er zog eine ganze Reihe von Schriftstücken aus der Tasche, suchte den betreffenden Brief heraus und legte ihn auf den Tisch.

»Bitte. Er ist vom zwölften April sechzehnhundertfünfzehn datiert. Also genau ein Jahr vor dem besagten Dekret der Inquisition. Ich habe einen Satz dieses Briefes unterstrichen; habt die Güte, ihn zu lesen: ›Es scheint mir, daß Euer Hochwürden und der Herr Galilei klug daran tun, sich zu begnügen, nur annahmsweise und nicht mit Bestimmtheit zu sprechen.‹«

Dieser Brief rief allgemeine Verwunderung hervor. Ein Richter nach dem anderen las ihn. Galilei hatte ihn siebzehn Jahre lang aufbewahrt. Seinerzeit hatten ihm noch die »Luchse« diese Abschrift gegeben. Dann ergriff der Vorsitzende etwas gereizt von neuem das Wort:

»Wir wollen jetzt nicht davon reden, was ein Jahr vor jenem Termin geschah, sondern was sich im Februar sechzehnhundertsechzehn ereignete.«

»Gut. Im Februar sechzehnhundertsechzehn sagte mir der Kardinal Bellarmin, daß die Meinung des Kopernikus, als bestimmt angenommen, der Heiligen Schrift entgegen sei, man sie daher weder festhalten noch verteidigen dürfe, daß man sie aber als Hypothese auffassen und in diesem Sinne darüber schreiben könne. Übereinstimmend hiermit besitze ich ein Schriftstück von demselben Herrn Kardinal Bellarmin, datiert vom sechsundzwanzigsten Mai sechzehnhundertsechzehn, worin er sagt, daß die kopernikanische Ansicht weder festgehalten noch verteidigt werden dürfe, da sie der Heiligen Schrift widerspreche. Von diesem Dokument lege ich hiermit ebenfalls eine Abschrift vor.«

Er suchte das Schriftstück heraus und legte es auf den Tisch. Er hatte lange darüber nachgedacht, ob er diesen Brief verschweigen solle oder nicht. Aber er entschloß sich doch, so zu handeln, wie er es jetzt tat. Denn was in diesem Dokument gegen ihn sprach, konnte er sowieso nicht beschönigen. Dies war den Richtern doch wohlbekannt. Andererseits konnten sie aus diesem Dokument ersehen, daß der Kardinal niemals von ihm verlangt hatte, seinen wissenschaftlichen Standpunkt abzuschwören. Auch dieses Blatt wanderte von Hand zu Hand.

»Waren noch andere Personen zugegen, als Ihr diese Mitteilung erhieltet? Und wer?«

»Es waren auch andere zugegen. Dominikanermönche. Ich habe sie weder gekannt noch jemals wiedergesehen.«

»Hat man Euch damals ein Verbot bekanntgegeben? Denkt streng nach!«

»Ich möchte den ganzen Vorgang erzählen. Seine Eminenz, der Kardinal Bellarmin, ließ mich eines Morgens zu sich rufen. Er erinnerte mich an gewisse Einzelheiten, welche ich, bevor ich sie anderen mitteilte, zuerst Seiner Heiligkeit zu Gehör bringen möchte.«

»Was sagt Ihr da?«

Alle drei Richter sahen überrascht den Angeklagten an. Der Vorsitzende schüttelte den Kopf. Galilei schwieg. Er wartete. Firenzuolas Miene wurde noch eisiger als zuvor. Er erklärte:

»Das wird in das Protokoll aufgenommen. Der Angeklagte kann weiterreden.«

»Dann erklärte mir Seine Eminenz, der Kardinal, man dürfe die kopernikanische Meinung, da sie der Heiligen Schrift widerspräche, weder festhalten noch verteidigen, man dürfe sie nur als Hypothese erörtern.«

»Nur als Hypothese? So. Hat jemand diese Äußerung gehört.«

»Vielleicht die Dominikanermönche …«

In diesem Augenblick änderte der Vorsitzende seine Haltung. Bisher hatte er die Fragen mit monotoner Stimme gestellt, jetzt schrie er plötzlich den Angeklagten an:

»Vielleicht? Was soll das heißen, vielleicht? Waren die Dominikanermönche zugegen oder waren sie es nicht?!«

Der Greis fuhr zusammen. Etwas begann in ihm zu hämmern: jetzt beginnt es. Jetzt ist die Minute da, in der ich nach dem Rat des Gesandten unbedingten Gehorsam zeigen muß und nicht widersprechen darf.

»Daran erinnere ich mich nicht mehr. Es ist ja schon sechzehn Jahre her.«

»Es ist also möglich, daß niemand anwesend war?« entgegnete Firenzuola und ging nunmehr zum Angriff über.

»Es ist auch möglich, daß niemand anwesend war.«

»Es ist also möglich, daß niemand diese Äußerung gehört hat?«

»Es ist möglich. Ich kann mich nicht erinnern.«

»Wenn Ihr Euch so wenig erinnern könnt, ist es vielleicht auch möglich, daß Ihr Euch der Worte des Kardinals nicht mehr genau entsinnen könnt?«

»Es ist möglich, daß er auch etwas sagte, woran ich mich jetzt nicht mehr erinnern kann.«

»Und wie wäre es, wenn ich Eurem Gedächtnis nachhülfe? Wenn ich den Wortlaut des damaligen Protokolls vorläse? Auch dann würdet Ihr Euch nicht besinnen können?«

»Ich glaube kaum, Monsignore.«

»Also dann nehmt zur Kenntnis, daß das Protokoll, das vor mir liegt, folgenden Wortlaut hat:

 

Freitag, den sechsundzwanzigsten Februar sechzehnhundertsechzehn. In dem vom durchlauchtigsten Kardinal bewohnten Palaste, und zwar in dessen Privatgemächern hat derselbe Herr Kardinal, nachdem obengenannter Galilei vorgeladen und vor Seiner Gnaden erschienen war, in Gegenwart des hochwürdigen Bruders Michael Angelo Segnitius de Lauda vom Predigerorden, des Generalkommissars des Heiligen Offiziums, den Galilei ermahnt, den Irrtum vorgedachter Meinung aufzugeben, und unmittelbar darauf hat in meiner und der Zeugen Gegenwart, im Beisein desselben durchlauchtigsten Herrn Kardinals der obengenannte Pater-Kommissar dem noch anwesenden und vorgeladenen Galilei im Namen Seiner Heiligkeit des Papstes und der ganzen Kongregation des Heiligen Offizium vorgeschrieben und befohlen, die oben besagte Meinung, daß die Sonne das Zentrum der Welt und unbeweglich sei, die Erde hingegen sich bewege, ganz und gar aufzugeben und dieselbe in keiner Weise mehr für wahr zu halten, noch in Worten oder Schriften zu lehren oder zu verteidigen. Widrigenfalls werde im heiligen Offizium gegen ihn vorgegangen werden. Nachdem er diesen Befehl vernommen, hat obengenannter Galilei sich beruhigt und versprochen zu gehorchen. So geschehen zu Rom am obengenannten Ort in Gegenwart von Badino Nores aus Nicosia im Königreiche Cypern und Augustin Mongart aus der Abtei Rottz der Diözese von Politianum, Hausgenossen des genannten Herrn Kardinals, als Zeugen.«

 

»Was hat der Angeklagte hierauf zu erwidern?«

Seine Schläfen pochten. Er erinnerte sich ganz klar und deutlich, daß sich das nicht so verhielt: nur der Kardinal Bellarmin hatte seinerzeit gesprochen, die Dominikaner hatten überhaupt nichts gesagt. Entweder hatte man also das Protokoll schon damals der Wahrheit widersprechend abgefaßt oder irgend jemand hatte es nachträglich gefälscht, nur damit die unheilvollen Worte darin stehen sollten, er habe jene Meinung ganz aufzugeben und dürfe sie weder verteidigen noch lehren. Also nicht einmal als Hypothese? Im ersten Impuls wollte er ausrufen: »Dieses Dokument ist falsch!« Aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Und sollte er die Inquisition der Urkundenfälschung bezichtigen? Dann könnte er sich ja gleich für den Scheiterhaufen bereitmachen! Eine wilde Erregung bemächtigte sich seiner.

»Nun, warum antwortet Ihr nicht? Erinnert Ihr Euch jetzt, daß es so war?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Ihr könnt Euch nicht erinnern. Aber es ist möglich, daß es so war?«

Galilei schwieg. Er glaubte ohnmächtig zu werden. Der Großinquisitor schrie ihn an:

»Nun!? Ist es möglich, daß es so war? Oder sagt das Protokoll die Unwahrheit?«

Heiser, gepreßt, fast stöhnend kamen die Worte von den Lippen des gequälten, seelisch gebrochenen Greises:

»Es ist möglich, daß es so war.«

»Endlich! Ihr habt also einen klar ausgesprochenen Befehl erhalten.«

»Auf diesen Befehl kann ich mich nicht entsinnen.«

»Der Angeklagte erinnert sich nicht, aber das Protokoll erinnert sich, und der Angeklagte hält es für möglich, daß es so war. Was wollt Ihr? Habt Ihr noch etwas zu sagen?«

»Ich möchte untertänigst die Aufmerksamkeit Eurer Eminenz darauf lenken, daß in dem Dokument, das mir Seine Eminenz der Kardinal Bellarmin aushändigte, die Ausdrücke »ganz und gar aufgeben‹ und ›in keiner Weise verteidigen oder lehren‹ nicht enthalten sind.«

»Dort fehlen sie. In dem Protokoll fehlen sie aber nicht. Mithin, wer hat dem Angeklagten jenen Befehl mitgeteilt?«

»Seine Eminenz der Kardinal Bellarmin.«

»Aber Ihr habt doch eben jetzt mit Euren eigenen Ohren aus dem Inhalt des Protokolls vernommen, daß Euch diesen Befehl der Oberkommissar des Santo Offizio im Namen Seiner Heiligkeit und des Santo Offizio mitgeteilt hat.«

»Ich kann mich darauf nicht besinnen. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, daß der Herr Oberkommissar anwesend war.«

»Aber es ist möglich, daß er dort war? Nun? So redet doch!«

Der Angeklagte mußte wieder schlucken. Und kaum hörbar, gequält, preßte er hervor:

»Es ist möglich.«

»Also! Wir können demnach das bisher Gehörte wie folgt zusammenfassen: das Santo Offizio hat erklärt, daß diese Auffassung der Heiligen Schrift widerspricht, und der Oberkommissar hat dem Angeklagten im Namen Seiner Heiligkeit und des Santo Offizio befohlen, diese Lehre ganz aufzugeben und weder zu verteidigen noch zu lehren. Antwortet mir nun auf die nächste Frage: Habt Ihr, nachdem Euch besagter Befehl erteilt worden war, die Erlaubnis erhalten, Euren ›Dialog‹ schreiben zu dürfen?«

»Nein.«

»Und warum habt Ihr nicht um die Erlaubnis nachgesucht?«

»Weil ich nicht glaubte, diesen Befehl in meinem Buch zu überschreiten.«

»Ja, diesen Befehl, den Ihr erhieltet! Aber das Buch habt Ihr trotzdem geschrieben! Jetzt berichtet, wie Ihr die Zensurerlaubnis vom Palastmeister erhalten habt.«

Galilei erzählte ausführlich, wie er das Manuskript an Riccardi geschickt, wie sie das Vorwort besprochen, wie Visconti die Korrekturen gelesen habe und wie schließlich die Druckgenehmigung in Florenz erteilt worden sei.

»Habt Ihr dem Pater Palastmeister Mitteilung von dem soeben besprochenen Befehl gemacht, den Ihr im Jahre sechzehnhundertsechzehn erhieltet?«

»Ich habe nichts davon gesagt.«

»Und warum nicht?«

»Weil ich durch jenes Buch die Meinung von der Bewegung der Erde und dem Stillstande der Sonne weder festgehalten noch verteidigt habe; ich habe vielmehr in diesem Werk nur die Gegenbeweise aufgezählt.«

»Und sind diese stärker? Nun? Habt Ihr gehört, was ich gefragt habe? Welche Beweise sind nach der Meinung des Angeklagten in dem Buche kräftiger? Die für Kopernikus oder die gegen Kopernikus sprechen?«

»Die – gegen ihn sprechen.«

»Und die Beweise für Kopernikus? Die sind hinfällig?«

Dem Angeklagten stiegen die Tränen in die Augen. Er mußte in diesem Augenblick über die Arbeit von fünfzig Jahren ein Werturteil abgeben:

»Ja, die sind hinfällig.«

Von draußen herein klang das mittägliche Glockengeläut. Sofort erhoben sich die Richter von ihrem Platz. Ihm zu helfen war niemand da. Mit unendlicher Kraftanstrengung, schwerfällig, stöhnend und keuchend, erhob er sich und stellte sich auf seinen gesunden Fuß. Er hätte gern seine Hände zum Gebet gefaltet, wie jene ihm gegenüber, aber sobald er seine linke Hand nur leise anrührte, verspürte er unmenschliche Schmerzen. Als die Inquisitoren ihr mittägliches, stummes Gebet verrichtet hatten, erklärte der Vorsitzende:

»Bevor ich die Verhandlung schließe, hat der Angeklagte abermals einen Eid abzulegen.«

Galilei war bereits in seinen Stuhl zurückgesunken. Wieder mußte er sich mit großer Mühe aufrichten; da läutete der Vorsitzende. Man kam, um ihm zu helfen, und griff ihm unter die Arme. Er beschwor, weder schriftlich noch mündlich jemandem etwas über den Verlauf seines Prozesses mitzuteilen.

»So wahr mir Gott und die Heilige Jungfrau und alle Heiligen beistehen mögen!«

Dann befahl der Vorsitzende:

»Nehmt den Angeklagten wieder in Haft.«


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