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Zweites Kapitel

Der vierzehnjährige Herrscher Ferdinand II. reichte dem sechzigjährigen Gelehrten seine Hand zum Kuß und nahm von ihm den eigenhändig geschriebenen Brief des Papstes entgegen. Das Siegel erbrach er selbst, denn dieses Recht stand allein ihm zu; dann übergab er den Brief seinem jesuitischen Erzieher. Mutter und Großmutter, die beiden Großherzoginnen, bekreuzigten sich ehrfurchtsvoll. Der Jesuit las den in lateinischer Sprache abgefaßten Brief laut vor.

 

»Unserem geliebten Sohn, dem erhabenen Herrscher Unseren Gruß und apostolischen Segen! Ganz Italien sieht im Großherzogtum Toskana eine formidable Macht ob seiner reichen Steuern und der Stärke seiner Heere, aber auch die entlegensten Nationen preisen Eure Erhabenheit glücklich ob des Ruhmes Eurer Untertanen und der großen Fähigkeiten der Florentiner. Denn jene haben mit ihrem Geist neue Welten umfaßt und, nachdem sie die Geheimnisse der Meere entschleiert, nunmehr auch das vierte Element des Weltalls zum Ruhme Eurer Erhabenheit für alle Zeiten mit Eurem Namen verknüpft. Unser geliebter Sohn Galilei hat, auf dem Pfade des Äthers wandelnd, unbekannte Sterne entdeckt und ist in die Geheimnisse der Planeten eingedrungen. Solange nun der segensreiche Stern des Jupiter am Himmel glänzen wird, solange wird dieser den Ruhm Galileis, einem ewigen Reisegefährten gleich, mit verkünden. Den großen Mann, dessen Ruhm die ganze Erde umspannt und dessen Name dort oben am Himmel erglänzt, haben Wir längst in Unser väterliches Herz geschlossen. Wir haben in ihm nicht nur die große literarische Befähigung wahrgenommen, sondern auch die Liebe zur Religion und alle Eigenschaften, welche des päpstlichen Wohlwollens wert sind. Als er kam, Uns zu Unserer Erhebung zu beglückwünschen, haben Wir ihn sehr liebevoll umarmt und mit Vergnügen seine gelehrten Auseinandersetzungen angehört, die dem Ruhme der florentinischen Beredtsamkeit einen neuen Glanz hinzufügen. Wir mochten nicht, daß er in sein Vaterland zurückkehre, ohne von Unserer Freigebigkeit reichliche Beweise Unserer päpstlichen Zuneigung erhalten zu haben. Es ist Uns bekannt, wie reich seine erhabenen Herrscher die wunderbaren Erfolge dieses Feuergeistes zu belohnen wußten, deren Ruhm so lange auf der Erde strahlen wird, als Jupiter und seine Satelliten am Himmel. Viele behaupten, man brauche sich darüber nicht zu wundern, daß die Leistungen in einem Staate, in dem die Großherzigkeit der Herrscher die Schaffenden so reichlich belohnt, derartig überragend sind. Und damit Ihr wohl begreifet, bis zu welchem Grade er Uns teuer ist, so haben Wir seinen Tugenden und seiner Frömmigkeit dieses glänzende Zeugnis ausstellen wollen. Wir sind beflissen, Euch zu erklären, daß Wir Euch für alles Gute Dank wissen werden, was Ihr ihm erweisen könnt, indem Ihr die Kundgebungen Unserer väterlichen Freigebigkeit nachahmt oder selbst überbietet. Gegeben zu Rom am achten Juni im Jahre des Herrn sechzehnhundertvierundzwanzig, dem ersten unserer oberhirtlichen Herrschaft.«

 

Der Jesuit berührte den Brief mit seinen Lippen, reichte ihn dem jugendlichen Herrscher zurück und bekreuzigte sich. Ferdinand II. blickte fragend zuerst seine Mutter und dann seine Großmutter an. An seiner Stelle antwortete die Großherzogin-Mutter Christina:

»Die Nachricht des Heiligen Vaters hat das Herz Seiner Hoheit des Großherzogs mit Freuden erfüllt.«

Dann sahen sich die zwei Großherzoginnen an. Etwas verlegen. Und abermals ergriff die Großherzogin-Mutter das Wort:

»Seine Heiligkeit erwähnte gewisse Wohltaten, die Ihr für Euch von Seiner Hoheit erwarten könnt. Habt Ihr irgendeinen Wunsch? Es wäre doch das Beste, diesen gleich unserem Herrn Cioli vorzutragen …«

»Ich danke ergebenst, Hoheit, aber ich möchte zur Zeit mit einer Bitte nicht ungelegen kommen. Als Zeichen meiner Huldigung habe ich Seiner Hoheit jedoch etwas mitgebracht. Seine Hoheit werden meine Huldigung schon entsprechend zu belohnen wissen.«

Er winkte dem Lakaien, dem er beim Eintreten den Vergrößerungsapparat übergeben hatte, ließ sich das Instrument reichen und begann es der erlauchten Familie zu erklären. Neugierig betrachteten die Herrschaften das Wunderding und gruppierten sich dann am Fenster. Galilei holte sein Taschentuch hervor, in dessen einem Ende er die für eine solche Untersuchung passenden Gegenstände eingeknotet hielt: den Flügel einer Fliege, einen Grashalm und kleine Kristallstückchen. Großmutter, Mutter und Enkel bestaunten erregt dieses neue, fesselnde Spielzeug. Der kleine Großherzog hatte sogar von seinem eigenen erlauchten Haupt ein Haar herausgerissen, um es gleichfalls unter dem Vergrößerungsglas zu bewachten.

»Und das wollt Ihr uns schenken?« erkundigte er sich voll banger Erwartung.

»Natürlich, Hoheit, deswegen habe ich es doch mitgebracht. Für mich selbst lasse ich ein anderes anfertigen. Morgen ist es schon fertig.«

Mutter und Großmutter sahen sich abermals an.

»Wir sprechen Euch Unsere herzlichste Anerkennung aus«, sprach die Mutter. »Für einen würdigen Dank wird Seine Hoheit Sorge tragen.«

Unter tiefen Verbeugungen entfernte sich Galilei, nachdem er sich auch von dem Jesuiten warmherzig verabschiedet hatte. Schon seit langem kannte er diesen Mönch und stand mit ihm auf recht freundschaftlichem Fuße. Der Mönch war ihm zuerst entgegengekommen: als Papst Urban den Thron bestieg, wurde der Erzieher mit einem Male sehr liebenswürdig zu Galilei.

Die Audienz war sehr erfreulich verlaufen, und trotzdem seufzte er tief auf, als er das Schloß verließ. Die schöne Zeit fiel ihm ein, als Cosimo auf den Thron kam und Belisario Vinta noch Kanzler war. Da hatte er jemanden gehabt, mit dem er seine wichtigsten Angelegenheiten am Hofe besprechen konnte. Jetzt ging er ganz allein durch die prachtvollen Säle, wenn er im Palais erschien. Die zwei Großherzoginnen dachten nur an höfischen Prunk. Sie wetteiferten in ihrer Kleidung und entfalteten einen unerhörten Luxus, so daß selbst die Höflinge mit dem Kopf schüttelten. Und sie lebten nur für die Kirche. Nur Geistliche wandelten in den Gängen umher, jeden Tag fand irgendeine Klosterweihe statt, eine Gedenkmesse oder etwas Ähnliches, den jungen Großherzog umgaben ausschließlich kirchliche Berater, und ganz gleich, welche Frage zur Sprache kam, immer ließ mau den allmächtigen Cioli holen, der sich wiederum mit den Prälaten zu einer Besprechung zurückzog: was würde der Papst dazu sagen? Der stolze Palast des Großherzogs, in dem einstmals Cosimo so verheißungsvoll, klug und weitsichtig regierte, hatte sich in ein prächtiges Kloster verwandelt, wo dienernde Frömmigkeit und eine weihrauchduftende, salbungsvolle Atmosphäre das Herz bedrücken. Es war genau das Gegenstück des Klosters Arcetri, wo bettelarme Nonnen ihr reines, frommes Leben fristeten, aber die wahre Nähe Gottes die Seele des Besuchers mit einem Gefühl seligen Friedens erfüllte.

Galilei erging es mit dem Vergrößerungsapparat genau so, wie er vorausgesagt hatte. Er gab sich lange Zeit damit ab, verbesserte den Apparat immer wieder, machte ihn handlicher und erfand immer neue Kniffe. Zwischendurch betrachtete er durch das Instrument jeden möglichen und unmöglichen Gegenstand, von einem kleinen Teil seines Fingernagels angefangen bis zum Regentropfen, den er von der Fensterscheibe abnahm. Er gaffte gleich einem kleinen Kind auf dem Jahrmarkt, und betrachtete staunend die Wunder der Natur, die im Kleinsten ebenso gewaltig war wie im Größten. Sein mathematisches Gehirn entfernte sich immer mehr von der Anschauung, daß der Mensch der Mittelpunkt der Schöpfung sei. Wenn er eine Hummel durch diesen Vergrößerungsapparat betrachtete und die glänzenden Härchen an ihrem Hinterleib untersuchte, verlor er den Begriff von Groß und Klein: diese Hummel wurde zu einem komplizierten Lebewesen, zu einer kleinen Welt für sich, die ihren Platz im Kosmos genau so hatte wie der Mars. Inmitten der Millionen und aber Millionen Wunder der Natur erschien ihm der Mensch einerseits wie ein unbedeutendes Staubkorn, gleichzeitig aber auch gottähnlich, da er über einen Geist verfügt, auf dessen Flügeln er von der grauenerregenden Größe der Multiplikation mit Millionen bis zur grauenerregenden Winzigkeit der Division durch Millionen schwingen konnte.

Und endlich hatte er alles untersucht, was ihm unter die Hand gekommen war. Er hatte schon den grotesken Anblick ausgekostet, welch fürchterliches Ungeheuer ein Floh unter der Linse war, wie widerwärtig die Fliege mit ihren viereckigen Augen aussah, welch eine graziöse, mit geometrischer Feinheit gezeichnete Gestalt die Mücke besaß und welch überraschend schönes Tierchen die Motte war. Schließlich bekam er das Ganze satt. Lebewesen hatten nie eine besondere Wirkung auf ihn ausüben können. Nur seinetwegen, um des Lebens willen, liebte er das Leben. Oft grübelte er darüber nach, daß vielleicht sein außerordentlich stark entwickelter Lebenswille ihn gehindert hatte, sich dem Studium des Lebens zu widmen; denn allenthalben hätte dies an den Tod, an die Vergänglichkeit gemahnt, deren bloßen Gedanken er schon verabscheute. Vielleicht hatte er dem Berufe des Mediziners nur deswegen so fremd gegenübergestanden. Alles Leblose hingegen fesselte ihn um so mehr, in jeder Gestalt, in jeder Beziehung, jeder Bewegung, in seiner Ausdehnung, seinem Gewicht, von der wunderbaren Flammenkugel der Sonne bis zum Stein, der auf einer schiefen Ebene rollt. Diese Welt wollte er ergründen, diese Welt, mit der die Natur den Menschen umgab, wollte er erforschen, diese Welt wollte er auf eine Formel bringen wie einen algebraischen Lehrsatz. Über die Lösung dieses mächtigen Rätsels sann er auch dann ununterbrochen nach, wenn sich sein Geist scheinbar und oberflächlich mit anderen Dingen befaßte. Seit er aus Rom heimgekehrt war, ging er gründlich mit sich zu Rate. Es bewegte ihn zutiefst, daß ihn der Papst für so fromm und für einen so gläubigen Katholiken hielt. Die lobenden Worte des Papstes erfüllten ihn mit überquellender Dankbarkeit. Und dieser Strom von Gefühlen spülte die Ermahnungen des Kardinals Bellarmin aus seiner Erinnerung hinweg. Er beschäftigte sich in dieser Zeit viel mit der damaligen Beweisführung Bellarmins. Ob es tatsächlich zum Schaden der Bibel gereichte, wenn die Wissenschaft die Menschheit denken lehrte? Ob das Wissen dieser neuen Lehre tatsächlich an den Pfeilern jener schönen und erhabenen Organisation rüttelte, die Bellarmin als den einzigen wahren Hort menschlicher Glückseligkeit bezeichnet hatte? Und aus der Vergangenheit tauchte auch das Bild Fra Paolo Sarpis in seiner Seele auf, der der Meinung gewesen war, die Kirche solle nur über den Glauben regieren, die weltliche Macht solle der Welt vorenthalten bleiben. Die beiden großen Toten waren längst verwest, jetzt erstanden sie aber wieder und fochten ihren einstmals erbitterten Zweikampf im Gewissen des greisen Gelehrten weiter. Aus langem Grübeln verdichtete sich endlich sein Entschluß: der Glaube ist Sache des Herzens, das Wissen ist Sache des Verstandes. Beide sind Gaben Gottes, folglich können sie niemals im Gegensatz zueinander stehen. Die neue Weltbetrachtung, die in ihm emporwuchs, war um so viel schöner, logischer, harmonischer, konsequenter als die alte, daß er in dieser großen Idee das wundervolle Sein Gottes tausendmal mehr erkannte, als in der Unvollkommenheit des Almagest. Er fand die Formel für sich: je mehr einer weiß, um so wundervoller sieht er die Welt, um so größer, mächtiger und erhabener sieht er Gott. Auch die Religion kann kein größeres Ziel haben. Wenn das nach der Meinung Bellarmins Schlimmste geschehen sollte, dann erschütterte die neue Weltanschauung den tausendsechshundert Jahre alten Organismus der Kirche; das konnte vielleicht geschehen, aber die wahrhaften aufgeklärten Menschen würden dann noch gläubiger sein, und an Stelle des zerrütteten Organismus würde zweifellos ein stärkerer und widerstandsfähigerer entstehen. Ad maiorem Dei gloriam. Er war mit sich im klaren. Ganz deutlich erkannte er seine Pflicht: er mußte der Welt verkünden, was er entdeckt hatte! Niemals in seiner Jugend hatte er es so stark empfunden, daß er der Menschheit seine Forschungen verkünden müsse.

Der Vergrößerungsapparat war ein vorzügliches Mittel gewesen, ihn abzulenken und von den Beschwernissen der römischen Reise ausruhen zu lassen. aber wollte er an die Arbeit gehen; er wußte nur noch nicht, wo er beginnen sollte.

Als er eines Tages seine alten Schriften ordnete, fand er den Ausgangspunkt. Der Angriff des Advokaten Ingoli aus Ravenna fiel ihm in die Hände, der vor acht Jahren bei seinem Prozeß vor der Inquisition Kopernikus und ihn der Unwahrheit geziehen hatte. Damals hatte er ihm nichts erwidert. Er hatte sich gefreut, daß seine Sache so glimpflich abgelaufen war. Jetzt beschloß er zu antworten. Er wollte versuchen, ob und wie man mit den von Bellarmin angelegten Hemmschuhen vorwärts kommen könne. Er dachte nicht im entferntesten daran, seine Antwort an Ingoli dem Adressaten zukommen zu lassen. Andere sollten sie erhalten: die »Luchse« in Rom. Mochten diese entscheiden, ob es ratsam sei, die Erwiderung drucken zu lassen, je nachdem, wieweit es ihm gelungen sein würde, den kopernikanischen Gedanken so zu verteidigen, daß ihm die Inquisition keinen Prozeß machen könnte.

Wochen vergingen, und er schrieb und schrieb. Ein Brief sollte es werden, und es wurde ein Buch. Ingolis Schrift umfaßte kaum einige Seiten. Er hatte nur mit allgemeinen Phrasen aufwarten können, wie sie ein dünkelhafter Pseudo-Gelehrter stets zur Verfügung hat, der sich anmaßt, in Dinge hineinzureden, von denen er nichts versteht. Ein ernster Mann der Wissenschaft konnte über diese kindlichen Argumente einfach lächelnd hinweggehen. Aber er wollte ja weder Ingoli widerlegen noch ihn überzeugen. Seine Arbeit war lediglich ein geistreicher Versuch: die Beweise Ingolis für seinen persönlichen Gebrauch zwar zu entkräften, die letzte Konsequenz jedoch nicht zu ziehen. Er schrieb also ein Buch, das die gegen Kopernikus vorgebrachten Einwände klar widerlegte, sein Weltsystem jedoch nicht als das allein richtige hinstellte.

Das Manuskript schickte er an die Akademie der »Luchse« nach Rom. Die Herren lasen es aber anscheinend recht langsam, denn sie ließen ihn lange auf Antwort warten. Was dann endlich kam, klang sehr unsicher und vorsichtig. Guiducci teilte ihm mit, was er zufällig erfahren habe: jemand, man wisse nicht wer, habe die » Goldwaage« bei der Inquisition angezeigt. Der Denunziant habe das Santo Offizio darauf aufmerksam gemacht, daß das Werk für Kopernikus Stellung nehme. Die Anzeige wäre bereits vor längerer Zeit erfolgt, da aber die Inquisition alle Angelegenheiten mit größter Verschwiegenheit behandele, hätten sie, die »Luchse«, erst jetzt davon erfahren. Die Inquisition habe das Buch zur Prüfung dem Minoritenpater Guevara übergeben, dessen Gutachten jedoch gegen den Denunzianten ausgefallen sei: in der »Goldwaage« habe er keine Stellungnahme für Kopernikus entdecken können; der wissenschaftliche Teil des Buches sei allen Lobes wert. Diese Sache sei also gut ausgelaufen, trotzdem mahne er, Guiducci, zu größter Vorsicht. Die Antwort dürfte man nicht nur nicht drucken lassen, sondern Ingoli dürfe sie überhaupt nie zu Gesicht bekommen; denn der würde damit sofort zu den Jesuiten oder gar vor die Inquisition laufen. Die einstimmige Meinung der »Luchse« sei hingegen, daß es nutzlos sei, hier Für und Wider zu erwägen: dieses Buch sei ein offenes, rückhaltloses Bekenntnis zur Lehre des Kopernikus.

Ganz benommen las Galilei diesen Brief. Man hatte ihn also bei der Inquisition angezeigt. Wer konnte das gewesen sein und was mochte er gewollt haben? Der nächstliegende Gedanke war, daß ihn die Jesuiten angezeigt hatten. Aber er sträubte sich, diesem Gedanken Glauben zu schenken. Mit den Jesuiten in Florenz stand er auf gutem Fuße. Seit seinem großartigen Empfang in Rom und seitdem der eigenhändige Brief des Papstes an den Hof von Florenz hier bekannt geworden war, betrachtete ihn die Geistlichkeit mit ganz anderen Augen, und nicht einmal der Bischof sagte einen Ton. Grassi kam nicht in Frage. Auch über ihn hatte Guiducci berichtet. Der Jesuitenpater, der in seiner Disputation über die » Goldwaage« eine schmähliche Niederlage erfahren hatte, schlug jetzt ganz andere Töne an. Wenn er Galilei in Rom nicht hatte kennenlernen können, so wollte er nunmehr wenigstens an Guiducci heran. Guiducci war anfangs nicht abgeneigt gewesen, die Bekanntschaft Grassis zu machen, hatte sich später jedoch besonnen, daß es vielleicht doch nicht ratsam sei, einem Jesuiten zu nahe zu kommen. Als Guiducci erkrankte und das Bett hüten mußte, besuchte ihn Pater Grassi. Über Galilei äußerte er sich sehr schmeichelhaft, und als sie auf grundsätzliche Fragen zu reden kamen, lehnte er den kopernikanischen Gedanken nicht einmal mehr ganz ab. Er besuchte Guiducci dann noch öfter und erklärte zuletzt, daß, sofern er sich von dieser neuen Lehre ganz überzeugen ließe, er auch imstande wäre, die Heilige Schrift zugunsten Kopernikus' auszulegen.

Wer sonst konnte also jener geheimnisvolle Denunziant sein und warum hatte er ihn angezeigt? Er konnte doch nicht etwa annehmen, daß der Jesuitenorden, nachdem Grassi eine Niederlage erlitten, diesem befohlen hatte, seinen Gegner mit geheuchelter Liebenswürdigkeit sicher zu machen? Dies war nur eine Vermutung, aber so teuflisch, daß Galilei den Gedanken gleich wieder von sich wies. Abermals stieg, wie schon vor acht Jahren, das dunkle Gefühl in ihm auf, daß ein unsichtbarer Gegner auf ihn laure. Auch jetzt noch, nachdem Papst Urban VIII. ihn als guten Katholiken vor der ganzen Welt gepriesen hatte.

Auf Anraten der »Luchse« schwieg er also und bestand nicht auf der Drucklegung seines Manuskriptes. Aber er drang darauf, daß man es einigen wenigen zuverlässigen Menschen zu lesen gebe. Diese Bitte erfüllten die »Luchse« auch, Ingoli selbst aber, der aus Ravenna nach Rom gezogen war, ließen sie nicht Einblick nehmen. Er wohnte in unmittelbarer Nähe der Akademie und hatte keine Ahnung, daß dort eine Antwort des weltberühmten Gelehrten auf seinen vor acht Jahren erfolgten Angriff, den er selbst längst vergessen hatte, erörtert wurde.

Galilei wartete also weiter, war aber sehr begierig zu erfahren, wer ihn angezeigt hatte. Gewisse Akten der Inquisition hütete aber anscheinend ein Schloß mit sieben Siegeln, wenn auch sonst manches über die Inquisition durchsickerte. Gerade jetzt hatte sich vor dieser Inquisition der Prozeß des De Dominis abgespielt, eines Mönches mit einem abenteuerlichen Leben. Er hatte einst mit Fra Paolo Sarpi in freundschaftlichem Briefwechsel gestanden, war Jesuit und Bischof in Dalmatien gewesen. Später trat er aus dem Orden aus und ging ins Ausland. Er wurde Protestant und erging sich bald in Schmähungen des Papsttums. Der König Jakob von England ernannte ihn zum Dekan von Windsor. Aber auch dort war seines Bleibens nicht; er ging nach Frankreich, wurde wieder katholisch und spielte den reuigen Sünder. Der Papst verzieh ihm und setzte ihm eine Jahresrente aus. Der Mönch kehrte nach Rom zurück, lebte still für sich, befaßte sich mit den verschiedensten Wissenschaften und behauptete unter anderem, daß es keinen Regenbogen gebe, sondern dieser nur eine optische Täuschung sei. Als Papst Urban VIII. den Thron bestieg, entzog er ihm die Jahresrente. Nicht wegen des Regenbogens, sondern weil er diesem Manne mit seiner abenteuerlichen Vergangenheit nicht verzeihen konnte, daß er einmal seinen Glauben abgeschworen hatte. Aber Dominis forderte energisch sein Geld vom Vatikan. Daraufhin kam er vor die Inquisition. Allem Anschein nach hatte man ihn dort auch gefragt, ob er denn nicht der Meinung sei, daß der Herrgott den Regenbogen geschaffen habe? Und wenn dem so sei, wie könne er dann behaupten, daß es keinen gebe? Man sperrte ihn in die Engelsburg, und dort starb er in seiner Zelle als Gefangener der Inquisition. Damit begnügte sich das Santo Offizio jedoch keineswegs. Der Sünder mußte seine Schuld vor der Öffentlichkeit sühnen, wenn auch als Toter. Eine Prozession trug seinen Leichnam mit all seinen Büchern zum Scheiterhaufen. Dort verbrannte man sowohl den Toten wie auch seine Bücher.

Galilei hörte solche Dinge schaudernd an. Vor dem Scheiterhaufen, vor einem Toten, vor einem Autodafé gruselte ihn. Wenn sein wissenschaftlicher Glaube nicht so unbändig stark gewesen wäre, hätte er jetzt lange Zeit geschwiegen. Aber er konnte nicht schweigen. Einen Brief nach dem anderen schrieb er an den Herzog Cesi, an Guiducci, an die »Luchse«, daß man mit seinem neuen Werk doch etwas anfangen müsse.

Sein wissenschaftliches Selbstgefühl stärkte auch seinen Mut. Der berühmteste Mathematiker der Franzosen, Gassendi, hatte an ihn geschrieben. Er war noch jung an Jahren und erst geboren, als Galilei den Lehrstuhl in Padua übernahm. Bereits als Dreißigjähriger wurde er Universitätsprofessor in Aix, und man erzählte sich, daß er zu den heftigsten Gegnern des Aristoteles gehöre. Jetzt also wandte sich Gassendi mit einem umfangreichen Brief an Galilei. Rundweg erklärte er, daß er Kopernikaner sei. Er bot ihm seine Freundschaft an und teilte ihm zugleich einige wertvolle Beobachtungen mit. Mit Hilfe einer Dunkelkammer hatte er das Bild der Sonne auf ein Blatt Papier projiziert, und dort hatte er bequem jene Flecke der Sonne beobachten können, die er unmittelbar nicht sehen konnte.

Dieser Brief erfüllte Galilei mit unbändigem Stolz und großer Freude darüber, daß seiner Anhänger immer mehr wurden. Obendrein war Gassendi kein Ketzer wie Kepler; im Gegenteil, er gehörte der Kirche an. Er hatte in Avignon Theologie studiert. Sein Brief gab Galilei neuen Mut. Kurz entschlossen schickte er eine eigenhändige Abschrift seines Werkes an Monsignore Ciampoli; er möge es Seiner Heiligkeit vorlegen und dessen Meinung hierüber hören.

Auf die Antwort mußte er sehr lange warten. Darüber brauchte er sich aber nicht zu wundern; der Papst hatte augenblicklich ganz andere Sorgen im Kopf. Sieben Jahre währte nun schon der europäische Glaubenskrieg und ergriff immer größere Gebiete, ohne daß es zu einer Entscheidung kommen wollte. Jetzt waren auch Holland und Dänemark hinein verwickelt. Darauf war ganz Europas Aufmerksamkeit gerichtet, und nicht auf kopernikanische Beweise und Gegenbeweise. Und in ganz Europa war es der Papst, der sich am meisten um diesen Glaubenskrieg kümmern mußte und sich am allerwenigsten mit astronomischen Fragen beschäftigen konnte.

Nach langem Warten erhielt er aber endlich doch die Antwort. Sie bestand nur aus einem einzigen Satz, und auch dieser Satz war ganz versteckt unter allerlei Nachrichten Ciampolis:

 

»Ich habe die an Ingoli gerichtete Antwort gelesen und sie zum größten Teil auch Unserem Herrn schon mitteilen können. Das Beispiel mit dem Sieb gefiel Seiner Heiligkeit außerordentlich, ebenso die Erörterungen über die Bewegung der schweren Körper und die im Zusammenhang damit geschilderten spannenden Versuche.«

 

Das war alles. Der nächste Satz des Briefes sprach schon von ganz anderen Dingen: daß man das Versprechen eines Stipendiums für Vincenzo in Rom keineswegs vergessen habe, daß aber augenblicklich die päpstliche Intendantur wegen der Ferien die Überweisung noch nicht habe vornehmen können. Jedes Wort dieses einen Satzes nahm Galilei scharf unter die Lupe und sagte sich, daß, wenn Ciampoli dem Papst von dem »größten Teil« seines Werkes Mitteilung gemacht habe, es ihm unmöglich gewesen sei, zu verschweigen, daß sich jeder Satz von Anfang bis zu Ende auf die kopernikanische Lehre beziehe. Wenn ihm nun der Papst darauf mitteilen ließ, daß es ihm »sehr gut gefallen habe«, ja wenn sogar Einzelheiten genannt wurden, die ihn besonders gefesselt hätten, so war das doch eine offene, nicht mißzuverstehende Antwort: er drückte ein Auge zu, daß sich sein Liebling so offenkundig mit Kopernikus beschäftigte. Es war somit alles in Ordnung: wenn er also auch fürderhin eine geschickte Form finden würde, um für Kopernikus einzutreten, so würde der Papst nichts dagegen einzuwenden haben.

Er ging nach Arcetri, seine Töchter zu besuchen. Glücklich erzählte er Celeste:

»Und der Papst ist ein kluger Herr und sehr gütig zu mir. Betet für ihn, daß ihn der Allmächtige zum Segen der Menschheit und der Wissenschaft uns noch lange erhalte. Betet auch für mich; denn ich habe noch sehr viel zu erledigen.«

»Was habt Ihr Euch jetzt vorgenommen, mein Herr Vater?«

»Ich muß das Werk schreiben. Das große Werk, die Krönung meines Lebens. Ich muß mir den Inhalt noch reiflich überlegen, aber auch die richtige Form zu finden, wird sehr schwierig sein. Ich werde Jahre dazu brauchen. Und ich bin kränklich und werde immer älter …«


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