Walther Harich
Jean Paul
Walther Harich

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vorschule der Ästhetik – Levana

Der »Titan« gab den Wanderjahren Jean Pauls ihren Sinn. Die vielfachen und anscheinend unsinnigen Verstrickungen, in die er sich mit der großen Welt eingelassen hatte, wurden durch dieses Wunderwerk gerechtfertigt. Das Werk erst spricht über das Leben des Künstlers das Urteil. Von dem Werk aus erschien nun selbst ein so zersplittertes Leben, wie es Jean Paul in den letzten Jahren geführt hatte, als notwendig und bedeutungsreich. Mit der Beendigung des »Titan« war diesem Leben in der großen Welt der Vorwand und der ernste Untergrund entzogen, und folgerichtig zog sich der Dichter in seine alte Welt zurück, von der aus er einst nach Weimar den kühnen Vorstoß gemacht hatte.

Noch manches aus der Meininger Zeit mußte in das Werk eingehen. Zunächst zeigte ihm die eigene Ehe, zu welchem Ziel er seinen Helden Albano hinlenkte. Von Karoline gingen viele Züge in das Bild Idoines ein. Oder sah er seine Frau nur so wie sie ihm für das Werk notwendig erschien? Lange Monate jedenfalls lebte er verzaubert in dem Hörselberg seiner jungen Ehe, ehe die ersten Stoßseufzer des Ehemannes kundwurden. Aber länger als einige Monate hat es nicht gedauert, daß er die Ehe als die große Erfüllung seines Daseins ansah. Und doch sah er endgültig ein, daß diese Ehe ihm notwendig war. Sie setzte seinem schweifenden Hang in die Ferne ein Ende. Die Triebe der Simultanliebe verkümmerten und wurden besonnener ins Werk hineingeleitet. Noch 597 einmal setzte mit den Ehejahren in Meiningen eine neue große Epoche seiner Schaffenskraft ein. Und doch fühlt man, und fühlte in erster Linie Jean Paul selbst, daß mit dem erreichten Ziele etwas in ihm zu Ende gelaufen war. Je gedrängter und gedichteter der Strom seines Schaffens nun dahinfloß, um so mehr erlosch die glänzende Kraft seiner Persönlichkeit. Das Werk zehrte den Menschen auf. In vollen Wagen war noch eine unermeßlich reiche Ernte einzubringen, aber keine neue Saat mehr sproßte auf den neu geackerten Feldern.

Die ersten Jahre standen noch unter dem Zeichen des »Titan«, von dem kaum die Hälfte unter Dach gebracht war, als der junge Ehemann in der neuen Meininger Wohnung sich an den Schreibtisch setzte. Manche Eindrücke konnten in dem Werk noch verwertet werden. Zum erstenmal wurde er in der neuen Stadt mit einem regierenden Haupte eng befreundet. Herzog Georg errang sich erst allmählich die Sympathie des Dichters, dann aber verband die beiden eine Freundschaft, die Jean Paul wie den Herzog aufs höchste ehrte. Jedes steife Hofzeremoniell war geschwunden. Jean Paul verkehrte auf dem Schloß wie bei einer befreundeten Familie, und der Herzog selbst besuchte ihn und nahm sogar einmal sein Mittagessen bei ihm ein. Der in den letzten Bänden des »Titan« auftauchende Prinzengarten ist wohl der gewöhnliche Sommeraufenthalt des Herzogs, das Schloß Liebenstein. Und die Bühne, auf der Roquairol seinen »Trauerspieler« aufführt, ist wohl die Liebhaberbühne in Meiningen, deren Leitung sich der Herzog selbst vorbehielt, als echter Vorfahr seines Enkels, der in der Entwickelung des deutschen Theaters Epoche machen sollte, und auf der er sogar gelegentlich selbst auftrat. Das schöne Verhältnis zwischen Herzog und Dichter wird wohl am besten durch die sogenannte »Hunde-Supplik« charakterisiert.

598 Seit der Übersiedlung nach Meiningen hielt sich Jean Paul einen Spitzhund, der von da ab zu den von ihm unzertrennlichen Suffixen seiner Person gehörte. Man kann sich heute Jean Paul ohne seinen Spitz nicht mehr vorstellen. Mit dem Hund an der Seite machte er seine gewohnten Spaziergänge nach Welkershausen oder Grimmenthal, und von dem Spitz war er begleitet, wenn er einige Jahre später seine täglichen Gänge zu der durch ihn weltberühmt gewordenen Rollwenzlei bei Baireuth machte. So bildete sich erst jetzt die Gestalt aus, in der Jean Paul sich dem Bewußtsein der kommenden Zeit einprägen sollte.

Auch von andern Seiten erhielt der »Titan« noch Zustrom. Schon in Berlin war der die ganze Welt bereisende Rumäne Cosmeli dem Dichter nähergetreten. Diese moderne Abenteurergestalt hat offenbar manches zu der Figur des Gianozzo beigetragen. In Meiningen tauchte Cosmeli, aus Holland und Frankreich kommend, bei Jean Paul wieder auf. »Sein Toben lösete sich bei mir ins Weinen auf; ich liebe ihn sehr durch diesen Vulkanrauch hindurch«, schrieb Jean Paul über den exzentrischen Gast. Aber noch ein anderer Freund kam gerade zur rechten Zeit, um noch einige Züge in den letzten Teil des »Titan« hineinzugeben: Jean Pauls schwärmerischer Verehrer seit seiner Leipziger Zeit, der Philologe und Violinist Thierot, mit dem der Briefwechsel nie eingeschlafen war. Trotz aller Wertschätzung rechnete Jean Paul auch ihn zu den Roquairolnaturen, die, wie er über Thierot schrieb, »durch eine zu frühe Saturation mit Wissen eigentlich kein Bedürfnis des Wissens kannten und das Sein mehr des Scheins wegen verlangen«. Gerade zu den letzten Partien des »Titan«, in denen Roquairols »Trauerspieler« im Mittelpunkt steht, mußte dem Dichter noch mancher Zug des vergeblich gegen seine Virtuoseneitelkeit ankämpfenden Thierot willkommen sein. Aber 599 dieser Freund spannte auch bereits die Brücke zu dem neuen Roman, der immer mehr in den Vordergrund trat: den »Flegeljahren«.

Hier aber haben wir es mit den letzten persönlichen Eindrücken des Dichters zu tun, die er ins Werk umsetzte. Im allgemeinen war er mit Stoff saturiert, und die neuen Freunde und Bekannten, die er noch fand, konnte er nicht mehr seinem innersten Wesen als Ausdruck anverwandeln. Mehr und mehr legt sich der Schwerpunkt seines Lebens ins Werk. Wohl war es bedeutsam für ihn, daß er durch Johann Arnold Kanne in Verbindung mit jener von Schelling ausgehenden mystischen Richtung kam, die hauptsächlich für die Erforschung der östlichen Religionen von epochemachender Bedeutung werden sollte. Aber ihm selbst trug auch diese Bekanntschaft nichts Neues mehr zu. Sein Weltbild war gerundet und konnte nur noch im einzelnen Ergänzungen oder Bestätigungen erfahren. Kanne nahte sich Jean Paul als Bittsteller. Unter Beifügung seiner »Blätter von Aleph bis Knuph« bat er um »Rat, Tadel, Titel, einen Buchhändler und – Geld«, schon in dieser ersten Annäherung eine Probe seiner Bizarrerie gebend. Jean Paul empfahl ihn als Prinzenerzieher an einem seinem Herzog befreundeten Hof, obwohl es ihn störte, daß Kanne allzusehr »sein und Schlegels Urang-Utang« sei. Kanne füllte die ihm verschaffte Stelle nur mangelhaft aus. »Der trotzig schlaffe Kanne . . . taugt zu nichts weniger als zu einem Prinzenlehrer – eher – einem Prinzen selber«, schrieb er später. Eine Stelle und damit die Möglichkeit, ungestört seiner Produktion zu leben, verschaffte Jean Paul auch dem in Roßdorf bei Meiningen lebenden Ernst Wagner, der durch seinen gleichfalls an den »Wilhelm Meister« anknüpfenden Erziehungsroman »Willibalds Ansichten des Lebens« Beachtung erringen sollte. Der Herzog machte 600 Wagner auf Jean Pauls Fürsprache zu seinem Kabinettssekretär. Neue Freunde fand Jean Paul in dem Meininger Konsistorialpräsidenten Heim, der eine auch von Goethe geschätzte Mineraliensammlung besaß, und einem Hauptmann von Türke. Ein Fräulein von Hähndrich war in Meiningen seine besondere Freundin. Aber den Verkehr mit einer Reihe kongenialer Naturen fing der Dichter in dem stilleren Meiningen bald an zu vermissen. Häufige Reisen sollten ihm Ersatz bringen, aber sie befriedigten ihn nicht völlig.

Zweimal reiste er mit dem Herzog nach Weimar. Das erstemal begleitete Karoline ihn. Auch Charlotte von Kalb kam von dem nahen Waltershausen, wo sie sich für immer niedergelassen hatte, herüber. Das erschütternde Erlebnis dieser im Juli 1802 unternommenen Reise war das Zusammentreffen mit Herder. Herders Tage waren gezählt. Der Freund traf ihn gänzlich gebrochen an. Seine Vermögensverhältnisse hatten sich derart verschlechtert, daß er sich von Jean Paul Geld leihen mußte, das er später nur mit Schwierigkeiten zurückgeben konnte. Auf der zweiten Reise, im Januar 1803, sah er Herder zum letztenmal. Wie früher verplauderte er die Abende mit ihm und fand in der Herderschen Familie sein altes »Lebens-Italien«. Herder selbst aber war »leibes- und seelenkrank, sein geistiges wie körperliches Auge siech«. Bis in den Winter hinein schleppte sich der Märtyrer seiner Jahrhundertsendung. Am 18. Dezember 1803 schloß er für immer die Augen. Die einzigartige Tragödie seines Lebens war ausgelitten. »Für mich ist Weimar auch begraben«, schrieb Jean Paul an Herders Frau. Und er hat in der Tat den ihm verhaßt gewordenen Ort nie wieder besucht.

Merkwürdigerweise trat er gerade bei seinem letzten Weimarer Aufenthalt Schiller ein wenig näher. Bei einem Souper disputierte er »hinter dem gebogenen nackten Rücken der 601 Imhof« eifrig mit Schiller und gewann ihn dabei »wieder etwas lieb«. Seine allgemeine Stellung zu Weimar wurde dadurch nicht geändert. Amalie von Imhoff selbst äußerte sich über Jean Paul: »Er scheint mir ruhiger und zusammenhängender geworden zu sein, wir vertrugen uns recht gut zusammen, was sonst nicht der Fall war, da er mich früher der Kälte beschuldigte. Ich habe seitdem auch manches erfahren und gelitten, und mein Gemüt ist vielleicht weicher geworden, so stimmten wir besser zusammen.«

Zwischen den beiden Weimarer Reisen wurde Jean Pauls sehnlichster Wunsch, Vater zu werden, erfüllt. Der Brief an Otto, unmittelbar nach der Entbindung geschrieben, ist eins der schönsten menschlichen Dokumente des Dichters. »Am Morgen erklärte die Hebamme,« schrieb Jean Paul am 20. September 1802 dem Freunde, »(eine in Jena echt ausgelernte,) daß nach zwei Stunden die Entbindung sein würde. Um eilf Uhr erfolgte letztere mit einem göttlichen Töchterlein. Himmel, Du wirst entzückt auffahren wie ich, als mir die Hebamme mein zweites Liebstes wie aus der Wolke gehoben vorhielt, die blauen Augen offen, mit schöner weiter Stirn, kußlippig, herzhaft rufend, mit dem Näschen meiner Frau. – Gott steht bei einer Entbindung; wer ihn da nicht findet, bei diesem unbegreiflichen Mechanismus des Schmerzes, bei dieser Erhabenheit seines Maschinenwesens und bei der Niederwerfung unserer Abhängigkeit, der findet ihn nie! – Ich verhehlte, um zu schonen, meiner Frau die weinende Entzückung, so weit ich konnte, wovon sie doch viel bekam und erwiderte. In der einsamen Stube hatte ich (die kühne Wahrheit zu reden) – ach wie sehnt ich mich nach dir oder Emanuel! – nur meine Entzückung und Gott und den Spitz. Wie ein Donnerschlag durchfährt die erste Erblickung Mark und Bein! Und nun jetzt, da meine Karoline so gesund daliegt, ihre 602 Entzückung! . . . Nur meiner Karoline wegen wünscht ich einen Jungen; ich aber sagt ihr, daß mir ein Mädchen lieber wäre: weil die Elternerziehung an einem Knaben (das Universum und die Vergangenheit sind seine Hofmeister) wenig vermöchte, aber an einem Mädchen alles, das an dieser festen, reinen, hellen Mutter nichts werden kann als der zweite Diamant. Nun ist's gut und die Welt wieder offen, und der Himmel und ich haben meine Frau wieder! Mitten in den Wehen heute brachte sie mir doch mein Frühstück von Pflaumenkuchen. Ach wie lernt ich die armen Weiber wieder achten und bedauern.«

Das Mädchen wurde Emma genannt, und außer Otto waren auch der Herzog von Meiningen und die Herzoginmutter Amalie von Weimar unter den Paten. Man darf vorausnehmen, daß Emma die Erwartungen, die der glückliche Vater an sie knüpfte, voll erfüllte.

Fast zugleich mit dem ältesten Kinde erblickten die letzten Kapitel des »Titan« das Licht der Welt. Seltsam wie das Auf und Nieder von Jean Pauls Leben sich in diesem Jahr kreuzte. Noch war er in voller Aufwärtsbewegung. Sein Haus sollte sich noch mehr und blühender erfüllen, sein Werk sich gerade in den letzten Jahren noch ausbreiten wie ein prangender Baum. Und doch war der Höhepunkt dieses Lebens bereits überschritten. Gerade mit der Veröffentlichung des »Titan« beginnt die eigentliche Tragödie seines Lebens. Hier müssen wir nachholen, daß die Wirkung des durch ein Jahrzehnt gehegten Kardinalromans nicht den Erwartungen entsprach, die Jean Paul an ihn geknüpft hatte. Es hing wohl in erster Linie damit zusammen, daß die vier Bände in jahrelangen Abständen einander gefolgt waren. Jean Paul selbst hatte durch fortgesetzte Hinweise auf den »Titan« die Erwartungen aufs höchste gespannt. Selbst seine Freunde waren 603 enttäuscht. Mit Otto hatte es gleich bei dem ersten Band das erste ernste Zerwürfnis gegeben. Von da ab hatte Jean Paul aufgehört, seine Manuskripte vor der Veröffentlichung dem Freunde zu unterbreiten. Aber auch Männer wie Jacobi und der Däne Baggesen, mit dem Jean Paul seit einer Reihe von Jahren in anregendem Verkehr stand, waren von dem ersten Bande tief enttäuscht gewesen. Wir müssen uns in Erinnerung rufen, daß dieser erste Band noch allzuviel von Jean Pauls alter Manier enthielt. Die Stilarten der Darstellung waren gemischt. Das Heroische der ersten Jobelperiode kontrastierte auffallend mit den humoristischen Szenen im Hause des Doktor Sphex, in dem Jean Paul kaum über den niederen Humor des Professors Hoppediezel in der »Unsichtbaren Loge« hinausgekommen war. Die Kindheitsgeschichte Albanos führte wieder tief in die alte idyllische Welt, die man in den früheren Arbeiten bereits überwunden geglaubt hatte. Über das Schicksal Lianens und Albanos, Roquairols und Rabettens war es über die ersten Andeutungen nicht hinausgekommen. Wenn man diesen ersten Band mit den kühnen Plänen in Verbindung brachte, in denen Jean Paul seiner Zeit den Spiegel hatte vorhalten wollen, dann kann man wohl eine Enttäuschung auch der Wohlmeinenden verstehen. Man glaubte es wieder mit einem sentimentalen Roman zu tun zu haben. Und als dann in großen Abständen die nächsten Bände erschienen, war das Interesse erlahmt. Man brachte die Handlung nicht mehr zu einem Ganzen zusammen, man übersah die sorglich von Beginn an angelegten Minen, die nun in die Luft gingen, und fühlte sich von dem katastrophalen Schluß vergewaltigt. Tieck äußerte, daß der »Titan« nur ein verdickter Cramer sei, dieses Werk in eine Reihe mit einem der flachsten und tränenseligsten Modeschriftsteller stellend. Jacobi warf den vierten Band, entsetzt über die 604 moralische Vernichtung Lindas, zu Boden. Wenn diese äußersten Ausbrüche des Unwillens sich auch mit der Zeit legten, so hatte doch gerade Jean Pauls größte Schöpfung ihn einsam gemacht. Einsamer, als es die Gegnerschaft der Goetheschen und romantischen Schule zuwege gebracht hatte.

Die Weltgeschichte holte zu vernichtenden Schlägen aus. Das Geschlecht, schreibt Richard Otto Spazier, das der Schlacht von Jena entgegenging, konnte ein Titanengeschlecht und sein Schicksal nicht ertragen. Dasselbe Geschlecht hatte Herder in Armut und Unverständnis sterben lassen. Jean Paul hielt allein über einer absterbenden Zeit die Wache.

 

Es war eine unter diesen Umständen leicht begreifliche innere Unruhe, die Jean Paul nach kurzer Zeit von Meiningen forttrieb. Der Herzog versuchte ihn zu halten.

Sie sollen hier bleiben
    Und schreiben
Und sollen haben
    An Gaben
Frei Porto von Baireuther Bier,
Nicht weniger ein frei Quartier
Nebst Büchern, die Sie lesen wollen.

So dichtete der Herzog, um den Dichter in seiner Residenz zu halten. Aber Jean Paul verlangte es nach Veränderung. Sogar an Weimar dachte er, aber er gab den Gedanken bald wieder auf, nicht zum wenigsten, weil ihm das dortige Bier nicht bekam. Das Bier begann eine immer größere Rolle in seinem Leben zu spielen. Er behauptete in einem Brief an Emanuel, »gewisse Calciniereffekte mit bloßem natürlichen Feuer ohne äußeres gar nicht machen zu können, denn Glas 605 wolle ein anderes Feuer als etwa ein Braten«. Es hätte nahe gelegen, direkt in den Produktionsort seines Lieblingsbieres zu ziehen, aber aus irgendeinem unerklärlichen Grunde stellte er den Gedanken zurück und wählte als Aufenthaltsort, allen überraschend, Coburg. Am 4. Juni 1803 langte er in Coburg an und bezog die im voraus gemietete Wohnung im Grunerschen Hause in der Gymnasiumsgasse.

Was ihn nach Coburg zog, war in erster Linie der dortige Minister von Kretschmann, in dem Jean Paul einen genialen Staatsmann zu finden hoffte. Eines solchen Wirken in der Nähe zu beobachten, schien ihm allein einen Wechsel seines Wohnortes wert. Aber gerade der Minister, mit dem Jean Paul sofort in einen regen persönlichen Verkehr trat, sollte ihm bald den Aufenthalt in Coburg zuwider machen. Wohl hatte sich Kretschmann um die Ordnung der Finanzen des Landes große Verdienste erworben, aber er hatte allem Anschein nach seine eigenen Finanzen bei dieser Gelegenheit mitgeordnet. In Wangenheim erstand dem allmächtigen Staatsmann ein heftiger Gegner. Zunächst siegte Kretschmann, und Wangenheim, mit dem Jean Paul auch inzwischen in nähere Verbindung gekommen war, wurde verbannt. Erst nach dem Tilsiter Frieden erreichte auch Kretschmann das Verhängnis. Eine Revision seiner Amtsführung stellte eine Reihe von Unregelmäßigkeiten fest, die ihn seine Stellung kosteten. Jean Paul stand beim Beginn dieses Kampfes zwischen den beiden Parteien. Der Hof verhielt sich dem Dichter gegenüber sehr zurückhaltend. Alle diese Umstände warfen von vornherein über den Coburger Aufenthalt dunkle Schatten. Jean Paul nahm sich fast unmittelbar nach seinem Einzug vor, nicht lange in der Stadt zu bleiben, die seinen Erwartungen so gar nicht entsprach.

Immerhin war die kurze Coburger Zeit voll von 606 Ereignissen. Tief von Jean Paul betrauert starb im Dezember, fast gleichzeitig mit Herder, auch der Herzog von Meiningen. Und in Coburg wurde dem Dichter auch der langersehnte Sohn geboren. »Ein Mann liebt doch einen Jungen ganz verflucht stark«, rief der glückliche Vater aus. Aber trotz des neuen Familienglücks siedelte man bereits im August 1804 nach Baireuth über, wo Jean Paul nun endlich bis zu seinem Ableben bleiben sollte.

Kurz vor der Übersiedlung nach Baireuth unternahm Jean Paul eine Reise nach Erlangen. Auf Veranlassung der Frau von Kalb wollte er mit dem dortigen Professor der Theologie Le Pique und Professor Mehmel, dem Herausgeber der Erlanger Literaturzeitung, Fühlung gewinnen. Aus der Feder Le Piques haben wir einen Bericht über Jean Pauls Persönlichkeit, der ihn uns zu jener Zeit in den lebendigsten Farben vor Augen stellt. Le Pique schreibt:

»Am Dienstag nach Pfingsten kam . . . Romer zu mir und erzählte mir folgendes: Gestern, als sie – Romer, Meinecke, Walther – im Welsischen Garten gewesen, sei ein Fremder dahin gekommen von so auffallendem Äußern, daß mehrere sich versucht gefühlt hätten, ihre Divinationsgabe in Absicht seines Herkommens, Standes und Amtes in Unkosten zu setzen. Der eine habe gesagt: es ist ein Barbier, der andere: nein, es ist ein empfindsamer Reisender, der seine Reisebeschreibung drucken läßt usw. Durch Mehmel, den er aufgesucht und mit den Worten: ›Sie haben einen gelben Rock an, also werden Sie der Professor Mehmel sein; ich heiße Richter, oder, wenn Ihnen der Name bekannter sein sollte, Jean Paul‹, angeredet habe, sei er ihnen als dieser vorgestellt worden. Sie seien darauf zu Memminger gegangen, wo er, Romer, den Gedanken gefaßt habe, mir ein Billett zu schreiben und mich zum Kommen einzuladen; allein da sich 607 viele Menschen zugedrängt hätten, sei das Haus bald zum Wirtshause geworden, und so habe er es unterlassen. Jean Paul sei sehr wohl aufgeräumt gewesen und würde noch mehr gesprochen haben, wenn ihn – Mehmel hätte zum Worte kommen lassen. Dieser habe sich auf eine ganz widerwärtige Art benommen, immerfort in seiner Manier geschwatzt und bis zur Unart dem trefflichen Geiste gegenüber Hochmut geübt. So sei er Richter immer ins Wort gefallen, sogar einmal mit dem schönen Kompliment: ›Ich weiß, ich verstehe Ihren Sinn schon, ehe Sie ihn aussprechen.‹ Richter habe ihm, wiewohl vergebens, auf alle Art zu wehren gesucht, sogar durch Phrasen vom Kaliber der folgenden: ›Aber Sie lassen mich ja gar nicht zum Worte kommen; freilich, wenn Sie in einem fort reden, muß ich schweigen (die Uhr herausnehmend und vor sich hinlegend): ich gebe Ihnen fünf Minuten Zeit zu reden; hernach müssen Sie mich reden lassen‹ usw. Romer überbrachte mir mehre Äußerungen Jean Pauls über berühmte Männer, z. B. Herder, den er fast vor allen andern ehrte: dieser sei an Weimar gestorben, wo jetzt ein elender Geist herrsche, alle Liebe, aller höhere Sinn verloschen sei; auch Schiller habe jetzt diesen Ort verlassen und sich nach Berlin begeben [kam bekanntlich nicht zur Ausführung]. Goethe sei der unmitteilsamste Mann; wenn er einmal sage: ›Wir haben heute einen schönen Maitag‹, das sei schon viel. (Hiermit stimmt aber eine andere Äußerung nicht wohl überein, daß nämlich die Schlegel viele Gedanken in ihren Schriften Goethen im Umgang abgeborgt hätten.)

»Um zehn Uhr . . . trat Mehmel in mein Haus und an seiner Seite, begleitet von einem trefflichen Spitz, dieser Jean Paul, dessen Äußeres mir allerdings bei dem ersten Anblick die Seltsamkeit seines inneren Menschen in etwas abspiegelte. 608 Zuerst von seinem äußersten Äußeren! Er trug Stiefel, lange Hosen, jedoch nicht lang genug, um in die Stiefel hinabzureichen, eine nicht sehr weiße Weste, einen blauen, schon etwas verschlissenen Rock mit schwarzsamtnem Kragen. Er ist von mittlerer Größe und recht wohl gebaut. Sein Gesicht ist nicht schön, jedoch auch nicht unangenehm; en profil gefiel er mir viel besser als en face . . . Seine Augen sind blau; es herrscht in ihnen kein flammendes oder blitzendes, sondern ein düster und matt glühendes Feuer. Doch sehen sie nicht starr, sondern rollen vielmehr, wiewohl nicht auf die äußern Gegenstände verschweifend, in unsteter Bewegung. Seine Stirne ist ungewöhnlich hoch . . . Er hat eine starke Glatze; nicht in der Farbe, welche schwärzlich ist, sondern in dem Wuchse gleicht sein Haupthaar Professor Daubs. Er ist nicht gerade dick, doch auch gar nicht so mager, als ich mir nach einer Äußerung in den ›Biographischen Belustigungen‹ vorgestellt hatte, wo er sagt, er habe nicht so viel Fett auf dem Leibe, daß man damit eine Nachtlaterne so lange brennend erhalten könne, als die meisten Polizeiverordnungen begehrten, nämlich von 10 bis 1 Uhr. Aber sein Fleisch ist aufgedunsen und schwammigt, welches besonders an den Händen, die viel zittern, auffällt. (Er ist jetzt 41 Jahre alt.) In der Art, seinen Körper zu tragen, herrscht eine eigne Beweglichkeit, die jedoch sehr verschieden ist von der trippelnden mancher Stutzer, besonders der vorigen Zeit, wo petit maître weniger treffend durch Zierbengel übersetzt ward als heutzutage. Er verändert jeden Augenblick seine Stellung, oder hebt wenigstens einen Fuß um den andern auf, geht hin und wieder usw. Seine Mundart, die vogtländische, klingt nicht sonderlich angenehm; als ich ihn Mädichen, Bändichen sagen hörte, konnte ich mich des Gedankens an die jenaischen Kümmeltürken nicht erwehren.

609 »Was den Inhalt seiner Gespräche betrifft, so merkte ich, wiewohl ich ihn hocherfreut hörte und er auch nicht zurückhaltend schien, doch bald, daß seine Bücher ohne Vergleich geistreicher, voll tieferen Sinns und Gehalts seien als seine mündlichen Unterhaltungen. Er brachte mir ein Kompliment der Frau von Kalb, die er besucht und die ihn vermocht hatte, hierher zu reisen. Um ein Gespräch einzuleiten, erwähnte ich, wiewohl es mir entsetzlich widerstrebt, mit einem Schriftsteller gleich von seinen Büchern anzufangen, daß wir nach dem Meßkatalog ein neues Werk von ihm zu erwarten hätten. Es sei schon gedruckt, sagte er und fügte scherzend hinzu, es sei eigen, daß man in einem hübschen Zimmer oder bei einem eleganten Gastmahle oder an einem Hofe sich ordentlich nicht getraue, den Titel dieses Buches (die Flegeljahre) bei ihrem Namen zu nennen. Ich weiß selbst nicht, warum ich es nicht getan hatte. Vom »Titan« sagte er, dieser sei sehr mißverstanden und manches mit Unrecht getadelt worden, weil man vergessen habe, was schon der Titel sage, daß hier meistens titanische Menschen aufträten, deren Kraft sich an der Möglichkeit zerstieße und die notwendig untergehen müßten. Schoppes Tod sei ihm sehr nahe gegangen, doch werde er ihn wieder auferwecken. Ich äußerte, daß mir die Statuten des kritischen Fraisgerichts (im zweiten Bande des Titan) mit zu dem Besten zu gehören schienen, was wir von ihm hätten; er schien damit zufrieden und nannte mir, um mich bei diesem Gedanken zu bestärken, ein paar berühmte Männer (Herder und Jacobi), deren vorzüglichen Beifall jene Schrift erhalten habe. Da mir, fuhr er fort, die gedachten Statuten so wohl gefallen hätten, so mache er mich auf eine größere Schrift, in welcher dieselben Gegenstände behandelt würden, aufmerksam: auf seine Programme zur Ästhetik welche auf Michaelis zu Hamburg herauskämen und jetzt in 610 Jena gedruckt würden. Mehmel nach seiner gewöhnlichen Zudringlichkeit fragte: ›Könnten wir die einzelnen Bogen nicht bekommen?‹ – Jean Paul: ›Wenn Ihnen soviel daran gelegen ist, will ich Ihnen wohl von Zeit zu Zeit mehrere zusammen zuschicken.‹ – ›Oh, tun Sie es doch! Sie sollen sie richtig wieder zugeschickt erhalten.‹ – Jean Paul: ›Wozu? Ich brauche sie nicht mehr. Doch ja, Sie können mir sie als Emballage wieder zuschicken und etwa Ihre Kritik hineinpacken.‹

»Die Rede kam auf Tieck, von dem er mit Liebe sprach. Daß er ihn aber doch nicht in einem Sinne mit uns ehre und liebe, bewährte sich mir dadurch, daß er der kleinen leichten Liedchen und der scherzhaften Partien als des Vorzüglichsten in seinen Werken erwähnte. Mehmel drängte mich, einige der Stücke, die ich Euch mitgeteilt, zu lesen, was mir nicht angenehm war, weil Tieck so sehr gewünscht hatte, sie möchten niemand außer dem engsten freundschaftlichen Kreise mitgeteilt werden . . . Ich fragte ihn, ob er die Rheingegenden kenne. Nein, war die Antwort, aber er gedenke sie noch kennenzulernen, und die Schweiz und Italien. Er eile aber mit diesen Reisen nicht und wolle sie lieber machen, wenn er älter sei, um sich bei dem Erkalten des innern poetischen Lebens an den Schönheiten der äußern Welt zu erwärmen . . .

»Als Jean Paul von mir wegging, blieb, indem er schon an der Treppe war, sein Hund etwas zurück. ›Spitz!‹ rief er. ›Das ist doch nicht der Spitzius Hofmann?‹ fragte ich. ›Nein, aber (mit einer ganz komischen Bedeutsamkeit) er kann schwimmen! (er könnte also, hieß das, wohl eine gute Hundspost abgeben!) und es geschieht vielleicht, daß ich um seinetwillen einen Anhang zum ›Hesperus‹ schreibe.‹ Als ich ihm vor unserm Abschied meinen Wunsch zu erkennen gab, er möchte sich hier länger aufgehalten haben, sagte er: ›Ich komme jetzt oft!‹«

611 Mittags wurde bei Professor Memminger ein Mahl zu Ehren des Gastes gehalten. In Le Piques Beschreibung heißt es weiter: »Wir hielten ein sehr angenehmes Mahl. Jean Paul schien wiederum recht wohl gelaunt; wenn ich indessen nach seinen Schriften erwartet hatte, er würde im Umgange ebenso humoristisch sein wie in jenen, hier wie dort würde ein Einfall den andern jagen und der Witz nach allen Richtungen hin Funken sprühen: so ward auch diesmal, so interessant auch seine Unterhaltung und so anziehend, ja rührend mir das Anspruchslose und Gemütliche in seinem Wesen war, meine Erwartung bei weitem nicht erfüllt. Hier nur einiges, was mir gerade aus den Gesprächen einfällt. Von Bonaparte sagte er, bis zum Anfange und während der Krönungsfeierlichkeiten sei er gewiß seines Lebens sicher; das sei eine hohe Lust für die Franzosen, die sie sich nicht würden nehmen lassen. – Die Vortrefflichkeit und der geistige Reichtum seien in der jetzigen Literaturwelt die größte Sünde; nur die Schlechtigkeit, Mittelmäßigkeit und Armut fänden Lob und Gnade. Er sei von allen kritischen Tribunalen pro prodigo erklärt und verdammt. – Ein Hund wurde zur Stube hinausgejagt. ›Es ist doch meiner nicht!‹ fragte er ganz hastig. Der lag mit Walthers unterm Tische. Beide knurrten ein bißchen. ›Der Freimütige und der Elegante!‹ sagte er. [Auf Kotzebues Zeitschrift ›Der Freimütige‹ und Spaziers ›Elegante Welt‹ anspielend.[ Mehmel, ohne wahrscheinlich etwas dabei zu denken, sagte: ›Der Ihrige ist also wohl der Freimütige?‹ – ›Was?‹ fuhr er wie unwillig auf; ›das bitte ich mir aus!‹ Gelinder setzte er hinzu: ›Meiner kann schon darum nicht der Freimütige sein, weil sein Herr der Schwager des Herausgebers der Eleganten Zeitung ist.‹ Von Kotzebue sagte er, sein Haß gegen Weimar und Jena komme von der tiefen Verachtung her, worin er bei allen braven Menschen 612 gestanden; besonders habe Herder ihn ganz unsäglich verachtet und ihn nie an sich gelassen, so sehr er auch gedrängt habe. – Herder habe den größten Widerwillen gegen die Schillerschen Stücke gehabt (vide das letzte Blatt der Adrastea). Mit jenem umzugehen, sei köstlich gewesen, weil er jeden Gedanken, den man ihm geboten, mit der größten Lebhaftigkeit und der eigentümlichsten Kraft aufzufassen und fortzubilden gewußt habe.«

In diesen Schilderungen des braven Theologen beobachten wir Jean Paul im harmlosen Gespräch mit harmlosen Menschen, denen er sich ohne sonderliche Gedanken hingab. Wie anders aber erscheint er hier als in den früheren Schilderungen! Er saß nicht mehr mit den Göttern an einem Tisch. Statt der enthusiastischen Bewunderung, die man ihm bisher entgegengebracht hatte, fand er freundliche oder gar laue Zustimmung. Nicht mehr wie eine Naturgewalt brach er in Menschen ein. Keine Sendung trug ihn mehr und hieß ihn die Herzen aufwühlen. Wie ein braver Philister fast saß er mit Philistern am Tisch und kannegießerte über berühmte Männer, mehr milde und freundlich, von rührender Anspruchslosigkeit, als sprühend und fortreißend. Und wie anders ist von den Werken die Rede, die er gerade unter der Feder hat! Früher gab es stundenlanges Sprechen darüber, intimste Mitteilungen über Szenen und Charaktere. Das alles hat aufgehört. Jetzt wächst das Werk stumm in der Einsamkeit, am Schreibtisch oder irgendwo im Freien, wo der Dichter die Arbeitsstatt sich errichtet. In Coburg war es das Gartenhaus auf der vorderen Kuppe des sogenannten Adamiberges, wo er bei schönem Wetter zu arbeiten pflegte. In Baireuth bevorzugte er die durch ihn berühmt gewordene Rollwenzlei. Jeden Morgen, soweit es das Wetter erlaubte, pilgerte er dorthin, im grauen Rock, eine Blume im Knopfloch, eine 613 Mappe unter dem Arm, den Stock in der Hand, auf dem Haupt die Mütze mit dem großen Schild, begleitet von seinem Spitz. War das Wetter schlecht, so verließ er oft vier Tage hintereinander nicht das Haus. Schon während des Frühstücks, das er allein in seinem Zimmer einnahm, begann die Arbeit, die ununterbrochen fortdauerte. Übrigens schloß er sich, auch während der angestrengtesten Tätigkeit, von seiner Familie nicht ängstlich ab. Oft ging er zu den Kindern oder zu seiner Frau, aber immer kehrte er bald wieder zu seiner Arbeit zurück, die ihm von Jahr zu Jahr schwerer fiel und ein immer größeres Aufgebot an Kraft von ihm verlangte. In kurzer Zeit war aus dem glühenden Feuergeist ein Eigenbrödler geworden, der sich seltsam genug in der menschlichen Gesellschaft ausnahm. Immer weniger legte er auf sein Äußeres Gewicht. Die nicht mehr ganz weiße Weste, von der Le Pique erzählt, wird für ihn bezeichnend. Karoline schreibt in der ersten Zeit ihrer Ehe an ihren Vater, daß Jean Paul immer wieder seinen alten abgetragenen Schlafrock trüge, obwohl ein schöner neuer im Schrank hänge. So ist es mit allem. Sein Rock ist ständig abgetragen, seine Wäsche nie ganz sauber. Diese äußeren Kleinigkeiten des Lebens vermag er je länger um so weniger zu meistern. Wie sein Fleisch schwammicht und aufgedunsen wird, so überläßt er auch seine Kleidung sich selber. Es ist etwas Müdes und Verbrauchtes in ihm. Le Pique stellt fest, daß ihm in seinem 41. Jahre die Hände zittern wie einem Greise. Kaffee und Bier haben seine Organe abgenutzt. Immer unähnlicher wird er den alten Bildern, die es von ihm gibt.

Und dennoch trug dieser absterbende Baum jetzt erst seine größten und reifsten Früchte. Auch die beiden letzten und entscheidenden Bände des »Titan« muß man zu dieser großen Schaffensperiode rechnen, die er jetzt Schlag für Schlag, wie 614 vor mehr als zehn Jahren die ersten großen Romane und Idyllen von der »Unsichtbaren Loge« bis zum »Siebenkäs«, Werk auf Werk hervorbrachte.

 

Wie die vier Seiten einer gewaltigen Pyramide türmen sich die vier Werke: Titan, Flegeljahre, Vorschule der Ästhetik und Levana. Im »Titan« hatte Jean Paul mit der Zeit und ihren Überkräften abgerechnet. In den »Flegeljahren«wandte er sich wieder seiner ihm eigentlichen Welt, den Armen und Vertriebenen des Lebens, zu. In der »Vorschule der Ästhetik« setzte er sich ästhetisch mit der Zeit und ihren Überkräften auseinander. In der »Levana« tauchte er in die Welt der Kinderseele hinab, auch hier der Unmündigen und Verkannten sich annehmend. So stehen also »Titan« und »Vorschule« in einer Reihe, »Flegeljahre« und »Levana« in der andern. Aber wiederum war der Erziehungsgedanke im »Titan« die eigentliche Wurzel, derselbe Gedanke, der die »Levana« erfüllte. Also auch »Titan« und »Levana« gehören in eine gemeinsame Reihe. Und die »Vorschule der Ästhetik« enthielt zugleich die Grundlegung des Jean Paulschen Humors, der in den »Flegeljahren« seine herrlichste Frucht treiben sollte. Also wiederum »Vorschule« und »Flegeljahre« stehen in einer gemeinsamen Reihe. Alle vier Werke erst gemeinsam schneiden sich in der Idee des Jean Paulschen Gesamtschaffens.

Diese vier Werke entstehen infolgedessen auch neben- und durcheinander. Schon in Berlin, vor seiner Heirat, beschäftigte Jean Paul sich mit den »Flegeljahren«, also noch vor dem dritten Bande des »Titan«. Endgültig begann er das Buch dann unmittelbar nach der Beendigung des »Titan«. Aber er hatte kaum die Hälfte der »Flegeljahre« geschrieben, 615 als er den Roman unterbrach, um in raschen Zügen die »Vorschule der Ästhetik« niederzuschreiben, deren Grundgedanken ihn seit fast zehn Jahren beschäftigt hatten. An die »Flegeljahre« und die »Vorschule« schloß sich dann unmittelbar die »Levana« an.

Aus dem »Titan« kennen wir die Grundideen, die Jean Paul in dieser reichsten Periode seines Schaffens zum Ausdruck bringen wollte. Gegen die einseitig ästhetische Einstellung des Goethe-Schillerschen Kreises und gegen die Überspannung des ästhetischen Gedankens in der Romantik war der »Titan« gerichtet. In den Schicksalen und Charakteren seiner Helden hatte er der die Zeit beherrschenden Ästhetik den Spiegel vorgehalten, in Dian und Albano seine Ideale verkündet. In dem Kernproblem der Zeit: der Ausdeutung der Antike, hatte er die beiden gegnerischen Strömungen in der italienischen Reise seiner Hauptgestalten gegeneinandergesetzt. Genau die gleiche Gedankenwelt treffen wir in der »Vorschule der Ästhetik« an. Was er im »Titan« in Schicksal und Charaktere projizierte, gab er in diesem theoretischen Werk als Grundprobleme der Kunst.

Man hat gegen die »Vorschule« den Einwand erhoben, daß Jean Paul statt einer Ästhetik nur eine Poetik gibt, das heißt, daß er sich auf die Klarlegung poetischer Probleme beschränkt und die andern Künste kaum vorübergehend berührt. Das ist richtig, aber er gab in seinem Buch doch auch mehr als nur die Grundlegung einer Poetik. Er führte in die Probleme der Kunst überhaupt ein und stellte Kunst, auch wenn er nicht alle ihre Erscheinungsformen berücksichtigte, zum erstenmal allgemein unter die Optik des Lebens und des Geistes. So hatte er ein gewisses Recht, sein Buch eine Vorschule der Ästhetik zu nennen. Eher kann man dem Werk den Vorwurf der Systemlosigkeit machen. Aber gerade in der losen Bindung 616 seiner Einfälle, in der Voraussetzungslosigkeit, mit der er jedesmal neu zum Grund der Erscheinungen niedertaucht, liegt sein Hauptreiz. Und mag sich in den einzelnen Gängen kein geschlossenes System herausentwickeln, so ist es doch eine geschlossene Weltschau, die alle ihre Teile durchdringt. Die Gedankenmassen einer ganzen Zeit und einer unvergleichlich reichen Persönlichkeit werden hier unter wenigen ganz großen Gesichtspunkten neu gruppiert. Dabei kam, wie bereits in früheren Kapiteln, zum Beispiel im Zusammenhang mit Jean Pauls Satirendichtung, hervorgehoben, dem Dichter seine genaue Kenntnis der Literatur des 18. Jahrhunderts ungemein zugute. Ganz anders als seine Zeitgenossen wurzelte er infolge seiner Entwickelung abseits des großen Lebens in der literarischen Tradition einer Kunstpoesie, die viel genauer gedanklich durchformt war als die moderne Literatur seit dem Sturm und Drang. In der Moderne waren die einzelnen Dichtungsarten durcheinandergeraten, hatten zwar an seelischem Reichtum gewonnen, aber an Kultur der Form und des geformten Wortes eingebüßt. Goethe zum Beispiel wäre kaum imstande gewesen, eine Poetik auch nur in bloßen Leitbegriffen zu skizzieren. Über Grundbegriffe der Dichtung, über Humor, Witz, Satire etwa, hätte er sich kaum fruchtbar auslassen können. Lessing war der letzte Beherrscher der Grundbegriffe einer streng gedanklich fundierten Poetik, und erst im Anschluß an Jean Paul sollten in neuerer Zeit wieder Beherrscher dieser eingeschlafenen Welt wie Wolfgang Menzel oder Friedrich Theodor Vischer auftreten.

Die Leitpunkte der Schrift entsprechen genau der Anordnung des »Titan«. In dem ersten »Programm«, wie Jean Paul die einzelnen Abteilungen der Vorschule bezeichnet, stellt er die »poetischen Nihilisten« und die »poetischen Materialisten« einander entgegen. Schon diese Definitionen zeigen 617 die Frontstellung an. Unter Nihilisten versteht er jene Kunstrichtung, deren Formensprache des Untergrundes der Wirklichkeit entbehrt. Es ist der gleiche Vorwurf, den er von jeher der Weimarischen Schule machte und den er jetzt, entsprechend dem »Titan« (»Liane«), auch auf die Romantiker von der Reinheit und Durchsichtigkeit eines Novalis ausdehnt. Unter den Materialisten fertigt er die platten rationalistischen Nachahmer der Natur, wie Hermes, Brockes oder Gellert, ab. Auch gegen Kants Ästhetik wendet er sich. Kant suchte, wie das rein sittlich Gute, so auch das ästhetisch Vollendete durch Isolierung des Begriffs. Jean Paul hingegen hat als obersten Leitpunkt ständig das Leben selbst im Auge. »Dem Nihilisten mangelt der Stoff und daher die belebte Form; dem Materialisten mangelt belebter Stoff und daher wieder die Form, kurz, beide durchschneiden sich in Unpoesie.« Der rechte Dichter »wird begrenzte Natur mit der Unendlichkeit der Idee umgeben, und jene wie auf einer Himmelsfahrt in diese verschwinden lassen.«

Damit war kurz umrissen, was Jean Paul unter Dichtung oder Kunst überhaupt versteht. Schon hier wird die Methode des Buches klar: er leitet nicht Begriffe aus Begriffen ab, sondern sucht durch Bilder und Metaphern sein Ideal der Kunst erlebbar zu machen. Er baut nicht ein lückenloses System der ästhetischen Werte auf, sondern er fügt Stein auf Stein sein Kunsterlebnis in das Leben ein, wie es von jedem klar gefühlt und erlebt wird.

In dem zweiten Programm untersucht er die »Stufenfolge poetischer Kräfte«. Die Phantasie spricht er als das eigentliche Organ der Poesie an, anknüpfend an seinen Aufsatz »Von der natürlichen Magie der Einbildungskraft« aus den Beigaben zum »Quintus Fixlein«. Die Phantasie oder »Bildungskraft« führt uns nun schon tiefer in das Wesen
618 der Dichtung und des Dichters ein. Die »Grade der Phantasie« werden untersucht, und das Programm endet bei den »passiven Genies«. Karl Philipp Moritz stellt er den passiven Genies voran. »Auch Novalis und viele seiner Muster und Lobredner gehören unter die genialen Mannweiber, welche unter dem Empfangen zu zeugen glauben.« Bis dicht an das Genie selbst hat uns diese Untersuchung herangeführt. Dem Genie ist nun das dritte Programm gewidmet, und hiermit treten wir in den eigentlichen Tempel ein. »Der Glaube von instinktmäßiger Einkräftigung des Genies konnte nur durch die Verwechselung des philosophischen und poetischen mit dem Kunsttriebe der Virtuosen kommen und bleiben.« Ein fundamentaler Satz, der die Untersuchung über das Genie einleitet. Auch hier wieder die Frontstellung gegen die »Einkräftigkeit«, die den »Titan« durchzieht. Gerade die »Vielkräftigkeit«, die »Besonnenheit« wird in Jean Pauls Geniebegriff in den Vordergrund gerückt. Aber hinter dieser Besonnenheit schwingen die verschiedensten Kräfte und Strömungen. »Die geniale Ruhe gleicht der sogenannten Unruhe, welche in der Uhr bloß für das Mäßigen, und dadurch für das Unterhalten der Bewegung arbeitet. Was fehlte unserm großen Herder bei einem solchen Scharf-, Tief- und Viel- und Weit-Sinne zum höhern Dichter? Nur die letzte Ähnlichkeit mit Platon; daß nämlich seine Lenkfedern (pennae retrices) im abgemessenen Verhältnis gegen seine gewaltigen Schwungfedern (remiges) gestanden hätten.« Gerade das Übermaß dessen, was man für gewöhnlich Genialität nennt, wird hier an dem geliebtesten Freunde als ein Mangel an wahrer Genialität, als Mangel an »Besonnenheit«, angemerkt. Aber diese Besonnenheit wird nun auch sofort abgegrenzt gegen die »Sündige Besonnenheit«, die »Ruchlose Geistesgegenwart« der »ausgeleerten Selbstlinge jetziger Zeit« oder der 619 rhetorischen und humanistischen Welt, die »in ihren frechen, kalten Anleitungen, wie die schönsten Empfindungen darzustellen sind, besonnene Gliedermänner wie aus Gräbern zu Exempeln« hervorholt. Durch den »Instinkt des Unbewußten und die Liebe dafür« wird die wahrhaft geniale Einstellung gegen diese ruchlose Kälte abgegrenzt.

Aber die ganze Tiefe des Genies erschließt sich erst in seiner Zweiweltigkeit, in seinem Hineinreichen in die Bezirke des Metaphysischen. Es ist klar, daß Jean Paul sein Genie hier nach seinem Bilde formt. Aber hatte er nicht die Berechtigung, sich als eine besondere Inkarnation des deutschen Genius anzusprechen? Stellte er nicht in besonderem Grade die deutsche Verwirklichung dar? Und so ersteht vor unserm Auge denn auch ein Geniebegriff mit deutschen Zügen. Diese Verbindung der Treue gegen die Natur, des Verwurzeltseins in höheren Welten, diese Verbindung erst macht Jean Pauls Genie zum Inbegriff des deutschen Wesens. Wie er in Albano das Idealbild des deutschen Jünglings zeichnete, so zeigt er jetzt das Idealbild des deutschen Genies. »Wenn es aber Menschen gibt,« schreibt er von ihm, »in welchen der Instinkt des Göttlichen deutlicher und lauter spricht als in andern; – wenn er in ihnen das Irdische anschauen lehrt (anstatt in andern das Irdische ihn); – wenn er die Ansicht des Ganzen gibt und beherrscht: so wird Harmonie und Schönheit von beiden Welten widerstrahlen und sie zu einem Ganzen machen, da es vor dem Göttlichen nur Eines und keinen Widerspruch der Teile gibt. Und das ist der Genius; und die Aussöhnung beider Welten ist das sogenannte Ideal. Nur durch Himmelskarten können Erdkarten gemacht werden; nur durch den Standpunkt von oben herab (denn der von unten hinauf schneidet ewig den Himmel mit einer breiten Erde entzwei) entsteht uns eine ganze Himmelskugel, und die 620 Erdkugel selber wird zwar klein, aber rund und glänzend darin schwimmen.«

Dem Instinkt also spricht er die Entscheidung über den letzten Wert des Genius zu und hebt damit das eigentlich Geniale aus den äußeren Gaben und Talenten in die himmlische Heimat. Genie ist unerklärbar und unberechenbar, es ist eine Angelegenheit des Instinktes, der Gabe. Wieder stehen wir hier an einem Drehpunkt allgemeiner Begriffe. Die Sturm- und Drangperiode hatte den Geniebegriff der Renaissance aufgenommen, verstand unter Genie jenes »Genialische«, das nach Jean Paul Herder zuviel hatte, führte außerdeutsches Gut in das Seelenleben des Volkes ein und leitete zu dem »einkräftigen« Geniebegriff der Romantik über. In der Jean Paulschen Fassung wird der alte deutsche Meistersinn wieder lebendig, der wohl in die Niederungen des Lebens eindringen kann, sie aber von dem höchsten Standpunkt aus betrachtet und in ein Lebensganzes hineinstellt. Das bloße Talent kann uns die Armut, den Kampf mit dem bürgerlichen Leben, nur zeigen, »als müßten wir die Not wirklich erleben«. »Wenn hingegen der Genius uns über die Schlachtfelder des Lebens führt: so sehen wir so frei hinüber, als wenn der Ruhm oder die Vaterlandsliebe vorausginge mit den zurückflatternden Fahnen; und neben ihm gewinnt die Dürftigkeit wie vor einem Paar Liebenden eine arkadische Gestalt.« Hier denken wir an Jean Pauls eigene Idyllendichtung, aber darüber hinaus an die großen Meister des deutschen Mittelalters. »Auf diese Weise versöhnet, ja vermählt er – wie die Liebe und die Jugend – das unbehülfliche Leben mit dem ätherischen Sinn, so wie am Ufer eines stillen Wassers der äußere und der abgespiegelte Baum aus Einer Wurzel nach zwei Himmeln zu wachsen scheinen.«

In den folgenden Teilen werden die »griechische oder 621 plastische Dichtkunst« und die »romantische Dichtkunst« einander entgegengestellt. Auch hier wieder wird das Griechentum Herders gegen das Griechentum des Goethe- und Schillerschen Kreises abgegrenzt. Nicht als eine überzeitliche Norm wird bei Jean Paul das Griechentum begriffen, sondern aus seinen besonderen Bedingungen heraus verstanden. Was hier, mit den Augen Herders gesehen, über Griechentum gesagt wird, reicht viel tiefer hinab als alles, was seit Lessing die idealistisch klassische Epoche hervorbrachte. Jean Paul und seiner Zeit fehlten freilich noch die historischen Grundbegriffe. Er konnte noch nicht erkennen, daß das Griechentum Goethes im Grunde von spätrömischen Zivilisationsmomenten überwuchert war, wie ja bereits Lessings Laokoon das griechische Bildungsideal aus einer spätrömischen Skulptur abgeleitet hatte. Der große Abschnitt der Vorschule »Über die griechische oder plastische Dichtkunst« ist die letzte Abhandlung der Zeit, die das historische Griechentum an ihren Wurzeln faßt. Unmittelbar nach ihr versiegte der Herdersche Geist in Deutschland. Was durch diesen großen Welthistoriker und Jean Paul erarbeitet war, ging unter in der »griechenzenden« Nachahmung einer unwirklichen und konstruierten »Antike« und mußte in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts durch Nietzsche erst wieder erobert werden. Aber unsere Schulen und Bildungsanstalten sind noch heute von diesem »griechenzenden« Ideal der Antike besessen, das zu leerem und formalem Kunstenthusiasmus hinführt statt zu lebendiger Erneuerung aus griechischem Geiste. Dem Freiheitsgefühl des griechischen Menschen werden die abgestorbenen Instinkte der spätrömischen Kaiserzeit untergelegt, als hätte nie ein Herder die lebendigen Quellen des Griechentums erschlossen und in die deutsche Seele hineingeleitet.

Jean Paul gibt von dem griechischen Menschen und der 622 griechischen Welt ein tief in das Bewußtsein dringendes Bild. »Ein Land, wo alles verschönert wurde, von der Kleidung bis zur Furie,« schreibt er schon ganz mit Nietzschescher Feder, »so wie in heißen Ländern in Luft und Wäldern jede Gestalt, sogar das Raubtier, mit feurigen prangenden Bildungen und Farben fliegt und läuft, indes das kalte Meer unbeholfne, zahllose und einförmige, das Land nachäffende graue Ungestalten trägt.« Aus dieser Wurzel des Lebens leitet er die Sättigung des griechischen Menschen mit Schönheit ab, und aus der engen Verbundenheit mit ihrer dem gleichen Boden entwachsenen Mythologie ihre Dichtkunst. »Mit der Mythologie war ihnen eine vergötterte Natur, eine poetische Gottes-Stadt sogleich gegeben, welche sie bloß zu bewohnen und zu bevölkern, nicht aber erst zu erbauen brauchten.« Wer denkt nicht an jene Anregungen Herders, die uns fehlende Mythologie durch Übernahme der nordischen Mythologie zu ersetzen, in seinem für die »Horen« geplanten Aufsatz, der den eigentlichen Bruch mit Schiller und im weiteren Verlauf mit Goethe einleitete! In dieser Auffassung der Mythologie als eines lebendigen Bestandteils im Leben eines Volkes oder eines künstlich nachzuahmenden Gestaltenmaterials stehen sich zwei diametral entgegengesetzte Weltanschauungen gegenüber. Nachahmung der Antike oder Erneuerung des antiken Heroismus. Wie im »Titan« die Berührung mit der Antike auf dem ehrwürdigen Boden Roms Albano zur Tat aufruft und seine Reisebegleiter zu einem leeren Kunstenthusiasmus. Genau das gleiche wiederholt sich in der »Vorschule der Ästhetik«.

Zu entscheidenden Momenten für die innere Einstellung zum Griechentum werden für Jean Paul jene Bestandteile der griechischen Seele, die Nietzsche später die »dionysischen« nannte. Auch diese Dionysoslehre des modernen Denkers ist 623 hier schon vorausgenommen. Die »Qual des Strebens« gehört für Jean Paul durchaus zum Griechentum. »In Satyrs und Portraits« legten die Alten diese unruhige Qual hinein. »Es gibt keine trübe Ruhe, keine stille Woche des Leidens, sondern nur die des Freuens, weil auch der kleinste Schmerz regsam und kriegerisch bleibt.« Und am Ende dieses Bildes von Hellas steht jener Dichter, der in der Tat Jean Paul am meisten anziehen mußte: Aristophanes. »Der wie alle großen Komiker sittlich verkannte Aristophanes, dieser patriotische Demosthenes im Sockus, läßt ja wie ein Moses seinen Froschregen auf den Euripides nur zur Strafe seiner schlaffen und erschlaffenden Sittlichkeit fallen – weniger bestochen als Sokrates von dessen Sittensprüchen bei vorwaltender Unsittlichkeit im Ganzen – und verschont dagegen mit dem kleinsten rauhen Anhauche nicht etwan seinen gekrönten Liebling Aeschylos, sondern den religiösen Sophokles, welcher selber dem Euripides, wie Shakespeare dem Dichter Ben Johnson, große Achtung bewiesen.« Und nun kommt jener höhnische Ausruf gegen den oberflächlichen Geist der leeren Griechenanbeter, die sich in Entrüstung über den »die griechische Götterwelt niederziehenden Euripides« nicht genugtun können: »Stünde nun ein solcher von Aristophanes sittlich verurteilter Euripides in den jetzigen Ländern wieder auf; was würden die Länder machen? Ehrenpforten zu einem Ehrentempel für ihn; denn, würden sie sagen, es darf uns wohltun, endlich einmal den Wiederhersteller reiner Sittlichkeit auf unsern besudelten Bühnen zu begrüßen.« Darum also war es Jean Paul in erster Linie zu tun: zu zeigen, welch ein Widerspruch zwischen der Griechenbegeisterung seiner Zeit und ihrem eigenen Verhalten unter ähnlichen Umständen klafft.

Der griechischen Kunst wird die »romantische« entgegengesetzt, das heißt im allgemeinen die Kunst der christlich 624 nordischen Völker. Aber der Bogen wird auch bis zur Edda einerseits, bis zur indischen Poesie andererseits ausgespannt, ja selbst im Griechentum werden romantische Stimmungen festgestellt. Was Jean Paul unter romantischer Kunst versteht, geht aus der Bewußtheit hervor, mit der er immer wieder das Christentum mit seiner seelischen Bereicherung als die große Grenzscheide zwischen der Antike und der Neuzeit kennzeichnet. Wir fanden schon in seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Geist von Weimar den eigentlichen Gedanken, der auch hier wieder Leitpunkt seiner Darstellung ist: daß die bildende Kunst in dem vorwiegend plastisch gestimmten Griechentum ihre höchste und vielleicht abschließende Vollendung gefunden hat, daß aber die fortgesetzte seelische Bereicherung in der Dichtung zu immer reicheren und vielfarbigeren Gebilden führen müsse, und daß hier in der gesteigerten Differenzierung ein Ende erst mit dem Ende der Menschheit abzusehen ist.

Wie das Griechentum aus der Natur seines Landes abgeleitet wird, so ist der bewölkte Himmel des Nordens die eigentliche Heimat der romantischen Poesie. Seit Klopstock beginnen wir wieder, uns dieser eigentümlichen Natur unserer Poesie voller Stolz bewußt zu werden, und von Klopstock ab rechnet Jean Paul den ungeheuren Aufschwung der deutschen Dichtung, die zu immer höheren und reicheren Gedichten führen würde. Rittergeist und Christentum, Sterndeuterei und Aberglauben im höheren Sinne rechnet Jean Paul zu den Grundkräften der romantischen Poesie und führt als Musterbeispiele dieser Gattung Herders »Legenden«, Gozzi, den »Wilhelm Meister« und einige Werke Klingers an. Wie vereinsamt Jean Paul sich damals bereits fühlte, geht aus seiner Bemerkung hervor, daß er die Deutschen »für die romantische Poesie zu schwer und fast für die 625 plastische geschickter« hält. Mochte er damals bereits voraussehen, daß die gräzisierende Richtung über eine deutsche Verwirklichung, wie sie ihm vorschwebte, triumphierte?

Mit dem sechsten Programm beginnt er die eigentliche Poetik. »Über das Lächerliche«, »Über die humoristische Dichtkunst«, »Über den epischen, dramatischen und lyrischen Humor« nennt er die folgenden Untersuchungen, die das Beste enthalten, was je über die komische oder humoristische Dichtung geschrieben worden ist. Zu diesen Teilen strömte ihm der Stoff aus seinem gesamten Schaffen in Fülle zu. Wir sahen bereits bei Besprechung seiner ersten Satirenbände, wie klar ihm schon damals die feinsten Unterscheidungen des Stils waren. Die metaphysische Grundlegung des Humors ist vielleicht die eigentliche Leistung der Vorschule. Im Humor handelt es sich um ein Endliches, welches auf das Unendliche angewandt wird. Der Humor ist das »umgekehrt Erhabne«. Er ist die Parodie des Großen durchs Kleine, er verknüpft und mißt mit der kleinen Welt die unendliche, er adelt die Narrheit zur Weisheit. Er vernichtet das Endliche durch den Kontrast mit der Idee, die hinter aller Endlichkeit steht. Er erniedrigt das Kleine und setzt ihm das Große an die Seite, er erhöht das Kleine und setzt ihm das Große zur Seite und vernichtet so das Große wie das Kleine. Für den Humor gibt es keine einzelne Torheit, keine Toren, sondern nur Torheit und eine tolle Welt. Darin liegt die Totalität des Humors. Aber noch weiter: der Humor ist im Grunde seines Wesens ernst, weil er das tragische Durchschauen des Weltganzen ist. Immer aber, obwohl voll höchster, unerreichter Objektivität, ist der Humor verbunden mit der zugespitzesten Subjektivität, weil das Ich, obwohl erhoben zum Welten-Ich, stets der Träger des Humors ist. So wächst der Humor zum höchsten Lyrismus auf, weil er aus Einfällen von göttlicher 626 Gnade seine Welt erbaut. Der Humor ist aber auch die höchste Sinnlichkeit. Ein Einfall eines witzigen Bildes wiegt hundert erdachte und künstliche Allegorien auf. Diese Ausführungen gipfeln in der Darlegung der »Notwendigkeit deutscher witziger Kultur«. Niemals war Humor in diesem tiefen Sinne behandelt worden, wie es hier durch Jean Paul zum erstenmal geschah. Erst in diesem Erfassen des Humors rundete sich seine »Vorschule der Ästhetik« zu der Grundlegung einer den Kern des deutschen Wesens ausdrückenden Poetik. Hier war der deutschen Dichtung ein neuer Schwerpunkt, fern von der griechischen Schönheitslinie, geschaffen worden. Darin liegt die tiefe Bedeutung der Kunsteinstellung Jean Pauls. Schon in der »Geschichte meiner Vorrede« hatte er dem Kunstrat Fraischdörfer gegenüber die krause und zackige Linie des Humors ausgespielt und zum erstenmal auf seine Absicht hingewiesen, seine ästhetischen Anschauungen in einer Abhandlung niederzulegen. Schon damals wußte der Dichter also, daß im Humor der Kernpunkt nicht nur seiner Anschauungen, sondern seines Schaffens lag. Der Rationalismus hatte dem deutschen Geist seine Anmut und Beweglichkeit genommen. »Bei den Deutschen sind die Ideen wand-, band-, niet- und nagelfest; der Witz aber gibt uns Freiheit, indem er Gleichheit vorher gibt. Er ist für den Geist, was für die Scheidekunst Feuer und Wasser ist: chemica non agunt nisi soluta, nur entbundene Körper schaffen neue. Er ist von Natur ein Geister- und Götterleugner, er ist der verkleidete Priester, der jedes Paar kopuliert; er nimmt an keinem Wesen Anteil, sondern nur an dessen Verhältnissen; er achtet und verachtet nichts, alles ist ihm gleich, sobald es gleich und ähnlich wird. Wenn der Geist sich ganz frei gemacht hat, wenn der Kopf nicht eine tote Polterkammer, sondern ein Polterabend der Brautnacht geworden, wenn zwar 627 ein Chaos da ist, aber darüber ein heiliger Geist . . . wenn dieser Dithyrambus des Witzes . . . den Menschen mehr mit Licht als mit Gestalten füllt: dann ist ihm durch die allgemeine Gleichheit und Freiheit der Weg zur dichterischen und philosophischen Freiheit und Erfindung aufgetan.«

Hier schlagen sich wieder Gedankenbrücken zu jenem andern Gebiet, das ebenfalls im Mittelpunkt von Jean Pauls Schaffen steht: der Erziehung. Von hier aus erst verstehen wir, weshalb er den Witz für eines der großen Erziehungsmittel hält und weshalb er in seiner Schwarzenbacher Winkelschule geradezu Anleitung zur Erfindung von Witz und zur Hervorbringung von Gedankenblitzen gab. Auch in der »Levana oder Erziehlehre« sollte der Witz den eigentlichen Kern- und Lösepunkt des ganzen Systems bilden. Er war Jean Pauls großes Erziehungsmittel zur geistigen Freiheit und zugleich zur Bindung des Spieltriebes und der andern Triebe.

Man kann den Gedankengängen der Vorschule nicht in alle Einzelheiten hinein folgen, obwohl gerade der zweite Teil mit dem überwältigenden Reichtum seines Materials dazu reizt. Auch darin nimmt Jean Paul die spätere Romantik vorweg, daß er hier zum erstenmal den Versuch unternimmt, die Entwickelung der Literatur historisch zu deuten. Im allgemeinen wird der Romantik das Verdienst zuerkannt, die moderne Geschichtsforschung begründet zu haben. Aber auch diese Seite der Romantik geht auf Herder zurück, der als erster mit historischem Blick an die Vergangenheit herantrat. Als Beginn der Literaturgeschichte bezeichnet man gewöhnlich das berühmte siebente Buch von Goethes »Dichtung und Wahrheit«. Aber unendlich sorgfältiger und unter viel tiefer greifenden Gesichtspunkten rollt Jean Paul Literaturgeschichte vor uns auf, und vorwiegend von der 628 humoristischen Dichtung, von Aristophanes an bis zu den Engländern des 18. Jahrhunderts, gibt er eine fast lückenlose Überschau.

Nur selten greift Jean Paul in seinen Darlegungen auf seine eigenen Gestalten zurück, aber alle, die ihm am Herzen liegen, finden hier ihre metaphysische Grundlegung. In den Ausführungen über den Humor ist es vornehmlich sein Liebling Schoppe alias Leibgeber, dessen Lebensstationen hinter Jean Pauls Ausführungen deutlich vor unser Auge treten. Auf der Basis des eigenen Schaffens beruhen auch die Ausführungen über »Charaktere«, über die »Geschichtsfabel des Drama und des Epos«, über den »Roman«, über die »Lyra«, über den »Stil und die Darstellung«. Hier gibt er uns intime Einblicke in die Werkstatt des Dichters, die auch heute noch, nach mehreren Perioden des großen deutschen Romans, neu wie am ersten Tag sind. In dem »Fragment über die deutsche Sprache« hat er den Rationalismus, der seine ersten Versuche einer eigenen Orthographie bestimmte, von Grund aus überwunden. Hier ist er ganz jener deutsche Dichter geworden, der aus dem Sprachgut des Volkes neue Wendungen und Verbindungen an die Oberfläche des Schriftdeutschs hob. »Unsre Sprache schwimmt in einer so schönen Fülle, daß sie bloß sich selber auszuschöpfen und ihre Schöpfwerke nur in drei reiche Adern zu senken braucht, nämlich der verschiedenen Provinzen, der alten Zeit und der sinnlichen Handwerkssprache.« Daß er diese Schöpfwerke in Bewegung gesetzt hat, zeigt der Reichtum seiner eigenen Sprache.

Den Programmen angehängt sind »Drei Vorlesungen in Leipzig«. Hier ist der systematische Aufbau eines theoretischen Werkes verlassen, und Jean Paul ergeht sich in freiem Schweifen seiner Phantasie über literarische Fragen seiner Zeit. Auch diese drei Vorlesungen sind Fundgruben 629 ästhetischer Einsicht, und hier springt es ganz besonders ins Auge, daß man nicht ohne Schaden Jean Paul aus dem Bilde unserer klassischen Epoche einfach fortgelassen hat. Wieviel vertiefter ist hier die Satire gegen die Aufklärung und ihr Organ, die Allgemeine deutsche Bibliothek Nicolais, als in der Polemik der romantischen Schule! Und wie treffend ist die stilistische Untersuchung der Schillerschen Lehrgedichte! Eine »kurze Nachschrift oder Nachlese der Vorlesung über Schiller« beschließt die erste oder Misericordias-Vorlesung. »Seine eigentliche romantische Tragödie ist weniger die von so vielen Gemeinheiten der Menschen und des Lebens umschattete ›Jungfrau von Orleans‹ als ›Wallenstein‹, worin Erde und Sterne, das Überirdische (nämlich der Glaube daran) und alles große Irdische gleichsam zwischen Himmel und Erde die Blitze ziehen und laden, welche tragisch auf die Seelen niederfallen und das Leben erschüttern.« Welch ein Abstand der Reife in dieser kurzen Bemerkung zu den noch heute gültigen Kommentaren!

Die zweite oder Jubilate-Vorlesung schließt mit einer Nachlese über die »Dichtinnen«. So bezeichnet Jean Paul nach dem Sprachreformer Wolke, dessen Eigenheiten er mehr und mehr annimmt, die Dichterinnen. (Da »Dichterin« eigentlich »Frau eines Dichters« bedeutet.) In dem dem Aufsatz zugrunde liegenden Studienheft heißt die Aufschrift »Jüdinnen«. Jean Paul wendete sich also offenbar an die jüdischen Dichterinnen des Berliner romantischen Kreises, gewissermaßen an eine Art von Titaniden. Die dritte, die Kantate-Vorlesung, endet in den bereits erwähnten Hymnus auf Herder, auf dessen noch frisches Grab Jean Paul diesen duftenden Ehrenkranz niederlegte. Nicht ohne Absicht sind diese drei Nachlesen oder Vorlesungen gegeneinandergestellt. Schiller, Titaniden, Herder. Noch einmal wurde also auch hier der 630 Ideenkreis des »Titan« durchschritten oder wenigstens angedeutet. Wie anders sollte Jean Paul auch sein Werk ausklingen lassen als mit dem hymnischen Panegyrikus auf den angebeteten Freund! Nie hat ein Genius Schöneres über einen andern Genius geschrieben. Die Vorlesung ist eingekleidet in ein Gespräch mit einem schönen Jüngling, der Herder mit den geistigen Waffen Schillers angreift. Ob der Jüngling Schiller selbst sein soll, erscheint zweifelhaft. Jean Paul läßt einmal durchblicken, daß es sich um eine Gestalt aus seinen Romanen handle. Wie er Victor, den Helden des »Hesperus«, oftmals in späteren Gesprächen auftreten läßt, so kann er hier das gleiche mit Albano im Auge gehabt haben, und es ist nicht einmal so abwegig, wenn er dem stolzen Jüngling eine Kunsttheorie in den Mund legt, die an Schillers »ästhetische Erziehung des Menschen« erinnert. Das aber ist nebensächlich neben dem Hauptinhalt des Gespräches. Hier wird Herders Gestalt mit allen ihren glänzenden Eigenschaften, aber auch mit ihren Begrenzungen noch einmal liebevoll umfaßt. »Der edle Geist . . . wurde von entgegengesetzten Zeiten und Parteien verkannt: doch nicht ganz ohne seine Schuld; denn er hatte den Fehler, daß er kein Stern erster oder sonstiger Größe war, sondern ein Bund von Sternen, aus welchem sich dann jeder ein beliebiges Sternbild buchstabiert . . . . Menschen mit vielartigen Kräften werden immer, die mit einartigen selten verkannt; jene berühren alle ihres Gleichen und ihres Ungleichen, diese nur ihres Gleichen.« Wieder klingt das Thema von der »Einkräftigkeit« an. Herder war kein »Einkräftiger«, und darin bestand seine unerreichte Größe. Aber er war zu vielkräftig. Seine »Schwungfedern« waren allzu gewaltig neben seinen »Lenkfedern«,wie er es im Beginn der Vorschule ausdrückt. Darum fehlte ihm die »Besonnenheit«, die gesammelte Kraft des Genies. So war er 631 weniger ein Dichter als ein Gedicht, »ein indisch-griechisches Epos von irgendeinem reinsten Gott gemacht«. Er »war gleichsam nach dem Leben griechisch gedichtet«. Und »daher kam seine griechische Achtung für alle Lebensstufen, seine zurechtlegende epische Weise in allen seinen Werken, welche als ein philosophisches Epos alle Zeiten, Formen, Völker, Geister mit der großen Hand eines Gottes unparteiisch vor das säkularische Auge (das Jahre nur an Jahrhunderten ausmißt) und also auf die weiteste Bühne führt«. Hier ist Herders Sendung und Persönlichkeit in einem Satze durchmessen. Dieses große philosophische Epos war vor dem inneren Auge Jean Pauls noch einmal aufgeschlagen, als er diesen Satz niederschrieb. Er sah den vor sich, der die Tore des Jahrhunderts geöffnet hatte in die ganze freie große weite Welt. Er sah diese große Seele freier und weiter als die jenes Genius, den er einst in Straßburg an der Hand in das Land der Dichtung eingeführt hatte. Mit Bitterkeit mußte er an das einsame Ende des großen Lenkers und Leiters denken, wie Herder an das Ende seines Führers Hamann gedacht hatte. »Wenn er seinen Hamann als einen zürnenden Propheten, als einen dämonischen Geist schilderte, den er sogar über sich stellte (wiewohl Hamann weniger griechisch und beweglich und leicht blühend und organisch-zergliedert war), und wenn man mit Schmerzen hörte, wie ihm in dessen Grab seine rechte Welt und Freundschaftsinsel nachgesunken: so wurde man aus seiner Sehnsucht inne, daß er innerlich (nach einem höchsten Ideale) viel schärfer über die Zeit richte, als es äußerlich seine Duldung und Allseitigkeit verriet; daher geht durch seine Werke eine geheime, bald sokratische, bald horazische Ironie, die nur seine Bekannten verstehen. Er wurde überhaupt wenig, nur im Einzelnen anstatt im Ganzen gewogen und erwogen; und erst auf der Demantwage der 632 Nachwelt wird es geschehen, auf welche die Kiesel nicht kommen werden, womit die rohen Stilistiker, die noch roheren Kantianer und rohe Poetiker ihn halb steinigen, halb erleuchten wollten.«

Die Gestalt dieses ein Jahrhundert hindurch verkannten Sehers steht am Ende der »Vorschule der Ästhetik«. Fast symbolhaft dafür, daß auch dieses Werk untertauchen sollte in einem Strom, der es nicht zu tragen vermochte. Die »Demantwage der Nachwelt« wog doch, auch in diesem Fall, nur die Kiesel, die man gegen Jean Paul geschleudert hatte, und nicht den tiefen Gehalt dieses Werks. Fortgetragen vom Strom der Zeit wurde eine andere Ästhetik, die von Kant und Schiller her ihre Richtung erhielt. Die eine ganze schwere Hälfte jener großen Periode der klassischen deutschen Dichtung ging damit für ein Jahrhundert dem deutschen Bewußtsein verloren. Hölderlin, Kleist, E. T. A. Hoffmann, Büchner – sie alle wurzelten in dem deutschen Kunstgefühl, das in der Vorschule seinen fundamentalen Ausdruck gefunden hatte. Über sie alle ging der Strom der Zeit hinweg. Heute tauchen sie, einer nach dem andern, aus den Strudeln hervor, am letzten der Geist, der sie alle umfaßt.

 

Nicht ohne Absicht hatte Jean Paul für seine Ästhetik den pädagogischen Namen »Vorschule« gewählt. Schon durch diese Bezeichnung wurde deutlich, daß es sich bei seinen theoretischen Werken wie bei seinen Dichtungen nicht um rein ästhetische Werte und Kategorien allein, sondern um etwas Höheres: um Menschentum handelte. Schon bei der Vorschule sahen wir, wie erst in dieser letzten großen Schaffensperiode das gesamte Leben Jean Pauls von seinen ersten Anfängen an seinen großen Sinn bekam. Auch seine Satirendichtung, 633 die der Gegenwart so fern schien, war eine notwendige Entwickelungsstufe für ihn gewesen, und nicht nur in persönlicher Beziehung, sondern hier war der Grund zu der Metaphysik seines Humors gelegt worden. Aber auch seine pädagogischen Bestrebungen, die so zahlreiche Jahre seines Lebens ausgefüllt hatten, strömten jetzt in den Hauptstrom seines Schaffens ein. Pädagogische Ziele waren schon der Leitpunkt der »Unsichtbaren Loge« gewesen. Schon hier hatte er ein erzieherisches Programm wenigstens in großen Hauptlinien festgelegt. Eine Erziehungslehre, oder wie er jetzt als Anhänger des Sprachreformers Wolke schrieb: eine »Erziehlehre« sollte jetzt die eine große Seite der vierseitigen Pyramide werden, die sein Gesamtwerk darstellt. Wir sprachen schon davon, wie die vier Hauptwerke dieser Hauptperiode seines Schaffens, zwei Romane und zwei theoretische Werke, sich gegenseitig stützen. Ein ungeheurer Ideenkomplex ward hier viermal in der Betrachtung und in der Gestaltung durchmessen. Wenn wir den obersten Leitpunkt aller vier Werke nennen wollen, so war es die Abkehr von der Zeit, dieser kantisch-goethisch-schillerisch-romantisch gestimmten Zeit, der noch einmal, wenn auch schon zu spät, ein aus einer Wurzel organisch erwachsenes, umfassendes Menschentum entgegengesetzt wurde. Im »Titan« wie in der »Vorschule der Ästhetik« fanden wir die Gestalten wie die Gedankengänge deutlich um diesen obersten Gesichtspunkt geordnet. Aber auch in dem Erziehungswerk Jean Pauls, in seiner »Levana«, wird es deutlich ausgesprochen. Als Ziel jeder Erziehung wird »die Erhebung über den Zeitgeist« genannt. »Es ist der Geist der Ewigkeit, der jeden Geist der Zeit richtet und überschauet. Und was sagt er über die jetzige? Sehr harte Worte . . . Etwas, sagt er, müsse in unserer Zeit untergegangen sein, weil sogar das gewaltige Erdbeben der Revolution, vor welchem jahrhundertelang – wie 634 bei physischen Erdbeben – unendlich viel Gewürm aus der Erde kroch und sie bedeckte, nichts Großes hervorbrachte und nachließ, als am gedachten Gewürme schöne Flügel. Der Geist der Ewigkeit, der das Herz und die Welt richtet, spricht strenge aus, welcher Geist den jetzigen Begeisterten der Sinne und den Feueranbetern der Leidenschaften fehle, der heilige des Überirdischen . . . Der Sinn und Glaube für das Außerweltliche, der sonst unter den schmutzigsten Zeiten seine Wurzeln forttrieb, gewinnt in reiner Luft keine Früchte. Wenn sonst Religion im Kriege war, so ist jetzt nicht einmal in der Religion mehr Krieg – – aus der Welt wurde uns ein Weltgebäude, aus dem Äther ein Gas, aus Gott eine Kraft, aus der zweiten Welt ein Sarg. Endlich hält noch der Geist der Ewigkeit uns unsere Schamlosigkeit vor, womit wir die leidenschaftliche Brunst des Zorn, des Liebe und des Gierfeuers, deren sich alle Religionen und die alten Völker und die großen Menschen enthielten und schämten, als ein Ehrenfeuerwerk in unserm Dunkel spielen lassen; und sagt, daß wir, nur in Haß und Hunger noch lebendig, wie andere zerfallende Leichen, eben nur die Zähne unverweslich behalten, die Werkzeuge beides, der Rache und des Genusses.«

Ein ungeheueres Bild der Gegenwart, das hier gegen den Geist der Ewigkeit gehalten wird. Eine Kritik, so unerbittlich, so schonungslos, so in den innersten Kern treffend, daß wir auffahren. Ein Bild unserer eigenen Zeit glauben wir vor uns aufgerollt, und fragen nur erstaunt: ob das Furchtbare schon damals Geltung hatte wie in unsern Tagen. Und doch! Mochte vieles noch unter der Maske verborgen geblieben sein, damals legten sich ja die Fundamente zu unserer abstoßenden Gegenwart, und Jean Paul erkannte bereits durch die dünnen Erdschichten diese Fundamente hindurch, die damals sich erst undeutlich unter der Oberfläche abzeichneten. 635 Noch war es ein leidenschaftliches Titanentum mit dem ganzen verführerischen Glanz eines solchen, das den Zeitgeist verkörperte. Aber »Leidenschaftlichkeit gehört eben recht zum Siechtum der Zeit, nirgend wohnt so viel Aufbrausung, Nachlaß, Weichheit gegen sich, und unerbittliche Selbstsucht gegen andere, als auf dem Krankenbette. – Auf diesem liegt aber das Jahrhundert.«

Ein eigentümliches Erziehungsbuch, das nicht nur Knaben und Mädchen, das in den jungen Menschen das ganze Jahrhundert erziehen will. Nicht ein leichtfaßliches Vademecum für Lehrer und Hauslehrer, ein Welt- und Zeitkompendium vielmehr, »weswegen dieses in der Form als mein ernsthaftestes angesehen werden mag«, schreibt Jean Paul von diesem Buch. Sein »ernsthaftestes« Buch. Ein Dichter, der zu den großen der Weltliteratur gehört, hält ein Erziehungsbuch für sein ernsthaftestes Werk. Und wer es liest, dem drängt sich sehr bald die Überzeugung auf, daß es nicht eine Schrulle ist, die ihn dieses Buch so ernst nehmen läßt. Noch in seinen Dichtungen handelt es sich um die Welt des schönen Scheins. Hier aber bricht der Sitten- und Gesetzesprediger durch jenen Schein, auch noch durch den der künstlerischen Darstellung hindurch. Hier gibt er ungeschminkt sein heiliges Ethos. Hier sagt er, wie er gelesen und verstanden werden will in seinen Dichtungen. Noch den »Titan« konnte man als Dichtung lesen, sich von ihm erschüttern und begeistern lassen, die »Levana« aber wendet sich geradeswegs an das Gewissen der Zeit ohne Umschweif und ohne Hülle. An den Toren seiner geistigen Entwickelung hatte Rousseau gestanden wie an den Toren der Zeit. Ein neues Naturevangelium war von dem großen Genfer ausgegangen. Aber der Sturm war ohne die tiefe Wirkung vorübergebraust. Wohl hatte eine Revolution seitdem die Welt in Erschütterung versetzt, aber die 636 Wiedergeburt des Menschengeschlechtes, nach der Jean Paul seit den ersten Sturmzeichen der Zeit ausgeschaut hatte, war nicht erfolgt. Nur die alten Formen waren in Staub zerfallen, und gerade dieses Auseinanderfallen, das im Anfang wie der Beginn eines neuen Menschentums ausgesehen hatte, war der Beginn eines katastrophalen Niedergangs gewesen. Noch einmal mußte man bei Rousseau anfangen. Rousseaus »Emile« »zuerst und zuletzt«, sagt Jean Paul. Und dann Basedow, »der Verleger und Übersetzer Rousseaus in Deutschland«, und schließlich Pestalozzi, »der stärkende Rousseau des Volks«. Diese drei sind seine Eideshelfer. Levana, »die mütterliche Göttin, die den Vätern Väterherzen gibt«, schwebt über dem Buch.

Die Erhebung über den Zeitgeist ist als das oberste Ziel jeder Erziehung bereits hervorgehoben worden und damit Tendenz und Umfang der »Levana« umschrieben. Aber Jean Paul füllt diesen Rahmen nun mit einer bis in die kleinsten Kunstgriffe hinein durchgeführten Erziehungslehre. Nicht nur die idealen Ziele werden aufgestellt, sondern auch der Weg zu ihnen mit einer Sachkenntnis aufgezeigt, die Jean Paul in eine Reihe mit den größten Namen der Pädagogik stellt. Es springt förmlich in die Augen, daß jene kleinen hygienischen Maßregeln, zu denen sich heute nach Jahrzehnten genauer Messungen und psychologischer Beobachtungen die Kunst der Kinderpflegerinnen durchgefunden hat – z. B. Kinder ohne Kopfkissen liegen zu lassen – bereits alle in der »Levana« aufzufinden sind. Maßregeln der Ernährung und Körperpflege, die heute nur von den fortgeschrittensten Kinderärzten zum Entsetzen von Großmüttern vertreten werden, sind von Jean Paul bereits bei seinen eigenen Kindern, zum Teil sehr gegen den Willen Karolinens, angewandt worden, und mit einem Erfolg, der seinen Grundsätzen recht gegeben 637 hat. Ja, Ideen, die heute erst auftauchen, wie die der »Zuchtwahl«, sind bereits von Jean Paul mit aller Wärme vertreten worden. Man lese nur, was er über die empörende Vernachlässigung der Zuchtwahl bei den Kulturvölkern schreibt. Wie er überhaupt die Erziehung der Kinder bei den Eltern beginnen läßt. Schon in Schwarzenbach war es sein erstes Bestreben gewesen, auf die Eltern seiner Zöglinge Einfluß zu gewinnen. Hier hält er den Eltern einen Spiegel vor, zeigt auf, welche teils verlogen idealen Erziehungsziele, teils egoistischen, ja niederträchtigen Bestrebungen bei der landesüblichen Erziehung durcheinanderquirlen.

Noch weit weniger als bei der »Vorschule« ist es bei der »Levana« möglich, den einzelnen Gedankengängen zu folgen. Große Partien haben wir bereits bei früheren Abschnitten von Jean Pauls Leben behandelt. Wir kennen die Bedeutung, die er dem Witz für die Erziehung beilegte, bereits von seiner Schwarzenbacher Winkelschule her, und aus der »Unsichtbaren Loge« seine Abneigung gegen das humanistische Gymnasium. In diesen großen Fragen fügt sich die »Levana« genau in den Rahmen von Jean Pauls uns bekanntem Kulturprogramm ein. Neu aber ist seine Art, uns in die Kinderseele hineinzuversetzen. Niemand könne wissen, schreibt er, ob er in seinem Kinde nicht einen künftigen Höllengott der Menschheit oder einen Schutz- und Lichtengel derselben vor sich habe, oder an welchen gefährlichen Stellen der Zukunft sich der Zauberer, der in ein kleines Kind verwandelt vor ihm spielt, sich aufrichte als Riese. Hier ist zum erstenmal die ungeheure Gewalt, die in der kommenden Generation zu unsern Füßen spielt, begriffen.

Zwei Reden stehen am Anfang des Werks, die eine, daß die Erziehung überflüssig, eine Gegenrede, daß sie wichtig ist. Beide Standpunkte heben sich nicht gegenseitig auf, sondern 638 kommen zu dem Begriff einer richtigen Erziehung. Worin kann man erziehen? In welchen Fragen muß man sich bescheiden? Die Individualität des Kopfes zum Beispiel soll wachsen. Hier ist jeder Anlage, die nach Betätigung drängt, nur Stoff zuzuführen, und niemals zuviel. Wenn jemand ein Maler werden will, steht etwa zu fürchten, daß er ein zu großer Maler werden würde? Aber die Individualität des Herzens muß gebeugt oder gelenkt werden. Jede Kraft zwar sei heilig, und keine dürfe beschnitten werden, aber jeder Einzelkraft sei eine Gegenkraft zu erwecken, die sie in das richtige Gleichgewicht bringe. Zu unterscheiden sei zwischen Wollkraft und Begehrkraft. Es gäbe in unserm Zeitalter fast nur noch Begehrkräfte. Die Wollkraft aber müsse in erster Linie entwickelt werden. Das heimliche Ideal, das jedem jungen Menschen von seiner Zukunft innewohne, müsse belebt und gefördert werden. Gerade hier sei die Wollkraft zu stärken. Aus ihr entfalte sich dann schließlich die Kraft der Liebe und der Religion.

Liebe und Religion, auf diese beiden Grundkräfte der Seele ist die Erziehung vor allem zugeschnitten. In jedem Kinde wohne ein starkes metaphysisches Verlangen. Aber nicht äußerlich solle die Religion dem Kinde nahegebracht werden. Zu vermeiden sei alles, was Unlust dagegen erwecken könne, zum Beispiel ein laut gesprochenes Tischgebet. Die große Rolle, die der Einsegungstag bei den Kindern spiele, sei auszunutzen. Hier, wie überall, schöpft Jean Paul aus der Erfahrung seiner eigenen Kindheit. Wie früh lagen bei ihm die entscheidenden Erlebnisse, die sich nach seiner skeptischen Periode wieder in sein Bewußtsein hineindrängten! Es scheint, als wenn die ersten Kindheitseindrücke lebenslang in ihm lebendig waren, so genau vermag er sich in die Kinderseele hineinzuversetzen. Das ist das Wichtigste in dieser Schrift: 639 daß diese Erziehungslehre fast vom Standpunkt des Kindes aus geschrieben erscheint, jedenfalls mit einer minutiösen Kenntnis des Kindes. Wie modern mutet es an, was er über Spielzeug schreibt! Das beste Spielzeug ist eines, das die kindliche Phantasie vor Aufgaben stellt, zum Beispiel Sand oder ein Stück Holz. Die künstlichen und kostbaren Spielzeuge sättigen die Phantasie, statt sie anzuregen, und ertöten diese lebendigmachende Kraft.

Bedeutsam ist auch jener Abschnitt, der von dem Beginn der Erziehung handelt. »Die Erziehung beginnt beim ersten Athemzug des Kindes, nicht früher.« Damit werden alle Beeinflussungen im Mutterleibe zurückgewiesen. Mutter und Kind sind während der Tragmonate nur durch Blut, nicht durch Nervenverwandtschaft miteinander verbunden. Vor jeder übernatürlichen Beschleunigung der Entwicklung wird gewarnt. Keine künstliche Gymnastik erwecke allzufrüh die Sinne. Man hüte sich aber auch davor, die Kinder zu erschrecken und ihre Phantasie mit Schreckgestalten zu erregen, etwa durch den schwarzen Mann oder den Knecht Ruprecht. Denn »alle Schrecken der Kindheit kommen im Traum wieder, die Entzückungen im späteren Wachen«. Die Lebensfreude also soll gesteigert werden, aber man verwechsle nicht Freudigkeit mit Genuß. Die Spiele teilt Jean Paul ein in Spiele der lernenden Kraft, bei denen mechanische und akustische Erscheinungen im Vordergrund stehen. In Spiele der gestaltenden Kraft, also die richtigen Kinderspiele, bei denen Phantasie in Erscheinung umgesetzt wird. Und in Spiele der Passivität, bei denen das Kind »bezüglich Gestalt und Ton nimmt und gibt«. Zu diesen Spielen, die das Kind mit sich allein unternimmt, treten die Spiele mit Sachen. Diese Sachen sollen immer die Phantasie anregen, nicht einengen. Die Bilderbücher etwa enthalten Geschichten und Handlungen, 640 nicht bloß einzelne Tiere, mit denen das Kind nichts anfangen kann. Die eigentliche Lebenspraxis beginnt auf dem Spielplatz. Diese erste Gesellschaft von Kindern könne gar nicht ernst genug genommen werden. Hier bilde sich der junge Charakter am ersten aus. Zu entfernen sei jedes Nachäffen der Erwachsenen. Kinderbälle zum Beispiel seien eine Angelegenheit des Teufels, aber kindliche Tänze seien zu pflegen. Eines der wichtigsten Erziehungsmittel sei die Musik. Im Singen seien die Kinder früh zu üben.

Die Regeln über Strafen und die Art, zu befehlen, sind ungemein instruktiv. Jean Paul verbietet das Fortzürnen nach der Strafe, so sehr er Entschiedenheit im Befehlen verlangt. Das Ge- und Verbieten sei kurz und entschieden und sei niemals mit Gründen verbunden. Das Kind solle nicht einsehen, sondern gehorchen lernen.

Das zweite Bändchen gibt die Anleitungen zur physischen Erziehung. Als Hausbuch war ja die ganze Schrift gedacht. Nicht nur im großen wollte Jean Paul mit der »Levana« den Geist des deutschen Hauses beeinflussen, sondern den Eltern auch eine Reihe von bewährten Regeln geben, die ihnen in jedem konkreten Fall zu Diensten standen. Das zweite Bändchen wird mit einem Feldzug gegen die Ammenarroganz eröffnet. Wir wissen es meistens heute nicht mehr aus Erfahrung, welch despotisches Regiment die Ammen in den meisten Häusern ausübten, indem sie in Hinblick auf ihre Milch die unerhörtesten Ansprüche stellten. Demgegenüber betont Jean Paul, daß durch Milch nichts Geistiges übertragen würde, ja, er schlägt sogar Bresche in die Anschauung, als ob ein Kind durchaus der Brusternährung bedürfe. Sein eigenes kräftigstes Kind wäre fast durchweg mit der Flasche ernährt worden. Im übrigen empfiehlt er sogar baldigen Übergang zur gemischten Kost. Wichtig ist, daß er 641 das nächtliche Einsingen der Kinder verpönt. Wie es erst seit einigen Jahren üblich geworden, empfiehlt er, die Kinder zur Nachtzeit nicht aufzunehmen. Sie würden bald durchschlafen, und die Kräfte der Mutter würden geschont bleiben.

Man muß es jedem einzelnen überlassen, wieviel er von diesen Erziehungsgrundsätzen für sich selbst aufnehmen will. Jedenfalls ist es erstaunlich, wie Jean Paul sich bereits mit den modernsten Methoden der Kindererziehung berührt. Zwei weitere Bruchstücke beschäftigen sich mit der »weiblichen Erziehung« und der »sittlichen Bildung der Knaben«. Auch hier gibt es fast auf jeder Seite neue und wirksame Kunstgriffe der Einwirkung auf die heranwachsende Jugend und psychologische Blicke von seltener Tiefe. Zwei Bruchstücke »Entwicklung des geistigen Bildungstriebes« und »Ausbildung des Schönheitssinnes« schließen das Werk ab. Ein letztes Bruchstück zeigt uns noch einmal die rührenden Gestalten der Kinder, deren häufiger Anblick uns wesenslose Menschen leider allzusehr gegen das Wunder ihrer Erscheinung abgestumpft hat. »Ein erstes Kind auf der Erde würde uns als ein wunderbarer ausländischer Engel erscheinen, der, ungewohnt unserer fremden Sprache, Miene und Luft, uns sprachlos und scharf, aber himmlischrein anblickte wie ein Raphaelisches Jesuskind.« »So werden uns täglich aus der stummen unbekannten Welt diese reinen Wesen auf die wilde Erde geschickt, und sie landen bald auf Sklavenküsten, Schlachtfeldern, in Gefängnissen zur Hinrichtung, bald in Blütentälern und auf reinen Alpenhöhen an, bald im giftigsten, bald im heiligsten Jahrhundert; und suchen nach dem Verlust des einzigen Vaters den adoptierenden hier unten.« Diese reine Anschauung des Kindes durchklingt das ganze Buch.

Damit haben wir aber lange nicht alle Gedanken 642 aufgezählt, die die »Levana« enthält. Was alles in den Bereich der Erziehung fällt, wird hier von einem Dichtergenius erörtert in einer hohen, leidenschaftlichen Sprache. Gleich im Anfang taucht das Problem auf, daß das deutsche Volk, das eigentlich erziehende, so ungeheuer viel über Erziehung schreibe und so ungeheuer wenig zu einer Reform der Erziehung beitrage. Im Verhältnis zum Altertum sei die Erziehung geradezu vernachlässigt worden. Der Staat bekümmere sich absolut nicht mehr in irgendeinem schöpferischen Sinne um Erziehungsfragen, ja, er könne es im Grunde gar nicht, da er selbst aufgehört habe, eine von Idealen erfüllte Volksgemeinschaft zu sein. In solchen Sätzen spiegelt sich der Tiefstand staatlichen Lebens in Deutschland vor der Schlacht bei Jena wider. Wäre die »Levana« einige Jahre später, unter dem Eindruck der preußischen Reformen, geschrieben worden, so wäre wohl ein Kapitel über Staatserziehung hinzugetreten. Aber auch hier hätte Jean Paul jenen fundamentalen Satz aufrechterhalten: »Gleichwohl ist der Mensch früher als der Bürger«, und kein Staatsideal hätte ihn davon abgehalten, entsprechend seinen Humanitätsidealen, dem Menschlichen vor dem Primat des Staates die erste Stelle zu geben. Nicht den Staat als Erzieher hätte er in den Vordergrund gerückt, sondern er hätte, dem ersten Anlauf der preußischen Reformer gemäß, den Staat aus einem frei entwickelten Menschentum heraus entstehen lassen. Erst die kommenden Jahre sollten Jean Paul das Staatserlebnis bringen. Es fand in der »Levana« keine Stelle mehr.

Gegen den Schluß des Buches kommt Jean Paul noch einmal auf die Notlage der Lehrer im damaligen Deutschland zu sprechen. England gibt einem Subrektor ein Gehalt von sechstausend Talern, während in Preußen das Höchstgehalt der Schulmeister zweihundertundfünfzig Taler beträgt. Im 643 Baireuthischen fällt es noch schmäler aus. In hohnvoller Satire zieht Jean Paul den Schluß auf den Stand der Erziehung im freien England und in Deutschland. Hier rührt er an einen der Gründe, weshalb das englische und das deutsche Volk sich so verschieden entwickelten. Dort stand der Lehrstand im hohen Ansehen, als er bei uns noch hungerte und in allgemeiner Verachtung stand. Und nicht mit Unrecht rügt gerade Jean Paul, daß die Erziehung in Deutschland ausschließlich in der Hand der Theologen liegt. Gerade Jean Paul, der eine Erneuerung des religiösen Bewußtseins für eines der allerwichtigsten Erziehungsideale ansah.

Welches Menschenidealbild Jean Paul in seiner »Levana« vorschwebte, wissen wir aus seinen Dichtungen, vorzüglich aus dem »Titan«. Es war seine Gefahr, statt in der Wirklichkeit wurzelnder Menschen nur künftige Gelehrte oder Schriftsteller zu erziehen. Wir sahen in der »Unsichtbaren Loge« wie im »Hesperus«, daß Jean Paul dieser Gefahr nicht immer entronnen ist. Aber im »Titan« schuf er in Albano das Idealbild des wahren deutschen Jünglings, und dieses Idealbild schwebt ihm auch in der »Levana« ständig vor Augen. Zur Wirklichkeit wollte er erziehen, zur Allkräftigkeit des Geistes und der Neigungen. Und diesem Ziele sollte der Lehrplan dienen, den er für den Entwicklungsgang seiner Knaben entwarf. Er war der erste, der in das alleinseligmachende humanistische Gymnasium die Bresche schlug. Wie so oft, war er auch hier seiner Zeit um ein Jahrhundert voraus, und der Lehrgang, den er in der »Levana« entwirft, deckt sich ungefähr mit dem der heutigen Realschulen. Ja, er geht zum Teil noch weiter. Das Englische will er unter den Fremdsprachen an die erste Stelle gerückt wissen. Dazu kommt eine besondere Hinneigung zu den Realien. »Gebt der Naturlehre und Naturgeschichte, der Stern-, der Meßkunde . . . 644 Höhr- und Lehrstellen in den Gymnasien – folglich den Knaben zehnmal mehr Freude, als sie an der Aufwickelung der verschleiernden Mumienbinden der antiken Grazien haben.« Im Mittelpunkt des Unterrichts aber soll die deutsche Sprache stehen. »Sollen wir denn alle Schönheiten gleich Vasen und Urnen aus Gräbern holen? Widersinn ist es, anstatt an einheimischen, verwandten, jungen Schönheiten den Sinn für fremde, alte hinauf zu bilden und im Auslande früher als im Mutterlande erzogen zu werden.« Nicht durch das Exponieren des Tyrtäus, sondern durch Einführung in Klopstocks Gesänge soll das heilige Feuer der Vaterlandsliebe angeblasen werden. Und welche Gewalt der eigenen Sprache, schreibt er, würde sich bilden, »wenn man schon zur Zeit, wenn die Schullehrer sonst Pindare und Aristophanesse traktieren, in Klopstock oder Voß, Goethe oder Schiller einführte«. Nur an den eigenen Dichtern, an der eigenen Geschichte erbaut sich die Jugend.

So biegt auch hier die »Levana« wieder in den Ideenkreis des »Titan« ein. Genau wie Albano durch die Berührung mit der Antike im Herderschen Geiste zur Tat und nicht zu einem leeren formalen Ästhetizismus aufgerufen wird, so wollte er auch in der »Levana« die Berührung mit der Antike in lebendige Bewegung umsetzen. »Die Alten nicht kennen, heißt eine Ephemere sein, welche die Sonne nicht aufgehen sieht, nur untergehen«, schreibt er, aber er wollte »diese kanonischen Schriften des Geistes« nicht zu Buchstabier- und Lesebüchern entheiligt wissen. »Nimmermehr kann die zarte, unauflösliche Schönheitsgestalt genossen werden, wenn das grammatische Zerteilen sie, gleich der mediceischen Venus, in dreizehn Bruchstücke und dreißig Trümmer zerbröckelt.« Ein heroischer Antrieb sollte den deutschen Jünglingen aus der Antike kommen, damit sie im edelsten Sinne deutsch würden.

645 Das ist der tiefe Sinn seines idealen Lehrplanes. –

In der »Levana« hatte Jean Paul das deutsche Buch geschrieben. Mit einem Schlage wurde diese »Erziehlehre«, trotz der umwälzenden kriegerischen Ereignisse, die ihrem Erscheinen unmittelbar folgten, zum allgemeinen Tagesgespräch. Eine Welt sank bei Jena in Trümmer. Aber eine neue Generation entnahm den Schlachten dieses Werkes, das die höchsten idealen Forderungen mit der liebevollsten Behandlung der Kleinigkeiten des Alltags verband, bereits die Kräfte zu neuem Aufstieg. Noch einmal sollte über den Trümmern des alten Preußen ein neuer idealer Geist der Freiheit und Humanität die Fahne entfalten. Es ist falsch, wenn man den inneren Aufbau Preußens mit Kants kategorischem Imperativ in Verbindung bringt. Herder und Jean Paul waren die treibenden Kräfte hinter den Reformen, die den Geist der Freiheitskriege entzündeten, und gerade die »Levana« trug in Tausenden von Exemplaren diesen Geist eines vaterländischen Ideals in die deutschen Häuser. Man hat, wie so vieles, diese Wirkung der »Levana« vergessen. Von ihr erst brach neues Leben in die Romantik ein und führte sie aus mittelalterlichen Träumen in die deutsche Wirklichkeit zurück. 646

 


 << zurück weiter >>