Walther Harich
Jean Paul
Walther Harich

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Die unsichtbare Loge

»Alles, was ich tue, wenn ich von Kriegs- oder anderer Not lese, der ich nicht abhelfen kann, ist nicht zu fluchen oder zu jammern oder untätig zu sein, sondern recht tätig: nämlich – da alle dieses Elend nur aus der Immoralität mehrerer Individuen entsprungen – recht zu verwünschen und zu vermeiden die kleinste Immoralität in mir, da jede sich in fremden Wunden endigt.« Hunderte von Malen hat Jean Paul sich über das Verhältnis eigener Immoralität zu fremden Leiden in seinen Dichtungen ausgesprochen, schärfer aber hat er es nie formuliert als in diesem Aphorismus aus seiner letzten Zeit. Es gibt nur eine Tat fremdem Leid gegenüber, will dieser – im »Papierdrachen« mitgeteilte – Aphorismus sagen: keine mit dem Schwerte in der Hand oder mit Haß im Herzen, sondern nur das Besinnen auf unsern eigenen Anteil an jeder Schuld auf Erden. Es ist das »Jeder ist an Allem schuldig!« der russischen Kirche, wie es von Dostojewski in der europäischen Literatur wieder heimisch gemacht wurde. Tiefstes Geheimnis christlicher Ethik, das zum erstenmal über das Jahrhundert der Aufklärung hinweg von Jean Paul wieder gelehrt und gelebt wurde.

»Zu verwünschen und zu vermeiden die kleinste Immoralität in mir, da jede sich in fremden Wunden endigt.« Mit einer ungeheuren kosmischen Verantwortung wird hier das sittliche Verhalten beladen, ganz anders als bei Kant, dessen kategorischer Imperativ von jeder Rückwirkung auf die 201 Wirklichkeit abstrahiert. Diese »fremden Wunden« sind das ungeheuer Neue in der Formulierung Jean Pauls. Er konnte von keiner Auswirkung immoralischen Verhaltens absehen, gerade aus den fremden Wunden mußte ihm der starke Antrieb zur Sittlichkeit kommen. Die Welt mit ihren unzähligen Leiden taucht in das Gesichtsfeld des moralischen Menschen, mit den blutenden Wunden der Schlachtfelder und den ungetrockneten Tränen der Armen und Verfolgten. Und hinter allen diesen Wunden stehen Haß und Gier des Menschen, alle sind durch irgendeine Immoralität hervorgerufen, die irgendeiner Lust auf freventliche Weise frönen zu dürfen glaubte. Ein ungeheurer Wille zur Moralität, zur Tugend, muß aus dieser Einstellung hervorwachsen. Kant hob den sittlichen Menschen aus dem Bereich des Empirischen ins Absolute, aber der Tugendwille einer ganzen Zeit, einer ganzen Literatur, erwuchs doch in viel höherem Grade aus jener Belastung des menschlichen Verhaltens mit der ungeheuren Verantwortung gegenüber dem Gesamtleid der Welt.

»Und ihr, entsetzlichen Seelen,« heißt es in der Unsichtbaren Loge, »die ihr einen Fehltritt . . . unter eure Vorzüge und eure Freuden rechnet, die ihr die Unschuld nicht . . . verliert, sondern fremde mordet . . . was werdet ihr noch aus unserm Jahrhundert machen? – Ihr gekrönten, gestirnten, turnierfähigen, infulierten Hämmlinge! . . . in euren Ständen hat Verführung keinen Namen mehr, keine Bedeutung . . . – aber in unsere mittleren Stände, auf unsere Lämmer schießet ihr Greif- und Lämmergeier nicht herab . . . Nur in einem Jahrhundert wie unseres, wo man alle schönen Gefühle stärkt, nur das der Ehre nicht, kann man die weibliche, die bloß in Keuschheit besteht, mit Füßen treten und wie der Wilde einen Baum auf immer umhauen, um 202 ihm seine ersten und letzten Früchte zu nehmen . . . Das, was der Scharfrichter am Manne tut, vollstreckest du an einem armen Geschöpfe, das seinen Henker liebt und bloß seine unverhältnismäßige Phantasie nicht bändigen kann . . . Und solche Opfer, welche die männlichen Hände mit einem ewigen Halseisen an die Unehre befestigt haben, stehen in den Gassen Wiens zweitausend, in den Gassen von Paris dreißigtausend, in den Gassen von London fünfzigtausend . . . Sanftes, treues aber schwaches Geschlecht! . . . gerade im Jahrhundert eurer Verschönerung vereinigen sich alle Schriftsteller, Künstler und Große zu einem Wald von Giftbäumen, unter denen ihr sterben sollt, und wir schätzen einander nach den meisten Brunnen- und Kelchvergiftungen für eure Lippen!«

Noch nie war der Jammer der Kreatur in der deutschen Dichtung derart zum Ausdruck gebracht worden, und neben diesem kühn an die Wand geworfenen Bilde erhob sich nun das Gelöbnis der Sittlichkeit; keiner Moralität ins Absolute, sondern in die Wirklichkeit hinein. Menschheitsgewissen wurde lebendig, sah den ungeheuren Komplex des Lebens als organische Einheit, sah die Menschheit unter den Geißelhieben der Gewaltigen und Herren stöhnen. Hier mit einem Werk von überzeugender Gewalt einzugreifen, nicht im Sinne politischen Pathos', aber im Sinne eines Appells an die Seelen, das stand Jean Paul vor Augen, als er seinen ersten großen Roman entwarf. In ihm durchdrangen sich der Wille zur Darstellung mit dem Willen zur Umwandlung menschlicher Gemeinschaft. Dichter wollte er sein, aber einer, der sein Leben voll einsetzte für die Sache der Menschheit, die zu führen ihm auferlegt war.

In dem Bilde, das ihm vorschwebte, durften die Großen dieser Erde nicht fehlen. An ihnen hatte sich seine Satire schon 203 überreichlich erprobt. Er sah die Landesfürsten nun nicht in der Gestalt der großen Preußenkönige vor sich, deren größtem er noch wenige Jahre zuvor in seinen Briefen ein Denkmal gesetzt hatte, sondern er sah sie als die kleinen Parasiten an dem Körper des deutschen Volkes, in der Gestalt dieser eigenartigen deutschen Duodezfürsten des Barock und des Absolutismus, der alle üblen Instinkte durch Fortfall jeglicher Hemmungen in ihnen zum Ausbruch gebracht hatte. Sie, die infolge der deutschen Ohnmacht und der geschichtlichen Entwickelung keine Gelegenheit hatten, einer großen politischen Idee zu dienen und deshalb in schamloser Ausnutzung ihrer Gewalt auf Kosten ihrer Völker ein schrankenloses Genußleben führten, umstellt von gewissenlosen Dienern, die an ihrem Raub sich bereicherten, – diese Gestalten hatte Jean Paul allerdings in den eigenen Landesfürsten deutlich vor Augen. Und der Zufall wollte, daß der drohende Erbfolgestreit noch besonders das Augenmerk der Bevölkerung von dem Baireuther Hof auf den benachbarten preußischen lenkte.

Schon Friedrichs des Großen Schwester, deren bekannte Briefe eine freilich mit Vorsicht zu genießende Fundgrube kulturgeschichtlicher Eindrücke sind, hatte sich als Markgräfin von Baireuth eine Generation vor Jean Paul unauslöschlich in die Entwickelung der kleinen Residenz eingeschrieben. In einem Zeitraum von kaum zwanzig Jahren wurden fast alle die Schlösser in der Hauptstadt des Landes und ihrer näheren Umgebung mit den Mitteln eines kaum 180 000 Einwohner zählenden Landes errichtet, die noch heute das Bild Baireuths bestimmen. Das alte Schloß und die neue Residenz, die beiden Lustschlösser Eremitage und Fantaisie, die zu den prunkvollsten Baudenkmälern jener an Prunk reichen Zeit gehören, sie alle waren über dem Elend einer unsagbar 204 armen Bevölkerung errichtet worden. Durch die Verwandtschaft des landesväterlichen Hofes mit dem großen Preußenkönig waren schon damals die Augen nach Berlin gerichtet. Anläßlich eines Besuches Friedrichs bei seiner Schwester war jene herrliche Allee entstanden, die noch heute an Haus Wahnfried und der Rollwenzlei vorüber nach der Eremitage führt. Nun aber wurde das Verhältnis zwischen dem Baireuther und dem Berliner Hof aktuell. Mit Markgraf Alexander drohte die Linie der fränkischen Hohenzollern auszusterben, und es stand zu erwarten, daß nach seinem Tode das Land an die preußischen Hohenzollern fallen würde.

Der Berliner Hof erfreute sich damals keiner großen Beliebtheit. Nach dem Tode des großen Königs waren Verschwendungssucht und Mätressenwirtschaft eingerissen. Die Geliebte Friedrich Wilhelms des Dicken, wie ihn der Volksmund nannte, die übelberüchtigte Gräfin Lichtenau, war auch in Baireuth bekannt geworden, und man setzte auf einen Thronwechsel keine allzu großen Hoffnungen. Im Volke bildete sich sogar das Gerücht von einem wahren Thronerben, der auf Betreiben des erbgierigen Berliner Hofes in fernen Landen sittlich und körperlich verdorben und untüchtig gemacht worden sei, oder die Sehnsucht der Bevölkerung mochte sich auch an eine erdachte Idealgestalt halten, die von der Erbfolge ausgeschlossen irgendwo ein Kaspar-Hauser-Schicksal erlitt. Noch ehe Jean Paul seinen ersten Roman vollendete, wurde übrigens das Schicksal des Landes entschieden. Am 8. Februar 1792 fiel das Fürstentum an Preußen.

Diese dynastischen Verhältnisse spiegeln sich mit den Gerüchten, die sie im Gefolge hatten, auch in der »Unsichtbaren Loge«. Haß und Habgier zerfleischen die Mitglieder der fürstlichen Familie. Der gerade zur Regierung gekommene Fürst beneidet dem Bruder die Apanage und haßt den Arzt, der 205 den unglücklichen Prinzen vom Tode errettet hat. Und abseits der Hofgesellschaft wächst in der Tat einer heran, ein unehelicher Sohn des alten Fürsten, der Kapitän Ottomar, der, durch seine Geburt von der Thronfolge ausgeschlossen, die stärksten Herrschertugenden sein eigen nennt und sich, zur Untätigkeit verdammt, in wilden Ausbrüchen verzehrt. Vielleicht lag es im Plan des nicht vollendeten Romans, daß Ottomar dennoch zur Herrschaft gelangen sollte. Vielleicht war er der echte Sohn des verstorbenen Fürsten und auf Betreiben des benachbarten Hofes, der in dem Kraftvollen den Gegner witterte, vertauscht worden. Leise Andeutungen zu einer solchen Fortführung des Romans sind vorhanden. Die Geschichte der fränkischen Hohenzollern, die Jean Paul zum mindesten auf der Schule bekannt geworden ist, bot zu einer solchen Auffassung der Erbfolge sogar einen merkwürdigen Präzedenzfall: Im Jahre 1726 war mit dem Tode des Markgrafen Georg Wilhelm die regierende Linie erloschen. Der erbberechtigte Weferlingensche Nebenzweig hatte sich in seinem Familienhaupt Christian Heinrich durch eine preußische Pension abfinden lassen und auf die Erbfolge verzichtet. Christian Heinrich war noch vor dem Markgrafen Georg Wilhelm im Jahre 1708 gestorben, aber er hatte einen Sohn, der weitab von dem Treiben der Dynastien in Einsamkeit aufwuchs. Als nach dem Tode Georg Wilhelms sich die preußischen Hohenzollern zur Übernahme der Erbschaft anschickten, auf den Erbfolgeverzicht Christian Heinrichs bauend, tauchte unvermutet dessen Sohn Georg Friedrich Karl auf und machte seine Ansprüche mit Erfolg geltend. Vom Volksmund als »Markgraf Säbelbein« bezeichnet, regierte er noch ungewöhnlich lange und verschwenderisch. Seine Schwiegertochter war Friedrichs des Großen Schwester, die ihn mit den scheußlichsten Farben in ihren Briefen gezeichnet hat. 206 Vielleicht sind von dieser Geschichte gewisse Vorstellungen in die Gestalt des Kapitäns Ottomar eingeflossen.

In jedem der drei Romane, mit denen Jean Paul den großen Wurf eines deutschen Erziehungsromans versucht: in der »Unsichtbaren Loge«, im »Hesperus« wie im »Titan«, taucht der Gedanke auf, den Helden oder einen der Helden auf einen Thron zu setzen. Es war die letzte Konsequenz des Erziehungsgedankens, der alle Werke Jean Pauls durchtränkt. Zu welchem Ziele sollten seine Helden erzogen werden? Er nahm das größte und äußerste Ziel: zum Herrscher oder Führer eines Volkes. Aber keineswegs ausschließlich in der Luft der Höfe durfte dieses Erziehungswerk vor sich gehen. Die Hofluft war nach den Anschauungen Jean Pauls vielmehr die stärkste Probe, in der der Held sich zu bewähren hatte. Menschlichkeit, reines Gefühl für die Not der Beherrschten, enges Verschmolzensein mit den großen Idealen der Geschichte und des Lebens, höchste »Tugend« in dem erörterten Sinne, – das alles konnten seine Helden nur in einem bürgerlichen Kreise gewinnen, unter Verhältnissen, in denen sich das wirklich menschliche Dasein mit Elend und Liebe, mit Tod und Freude ihnen öffnete. Die Hofgesellschaften, ja schon die Reichen waren des unmittelbaren Erlebens bar. Nur in der bürgerlichen Gesellschaft gab es Natürlichkeit und Gemeinschaft, Glück und Unglück. Das Leben, wie es ihn jetzt umgab, da er in seiner Gesellschaft von Freunden dem von ihm ideal erfaßten Erzieherberuf nachgehen durfte, da ein Kreis von Jünglingen und Mädchen mit ihm schwärmte und liebte und litt, – ein solcher Kreis war ihm das Leben selbst, zum mindesten die hohe Schule des Lebens.

Jede Erziehung muß auf ein Ideal hin gerichtet sein. Niemand wußte das besser als Jean Paul selbst. Das Leben des künstlerischen Betrachters oder des Menschen der Tat: 207 diese beiden Möglichkeiten schwebten ihm vor. Man hat seiner Erziehung den Vorwurf gemacht, daß er seine Kinder zu Dichtern zu erziehen suche und ihnen das nahe Verhältnis zur praktischen Wirklichkeit raube. Jean Paul war stets zu sehr von dem ihm selbst vorschwebenden Lebensideal gefesselt, als daß nicht dieses immer wieder seine erzieherischen Absichten im Grunde bestimmen sollte. Was er wollte, war aber dennoch etwas anderes. Schon sein Bevorzugen der realen Fächer zeigt, daß er seine Zöglinge zum mindesten nicht zu künftigen Dichtern und Gelehrten erziehen wollte. Aber dennoch modelte er alle seine Gestalten, der Dichtung und der Erziehung, sich selbst unbewußt, nach seinem Ebenbild. Und genau, wie seine jungen Schüler den Eindruck frühreifer junger Gelehrten erwecken, genau so sind seine Helden junge Dichter, und statt zum wirkenden Leben geführt zu werden, weichen sie der Wirklichkeit in das Reich der Träume aus.

Jean Paul kannte diese Gefahr. Es war der Grund, weshalb er versuchte, seine Helden zu Herrschern emporzuführen. Zweimal durchkreuzte die eigene Veranlagung seine Absichten. Weder Gustav, der Held der »Unsichtbaren Loge«, noch Viktor, der Held des »Hesperus«, treten am Ende ihrer Erziehung wirkend ins Leben hinaus. Sie sind Dichter und Träumer, allerdings von einer umfassenden Art dichterischen Menschentums. Erst in Albano, dem Helden des »Titan«, gelang der große Wurf. Albano wächst zu den höchsten Herrschertugenden heran, zu Umsicht, Reife, Menschenkenntnis und Liebe.

In der »Unsichtbaren Loge« waren die Lebensideale noch am meisten auseinandergehalten und daher am wenigsten miteinander verschmolzen. Es lag an der Vielheit der Eindrücke, die Jean Paul sämtlich in seinem Erstling zu 208 verarbeiten trachtete. In dem ersten Schwarzenbacher Sommer tauchte der Plan des Romans in ihm auf. Ganz plötzlich mochte es ihm aufgehen, daß sein eigenes Dasein wie ein Roman vor ihm lag. War er selber nicht eine Romanfigur, wie sie nicht besser zu ersinnen war, mit seinen starken Eigenheiten, der Unsicherheit, dem Fliegenden seiner Existenz? Er sah sich in seinem kleinen Schulmeisterhäuschen sitzen, mit kargen Möbeln ausgestattet, gegen das grelle Sonnenlicht eine Landkarte vor das Fenster spannend. Der seltsame Verfasser der »Grönländischen Prozesse« und der »Teufelspapiere«, die niemand lesen wollte und die seine Erscheinung mit einem Nimbus von Bedenklichkeit und erwählter Narrheit umgaben. Dazu seine Erlebnisse im Hause des Kammerrats von Oerthel. Habgier und Brutalität prallten hier zusammen mit der Reinheit eines idealen Strebens. Der Tod zweier Freunde, der ihn aufs tiefste erschüttert hatte. Sein Umherirren auf den Bergen, seine Wanderungen zwischen Hof, Venzka, Töpen und Schwarzenbach, und jetzt die ersten Liebeserlebnisse mit den Höfer Freundinnen. Die Liebesfreundschaft mit Renate Wirth. Er im Kreis der Hofer Gesellschaft, auf dem Klavier phantasierend und erzählend, daß die Zuhörerinnen gespannt an seinen Lippen hingen: das war schon ein Leben, es in einen Roman zu pflanzen. Welche größere Konzeption er auch auszuarbeiten sich anschickte, immer mußte die eigene Gestalt darin auftreten, weil er sich selbst allzu gierig an alles Menschliche im weiten Umkreis heftete und daran haftenblieb.

Er selbst war der eine Ausgangspunkt des Romans. In sich selbst hatte er die erste der Hauptgestalten vor sich. Aber die eigentliche Empfängnis kam ihm wohl doch von der Figur Hermanns. Schon am 20. Mai 1788 hatte er nach Erlangen an den Freund geschrieben: »Ich bin des Teufels, wenn ich 209 nicht einmal deinen ganzen Charakter in einen Roman pflanze.« Immer tiefer hatte sich später die Gestalt seines »von der Natur geliebten, vom Schicksal gehaßten« Freundes ihm ins Herz geschrieben, und besonders ein Wesenszug in Hermanns Lebensgeschichte war es, der ihn erschüttert hatte: daß dieser von der Natur zu den höchsten wissenschaftlichen Aufgaben bestimmte Jüngling sich infolge gemeiner Not immer wieder auf niederziehende Tätigkeit angewiesen sah, um bloß das nackte Leben zu fristen. Ein »verhinderter« Großer, so stand er ihm vor Augen, einer, der berufen war und dem Ruf infolge äußerer Hemmungen nicht folgen konnte. Und ganz plötzlich mochte ihm diese Gestalt zusammenschmelzen mit der Gestalt eines Thronprätendenten, den äußere Hindernisse von der Thronfolge ausschließen und der statt Großes zu wirken, sich in Untätigkeit und Ohnmacht verzehren muß, indes Minderwertige im Besitz der Macht schwelgen und das Land zugrunde richten. So ging Hermann als Kapitän Ottomar in den Romanplan ein.

Noch von anderer Seite floß der »Unsichtbaren Loge« Stoff zu. Ein Erziehungsroman schwebte Jean Paul vor. Ein Mensch sollte von Kindheit an der menschlichen Vollendung zugeführt werden. Gerade die Beschreibung der Kindheit und ersten Jugend mußte den Jüngling besonders interessieren. Er wußte ja noch nichts von den besonderen Erlebnissen des reifen, des alternden Mannes. Er kannte den Tod, aber nicht die ausgereifte zweite Hälfte des Daseins. Der Schwerpunkt lag ganz natürlich auf der ersten Entwickelung. Hier konnte der Dichter aus dem Reichtum der eigenen Kindheit ohne Aufhören spenden. Das erste Erwachen in Wunsiedel, die bukolischen Jahre in Joditz konnten wiedererstehen, vom Zauber der kindlichen Phantasie 210 vergoldet. Aber im Grunde wollte er doch noch anderes, brauchte er eine Figur außerhalb seiner Selbst, die er den Lebensweg hinanführte. Er selbst war ja inzwischen Erzieher geworden, sah in die Kindheitsdämmerung von einem erhöhten Standpunkt bereits hinein. Aus seinen Zöglingen mußte ihm die Hauptfigur seines Erziehungsromans zuwachsen. In Christian Oerthel hatte er einst das Idealbild eines Knaben vor sich zu haben geglaubt. Von diesem ersten Schüler sah er sich getäuscht und verlassen seit dem Zerwürfnis mit dem Kammerrat, wenn er auch später erkannte, daß es nur das Gebot des Vaters war, was den Knaben von ihm ferngehalten. Durch diesen Konflikt mußte ihm das Verhältnis des Erziehers zu seinem Schüler nur teurer, problematischer, umstrittener werden. In Schwarzenbach war es nun besonders Georg Clöter, den er unter seinen Schülern am meisten liebte. Auf ihn verwandte er die größten Energien und durfte hoffen, in diesem Knaben das hohe, starke und reine Bild der Menschheit aufzurichten, das ihm vorschwebte. Vielleicht flossen ihm auch Züge aus allen seinen Schülern zu, jedenfalls gewann er aus dem Verkehr des Lehrers mit seinen Zöglingen die Hauptgestalt des Romans: Gustav.

Es waren also drei Helden, die den Gang des Buches bestimmten: Gustav, der Schüler; Jean Paul selbst als Erzieher und schweifender Jüngling; Hermann Ottomar als verhinderter Thronprätendent. Erst im »Titan« gelang es ihm, alle diese Eindrücke in eine einzige Gestalt: Albano zusammenzufassen. Die drei Welten, die er gestalten wollte, zerlegte er dort in ein Nacheinander der Geschichte, schilderte den den höchsten Zielen zustrebenden Jüngling, rückgreifend die Jahre des Knaben mit ihrem keuschen Enthusiasmus, und schließlich die Entwickelung zum Manne. Ließ den Jüngling 211 durch das Reich einer schwärmerischen und über die Wirklichkeit hinausgreifenden Liebe gehen, ließ ihn dem titanischen Drang einer dämonischen Frau erliegen, um ihn schließlich der Verbindung mit Idoine entgegenzuleiten, ein Verhältnis, das bei aller Köstlichkeit fähig war, in die Wirklichkeit einzugehen, und ließ schließlich nach dieser dreifachen Entwickelung seinen Helden den Thron als höchste Aufgabe gewinnen. In dieser Gliederung einer Jugendentwickelung war alles eingefangen, was in der »Unsichtbaren Loge« noch durcheinanderdrängte. In diesem ersten Roman standen sich drei Repräsentanten gegenüber, von denen jeder als eine nächste Stufe des andern angesehen werden konnte. Drei Gewichte des Werks, die sich gegenseitig aufhoben. Dieser Roman mußte Torso bleiben. Gustavs Liebe zu Beate war Traum und Schwarmliebe, konnte wohl in das »Neben dem Leben« einer Dichterstube hinleiten aber nicht in die schaffende Wirklichkeit, wie sie Jean Paul stets als höchstes Betätigungsfeld des harmonischen Menschen vorschwebte. Die nächste Stufe, die Gustav hätte durchschreiten müssen, die der dämonischen Unrast, war bereits in Ottomar vorweggenommen, und die endgültige Überwindung dieser Vorstufe schöpferischen Lebens, wirklichkeitsdurchtränkte Lebensgemeinschaft, war für Jean Paul noch unerprobtes und unerreichbares Gebiet. Er mußte den Roman abbrechen, als er dem von ihm eigentlich erstrebten Gebiet sich zuwandte.

Und doch ist die »Unsichtbare Loge« ein geschlossenes und sich selbst erfüllendes Werk geworden, fast mehr als der äußerlich vollendete »Hesperus«. Das hängt mit Jean Pauls Stellung zur Dichtung überhaupt zusammen. Ihm waren Form und Inhalt nicht zu trennende Gebiete. Der Welt, die sich ihm erschloß und die ihn zur Gestaltung hinriß, suchte er nicht die äußerlich glatte architektonische Form zu geben, 212 die sie zu ihrem Abschluß brauchte. Natürlich war es auch ihm nicht unbekannt, daß jede Handlung bis zu einem gewissen Punkte hingeführt werden muß, um den Anschein der Vollendung zu gewinnen. Ein Roman soll eine abgeschlossene Welt darstellen und fest umgrenzen. Aber Jean Pauls innere Wesenheit widerstrebte einem umschließenden Rahmen. Ihm waren Welt und Leben unendlich. Menschen und Situationen steigen auf und sinken nieder, und nicht immer kommt der Augenblick, da sie, wie in einem Opernschluß, zum Kreis sich runden. Personen, die in der Kindheit wichtig und voller Schicksal sind, treten später zurück, ohne wieder als greifbare Gestalt aufzutauchen. Selten führt der erste Kuß ins Brautbett, selten begleitet die erste Freundschaft ein Leben bis zur Bahre. »Wir werden nichts mehr von ihr hören«, sagt Jean Paul von der anmutigen Schäferin Regine, mit der Gustav den ersten Kuß tauscht. »So wird es durch das ganze Buch fortgehen, das wie das Leben voll Szenen ist, die nicht wieder kommen.« Ein Realismus der Darstellung, der seit jeher Bestandteil deutscher Dichtung war. Erst durch das Bildungsgut der Antike wurde der architektonische Aufbau in der deutschen Literatur heimisch. Die alte Sage wie der Roman des 17. und 18. Jahrhunderts noch läßt Menschen und Situationen fallen und hebt sie nach Belieben, oder vielmehr nach dem Gesetz innerer Wahrheit wieder auf. Das Leben ist »voll Szenen, die nicht wieder kommen«.

Und dennoch hinterlassen diese untertauchenden Personen und Begebenheiten etwas, das über ihre besondere und äußere Prägung hinausgeht. Sie setzen Materie in dynamische Schwingung, die dynamisch weiterschwingt. Sie sind Vorboten anderer Szenen, die sich auf anderer Ebene wiederholen. Sie kommen nicht wieder, aber das Unfaßbare an 213 ihnen wirkt fort. Sie haben sich dem Tonkörper des Menschen eingeprägt und müssen von nun an jeden neuen Ton beeinflussen. Und diese dynamische oder musikalische Wirkung festzuhalten, das wird zu Jean Pauls eigentlicher Kunst. Nicht an der bildenden Kunst ist sein Formgefühl erwachsen, sondern an der Musik, und zwar an einer Musik, soweit sie nicht »gefrorene Architektur«, sondern Melos ist.

Gerade damals bildete sich in der Musik die sogenannte Sonatenform aus, und diese Entwickelung der musikalischen Formensprache durch Philipp Emanuel Bach und Joseph Haydn war Jean Paul keineswegs fremd. Aber seine epische Kunst basierte doch mehr auf dem polyphonen Gefüge der Melodieführung Johann Sebastian Bachs. Mit der Sonatenform bildete sich damals das der Musik innewohnende dramatische Moment aus. Ihr Aufbau entspricht genau dem Aufbau des klassischen Dramas, wie es sich in Deutschland hauptsächlich in Schiller durchsetzte. Erstes und zweites Thema, Durchführung, Koda: das entspricht der Exposition der beiden ersten Akte des Dramas, der Verwickelung des dritten, der Fortführung der Handlung im vierten und der Katastrophe im fünften Akt. Episch hingegen war die Polyphonie des alten Bach mit ihrer Hinneigung zu Fuge und Variation. Ihr inneres Gesetz hieß nicht, in zwei Themen zwei Welten gegeneinander zu führen und aus ihrem Gegensatz die Katastrophe zu türmen, sondern eine Melodie sich entwickeln zu lassen, sie Welten, Spannungen, verschiedene Ebenen durchlaufen zu lassen, bis sie endlich bereichert von Zuflüssen und Schicksal noch einmal in donnernder Größe dahinbraust und verklingt. Epischen Wesens ist das Gesetz dieser Führung eines unendlichen Melos'. Unendlich, weil es wie die Welt kein Ende hat und nur aufhört, da es seine Kraft entladen hat und nicht, weil ein Weg zu Ende ist

214 Auf dieser dynamischen Form des polyphonen Melos' beruht das Wesen der Kunst Jean Pauls, und vielleicht ist es im höheren Sinne kein Zufall, wenn hundert Jahre später der nur wenige Stunden von Jean Pauls Geburtsort entfernt geborene Max Reger von dem gleichen Formgefühl geleitet und an Bachs Melos anknüpfend eine neue Periode musikalischer Formenentwickelung einleitete.

Es ist das Strömen einer unendlichen Melodie, das auch Jean Pauls Dichtungen kennzeichnet. Ein ewiges Auf- und Niederwogen der Stimmung, ein Anheben und Wiederversinken, und nur, wie auch Bachs oder jede Musik schließlich doch dem Kadenzierungsprinzip unterliegt, findet sich in seinen Dichtungen so etwas wie ein Konflikt und seine Lösung, weil größere Massen dieses Haltepunktes benötigen. An sich bedarf er eines solchen »Knotens« nicht, er vermag ohne ihn immer neue Massen vorzuschieben in immer größerer Wölbung und Dichte. Seine weniger umfangreichen Dichtungen entraten eines solchen Knotens ganz. Ein Aufsatz wie etwa die Rede des toten Christus bewegt sich um kein anderes Zentrum als das einer ungeheuren kosmischen Verzweiflung. Wenige Töne werden durchgehalten, in immer stärkerem Brausen fährt die entsetzte Welt dahin. Auf einmal ist alles zu Ende.

Deshalb müssen von Natur alle Werke Jean Pauls in irgendeinem Sinne Torso bleiben, auch wenn sie äußerlich vollendet sind. Deshalb sind aber auch alle diese Bruchstücke dennoch ein künstlerisch Ganzes. Die Kraft des dichterischen Einfalls hat sich entladen. Das Leben läuft in unendlichem Strom, an dessen Ufer wir noch eben gestanden haben, weiter, und doch hat sich etwas geschlossen. Aus dem Wellengewoge des Lebens ist ein Wellenberg mit einer großen Bewegung zu Ende gekommen. Wir atmen auf, 215 obwohl das unendliche Strömen um uns nicht abreißt. Es ist wie auf den Bildern der frühen Impressionisten, die zuerst Baumstämme mit dem Bildrahmen abschneiden oder selbst von einem lebenden Pferd nur den Kopf oder einen Teil des Rumpfes geben. Gerade dadurch zeigt sich ein Ausschnitt des Daseins in seinem eigenen Rhythmus.

Auf Schürzung und Auflösung eines Knotens hat Jean Paul stets außerordentlich wenig Gewicht gelegt. Man hat daraus geschlossen, daß ihm das Erfinden einer äußeren Handlung ungewöhnlich schwer falle. Er selbst betont in seiner »Vorschule der Ästhetik« später die Schwierigkeit gerade dieses Teils der dichterischen Produktion, und doch ist das Fortführen der Handlung in seinen Romanen nicht etwas Mißglücktes. Ungeheures allerdings mutet er uns oft zu, Verwickelungen, die über jede Möglichkeit hinausgehen. Wenn er es aber tut, hat er seine bestimmte künstlerische Absicht. Das Seelische, das unter den sichtbaren Beziehungen der Menschen hergeht, macht er sichtbar, indem er aus Träumen und Halluzinationen, aus Verwechselungen und Mißverständnissen seine Situationen aufbaut. Und oft sind sie nur scheinbar unmöglich, vielmehr mit allen feinsten Einzelzügen der Wirklichkeit abgelauscht und nur ungewöhnlich, weil niemand vor ihm die Kühnheit hatte, so zu sehen und so zu komponieren.

Der Knoten in der äußeren Handlung der »Unsichtbaren Loge« ist vielleicht darin zu suchen, daß der Kommerzienagent Röper Gustav die Hand Beatens verweigert. Aber welch geringe Rolle spielt dieser Knoten in der Komposition! Er ist kaum mehr als ein retardierendes Moment, indem diese Weigerung mit andern Gründen gemeinsam das Wiedersehen der Liebenden nach ihrem ersten Sichfinden einige Tage hinausschiebt, bis –, allerdings bis es zu spät 216 und Gustav Beate verloren hat. Nicht mehr. Die Handlung selbst ist das Auf- und Niederwogen der Stimmungen und der von ihnen getragenen Menschen. Sie gewinnt ihren Rhythmus aus andern Bezirken als aus denen äußerer Verwickelungen, die im Grunde nur das Chaos des Innern widerspiegeln.

Was aber ist die eigentliche Substanz des Romans? Schon in der »Unsichtbaren Loge« schwebte Jean Paul das Ziel vor, das er im »Titan« zuerst erreichte: die Erziehung eines Menschen zu harmonischem umfassenden Menschentum. Nicht zur Persönlichkeit im Sinne Goethes. Goethes Persönlichkeit ruht in sich, ist ein ins Absolute erhobenes Menschentum, wie Kants kategorischer Imperativ ins Absolute erhobene Sittlichkeit ist. Jean Paul verzichtet nicht auf die Bindung des Menschen ans Leben. Wir sahen, wie er die Sittlichkeit mit einer kosmischen Verantwortung belastete. Der harmonische Mensch, die Erfüllung der Humanität im Sinne Herders, konnte ihm nur im großen Wirken in die Welt hinein gegeben werden. Das »Jeder ist an Allem schuldig« der christlichen Ethik war umzugestalten in die reinigende Kraft des sittlichen Menschen: sein Selbst hinzugeben, um sein Selbst zu gewinnen. Nur an der größten Aufgabe kann der größte Mensch sich entfalten. Handle so, gestaltete Jean Paul den kantischen Imperativ für sich um, als wenn du Herrscher wärest und alle Verantwortung der Erde auf dir läge. Erziehung zur höchsten Sittlichkeit, das Lebendigmachen der Tugend, – das ist die Substanz Jean Paulscher Dichtung, der alles andere untergeordnet ist.

Kant löste die Sittlichkeit aus der Totalität des einheitlichen Menschen ab von seinen andern Funktionen. Er zerlegte den Menschen in ein denkendes, wollendes und fühlendes Wesen und gab jedem Teil sein eigenes Gesetz. Jean Paul 217 aber nahm den Menschen in seiner Totalität. Denken, Fühlen, Wollen, alles wollte er durchtränkt wissen von dem Glauben an göttliche Weltordnung, oder genauer: einem Glauben, der göttliche Weltordnung wirkt. Ein Mensch, dessen Willen über seine andern Funktionen hinaus entwickelt ist, war ihm nicht mehr zur Verkörperung dieser höchsten schöpferischen Tugend fähig. Aus allzu hartem Material ist nichts Vollendetes mehr zu formen. Weichheit und Eindrucksfähigkeit der Seele waren ihm die Voraussetzungen der menschlichen Vollendung. Das von heiligem Glauben erfüllte Gemüt allein glaubte er, wenn es durch Schicksal geläutert würde, der Vollendung und dem höchsten Beruf zuführen zu dürfen. Das Erfülltsein von diesem heiligen Glauben war ihm die einzige Voraussetzung. »Nie liebte ich Gott und die Tugend mehr«, sagt Beate im Augenblick der Liebeserfüllung. Bis zu dieser Ebene leitete Jean Paul die Handlung hin. Aber ursprünglich sollte sie weiterschwingen, nicht nur bis zum Glauben und der Liebe des Guten, sondern zu seiner Verwirklichung in der menschlichen Gemeinschaft: im Staat.

Dieser Entwickelung breitete er den Schauplatz der Erde. Nie wieder hat ein Dichter nach Jean Paul die Erde so mit kosmischem Allgefühl überströmt. »Wir und dieses Räupchen stehen unter und in drei allmächtigen Meeren, unter dem Luftmeer, unter dem Wassermeer und unter dem elektrischen Meere; gleichwohl sind die brausenden Wogen dieser Ozeane, diese Meilen-Wellen, die ein Land zerreißen können, so geglättet, so bezähmet, daß der heutige Sabbath-Tag herauskömmt.« Der nach der Stellung des Mondes die Richtung der Winde voraussagte, stand immer unter den Gesetzen der Natur, fühlte das Rauschen der himmlischen Kräfte im Luftmeer und das Ziehen der Gewalten über unsern Häuptern. Das Verlorene des Lebens auf der Kruste der Erde war 218 ihm ständig neues und starkes Erlebnis. Er spürte die ewige Bewegung der Gebirge und das Aufsteigen der Erdschichten aus der Tiefe. Er sah die biologischen Gesetze im Leben der Menschen walten, und jedes Wort und jede Geste war ihm in Mythos getaucht.

Aus diesen Elementen: dem Leben und Tod zweier Freunde, der eigenen Gestalt, seinen Erlebnissen in Venzka und Töpen, seinem kosmischen Allgefühl und der Last kosmischer Verantwortung – aus alle diesem schuf er sein erstes größeres Werk.

 

Dem eigentlichen Roman ist eine Vorrede vorausgesetzt. Nicht ohne Absicht wird sie in die Gegend von Wunsiedel verpflanzt. »Ich wollte den Vorredner anfangs in Sichersreuth oder Alexandersbad bei Wonsiedel verfertigen, wo ich mir das Podagra wieder in die Füße hinunterbaden wollte, das ich mir bloß durch gegenwärtiges Buch zu weit in den Leib hinaufgeschrieben.« Aus den Tagen seiner Kindheit sollte sein erster dichterischer Aufstieg erfolgen. Er verklärte in der »Unsichtbaren Loge« die ihm ans Herz gewachsene Gegend des Fichtelgebirges und griff auf Wunsiedel und seine romantische Umgebung zurück. In tiefem Tal liegt die Stadt, hart unter der Steilwand des Katharinenberges, auf der malerisch eine Schloßruine Stadt und Tal überragt. Über den Berg schleppt sich der Weg nach Alexanderbad, das wieder im Tal liegt. Wie die Glieder einer Fuge ziehen sich die Talschluchten durch das Gebirge, suchen, fliehen sich, wachsen ineinander. Wälder hängen über Felsenschroffen, unendlich dehnt sich vor den Höhen das Land in romantischem Wechsel. Immer weiter schweift der Blick, neue und immer neue Gebirgsketten entsteigen dem Horizont. Grüne Wiesen und Felder sind über die Hügel gebreitet, und im Herbst oder 219 Winter liegt der Nebel in schweren Tüchern um die Kuppen und schleicht wie eine Herde über das Land. Eine merkwürdige Landschaft, die keiner vergißt, der sie einmal besuchte. Romantische, tief eingerissene Bergschluchten tun sich auf, als ob sie ins Erdinnere hineinliefen. Düstere Wälder nehmen zu stundenlangem Wandel auf. Dann wieder kann der Frühling die Täler in ein Blütenmeer verwandeln, und über die Erde ist fast südlicher Himmel ausgespannt. Seit den ersten Kindheitstagen hatte Jean Paul diese Stätten nicht wieder besucht, aber die Landschaft war ihm im Gedächtnis hängengeblieben. Alle seine Romane spielen in ihr, vereinigen ihre düstere Entlegenheit mit dem romantischen Zauber der Gebirge und den freundlichen Idyllen ihrer Dörfer.

Diese Gegend benennt er mit Namen in seiner Vorrede zur »Unsichtbaren Loge«. Er fingiert zu schreiben, während er sich in einer Sänfte auf den Fichtelberg tragen läßt. Erst oben auf der höchsten Höhe will er hinaussteigen und den Frühling ringsum mit einem Male über sich kommen lassen. Während der Fahrt schreibt er die eigentliche Vorrede nach Art seiner Satiren, sich mit den Rezensenten und der französischen Schreibart auseinandersetzend. Endlich ist er oben angekommen, aber mit einer Binde vor den Augen tritt er hinaus. »Erhabene Paradiese liegen um mich ungesehen.« »Nun tritt auch die Erdensonne auf die Erdengebirge und von diesen Felsenstufen in ihr heiliges Grab; die unendliche Erde rückt ihre großen Glieder zum Schlafe zurecht und schließet ein Tausend ihrer Augen um das andere zu. Ach, welche Lichter und Schatten, Höhen und Tiefen, Farben und Wolken werden draußen kämpfen und spielen und den Himmel mit der Erde verknüpfen, sobald ich hinaustrete (noch ein Augenblick steht zwischen mir und dem Elysium), so stehen alle Berge vor der zerschmolzenen Goldstufe, der Sonne 220 überflossen da – Goldadern schwimmen auf den schwarzen Nacht-Schlacken, unter denen Städte und Täler überflossen liegen – Gebirge schauen mit ihren Gipfeln gen Himmel, legen ihre festen Meilenarme um die blühende Erde, und Ströme tropfen von ihnen, seitdem sie sich aufgerichtet aus dem uferlosen Meer – Länder schlafen an Ländern, und unbewegliche Wälder an Wäldern, und über der Schlafstätte der ruhenden Riesen spielet ein gaukelnder Nachtschmetterling und ein hüpfendes Licht, und rund um die große Sonne zieht sich wie um unser Leben ein hoher Nebel. – – Ich gehe jetzo hinaus und sink' an die sterbende Sonne und an die entschlafende Erde. – – Ich trat hinaus – –«

Weit über der einschlummernden Heimat, von den Gipfeln des Schneebergs tritt Jean Paul in die Welt. Nie ist dieses erste Hinaustreten eines Dichters in einem größeren Symbol erblickt worden. Wer nur die Vorrede des Buches bis hierher las, mußte erkennen, daß ein Gewaltiger sich die Binde von den Augen gerissen hatte und hinausgetreten war.

Wie immer in seinen Romanen beginnt Jean Paul mit einer höchst seltsamen Situation, die einen Teil der Geschichte im voraus bestimmt. Herr Oberstforstmeister von Knör will seine schöne und kluge Tochter Ernestine nur einem Freier geben, der sie im Schachspiel besiegt. Seine dem Herrnhutismus zugeneigte Gattin hingegen stellt für die zukünftige Ehe die Bedingung, daß das erste Kind nach Herrnhuter Weise die ersten acht Jahre unter der Erde verbringe. Rittmeister von Falkenberg freit um Ernestine. Er kann sie zwar nicht im Spiel besiegen, aber sie hilft ihm durch List. Eine von ihr abgerichtete Katze wirft das Schachspiel um, und des Rittmeisters gerade anwesender Freund, Dr. Fenk, behauptet, daß der Rittmeister diese letzte Partie unweigerlich gewonnen haben würde. Ehe die Anwesenden recht zur Besinnung 221 kommen, ist die Verlobung geschlossen. Ernestine folgt Falkenberg auf sein Erbgut Auenthal.

Gustav, das erste Kind dieser Ehe, soll unter der Erde erzogen werden. Ein Herrnhuter Geistlicher, der Genius genannt, leitet diese seltsame Erziehung. Eine alte Felsenhöhle im Garten nimmt den Genius mit seinem Zögling und einem Pudel auf. Mit den ersten Eindrücken des Knaben beginnt die eigentliche Erzählung. Auf eigenartige Weise bereitet der Herrnhuter seinen Schüler auf die Oberwelt vor. »Wenn du gestorben bist, so sterb' ich auch mit und wir kommen in den Himmel«, womit der Genius die Oberfläche der Erde meint. Mit dem ganzen Reichtum Jean Paulscher Poesie wird dieses Hinaustreten aus dem Dunkeln geschildert. Wie von Himmelsstrahlen scheint die Erde, die dem Knaben überirdisches Gefilde ist, übergossen. Die folgende Kindheit ist ein Abbild von Jean Pauls eigenen Joditzer Jahren. Wie er sich dort in die kleine Schäferin Augustine verliebte, so verliebt sich Gustav in Regine und tauscht, hier über Jean Pauls Erlebnis hinausgehend, mit ihr den ersten Kuß. Von eingreifender Wirkung für ihn ist die Einsegnung und das erste Abendmahl. Wir kennen diese Szenen bereits aus seiner Kindheitsgeschichte.

Ein Zwischenfall unterbricht das ruhige Dahingleiten der Tage: Der Knabe ist eines Tages verschwunden und wird erst Tage später von einer vorüberfahrenden Kutsche wieder im elterlichen Hause abgesetzt, ohne daß sich ein Anhaltspunkt für die Entführer ergäbe. Vielleicht könnte der Vater, Rittmeister von Falkenberg, den Zusammenhang vermuten. Falkenberg hat in früheren Jahren ein Liebesverhältnis mit einer jungen Scheerauer Dame unterhalten, deren Frucht, ein Knabe, spurlos verschwand. Seine Geliebte heiratete später einen geizigen und übelbeleumundeten 222 Emporkömmling, den Kommerzienagenten von Röper. Zwischen dem verschwundenen Knaben und Gustav soll eine weitgehende Ähnlichkeit bestehen, die offenbar von dem gleichen Vater herrührt. Als Gustav in das elterliche Schloß zurückgebracht wird, ist ihm ein Bildnis mitgegeben worden, das zunächst wie ein Porträt Gustavs aussieht, nach dem beigefügten Brief aber das Bildnis des verstorbenen oder verschwundenen Sohnes der unbekannten Entführerin sein soll. Falkenberg vermutet, daß die Unbekannte seine einstige Geliebte, die Gattin Röpers, ist und das Bild seinen verschollenen ersten Sohn darstellt. Der Roman löst übrigens diese Fragen nicht mehr, sondern bricht vor der Auflösung ab.

Den Winter verbringen Falkenbergs in der nahen Stadt Scheerau. Diesmal treibt den Rittmeister noch ein besonderer Grund in die Residenz. Der Fürst schuldet ihm 13 000 Taler; für soviel Geld nämlich hatte er seiner abgesetzten Geliebten, der Mutter seines natürlichen Sohnes, des Kapitäns Ottomar, das Rittergut Ruhestatt gekauft, das nun Ottomar gehört. Falkenberg hofft von dem Fürsten das Geld zu erhalten. Als aber der Reisewagen, in dem nun zum erstenmal auch Gustav sich der Stadt nähert, anlangt, begegnet ihm bereits der fürstliche Wagen, in dem das Gedärm des verstorbenen Fürsten zur Beisetzung gefahren wird. Mit dem soeben erst den Thron besteigenden jungen Fürsten bedarf es erneuter Verhandlungen, die allerdings nicht zur Zurückzahlung der schuldigen 13 000 Taler, aber doch dazu führen, daß der Fürst Gustav eine Stelle in seinem Kadettenhause verspricht. Der Rittmeister wohnt mit seiner Familie wie jedes Jahr im Hause des Professors Hoppedizel, eines zu allerlei Spaß aufgelegten Mannes, der auch gleich mit einem besonders drastischen Einfall seiner Laune hervortritt.

Auf der Reise ist dem Falkenbergschen Wagen ein 223 Abenteuer zugestoßen: Im Walde trafen sie einen Knaben, dem eine Bettlerin beide Augäpfel angeschnitten hat, um mit dem Blinden betteln zu gehen. In Scheerau stellt es sich heraus, daß Amandus, das ist dieser Knabe, ein Sohn Dr. Fenks, des alten Freundes des Rittmeisters, ist. Fenk hatte sich in Begleitung des Kapitäns Ottomar in Italien aufgehalten, war aber vor kurzer Zeit zurückgekehrt. Es gelingt ihm, die Augen seines Sohnes, über dessen Mutter wir übrigens nichts erfahren – Fenk scheint Junggeselle zu sein –, zu retten. Die beiden Knaben werden die innigsten Freunde. Aber schon bald zeigt sich bei den Kinderspielen die furchtbare Reizbarkeit des kränklichen Amandus, zu dem der hypochondrische Adam von Oerthel und vielleicht auch ein wenig Christian Otto mit seiner leichten Verletzbarkeit beigetragen haben.

Auf einem Konzert in der Stadt lernt Jean Paul, der Verfasser der »Teufelspapiere«, auch das »Einbein« genannt, da er als literarischer Vertreter des Teufels mit einem Quadratfuß ausgestattet gedacht wird, Gustav kennen und ist nicht weniger von ihm entzückt, als einst der richtige Kandidat Richter von Christian von Oerthel entzückt war. Herr von Falkenberg engagiert das »Einbein« als Erzieher Gustavs auf sein Gut, und dieser übersiedelt freudig im Frühjahr mit der Familie und dem Zögling nach Auenthal. Jean Pauls Schwester Philippine bleibt als Erzieherin der kleinen Tochter im Hause der Residentin von Bouse in Scheerau zurück. Jean Paul verbreitet sich des längeren über seine Erziehungsgrundsätze, die uns noch in anderm Zusammenhange beschäftigen werden. Scheerau wird immer im Auge behalten und einiges daraus mitgeteilt, da die Stadt bald der Schauplatz der Handlung werden wird. Eigenartig ist die Beschreibung der Scheerauer »Gewürzinseln und 224 Molucken«. Es sind dieses Inseln von geringem Umfang in einem künstlich angelegten See, als dessen Vorbild der Brandenburger Weiher bei Baireuth genannt wird. Es gibt hier Sumatra, Zeylon und das schöne Amboina, und als stattliche Kauffahrteiflotten kreuzen Boote zwischen den Inseln, beladen mit den Gewürzen und Erzeugnissen jener ferneren wirklichen Molucken. Als Herr der größten dieser Flotten wird uns nun der Kommerzienagent von Röper, der »unvollkommene Charakter«, geschildert. Es ist im Grunde ein nur mit einigen phantastischen Zügen ausgestattetes Bild des Kammerrats von Oerthel. Jean Paul verlegt die Geburt Röpers nach Italien in den Kirchenstaat und läßt ihn mit Hecheln und Mäusefallen handelnd nach Deutschland kommen. Dort beleiht er gegen Pfand und bereichert sich in kurzer Zeit mit allen möglichen, auch betrügerischen Mitteln. Sein schmutziger Geiz wird besonders hervorgehoben. So kauft er sich am Ende jeder Woche ein Pfund Fleisch, das er die Woche über auskocht, um es endlich am Sonntag zu verspeisen, wenn schon das neue Pfund im Schranke liegt. Den größten Gewinst zieht er als Kommerzienagent des Scheerauer Fürsten, der ihm das Monopol für den Handel mit den Südseeprodukten auf der künstlichen Südsee überläßt. In die Höhe gekommen, macht er »seine Liebeserklärung dem reichsten und geizigsten Vater einer schönen Tochter«, welche die Liebe gegen einen Offizier, eben den Rittmeister von Falkenberg, zum letzten Schritte hingerissen hat. »Die Tochter haßte seine Liebeserklärung. Aber der Charakter bemächtigte sich ihrer sträubenden Hand, zog sie daran zum Altar, schraubte den Ring ihr an und pfählte ihre Hand in seine. Ihr zweites Kind war sein erstes.« Das erste ist bekanntlich jener verschwundene Knabe, der mit Gustav eine so auffallende Ähnlichkeit hat, daß dessen Porträt für das 225 seinige gelten kann. Das zweite Kind von Röpers Frau aber ist die bildschöne Beate, die auf Röpers Gut Maußenbach, einem Nachbargute von Auenthal, heranwächst. Jean Paul gibt Beaten Klavierstunden und hat sich in sie verliebt. In dieser Gestalt wachsen also Beate von Spangenberg, Adam von Oerthels einstige Jugendliebe, und Renate Wirth zusammen. Der hypochondrische Amandus, das Ebenbild Adam von Oerthels, entbrennt in einer heißeren Liebe als der immer ein wenig satirisch vorgetragenen des »Einbeins« zu Beate. Der Roman wiederholt also die Wirklichkeit des Lebens, nur mit dem Unterschiede, daß Beate hier die Tochter des geizigen Emporkömmlings und ihr dem Tode geweihter Liebhaber der Sohn des Dr. Fenk ist.

Beate ist die erste jener gefühlvollen Mädchengestalten, in denen Jean Paul sein Höchstes gegeben hat. Eine Vorgängerin der Liane aus dem »Titan«. Auch Beatens Liebe wird den Helden nicht zur menschlichen Vollendung führen können. Sie repräsentiert die Vorstufe des überwallenden, allzu zarten Gefühls über die feindlichen Kräfte des Lebens. Die schönste und rührendste Vorstufe sicherlich, aber eben nur eine Vorstufe des eigentlichen starken Lebens. »Auch an dieser Beate seh ich's wieder, daß der weibliche Leib und Geist zu zart und zu wallend, zu fein und zu feurig für geistige Anstrengung sind und daß beide sich nur durch die immerwährende Zerstreuung der häuslichen Arbeit erhalten . . . Eine Frau, wenn sie Schillers Feuerseele hätte, stürbe, wenn sie damit eines seiner Stücke machte, im fünften Akt selber mit nach.« Dr. Fenk schreibt diese Worte in seinem Brief an das »Einbein«, in dem er ihm von den Vorgängen in Scheerau Mitteilung macht. Zugleich berichtet er von dem ungünstigen Einfluß, den das Hofleben auf Jean Pauls bei der Residentin von Bouse zurückgelassene Schwester 226 Philippine ausübt. Philippine sei kokett geworden, und es sei höchste Zeit, daß sie dem »giftigen Hüttenrauche« des Hoflebens wieder entzogen würde.

Inzwischen spiegelt Jean Pauls Aufenthalt in Auenthal sein Leben wider, wie er es einst in Töpen und dem benachbarten Venzka geführt. Mit einer Gesellschaft von Edelleuten reitet er nach Maußenbach herüber, wo man den geizigen Röper bei der jährlichen Erbhuldigung durch seine Bauern überraschen will. Röper verschanzt sich gewöhnlich hinter den dicken Spiegelscheiben seiner Fenster, um jeden Besuch, sobald er ihn durchs Fenster erblickt, abwehren zu können. Diesmal wird er aber beim Huldigungsakt im Hofe angetroffen und muß sich zur Bewirtung seiner ungebetenen Gäste bequemen. Als man ins Schloß tritt, findet man im Innern bereits einen Gast vor, der mit Beate in eifriger Unterhaltung begriffen ist: den Kammerherrn von Oefel, in dem Jean Paul alle üblen Eigenschaften des Hofmannes zusammenfaßt. Dummkopf und Intrigant, Schöngeist und Verführer, Narr und gefährlich. Er ist im Auftrag der Residentin von Bouse gekommen, um Beate zur Residentin einzuladen, bei der bekanntlich bereits Philippine sich aufhält. Die Residentin bewohnt eine halbe Stunde von Scheerau entfernt das sogenannte neue Schloß Marienhof, während Oefel das alte Schloß gemietet hat, das mit dem neuen durch geheime Gänge verbunden ist. Man sieht, daß dem Dichter hier die beiden Schlösser von Baireuth vorschweben, die er bei seiner Abschlußprüfung vor dem Baireuther Konsistorium gesehen hatte, ehe er die Universität Leipzig bezog. Mit der Einladung verbindet Oefel den selbstsüchtigen Plan, Beate, die sein Entzücken geweckt hat, in seine Nähe zu bringen. Frau Röper nimmt die Einladung für ihre Tochter an, Beate siedelt nach Marienhof über. Wir werden sehen, daß Beate im Gegensatz 227 zu Philippine durch die Intrigen und Gefahren des Hoflebens ohne Schaden hindurchgeht.

Bei diesem improvisierten Fest in Maußenbach bittet der Rittmeister von Falkenberg den einflußreichen Kammerherrn, die baldige Aufnahme Gustavs in das Scheerauer Kadettenhaus zu befürworten. Oefel verspricht es und hält Wort. Schon vierzehn Tage darauf kommt Professor Hoppedizel den neuen Kadetten aus Auenthal abholen. Jean Paul faßt an dieser Stelle noch einmal Gustavs Gestalt im Bilde zusammen. »Gustav war jetzt in der Mitte des schönsten und wichtigsten Jahrzehnts der menschlichen Flucht ins Grab, im zweiten nämlich. Dieses Jahrzehnt des Lebens besteht aus den längsten und heißesten Tagen; und . . . so kocht sich an der Jünglingglut zwar die Liebe reif, die Freundschaft, der Wahrheit-Eifer, der Dichtergeist, aber auch die Leidenschaften mit ihren Giftzähnen und Giftblasen. In diesem Jahrzehnt schleicht das Mädchen aus ihren durchlachten Jahren weg und verbirgt das trübere Auge unter derselben hängenden Trauerweide, worunter der stille Jüngling seine Brust und ihre Seufzer kühlt, die für etwas Nähers steigen als für Mond und Nachtigall.« – Mit einer Zauberposse, als umgehendes Gespenst, führt sich Professor Hoppedizel in Auenthal ein. Die falsche Gespenstererscheinung hat auf Gustav die Wirkung, daß er in der nächsten Nacht den Geisterruf des Genius aus dem Garten zu hören vermeint. »Ein Eisberg fiel auf seine starrende Haut in der ersten Sekunde; aber in der zweiten glühte er wieder ab, gab seine Arme dem Tode und dem Freunde und schlug das Auge an einer Luftstelle unter dem Mondblenden ein, um etwas zu sehen. – Die zwei Welten waren nun für ihn in eine zusammengefallen; gefaßt erwartete er den Freund aus der Welt hinter den Sonnen und wollte an eine Ätherbrust stürzen mit einer 228 von Erde.« Es war dasselbe Zusammenfallen der Welten, das Jean Paul selbst vor kurzem durchlebt hatte und das ihn in tagelangen Schauern gefangenhielt.

In den nächsten Tagen fährt Gustav mit Hoppedizel zur Stadt. Jean Paul bleibt in Auenthal auf Einladung Falkenbergs. »Ich sollte in seinem Schlosse so lange advozieren und satirisieren als ich wollte.« Aber im Frühjahr zieht er mit seiner aus Scheerau zurückgekehrten Schwester, an deren Stelle bei der Residentin von Bouse endgültig Beate getreten ist, in das Häuschen des Auenthaler Schulmeisters Wuz. Das Leben Wuz', das als besondere Idylle dem Roman beigeheftet wurde, spielt von nun an mit seiner heiteren Behaglichkeit auch in die Begebenheiten des Romans hinein.

Während sich hier in Auenthal die Idylle entwickelt, macht Gustav im Kadettenhause schwere Zeiten durch. Er ist nicht für den Soldatenstand geschaffen. Sein Herz sehnt sich nach fruchtbarerer Betätigung als der zerstörenden des Krieges. Das Lärmende der militärischen Erziehung ist ihm verhaßt. »Zum Essen, zum Schlafen, zum Wachen wurden sie, wie das Parterre eines Dorfkomödianten zusammengetrommelt. Im Marschschritt und hinter dem Kommandowort erstieg diese Miliz den Speisesaal als ihren Wall und nahm von der Festung nichts weg als die Mundporzion für einen halben Tag. Der Kommandozuck riß sie von ihren Stühlen auf und lenkte sie zur Zitadelle wieder hinaus. Man konnte Nachts die Schritte eines einzigen Kadetten zählen und man wußte die aller übrigen, weil der kommandierende Luftstoß diese Räder auf einmal trieb.« Am peinlichsten war dem fühlenden Jüngling aber das Beten auf Kommando. »Der österreichische Soldat hatte bis Anno 1756 zwei und siebzig Handgriffe zu lernen, nicht um damit den Feind zu schlagen sondern den Satan«, berichtet Jean Paul beiläufig.

229 In den wenigen ihm überlassenen einsamen Stunden flieht Gustav in den Park des »Stillen Landes« – so heißt der englische Garten um Marienhof –, um hier zu sinnen und an seine Freunde zu schreiben. Sehnsüchtig lauscht er dem Posthorn nach, das ihn erinnert, daß es »aus den eckigen, spitzigen, verwitternden, unorganisch zusammengeleimten Schutthaufen der getöteten Natur, die eine Stadt heißen«, noch hinausgehe »in das pulsierende, drängende, knospende Gewühl der nicht ermordeten Natur«. Mit Entsetzen malt er sich einen jener sinnlosen Kriege der damaligen Politik aus. »Ach! seitdem es keinen Tod mehr für, sondern nur wider das Vaterland gibt; seitdem ich, wenn ich mein Leben preisgebe, keines errette, sondern nur eines binde; seitdem muß ich wünschen, daß man mir, wenn mich der Krieg einmal ins Töten hineintrommelt, vorher die Augen mit Pulver blind brenne, damit ich in die Brust nicht steche, die ich sehe, und die schöne Gestalt nicht bedaure, die ich zerschnitze, und nur sterbe aber nicht töte.« – »Die Offiziere sehen, daß Gustav keiner werden will.« Aber der Wunsch des Vaters, »der bloß den stürmenden Krieger liebt«, ist gegen ihn.

Inzwischen wird Jean Paul Gerichtshalter des Kommerzienagenten Röper in Maußenbach. Röper hat sich mit seinem alten Gerichtshalter verzankt und das »Einbein« angeworben. Der Verfasser der »Teufelspapiere« sitzt gerade mit der Familie seines neuen Brotherrn am Tisch – auch Beate ist aus der Residenz auf einen Tag herübergekommen –, als Gustav in dienstlicher Eigenschaft erscheint. Er reitet einem von zwei Husaren eskortierten Wagen mit Getreide voraus, der an der Grenze abgefangen wurde, als er gerade das Getreide zollfrei herüberschmuggeln wollte. Nach Aussage der Ertappten handelt es sich um einen Wagen 230 des Röperschen Gutes. Röper läßt den jungen Kadetten grob an, besonders als sich herausstellt, daß der Wagen nur einem Pächter gehört und der Röpersche Wagen also unbemerkt über die Grenze gekommen ist. Mit reißenden Gefühlen stürzt Gustav aus dem Zimmer. Es war dies das erste Zusammentreffen zwischen ihm und Beate. Die Feindschaft zwischen dem Röperschen und dem Falkenbergschen Hause ist durch diesen Vorfall eröffnet.

Aber noch von einer andern Seite trägt dieser Vorfall dem jungen Kadetten Leid ein. Sein Herzensfreund Amandus, der Beate liebt, wird von Eifersucht ergriffen. Mit der Hellsichtigkeit des Nervenkranken spürt er die innere Verbindung, die von Gustav zu Beate bei ihrer ersten Begegnung sich schlang. Amandus vermutet, daß Gustav schon lange mit Beate in heimlicher Verbindung sei und ihn täusche. Unterstützt wird dieser Verdacht durch eine seltsame Beobachtung. Gustav verreist regelmäßig von Zeit zu Zeit auf fünf Tage. Niemand kennt seinen Aufenthalt während dieser unerklärlichen Abwesenheit. Das »Einbein« selbst bekennt, darüber im Dunkeln zu tappen. Wie sich später herausstellt, hängt diese heimliche Reise mit der Entführung Gustavs in seiner Kinderzeit zusammen. Er ist in geheime Beziehungen verstrickt worden, die ihn unter anderm auch mit Ottomar in Verbindung gebracht haben. Zum erstenmal taucht hier das Motiv einer unsichtbaren Gesellschaft auf, nach der der Roman benannt ist. Amandus dringt in den Freund, ihm das Geheimnis zu verraten, der aber ist durch Eid gebunden, und seine Zunge muß auch dem Freund gegenüber stumm bleiben. Der erste ernste Konflikt zerreißt die Freundschaft der Jünglinge. Amandus glaubt, daß Gustavs Reise mit Beate in Zusammenhang stehe. Mit widerstreitenden Gefühlen gehen die Freunde in den Park um Marienhof. 231 Gustav weist dem Eifersüchtigen jenes geheimnisvolle Porträt auf, das er von der Entführung in seiner Kindheit zurückbrachte und das wahrscheinlich ein Bild seines Halbbruders, des Sohnes von Falkenberg und der Frau von Röper, ist. Auch im Röperschen Hause ist ein solches Bild vorhanden, und Beate hat es oft in stillen Stunden betrachtet, in Trauer um ihren unbekannten, seit langem verschollenen Bruder, über den sie naturgemäß wenig oder nichts weiß. Bei ihrem letzten Aufenthalt in Maußenbach fand sie das Bild nicht wieder vor, weil ihr Vater es zufällig entdeckt und versteigert hatte, da er es für ein Porträt des ihm verhaßten Gustav hielt.

Während die Freunde das Porträt betrachten und, sich auf einer Wiese lagernd, es neben sich liegen haben, will es der Zufall, daß Beate durch den Park des »Stillen Landes« geht. Sie stutzt beim Anblick der beiden unvermuteten Gäste. Eine rasche Bewegung zeigt ihr das Porträt, das sie unwillkürlich für das verlorene hält. Sie nimmt es an sich, dankt für die Übermittlung des ihr abhanden gekommenen Gegenstandes und geht weiter, ehe die Freunde recht zur Besinnung kommen. Dieser Vorfall hat Amandus' Verdacht gegen Gustav verstärkt. Er glaubt nun bestimmt zu wissen, daß die beiden im Einverständnis miteinander sind, und löst sich von Gustav unter Verwünschungen und Beleidigungen.

Der Kammerherr von Oefel, der bis dahin als Offizier im Kadettenhaus Dienst getan hatte, kehrt nach einiger Zeit in den Hofdienst zurück, weil er dort in kurzem als Gesandter an einen benachbarten Hof geschickt werden soll, um dort für den Fürsten eine Prinzessin zu freien. Dieser Auftrag ist um so schwieriger, als auch ein anderer Hof sein Auge auf die gleiche Prinzessin geworfen hat und sie durchaus dem Scheerauischen Hof abspenstig machen will. (Hier spielt 232 der Erbfolgestreit um Baireuth hinein.) Als seinen Legationssekretär hatte nun Oefel niemand anderen als Gustav ausersehen. Oefel selbst nämlich arbeitete an einem Roman, der die Begebenheiten am Scheerauer Hof behandelt, und glaubt Gustav als Helden dieses Romans gebrauchen zu können. Er nimmt ihn also in diplomatischem Dienst in das alte Schloß mit, teils um selbst Beaten näher zu sein, teils um durch Gustav seine Geliebte, die Residentin von Bouse, von der er annimmt, daß sie sich in den hübschen Jungen verlieben würde, von seiner Person abzulenken. Gustav kommt um so lieber mit ihm in den diplomatischen Dienst, als er damit dem verhaßten Militärdienst entgehen kann. Erst vor kurzem hat er der Ehrloserklärung eines Offiziers beiwohnen müssen, die ihn aufs höchste erschütterte. »Zwei Tage war er krank, und seine Phantasieen schleiften ihn in die Räuber-Katakomben des Inhaftierten hinein.«

Gustav ist sich darüber klar, daß er durch seine Übersiedlung in das alte Schloß, in dessen nächster Nachbarschaft Beate wohnt, dem Verdacht des Freundes Nahrung geben wird. Aber in einer seltsamen Umkehrung seines Gefühls bestimmt ihn das erst recht, der Aufforderung Oefels zu folgen. Noch einmal macht er den Versuch, sich dem Freunde zu nähern. Er beschwört seine Schuldlosigkeit und bittet Amandus, ihm zur Versöhnung die Hand zu reichen. Der aber ergreift eine medizinische Färberfaust, die auf dem Tisch seines Vaters, des Dr. Fenk, liegt, und reicht sie voller Hohn dem ehemaligen Freunde hin. »Der Haß überlief wie ein Schauer das liebreichste Herz, das sich noch in einer menschlichen Brust verblutete – Gustav zerstampfte auf der Erde seine Liebe und seinen Haß und ging verstummt mit erstickten Gefühlen aus dem Hause.« Immer fester aber legt sich um Gustav und Beate das noch unsichtbare Band 233 ihrer Zusammengehörigkeit. Der Eifersuchtsausbruch des Freundes lenkt seine Gedanken immer heftiger auf Beate.

Gustavs Zimmer in dem alten Schloß geht auf den Park hinaus. Er kann durch sein Fenster beobachten, wenn Beate die Parkwege entlanggeht und zurückkommt. Zu stolz und zu verbissen in eine kaum beginnende Liebe, verschmäht er, ihr nachzugehen, aber er sucht wenigstens ihre Lieblingswege auf und freut sich über die Spuren ihrer Füße auf den Gängen oder im Rasen. Daß auch ihre Gedanken um seine Person kreisen, nimmt er um so weniger an, als er glaubt, daß sein dienstliches Auftreten in Maußenbach ihn auch ihr verfeindet habe. Diese Annahme wird noch verstärkt, als ihm über den Dr. Fenk eines Tages das von Beate mitgenommene Porträt zurückgeschickt wird mit einigen kurzen Zeilen von Frau von Röper: man hätte das Bild zunächst für ein in Maußenbach abhanden gekommenes gehalten, später aber entdeckt, daß auf dem Rücken des Bildes der Name Falkenberg stünde.

Auch der Fürst, der wie eine Reihe anderer Männer eine Liäson mit der Residentin hat, verliebt sich in Beate und beginnt ihr den Hof zu machen in einer nicht mißzuverstehenden Art. Zunächst bittet er, sie am nächsten Vormittag frisieren zu dürfen, was er bei der Bouse fast täglich tut, da er sich in der Langweile des Hoflebens auf diese Zerstreuung gelegt hat. Beate ist entsetzt. Sie empfängt den Fürsten schüchtern und verängstigt und entläuft ihm schließlich.

Gustav beschäftigt sich im Park stark mit Zeichnen. Gerade hat er eine Venusgruppe mit seinem Stift abgerissen, als die Residentin hinzukommt und seine Kunst bewundert. Ihre prächtige Erscheinung, durch alle Mittel einer hohen Kultur gesteigert, bleibt nicht ohne Eindruck auf ihn. Er verspricht ihr, den ganzen Park für sie abzuzeichnen. Sie lädt ihn in 234 ihre Gemächer ein, und dort trifft er zum drittenmal mit Beate zusammen. Es steigert die beiderseitige Verwirrung, daß die Bouse die beiden jungen Menschen für Geschwister hält. Sie hat nämlich das von Röper versteigerte Porträt an sich gebracht, das sie für Gustavs hält oder doch zu halten vorgibt. Der Vormittag endet damit, daß die Residentin dem jungen Künstler selbst zu einem Bilde zu sitzen verspricht. Er malt sie an einem Vormittag, da Beate nicht bei ihr ist, aber schon am selben Abend soll er der immer bewußter Geliebten auf einem Souper bei der Bouse begegnen. Vor dem Essen stehen sie in einer Fensternische beieinander. Zwei Gärtnerkinder, mit denen sie beide oft gespielt, ahmen vor dem Fenster in kindlichem Spiel den jungen Herrn und das gnädige Fräulein nach und küssen sich in kindlicher Zuneigung. Zum erstenmal sinken ihre Seelen – sie fühlen es beide – einander entgegen. »In einem Augenblick unaussprechlicher Zärtlichkeit sahen ihre Seelen, daß sie einander – suchten.« Das beginnende Souper reißt sie auseinander. Oefel führt Beate zu Tisch und bezieht ihre holde Verwirrung auf sich.

Gustav bricht frühzeitig aus der Gesellschaft auf. Unterwegs begegnet ihm ein Bote mit einem Brief von Amandus an ihn. Der Freund ist auf den Tod erkrankt und bittet ihn, zu seinem Sterbelager zu kommen. Ganz plötzlich wird Gustav aus seinen Träumen durch diese Botschaft emporgerissen. Er eilt zu Amandus, an dessen Bett der untröstliche Vater bereits weilt. Der Augenblick des Wiedersehens reißt alle Hemmnisse ihrer Freundschaft zwischen ihnen nieder. Freund und Freund sinken einander in die Arme. Aber der Sterbende hat noch einen besonderen Wunsch: Noch einmal will er Beate sehen. Fenk eilt, sie zu holen. Sie kommt mit ihrer Mutter. Amandus bittet, ihn mit Beate und dem 235 Freund allein zu lassen. Der Sterbende legt beider Hände ineinander, beteuernd, daß sie als die einzigen Menschen einander wert wären, und beschwört sie, sich zu lieben. »Hier zog der fallende Körper die fliehende Seele zurück; ein Tropfe in seinem Auge verkündigte die schwere Erinnerung an seine zertrümmerten Tage; drei Herzen bewegten sich heftig; drei Zungen erstarrten; diese Minute war zu erhaben für den Gedanken der Liebe, bloß die Gefühle der Freundschaft und der andern Welt waren groß genug für die große Minute.« Wie ein schreckender Blitz ist die Bitte des Sterbenden in die Herzen der beiden gefahren und deckt alle aufkeimende Liebe im Augenblick zu. Beate verläßt das Zimmer. Eine Mondfinsternis verdunkelt draußen den Himmel. Ein vorüberfahrender Leichenzug wirft grelle Fackellichter an die Wände des Zimmers. In Gustavs Armen stirbt der Freund, wie Jean Paul es einst bei Adam von Oerthels Sterben erlebt hatte. Mit allem Grausen und Entsetzen und dem Gefühl grenzenloser Erhabenheit läßt er den Toten sanft auf sein Lager zurückgleiten.

Amandus wird begraben. Der Eremitenberg im »Stillen Land« soll seinen Sarg aufnehmen. Eine entzweifallende Rose, eine durchlöcherte Puppe, ein sich ausspannender Schmetterling sind auf den Sarg gemalt. Der kinderlose Vater stützt sich mit Kopf und Hand auf die Pyramide. Nach dem Begräbnis schreibt Gustav an den niedergebrochenen Dr. Fenk, bietet ihm seine Freundschaft für den Verlorenen an und – bittet ihn um einige Alltagskleider des Verstorbenen. »Er fühlte wie ich, daß Alltagkleider die besten Schattenrisse, Gipsabgüsse und Pasten eines Menschen sind, den man lieb gehabt und der aus ihnen und dem Körper heraus ist.« –

»Morgen will ich kommen, um meinen Freund zu einer 236 Reise auf die nächsten Tage mitzunehmen, damit wir den vergangenen aus dem Wege gehen«, schreibt Fenk nach einigen Tagen an Gustav. Der begleitet den älteren Freund auf eine Dienstreise. Gestärkt kehren sie nach einiger Zeit zurück, und ihr Weg führt sie an Ruhestatt, dem Rittersitz Ottomars, vorüber. Der Tempel ist erleuchtet. Im Innern der Kirche finden sie eine Trauerversammlung. Auf der Bahre liegt ausgestreckt ein Toter, den sie nicht erkennen. Nach der Trauerfeier nahen sie sich der Leiche. Es ist Ottomar, dessen Rückkehr aus Italien und Tod ihnen gleich überraschend kommt. Von diesem neuen Schlage ist Fenk ins innerste Herz getroffen. Still kehrt er um und setzt seine Reise allein fort. Gustav wagt ihn nicht zu begleiten.

Erst jetzt begann in Gustav die seltsame Szene am Totenbett des Freundes nachzuwirken. Das Gedenken an Amandus mischte sich mit dem Bilde der Geliebten. In feierlicher Stimmung sucht er die Totenpyramide auf dem Eremitenberg auf. Von der seelischen Erschöpfung der letzten Tage sinkt er wie tot an ihrem Fuß nieder. Hier ist es, wo Beate den Schlummernden findet. Eine jener ganz großen Szenen Jean Paulscher Kunst beginnt, weit über die Alltäglichkeit hinauswachsend, von einer Tiefe der Empfindung getragen, die jedes Wort wie aus einer höheren Welt genommen erscheinen läßt. Der Schlafende träumt, und da er erwacht und Beate neben sich sieht, glaubt er gestorben zu sein, und hemmungslos, im freien Gefühl der Reinheit und Erhabenheit seiner Liebe, spricht er Worte der Hingabe aus. Unter der andringenden Gewalt seines Geständnisses sinkt sie für einen Augenblick in Ohnmacht nieder. Höchstes Vergehen in gegenseitiger Umarmung winkt. »Beate, wir sterben jetzt, und wenn wir tot sind, sag ich dir meine Liebe und umarme dich.« Zu hoch für diese Welt scheint das Gefühl, das einem 237 höheren Himmel aufgespart werden muß. »Die erhabene Minute verging, die seligste fing an; Beate erhob ihr Haupt und zeigte Gustav und dem Himmel auf dem zurückgebogenen Antlitz das irre überweinte Auge, die erschöpfte Seele, die verklärten Züge und alles, was die Liebe und die Tugend und die Schönheit in Einen Himmel dieser Erde drängen können. – – Da kam der überirdische durch tausend Himmel auf die Erde fallende Augenblick hier unten an, der Augenblick, wo das menschliche Herz sich zur höchsten Liebe erhebt und für zwei Seelen und für zwei Welten schlägt, der Augenblick vereinigte auf ewig die Lippen, auf denen alle Erdenworte erloschen.«

Seit sie von dem Hügel in ihre Wohnungen zurückkehrten, fing das Räderwerk des Hoflebens Gustav von neuem ein. Beate aber fuhr am nächsten Morgen nach Maußenbach, hauptsächlich um ihrer Mutter um den Hals zu fallen und ihr alles zu gestehen. Frau von Röper sucht die Tochter von dem Törichten dieser Leidenschaft zu überzeugen. Nie würde ihr Vater, der längst anders über sie bestimmt, diese Verbindung mit der ihm verhaßten Familie zulassen. Beate aber kehrt fest entschlossen nach Scheerau zurück, allen Hindernissen zum Trotz ihre Liebe durchzusetzen. Auch sie fängt der Lärm des Hoflebens ein. Ein Theaterstück soll aufgeführt werden, das Herr von Oefel zu festlichem Anlaß gedichtet. Gerade ihr ist, wie auch Gustav, eine der Hauptrollen zugedacht worden. Unter den Vorbereitungen des Festes kommen die Liebenden nicht zueinander. Kaum daß sie sich bei der Residentin einmal sehen. Unter deren scharfem Blick suchen sie ihre Liebe zu verbergen, aber die Bouse errät alles, und um so größer ist ihr Wunsch, Gustav in ihre Arme zu locken. Mit einer hohen Meisterschaft bereitet Jean Paul auf Gustavs Fall vor. Mit ewiger Glut brennt seine Liebe zu 238 Beate, und doch verfängt er sich wie ein Kind im Netz der raffinierten Verführerin, ohne deren Ziel zu ahnen. Bei der Aufführung steckt er Beaten, als er ihr in seiner Rolle ein Schreiben zu überreichen hat, einen wirklichen Brief zu. Sie erkennt seine List sofort, aber die Überraschung läßt sie doch in eine rasch vorübergehende Ohnmacht sinken. Nach dem Spiel muß sie sich zurückziehen. Gustav, das Herz ganz von ihr erfüllt, gibt sich der Lust des Abends hin. Immer verliebter wird er, »ohne zu wissen in wen«. Die Residentin ist »keine von den Koketten, die die Sinne früher zu bewegen suchen als das Herz«. Dieser Kunst, die mit den tiefsten Empfindungen spielt, fällt er zum Opfer. Infolge eines Unfalls mit dem Wagen muß er die Bouse nach Hause begleiten. Er geht mit ihr hinauf. Sie will ihm einige Bilder in ihrem Boudoir zeigen. Sie täuscht Verlassenheit und Tiefe des Gefühls vor, und er erliegt ihr, halb im Gedenken an Beate.

Beate hat inzwischen eine andere Versuchung glücklicher und stärker abgewiesen. Der Fürst ist in ihr Zimmer gedrungen, aber sie hat ihn abzuwehren vermocht. Während ihr Freund in den Armen der Bouse liegt, gibt sie sich der süßen Lektüre seines Briefes hin, den er ihr zugesteckt hat.

Jean Paul hat inzwischen sein idyllisches Leben im Hause des Schulmeisters Wuz fortgesetzt. Unausgesetzt arbeitet er an dem Roman, den er schreibt und dem er als Zuschauer beiwohnt. Es ist wohl Wirklichkeit, wenn er darstellt, wie ihn die Arbeit an dem Werk aussaugt. Es sind Flaubertsche Verzweiflungsrufe, die er ausstößt. »Wer dankt mir's, daß ich Szenen aufstelle, die den Prospektmaler beinahe umbringen, und biographische Seiten schreibe, die auf mich nicht viel besser wirken wie vergiftete Briefe? Wer weiß es . . ., daß ich in diesem biographischen Lustschloß, das mein 239 Mausoleum werden wird, oft Zimmer und Wände übermale, die mir Puls und Athem dergestalt benehmen, daß man mich einmal tot neben meiner Malerei liegen finden wird?« Aber gleich ins Groteske fallend, fährt er fort: »Muß ich nicht, wenn ich in die Schlagweite des Todes gerate, aufspringen, durch die Stube zirkulieren und mitten in den zärtlichsten oder erhabensten Stellen abschnappen und die Stiefel an meinen Beinen wixen, oder Hut und Hosen auskehren, damit es mir nur den Atem nicht versetzt, und doch wieder mich daran machen und so auf eine verdammte Art zwischen Empfindsamkeit und Stiefelwixen wechseln? – Ihr verdammten Kunstrichter allzumal!«

Aber die Nöte nehmen doch zu. Er fühlt sich krank, und auch dies wird der Wirklichkeit entsprechen, daß eine lähmende Hypochondrie ihn überfällt. Wir wissen bereits, daß ihn Hermann zu seinen Lebzeiten oft aus dieser Niedergeschlagenheit durch irgendeinen drastischen Ratschlag herausreißen mußte. Es ist Fenk, der ja die eine Seite des Hermannschen Wesens verkörpert, welcher ihm klarmacht, daß sein Leiden in erster Reihe in Hypochondrie besteht, und ihm vor allem das viele Kaffeetrinken verbietet. Wie neugeboren macht er sich von neuem an die Arbeit.

Etwas muß nachgetragen werden, was sich noch vor Gustavs Fall zutrug. Eine überaus merkwürdige Erscheinung ängstigte die Bewohner der Schlösser und der Stadt Scheerau. Man hatte in der verlassenen Kirche in Ruhestatt die Orgel spielen hören und den toten Ottomar im Leichengewand gesehen, wie er die Orgeltasten bewegte. Fenk war der erste, der Aufklärung erhielt, und zwar durch einen Brief Ottomars selbst. »Nie hab' ich einen Sektor oder Sonntag so traurig angefangen als heute«, schreibt Jean Paul. Er gibt Ottomars Brief wieder, und es ist eines von jenen 240 verzweifelten Schreiben, wie er sie von Hermann öfters erhalten hat. Ottomar ist nur scheintot gewesen und hat sich unter genauen Anweisungen in der Familiengruft beisetzen lassen, da er weiß, daß ihm die Ruhe des Grabes am besten bekommt. Aber es ist doch ein freventliches Spiel mit dem Tode, das er getrieben hat. »Ich bin seitdem lebendig begraben worden«, schreibt er an Fenk. »Ich habe mit dem Tode geredet und er hat mich versichert, es gebe weiter nichts als ihn. – Als ich aus meinem Sarg heraus war, so hat er die ganze Erde dafür hineingelegt und mein bißchen Freude oben darauf . . . Seitdem stehen vor mir alle Stunden wie leere Gräber hin, die mich oder meine Freunde auffangen!« Er mußte erfahren, daß niemand sich ungestraft auf die Bahre legt. Tiefstes Entsetzen über das irdische Dasein erfüllt ihn. »Wenn ich nun wäre tot geblieben: so wär' also das, was ich jetzo bin, der Zweck gewesen, weswegen ich für diese lichtervolle Erde und sie für mich gebauet war? . . . und wenn ich mir noch dreißig Jahre weiß mache, daß ich lebe, dann legen sie mich doch wieder hierher – die heutige Nacht kommt wieder – ich bleibe aber in meinem Sarg: und dann?« Eine düstere Totenstimmung hat ihn befallen. Wir sind ihr schon einmal bei Jean Paul begegnet, in jenem kleinen Aufsatz »Meine lebendige Begrabung« aus der »Bairischen Kreuzerkomödie«, in dem er zum erstenmal mit dem Gedanken der Todesspielerei sich beschäftigt. Im »Siebenkäs« sollte dieses Motiv im großen Maßstab dann durchgeführt werden, aber überhaupt stehen Jean Pauls Dichtungen immer irgendwie unter dem Eindruck einer Todesberührung, und ihre gewaltige Kraft steht mit einer inneren Überwindung des Todesschreckens im Zusammenhang.

Gustav, der auf seinen fünftägigen, periodisch wiederkehrenden Reisen offenbar mit Ottomar bekannt geworden ist, 241 sucht den Auferstandenen in seinem Schloß Ruhestatt auf. Mit Symbolen der Vergänglichkeit hat sich der Rastlose umgeben. Darunter gehört, daß er sich nur von Kindern, diesen Verkörperungen einer vorüberfliegenden Jugend, bedienen läßt. In einem Saal stehen aus Wachs nachgebildet die Gestalten seiner Lieben. Wer gestorben ist, bekommt einen schwarzen Strauß in die Hand. »Auch die Wachsfiguren reden ewig nimmer«, sagt Ottomar. »Sie sind nicht einmal bei uns – wir selber sind nicht beisammen – Fleisch- und Bein-Gitter stehen zwischen den Menschenseelen, und doch kann der Mensch wähnen, es gäbe auf der Erde eine Umarmung, da nur Gitter zusammenstoßen und hinter ihnen die eine Seele die andere nur denkt?« Diese verzweifelnde trostlose Stimmung liegt über dem Schloß. Auch Fenks Anwesenheit, des immer lustigen, kann den traurigen Geist des Ortes nicht verscheuchen.

Gustavs Fall, den Gustav selbst dem »Einbein« mitteilt, hat alle Verbindungen zwischen den Liebenden zerrissen. Ein trostloser Winter liegt über der Stadt. Gustav verbrachte ihn in Hoppedizels Haus mit seinen Eltern. »Er mattete seinen Kopf ab, um sein Herz abzumatten und ein anderes zu vergessen . . . . und zehrte durch Einsperren, Denken, Sehnen seine Lebensblüten ab, die kaum der Frühling wieder nachtreiben oder übermalen kann.« Auch Beate hat bei ihren Eltern in Maußenbach einen Winter voller Trostlosigkeit und Traurigkeit hinter sich. Im Frühling geht sie auf Betreiben Dr. Fenks nach Lilienbad, um dort zu baden. Dort lebt sie allein mit einem Kammermädchen, und sucht die Rosen auf ihren hingemordeten Wangen vergeblich wieder zum Blühen zu bringen.

Es ist der Dr. Fenk, der die ganze Gesellschaft in Lilienbad zusammenbringt. Er selbst mit dem »Einbein« 242 will dorthin gehen, und ihnen soll Gustav sich anschließen. In kaum eingestandener Hoffnung, Beate dort wiederzusehen, willigt Gustav ein. Nach der verzweifelten Stimmung des Winters blüht ein unsagbar herrlicher Frühling auf, als die drei Freunde in Lilienbad einrücken. Wir ahnen voraus: dort werden die Liebenden sich wiederfinden, und alles wird in ein Meer der Wonne münden. An der Schilderung dieses Frühlings in Lilienbad und dieses Wiedersehens zwischen Gustav und Beate erweist sich die ganze hohe Kunst Jean Pauls. Kein geschickt geschürzter »Knoten« ist aufzulösen. Beate wird ihm, der sie aufs Herzblut verwundet hat, verzeihen. Wie könnte sie anders! Wiedersehen und Versöhnung werden zusammenfallen. Aber wie wird dieses Wiedersehen vorgetragen! Durch welche Himmel wird das Motiv sich verzehrender und verzeihender Liebe getrieben! »Der heutige Morgen hatte die ganze Auenthaler Gegend unter ein Nebelmeer gesetzt. Der Wolkenhimmel ruhte auf unsern tiefen Blumen aus. Wir brachen auf und gingen in diesen fließenden Himmel hinein, in welchen uns sonst nur die Alpen heben. An dieser Dunstkugel oben zeichnete sich die Sonne wie eine erblassende Nebensonne hinein; endlich verlief sich der weiße Ozean in lange Ströme – auf den Wäldern lagen hangende Berge, jede Tiefe deckten glimmende Wolken zu, über uns lief der blaue Himmelzirkel immer weiter auseinander, bis endlich die Erde dem Himmel seinen zitternden Schleier abnahm und ihm frei ins große ewige Angesicht schaute.« Ohne jedes handwerkliche Spannungsmotiv geht die Schilderung weiter. Die Sonne war hinabgerückt, als die Freunde in Lilienbad ankommen. Still liegen die kleinen Hütten nebeneinander. Auch an Beatens Hütte gehen sie vorüber, »an deren Fenster ein Blumentopf mit einem einzigen Vergißmeinnicht noch vom 243 Begießen tröpfelte.« Wir spüren die Nähe des geliebten Wesens und daß jetzt alles sich zum besten wenden muß. Beate und Gustav begegnen sich am Brunnen, vermeiden aber alles, was über höfliche Anrede hinausgeht. Am nächsten Sonntag wird ein gemeinsamer Spaziergang nach Ruhestatt beschlossen, weil dort in der Gutskirche, in der vor kurzem Ottomar aufgebahrt lag, ein berühmter Kanzelredner predigen soll. Fenk, das »Einbein«, Philippine und Beate und Gustav machen sich auf den Weg. »Als jetzt die Mühle der Schöpfung mit allen Rädern und Strömen rauschte und stürmte, wollten wir in süßer Betäubung kaum gehen, es war uns überall wohl.« Die schattige Kirche nimmt die Wanderer auf. Der Prediger »trug die Vergebung der menschlichen Fehler vor – wie hart die Menschen auf der einen Seite, und wie zerbrechlich sie auf der andern wären: wie sehr jeder Fehler sich ohnehin am Menschen blutig räche und gleich einem Nervenwurme den durchfresse, den er bewohne, und wie wenig also ein anderer das Richteramt der Unversöhnlichkeit zu verwalten habe«. Hier schlägt das Thema der Jean Paulschen Ethik wiederum durch: beim Anblick von Leiden nichts zu tun als zu vermeiden »jede Immoralität in mir«. Ein freundlicher Wirtsgarten, in dem Fenk bereits ein Mittagessen bereitgestellt hat, beherbergt die Freunde. Ein Nachmittagsspaziergang wird durch ein Gewitter unterbrochen. Ein Zufall, oder kein Zufall, treibt Beate und Gustav unter dem gleichen Baum zusammen, der Schutz gegen den Regen bieten soll. Blick und Träne zeigt seinem wortlosen Flehen, daß sie ihm vergeben hat. »Sie standen und schwiegen in unendliche Dankbarkeit und Entzückung verloren – er nahm endlich, zitternd vor hochachtender Freude, ihren Arm und erreichte uns.«

Die unendliche Seligkeit des nächsten Tages breitet sich 244 vor uns aus. Doktor Fenk hat die Freunde in sein Landhaus auf der »Insel Teidor« in jener künstlichen Südsee eingeladen. Niemals wieder wurde nach Jean Paul ein solcher Tag beschrieben. »Die Erdkugel schien eine helle aus Dünsten und Lüften herausgehobene Mondkugel zu sein – die Berg- und Waldspitzen standen nackt im tiefsten Blau, sozusagen ungepudert von Nebeln – alle Aussichten waren uns nähergerückt und der Dunst war vom Glase, wodurch wir sahen, abgewischt.« Ein wolkenloser Tag, einer wie er nur über der Erde scheint, bevor das Wetter umschlägt. Jean Paul fingiert zu schreiben, während sich die Ereignisse dieses Tages, die eigentlich keine sind, vor ihm abspielen, und den Rest in später Nacht, noch umfangen von dem Traum dieses Tages, nachzutragen. Gegen Abend kommt auch Ottomar. »Er sieht immer aus wie ein Mann, der an etwas weites denkt, der jetzt nur ausruhet, der die hereinhängende Blume der Freude abbricht, weil ihn seine fliehende Gondel vor ihr vorüberreißet, nicht weil er daran denkt. Er hat noch seine erhaben leise Sprache und sein Auge, das den Tod gesehen. Immer noch ist er ein Zahuri, der durch alles Blumengeniste und alle Graspartien der Erde durchschauet und zu den unbeweglichen Toten hinabsieht, die unter ihr liegen.« Aber heute geht auch er, wenn auch nur stumm, in die Seligkeit des Tages ein. Wie im Traum läßt Jean Paul die Erinnerungen und Gestalten des Abends und der Nacht in uns aufsteigen und dahingleiten. Nichts geschieht, und doch trägt es uns wie auf Seraphsschwingen fort. Leben ist aufgelöst in Ewigkeit, und unter der Freude schwinden alle Umrisse der Dinge dahin. Alpenechos und Waldhörner rufen von fern. »Im Osten stiegen Sterne, im Westen sanken Sterne, mitten im Himmel zersprangen kleine von der Erde abgesandte Sternchen – aber die Ewigkeit stand stumm und groß 245 neben Gott und alles verging vor ihr und alles entstand vor ihm. Das Feld des Lebens und der Vergänglichkeit hing nahe und tief über uns wie Ein Blitz herein, und alles Große, alles Überirdische, alle Verstorbene und alle Engel hoben unsern Geist in ihren blauen Kreis und sanken ihm entgegen.«

In dieser Nacht schwebte ein singendes Wesen durch das Tal von Lilienbad. Abgerissene unverständliche Laute strömten von seinen Lippen. Es war der »Genius«, der einst wiederzukehren versprochen hatte und der jetzt Gustav suchte, um ihn zu mahnen. »O Lilienbad, du bist nur einmal auf der Welt; und wenn du noch einmal vorhanden bist, so heißest du V–zka«, schließt Jean Paul diesen »Sektor«.

Ein Brief von Fenk unterbricht die Seligkeit dieser Tage. Wieder hat Gustav seine fünftägige Reise antreten müssen. Ein Streich von Hoppedizel ist zum Unglück ausgeschlagen. Der Professor wollte Auenthal als Räuber überfallen und mit einer Leiter in das Haus eindringen. Zufällig fällt dieser fingierte und scherzhafte Einbruch mit einem richtigen zusammen. Die Räuber werden entdeckt und verfolgt, und bei dieser Verfolgung stößt man auf eine unterirdische Höhle, in der sich vermummte Gestalten, unter ihnen Gustav, befinden. Die Gesellschaft, offenbar ist es die »Unsichtbare Loge«, wird gefangengenommen. Fenk ist zu Ottomar geeilt. Dieser will das Geheimnis der ausgehobenen Gesellschaft dem Freund verraten und dann sterben. Er erzählt Fenk alles. Der fängt den Rasenden in den Armen auf. »Ein Aufsprung,« schreibt Fenk an Jean Paul, »ein Flug an mich – eine umarmende Zerdrückung – ein Schlag an die Wand – ein Schuß aus ihr. – Er lebt aber noch.«

Dies ist der Schluß der »Unsichtbaren Loge«.

246 Oft, noch kurz vor seinem Tode sogar, versprach Jean Paul, das Werk zu beenden, aber im Ernst hat er wohl nie daran gedacht. Zu viele Motive hatten die drei ersten Bändchen seines ersten Romans aufgerührt, als daß er hoffen konnte, sie sämtlich zu einem befriedigenden Abschluß zu führen. Wahrscheinlich hatte er vor, Ottomar im Kampf um den Thron des Landes, der ihm vielleicht doch irgendwie zustand, untergehen zu lassen. Vielleicht sollte sogar Gustav, der in diesem Fall vielleicht gar nicht der Sohn des Rittmeisters von Falkenberg war, vielleicht vom Genius vertauscht war, den umkämpften Thron besteigen. Dann hätte Gustav noch eine lange innere Entwickelung vor sich gehabt. In diesem Fall konnte auch die zarte Beate nur ein Vorspiel für die eigentliche Erfüllung seines Lebens sein. Offenbar ist Beate dem Tode geweiht, wie später ihr Ebenbild Liane im »Titan«. Dann mußte Gustav noch seiner »Linda« und seiner »Idoine« begegnen. Welche Rolle die »Unsichtbare Loge«, die er ähnlich wie etwa die geheimnisvolle Turmgesellschaft im »Wilhelm Meister« sich dachte, bei diesen Verwickelungen und Auflösungen spielen sollte, darüber war sich vielleicht Jean Paul selbst noch nicht im klaren. In einem Brief an Christian Otto behauptete er, als er mehrere Titel für den Roman zur Wahl stellte, nicht zu wissen, was der dann endgültig gewählte Titel eigentlich solle. Das ist wohl nur eine kleine Schriftstellerkoketterie gewesen, denn eine geheimnisvolle Gesellschaft treibt von Beginn an in dem Roman ihr Wesen. Mehrere Male ist von einer Person mit sechs Fingern an der Hand die Rede. Falkenbergs Diener Robisch, ein verdächtiger Geselle, scheint schon früh der geheimen Gesellschaft auf die Spur gekommen zu sein. Er tritt in den Dienst Röpers und hat bei der Aufdeckung des geheimen Schlupfwinkels seine Hand im Spiele. Auch der 247 verschollene Sohn Falkenbergs und der Frau von Röper bedarf noch der Aufklärung. Es wäre nicht einmal unmöglich, daß es sich bei ihm wie bei Gustav um Söhne des Fürsten handelt. Der Schluß des »Hesperus« zeigt, wie kompliziert Jean Paul einen Roman anlegen konnte und mit welch geringem Grad von Wahrscheinlichkeit hier nur herumgetastet werden kann.

Mit dem Untertitel benannte Jean Paul sein Werk »Mumien«, und diesen Titel gebraucht er selbst vorzugsweise, wenn er von seinem romantischen Erstling spricht. An die Vergänglichkeit des Daseins sollte erinnert werden. Alle Gestalten stehen hier als Sinnbilder des Todes, und das Schloß Ottomars spiegelt diesen Gedanken am deutlichsten wieder. Aber viele andere Figuren, Beate, Amandus und wer weiß noch wer alles, sind vom Tode gezeichnet. Von dieser Ottomarschen Perspektive aus konnte Jean Paul das ganze Leben in diesem Buch, und vielleicht unter dem Eindruck Hermanns überhaupt, nur als das Durcheinanderspielen künstlich belebter Mumien erscheinen. Der Gedanke der eigenen Vergänglichkeit und Hinfälligkeit spielt mehrfach deutlich hinein.

Ohne Vorbild, ohne Vergleich trat die »Unsichtbare Loge« in ihre Zeit. Noch nie waren Töne von derartiger Zartheit aus der Harfe eines Lyrikers geströmt, nie wieder seit Klopstocks reifen Oden war eine derartige Gewalt der Sprache erreicht worden. Hier schien aber auch zum erstenmal jene Forderung erfüllt, die einst Jean Paul als junger Student an den großen Führer der Zeit legte: daß nicht Verstand und Einbildungskraft, daß nur das große Herz den großen Mann mache. Hinter dieser unerhörten Prosa stand ein unerhört reiner Mensch. Ein ungeheures Ethos durchpulst den Roman. Diese Fülle der Bilder, diese Tiefblicke in das 248 menschliche Herz, sie waren nicht allein durch sprachliche Kultur und Zucht, sie waren allein dem Herzen erreichbar, das sich liebend alles Lebendigen annahm. Jene seinen Bemerkungen, in denen Goethe einen ganzen Menschen einzufangen vermag, hier kamen sie nicht vereinzelt, hier rauschten sie wie ein Strom dahin und spülten das Verborgenste und Niegesehene an die Oberfläche. Kein Ton ist in der deutschen Dichtung seit Jean Paul erklungen, der sich nicht schon in diesem Roman fände, neben dessen Reichtum sich fast die ganze Literatur des 19. Jahrhunderts wie eine Epigonenangelegenheit ausnimmt. Das erhabene Pathos eines Stefan George, die Zartheit eines Rilke, die Weltweite eines Dostojewski, die Empörung eines Zola, die Eindringlichkeit eines Ibsen und was alles man anführen wollte, alles ist in Jean Paul bereits vorhanden. Sein Werk ist nicht, auch sein erster Roman nicht, nur das Werk eines beliebig begabten Dichters. In ihm rang eine Welt, eine Menschheit, ein aus der Tiefe steigendes Volk sich zum Ausdruck durch. Die Welle der Aufklärung hatte bisher unberührtes Neuland berührt und aus dem Schlummer gerissen. Jetzt stieg es wie eine neue Rasse fast aus dem Boden, stellte selbst unüberschaubare Welt aus sich heraus mit allen Gründen und Sonnen einer Welt. Neue und unerhörte Kontingente tauchten in das Licht der Dichtung. Mühelos wurde die Erde in ihrer Achse bewegt. Wenn Gustav aus seiner achtjährigen Finsternis heraustritt und die Erde für den Himmel ansieht, so wurde hier in der Tat durch einen Dichter die Erde unter neue Perspektiven gestellt. Wenn Kopernikus der Erde ihre Stellung im unendlichen Raum angewiesen hatte, hier wurde diese Stellung inmitten des grenzenlosen Luftozeans aus Finsternis zum erstenmal mit dem Gefühl ergriffen, alles Irdische ins Kosmische gewandt. Und wie ist diese Weltschau, die 249 eigentlich erst in Jean Paul seelischer Allgemeinbesitz wurde, ins menschliche Dasein projiziert! »Sie standen auf zwei entfernten Himmeln, zu einander über den Abgrund herüber gelehnt und einander auf dem zitternden Boden umklammernd, um nicht loslassend zwischen die Himmel hinunter zu stürzen«, schreibt er von den Liebenden des ersten Kusses. Genau so küssen sich Liebende zum erstenmal. Sie stehen wirklich in Einsamkeit auf zwei entfernten Himmeln, jeder für sich mit der ungeheuren Einmaligkeit seines Erlebens, und sie halten sich, um nicht hinunterzustürzen von ihren gleitenden Sternen. Auf jeder Seite fast überrascht uns ein solches Bild von nie dagewesener Sichtbarkeit. Hier erst begreift man den Sinn jenes jahrelangen Ringens mit der Sprache, jener »Kettengebirge der Arbeit«, die das »Mitwörterbuch« aufwarf.

Und dann die unerhörte Ehrlichkeit der Darstellung! Hier war epischer Fluß in stetem Dahinströmen, losgelöst von den Hemmungen des Innern. Aber immer »erzählt«, vorgetragen von einem, der ständig Rechenschaft davon gibt, wie sich die Bilder und Gestalten vor seinem Auge entwickeln. Keine verlogene Unterstellung, aber auch keine vorgetäuschte Objektivität. Ein fortwährendes Leben mit den Gestalten des Romans, ein ewiges Sichauseinandersetzen mit ihnen, ein fast schamloses Herausstellen der eigenen Person, um das ganze Herz ausgießen zu dürfen.

Die Welt, die vor uns ausgebreitet wird, ist im tiefsten Sinne Heimat. Jean Paul wußte genau, weshalb er den heimatlichen Boden nie auf längere Zeit verließ. Keine Gegend der Erde kann derart in ihrer Totalität ergriffen werden wie das Land der eigenen Kindheit. Hier konnte er Stände und Menschen durcheinandermischen und alle an sicherem Bande führen, von dem Fürsten bis zum 250 Schulmeisterlein Wuz, von dem trefflichen Rittmeister von Falkenberg (»Behalte deinen gesunden Nord-Ost-Atem!« schreibt er von ihm) bis zu dem phantastischen »Einbein«. Stadt und Land, Schloß und Hütte erschließen ihre Geheimnisse und liegen alle mit ihren Bergen und Tälern auf der einen Ebene der Dichtung.

Aus welchen Elementen der Roman sich kristallisierte, sahen wir bereits. Hervorzuheben ist noch die doppelt gebrochene Gestalt Hermanns. Sein durch Armut und Krankheit verhindertes Wirken haben wir in Ottomar wiedererkannt. Aber auch an den Dr. Fenk gab er Wichtigstes ab. Dieser Mann des leichtbeschwingten Humors, den das Leid nicht bändigt, der aus Zartheit immer zum drastischen Zynismus neigt, der edelste Freund und immer Retter in der Not, – er sollte sich bald zu einer noch größeren Gestalt auswachsen: zu Leibgeber im »Siebenkäs« und Schoppe im »Titan«. Auch die Örtlichkeiten der Dichtung haben wir bereits im allgemeinen identifiziert. Maußenbach, das Gut des Kommerzienagenten, ist Töpen. Auenthal halb Joditz, halb Venzka. Lilienbad, in dem die Seligkeit der Liebenden sich anhebt, ist halb Venzka, halb das bei Venzka gelegene Bad Steben, das Jean Paul öfters mit Spangenbergs besucht hat. In Scheerau erkennen wir Hof wieder. Wenn es von den Scheerauern heißt: »Sie hassen schöne Wissenschaften so sehr wie sich untereinander – unfähig gesellschaftliches Vergnügen zu entbehren, zu veranstalten, zu genießen, unfähig zu wagen, einander offen zu hassen und zu lieben und zu ertragen, bohren sie sich in ihre Geldhügel und achten öffentlich den Reichsten und geheim den Verwandten oder gar niemand – ohne Geschmack und ohne Patriotismus und ohne Lektüre«, – so sind damit die Hofer gemeint, wie sie Jean Paul und Hermann mit ihrer Mißachtung und ihrem 251 kleinen Haß das Leben sauer machten. Da Scheerau auch Residenz ist, so sind auch Züge von Baireuth hineingeflossen. Das »Stille Land« hat offenbar Züge der Baireuther Eremitage oder Fantaisie, die beide von Jean Paul damals noch nicht gekannt waren, von denen er nur aus Beschreibungen etwas wußte. Diese Orte enthüllen sich erst genauer im »Siebenkäs«.

Am 29. Februar 1792 war die »Unsichtbare Loge« beendet. In einem Gefühl von instinktartiger Gewißheit sandte er das Manuskript an Karl Philipp Moritz, den Verfasser des »Anton Reiser«, nach Berlin. Einer jener Briefe, wie deren Jean Paul einige zwanzig bereits geschrieben hatte, begleitete die Sendung. Nach Absendung verreiste er für einige Zeit nach Steben und Venzka. Als er nach Schwarzenbach zurückkehrte, fand er zwei Briefe von Moritz vor. Im zweiten stand: »Und wenn Sie am Ende der Erde wären, und müßt' ich hundert Stürme aushalten, um zu Ihnen zu kommen: so fliege ich in Ihre Arme! Wo wohnen Sie? Wie heißen Sie? Wer sind Sie? Ihr Werk ist ein Juwel; es haftet mir, bis sein Urheber sich mir näher offenbart!« Erst später erfuhr Jean Paul, daß Moritz bei der ersten Lektüre ausgerufen hatte: »Das begreife ich nicht. Das ist ganz etwas Neues. Das ist noch über Goethe!« 252

 


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