Walther Harich
Jean Paul
Walther Harich

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Titan

Seit seinem ersten Aufenthalt in Weimar war Jean Pauls Produktion unaufhörlich bergab gegangen. Aber wie hätte es auch anders sein können! Was er auch immer an der Oberfläche agieren mochte, in der Tiefe gerann die großartigste dichterische Konzeption jener Zeit zu festen Formen. Er hatte sich mit den Großen dieser Erde eingelassen und hatte ihnen seinen Tribut gezollt. Aber im Grunde war er als ein Verräter in eine ihm fremde Welt eingedrungen. Er hatte mit den Titanen und Titaniden am Tisch gesessen, aber nur, um dann endlich seinen »Anti-Titan« schreiben zu können. Er hatte seine Zeit durchmessen in allen Höhen und Tiefen, nun forderte er sie in die Schranken.

Seit dem Jahre 1792 hatte er unaufhörlich den Plan mit sich umhergetragen. Schon die »Unsichtbare Loge« hatte er mehr und mehr als eine Vorarbeit für den »Kardinalroman« aufgefaßt. Als er den »Hesperus« schrieb, schied er sorgsam aus dieser rein romantisch zu haltenden Arbeit alles aus, was nur in den umfassenden Plan seines größten Werkes hineingehörte, und sammelte es in Studienbüchern, denen er die Überschrift »Das Genie« gab. Von Ottomar, der titanenhaft gegen das Mißverhältnis zwischen Außenwelt und innerer Berufung angeht, spannte sich hier der Bogen zum »Titan«. Die lebenskräftigste und entscheidende Gestalt des Werkes, Roquairol, war hier schon konzipiert, in den Studienbüchern der folgenden Jahre 1793 bis 1795 der ganze Plan in seinen 560 Grundzügen durchmessen. Und doch konnte Jean Paul sich immer noch nicht entschließen, an die endgültige Niederschrift zu gehen. Noch immer hatte er das Gefühl, nicht reif genug zu sein, in seinem eigenen Leben noch nicht alle die Stufen durchgangen zu haben, die er seinen Helden hinanführen wollte. Im Juli 1797 las er Emilie von Berlepsch die erste Jobelperiode in Bad Eger vor, als seine Mutter in Hof den Todeskampf kämpfte. Aber auch jetzt wieder legte er das begonnene Werk zurück. Noch ganz andere Gewalten mußten auf ihn einstürmen, noch ganz andere Erlebnisse mußten ihm Situationen und Charaktere an die Hand geben, ehe der Plan in voller Klarheit vor ihm lag. Mit der ganzen Zeit wollte er abrechnen, mit Goethe und Schiller wie mit der Romantik. Er fühlte, wie Goethe in seinem »Wilhelm Meister« gewissermaßen seine Gesamtschau der Zeit gegeben hatte. Keinem geringeren Werke als den »Lehrjahren« wollte er den »Titan« entgegensetzen. Das Ungeheure des Planes lähmte immer wieder seine Hand.

Und als er sich endlich an die Niederschrift gemacht, brach – genau wie beim »Hesperus« – noch von allen Seiten Stoff ein. Es ließe sich im einzelnen verfolgen, wie seine Verlobung mit Caroline von Feuchtersleben und ihr Kampf mit ihrer Familie für ihre Liebe die Gestalt der Liane und ihr Schicksal bestimmte. Wie die Titaniden, mit denen er rang, ihm Einzelzüge zutrugen. Zum Beispiel finden wir bei Linda, der eigentlichen Titanide des Romans, Charlotte von Kalbs seltsame Nachtblindheit wieder, wie die nervöse Erblindung Charlottens zur Zeit seines zweiten Aufenthalts in Weimar bereits Lianens Erblindung beeinflußt hat. Novalis und Friedrich Schlegel haben durch ihre Gestalten auf das Werk eingewirkt, und nicht zum wenigsten Fichte, und gerade der Fichte des Atheismusstreites. Und er, Jean Paul selbst, 561 hat sich in dem Werk manifestiert. Wie sein Held Albano ging er zur Zeit des ersten Entwurfs die Welt an. Ganz der kühne Jüngling, der mit einer großen Tat die Sterne vom Himmel herunterholen will. Und als er das Werk endlich beendete, war er schon fast wie sein Bibliothekar Schoppe alias Leibgeber geworden, fest und unerbittlich in seiner Welt wurzelnd. Über zehn Jahre hatte er dem Kardinalwerk, wie er den Titan von Beginn an nannte, gewidmet. Die Zwischenwerke hatten nur den einen Zweck, das Publikum auf dieses Werk in Spannung zu halten und seinem Schöpfer den materiellen Unterhalt zu sichern. Die Hofer Jugendfreundinnen hatten am Beginn des Werks gestanden. Deutlich sind die mit Renate Wirth und Amöne und Karoline Herold verbrachten Jahre herauszukennen. Ja, in Froulay, dem Vater Lianens, wird man sogar noch den Kaufmann Herold, Amönens und Karolinens strengen und ein wenig boshaften Vater herausfinden können. Idoine, bei der der Roman endet, trägt bereits die Züge von Karoline Mayer. Die Entwickelung von zehn und mehr Jahren ist in dieser großartigen Konzeption eingefangen, und eine Entwickelung, die wirklich noch im Fließen ist. Der »Titan« umschließt noch die ganze Entwickelung Jean Pauls von den ersten Satiren über die Idyllen bis zu der italienisch-heroischen Haltung der Hauptgeschichte.

Der »Titan« ist im Grunde der Roman, der Jean Paul bereits bei der »Unsichtbaren Loge« vorschwebte. Es besteht deshalb eine Ähnlichkeit des Stoffes, auch mit dem »Hesperus«, die in die Augen springt. In allen drei Romanen handelt es sich um den Entwickelungsgang eines Helden von der ersten Kindheit bis zur Reife des Mannes. In allen drei Romanen ist der Held in wunderbare Verhältnisse eingesponnen, von tausend Rätseln umgeben, die sich erst 562 im Laufe der Geschichte klären. Immer ist eine politische Verwickelung zugrunde gelegt. Wenn in der »Unsichtbaren Loge« und im »Hesperus« das eigentümliche Erbverhältnis zwischen den preußischen und den fränkischen Hohenzollern eine Rolle spielte, so ist diesmal offenbar die alte Rivalität zwischen den Fürsten von Baireuth und denen von Ansbach zugrunde gelegt. Im »Titan« werden die Fürstentümer Hohenfließ, mit der Residenz Pestiz, und Haarhaar genannt. Der Hof von Haarhaar wartet auf das Aussterben der Hohenfließer Linie. Um dieses Aussterben zu beschleunigen hat man sogar den Erbprinzen von Hohenfließ in frühem Alter, indem man seinen vorzeitigen Hang zu geschlechtlichen Ausschweifungen unterstützte, um seine Manneskraft gebracht. Und zwar war es der Deutsche Herr von Bouverot, der dieses teuflische Unternehmen in Italien leitete. Zeuge dieser Freveltat wurde der Ritter Gaspard de Cesara. Cesara befreundete sich indessen bald darauf mit dem Hohenfließer Fürstenpaar, das ihn bei seiner Bewerbung um die Tochter des römischen Fürsten di Lauria unterstützte.

Cesara trat um so eifriger auf die Hohenfließer Seite über, als der Hof von Haarhaar ihm kurz vorher einen Korb gegeben hatte, als er sich dort um die Hand einer Prinzessin bewarb. Der Zufall wollte, daß beide Frauen in Italien ungefähr zu gleicher Zeit niederkamen. Die Fürstin von Hohenfließ gebar ein Zwillingspaar: Albano, den Helden des Romans, und die Prinzessin Julienne. Die Gräfin Cesara wurde von einer Tochter, Linda oder Severina genannt, entbunden. Um Albano den Nachstellungen des Haarhaarer Hofes zu entziehen, wurde er als Sohn des Grafen de Cesara ausgegeben und in seinen ersten Jahren mit Linda zusammen auf der Isola bella im Lago maggiore erzogen. Später in die Nähe der Residenz Pestiz nach 563 Blumenbühl in das Haus des Landschaftsdirektors von Wehrfritz gebracht. Weil er aber bald seinem Vater, dem Fürsten, allzu ähnlich wurde, durfte er nie nach der Residenz Pestiz selbst hinein, bis das hohe Alter das Aussehen des Fürsten genügend verändert habe.

Bei diesem Austausch der Kinder hatte Cesara die Bedingung gestellt, daß seine Tochter Linda einst mit Albano verbunden würde. Damit sie nicht als Albanos Schwester gelte, wurde sie mit der Mutter nach Spanien geschickt, wo sie den Namen de Romeiro annahm und als Nichte und Mündel des Grafen galt. Kein trautes geschwisterliches Verhältnis sollte sich zwischen den beiden füreinander bestimmten Menschen bilden, vielmehr wurden sie gegenseitig von vornherein mit einer romantischen Gloriole füreinander umgeben, damit sie später, wenn sie sich sähen, mit Leidenschaft einander zustrebten. Damit dieses desto gewisser einträte, setzte Cesara einen großen geheimnisvollen Apparat in Bewegung. Durch magische Weissagungen und zauberische Erscheinungen wurde Albanos Interesse früh für die ihm verheißene Linda wachgerufen. Der Graf bediente sich hierbei seines Bruders, eines lügenhaften Charlatans, der bauchreden konnte und unter der Maske eines »sterbenden Vaters«, d. h. eines einer besonderen Sekte angehörenden Mönches, dem Helden erschien und immer von neuem seinen Sinn auf Linda di Romeiro lenkte. Weil Albano aber wußte, daß er eine Schwester hatte – es war die Prinzessin Julienne, aber er mußte eigentlich Linda dafür halten –, wurde ihm auf magische Weise durch den »sterbenden Vater« der Tod seiner Schwester Severina de Cesara geweissagt und durch den Vater bestätigt. Bei dem schlechten Gesundheitszustand des Erbprinzen Luigi war anzunehmen, daß Albano der Erbe des Thrones sein würde. Cesara hatte also nichts Geringeres 564 im Sinne, als durch seine Tochter Linda seine Nachkommen auf einen deutschen Fürstenthron zu bringen.

Diese seltsamen Verhältnisse liegen dem Roman zugrunde. Albano, der Fürstensohn und Thronerbe, wächst als Graf de Cesara in dem idyllisch gelegenen Blumenbühl heran. Seine Pflegeeltern, der wackere Landschaftsdirektor von Wehrfritz und dessen Frau Albine – dem Rittmeister von Falkenberg und dessen Frau aus der »Unsichtbaren Loge« und dem Pfarrer Eymann und seiner Frau aus dem »Hesperus« entsprechend – ahnen selbst nicht, daß der mutmaßliche Thronerbe sich in ihrem Hause befindet. Auf den Wunsch von Albanos vorgetäuschtem Vater, dem Grafen Cesara, geben sie ihm eine strenge Erziehung, die durch den schwerfälligen Schulmeister Wehmeier und den eleganten Tanzmeister Falterle unterstützt wird. Sehnsuchtsvoll wenden sich Albanos Gedanken nach der nahen Lindenstadt Pestiz, deren Betreten ihm verboten ist und die dadurch eine besondere Anziehungskraft für den Knaben bekommt. Ein inniges geschwisterliches Verhältnis verbindet ihn mit der ländlichen und treuherzigen Pflegeschwester Rabette von Wehrfritz, die an dem älteren und schöneren Bruder mit herzlicher Liebe hängt.

Zwei Kinder aus der verhangenen Stadt sind es, um die Albanos Gedanken frühzeitig kreisen: die Kinder des Ministers von Froulay, Roquairol und Liane. Auch ihr Lehrer ist der elegante Tanzmeister Falterle, und der Wichtigtuer verfehlt nicht, mit den Fortschritten der Ministerkinder zu prahlen. Insbesondere weiß er von den literarischen Großtaten Roquairols zu berichten, der schon als Knabe alle Rollen der zeitgenössischen Dramen und der Tragödien Shakespeares zu agieren versteht und selbst bereits Theaterstücke verfertigt. In Roquairol sieht Albano seinen 565 vorbestimmten Freund, in dessen Arme er einmal fliegen wird, sobald er nach Pestiz darf. Ebenso heiß aber greift seine Sehnsucht nach Liane von Froulay. Er liebt sie schon, da er sie noch nie gesehen, aus den Schilderungen des Tanzmeisters. Er erfährt, daß Froulay, der Minister, mit allen Mitteln strenger Erziehung darauf bedacht ist, sie zu einem überirdisch schönen Geschöpf zu entwickeln. Ihre Gesundheit ist zart, ihr Gemüt von anschmiegender Weichheit. Niemand ahnt die Gedanken des Knaben, niemand vermag vorauszuschauen, daß sich schon hier bei den seltsamen Verwickelungen eine Tragödie anspinnt. Denn wenn eines Tages Albano Liane wirklich lieben sollte, wird das Schicksal die beiden auseinanderreißen, weil der Jüngling für den Thron und für Linda bestimmt ist. Ihren Gipfelpunkt erreicht die Schwärmerei des Knaben für den ersehnten Freund Roquairol, als dieser auf einer Redoute sich aus rasender Liebe zu Linda von Romeiro, die vorübergehend in Pestiz weilt, vor ihren Augen erschießen will. Er verwundet sich zwar nur und wird gerettet, aber auf Albano macht diese Tat einen überwältigenden Eindruck. Vielleicht hofft man, daß durch diesen Vorfall seine Aufmerksamkeit gerade auf Linda gerichtet werden würde. Er aber klagt um den heroischen Bruder, der für eine Leidenschaft sein Leben hinzuwerfen vermag, und weint um die zarte Schwester, der der Bruder fast das Herz zerbrochen hat.

Endlich ist diese durchsehnte Kindheit vorüber. Auf Wehrfritzens Gut erscheint Schoppe, der von jetzt ab die Erziehung des Knaben leiten soll. Schoppe und der Landbaumeister Dian, ein Grieche von Geburt, begleiten den Jüngling nach Oberitalien. Dort, auf der Isola bella, wo er die ersten Kinderjahre verlebte, soll er dem Vater begegnen. Mit der Blütenpracht des Lago maggiore setzt die Handlung ein – die Kindheitsgeschichte ist hinter diesen überschwenglichen Tagen, 566 mit denen die eigentliche Geschichte beginnt, eingeschoben. – Albano begegnet hier seinem Vater, dem Ritter von Cesara, der ihm das romantische Testament seiner verstorbenen Mutter bekanntmacht. Unter dieser Mutter versteht Albano natürlich die verstorbene Gräfin Cesara, während es sich in Wirklichkeit um die verstorbene Fürstin von Hohenfließ handelt. Hier ist es auch, wo der »sterbende Vater« ihm den Tod der Schwester Severina verkündet und ihm Linda di Romeiro verheißt. Auf der Isola bella stößt auch der zweite Erzieher zu ihm, der korrekte aber vornehme und sympathische Lektor Augusti, der gewissermaßen die Rolle des Tanzmeisters Falterle fortsetzt, während der bizarre und eigenwillige Schoppe mehr an die Stelle Wehmeiers tritt. Übrigens ist Augusti in der Residenz Pestiz bereits bekannt und ein besonderer Freund des Froulayschen Hauses, insbesondere der Ministerin und ihrer Tochter Liane.

Bald nach der Rückkehr aus Italien darf Albano nach Pestiz übersiedeln. Zur selben Zeit stirbt der alte Fürst und Luigi besteigt den Thron. Der erste Besuch, den Albano mit dem Lektor Augusti in der Residenz macht, ist zu Luigi, dessen kalter Kunstsinn – der Prinz ist von italienischen Bildern umgeben, über die er mit artistischer Kälte redet – ihn anwidert, wie alles, was mit einem Hof zusammenhängt. Zu der Prinzessin Julienne hingegen, von der er nicht ahnt, daß sie seine Schwester ist, faßt er eine herzliche Zuneigung, um so mehr, da Julienne die beste Freundin der noch immer schwärmerisch geliebten Liane ist. Der nächste Besuch gilt dem Hause des Ministers. Auch Froulay widert ihn an. Die Ministerin stößt er durch die Schroffheit und Härte seiner Urteile zurück. Liane bekommt er nicht zu Gesicht, da sie infolge eines das Innerste aufwühlenden Ausspruchs Roquairols an der Leiche des toten Fürsten ihr 567 Augenlicht verloren hat. Aber von ferne sieht er sie unter den Fontänen stehen, deren Wasser ihre Gesundheit wiederherstellen sollen. Am nächsten Tag schleicht er in den Park, um das blinde Antlitz, das ihm träumend seit Jahren vor Augen stand, in der Nähe zu sehen. Er sieht ihre zarte, fast durchsichtige Gestalt, die blütenreine Stirn, das verdunkelte Auge, und die Traumliebe wird zur Wirklichkeit. Jetzt weiß er, daß er sie ewig lieben wird. Den Hauptmann Roquairol sieht er zum erstenmal beim Prunkbegräbnis des alten Fürsten, wie er vor dem Sarge her das Freudenpferd reitet, und kann diese vom Leben verzehrte Gestalt nicht aus dem Herzen bringen. Er schwört sein Freund zu werden und schreibt ihm einen Brief. Roquairol antwortet, daß er sich auf dem Maskenball ihm zu erkennen geben wird.

Zwischen Blumenbühl und Pestiz liegt das fürstliche Lustschloß Lilar in einem feenhaften Garten. Wieder haben wir uns diesen fürstlichen Garten etwa in der Art der Baireuther Fantaisie oder Eremitage vorzustellen. Mit Brücken, die hoch durch die Lüfte gehen oder zwischen den Baumwipfeln dahinführen, mit Grotten und Wasserkünsten entzückt der Teil, der Elysium genannt wird. Der andere Teil, Tartarus, beherbergt alle Schauer des Entsetzens von einem künstlichen Schlachtfeld an bis zu unheimlichen Katakomben und Totengrüften. In diesem Tartarus, dicht an dem Altar, auf dem das Herz des alten Fürsten beigesetzt ist, treffen sich Albano und Roquairol zum erstenmal und besiegeln ihre ewige Freundschaft mit Treueschwüren. Albano glaubt, daß der Freund annehmen könnte, daß Linda zwischen ihnen steht. Denn das Gerücht von den dunklen Weissagungen auf der Isola bella ist bekannt geworden. Feierlich schwört Albano dem neuen Freunde, daß er Linda nie lieben werde, und gesteht ihm seine Liebe zu dessen Schwester Liane.

568 In Lilar lebt in einem griechischen Häuschen die Familie Dians, des Griechen, der noch immer in Rom weilt, um dort im Auftrage des Fürsten und des Deutschen Herren Bouverot alte Bilder zu suchen. Albano besucht Chariton, Dians Frau, und ihre kleinen Kinder. Der Zufall will es, daß auch Liane gerade bei ihrer Freundin Chariton zu Gast ist. Zum erstenmal sieht Albano in das wiederhergestellte Auge der Geliebten. Ein heiterer Spaziergang in dem romantischen Elysium webt die ersten Fäden zwischen den Seelen. Inzwischen aber hat der Minister beschlossen, Liane an den Deutschen Herren Bouverot zu verloben, der sehr reich ist, in kurzer Zeit seinen Abschied aus dem Orden nehmen und Liane heiraten will. Die Ministerin widersetzt sich dem Plan und beschließt, Liane für einige Zeit nach Blumenbühl zu Wehrfritz zu geben. Um diesen Besuch einzuleiten, wird die ländliche Rabette von ihr eingeladen. Zwischen den Mädchen spinnt sich eine herzliche Freundschaft an, und als der Minister für einige Tage verreist ist, fährt Liane mit Rabette nach Blumenbühl. Albano hat inzwischen die Bekanntschaft des alten ehrwürdigen Hofgeistlichen Spener gemacht, der im Donnerhäuschen in Lilar wohnt. Spener ist einer der wenigen, die um Albanos hohe Abkunft wissen. Mit väterlicher Liebe nimmt er sich des glühenden Jünglings an, und dieser, müde des höfischen Lebens in der Residenz, bezieht für einige Zeit das Donnerhäuschen in Lilar, schon um der Geliebten in Blumenbühl näher zu sein. Eine elysische Zeit beginnt. In Lilars Zaubergarten finden sich die Liebenden, und neben ihnen finden sich Roquairol und Rabette. Den Hauptmann, der alle Sensationen des Lebens und der Phantasie durchkostet hat, zieht auf einmal die ländliche unbefangene Unschuld Rabettens an, und sie ergibt sich ihm willig, in scheuer Bewunderung zu ihm aufsehend. Ein Zauberland umfängt die 569 Liebenden. Zwischen Blumenbühl und dem Donnerhäuschen fliegen die zarten Briefe hin und her. Herrliche Spaziergänge mit allem Zauber einer wunderbaren Natur füllen die Tage, süße Träume gehen durch die Nächte.

Aber einmal muß aus diesem Traumleben Wirklichkeit werden. Liane und Albano kehren in die Stadt zurück. Der Einwilligung der Eltern glauben beide sicher zu sein. Der Minister und seine Frau ahnen nichts von Albanos hoher Geburt, und die Liebenden wissen nicht, welche Hindernisse ihnen entgegengetürmt sind. Froulay selbst glaubt, daß Cesara zu dieser Verbindung niemals seine Einwilligung geben wird und gibt sie infolgedessen auch nicht. Überdies steht sein bereits dem Deutschen Herren gegebenes Versprechen seiner Einwilligung im Wege. Die Ministerin, die gegen Albanos hohe und schroffe Art eine Abneigung hat, ist zum erstenmal der Ansicht ihres Gatten. Ein Brief des Grafen Cesara, der die Entscheidung bringen soll, geht über die ganze Angelegenheit wie über eine belanglose Bagatelle hinweg, obwohl Gaspard fest entschlossen ist, im Ernstfall mit fester Hand dazwischenzufahren. Die Liebenden verleben qualvolle Wochen. Mit allen Mitteln gesellschaftlicher Konvenienz wird Liane dem Grafen Albano verborgen. Dieser rast und tobt. Die Entscheidung aber kommt von einer ganz andern Seite. Der ehrwürdige Spener hat von der unglücklichen Liebe der beiden erfahren. In der Kirche von Lilar weiht er Liane in das Geheimnis von Albanos hoher Geburt ein. Nun muß sie ihm entsagen, ohne ihm den Grund nennen zu dürfen. In einer von den Eltern gestatteten Unterredung nimmt sie ihr Wort zurück. Fürchterlich braust der unglückliche Jüngling auf und verläßt sie mit schmähendem Wort. Von neuem senkt sich über Lianens Augen der dunkle Schleier. Blind wird sie nach Hause geführt.

570 Inzwischen hat sich Fürst Luigi mit einer Haarhaarer Prinzessin verheiratet. Die Einzugsfeierlichkeiten der neuen Fürstin nehmen das Interesse gefangen. Ein sonderbarer Umstand macht Liane der neuen Fürstin besonders wert: sie ähnelt täuschend ihrer Lieblingsschwester, der Prinzessin Idoine, die sich in die Einsamkeit zurückgezogen hat, eine ihr angetragene Standesheirat stolz verschmähend. Fruchtbare Beschäftigung liebend hat Idoine ein Landgut Arkadien nach ihren eigenen Idealen eingerichtet und verwaltet es mit fast männlicher Klugheit. Albano kommt einmal auf der Reise, die er in der Verzweiflung über seine zerrissene Liebe mit Schoppe unternimmt, in die Nähe dieses Gutes. Aber voller Angst, dem Ebenbilde Lianens zu begegnen, kehrt er um. Er selbst ist der Fürstin liebgeworden. Denn sie ist jene Prinzessin, die der Haarhaarer Hof seinem Vater, dem Grafen Cesara, einst verweigerte. Albano weiß um diese Vergangenheit und bemitleidet das arme Opfer höfischer Konvenienz, das nun den kranken und unmännlichen Hohenfließer Fürsten heiraten mußte. Erst später erfährt er, daß die Fürstin nicht so sehr zu bedauern ist, da sie sich hemmungslos ihren koketten Neigungen überläßt. Von dieser Fürstin erhofft Albano Hilfe für seine ermordete Liebe, und sie läßt ihn in dem Glauben, daß sie ihm helfen werde, während sie ihm schon selbst mit ihren Koketterien nachstellt. Liane aber siecht dahin. Zwar ist ihr Augenlicht wiedergekehrt, aber von ihrem Krankenlager soll sie nicht mehr erstehen. In der Sterbestunde wird Albano an ihr Lager geholt. Das Geheimnis, das sie von ihm trennte, nimmt sie in das Grab mit.

Durch den Tod der Geliebten ist Albano völlig niedergeschmettert. Er verfällt in hitziges Fieber und wird durch eine Gewaltkur gerettet, die der treue Schoppe herbeiführt. Prinzessin Idoine, Lianens täuschendes Ebenbild, tritt vor das 571 Lager des Fiebernden und gibt ihm Frieden. Er glaubt wirklich, in einer Vision die gestorbene Geliebte gesehen zu haben, und genest. Der nächste Tag schon findet ihn auf der Reise nach Italien. Roquairol hat inzwischen Rabette um ihre Unschuld gebracht und dieses in einem von dämonischer Zerstörungswut erfüllten Brief Albano selbst mitgeteilt. Ihre Freundschaft ist damit zu Ende. Voll Ekel wendet sich Albano von dem haltlosen Phantasten ab. Ein Duell vermeidet er mit Rücksicht auf Roquairols Schwester, die damals noch unter den Lebenden weilte. So läßt Albano, als er nach Italien geht, lauter ausgebrannte Krater der Liebe und Freundschaft hinter sich zurück.

Die Reisegesellschaft besteht aus dem Ritter de Cesara, der Fürstin, dem Deutschen Herren von Bouverot und dem Jüngling. In Rom stößt Dian zu ihnen. Diese italienische Reise ist der innere Drehpunkt der Handlung. Wie wird Albano auf die Berührung mit der Antike reagieren? Unvermeidlich drängt sich die Parallele zu Goethes italienischer Reise auf. Goethe machte auf italienischem Boden die entscheidende Wendung von der Gotik zur formklaren Latinität. Dem lebendigen Strömen drangvoller Zeit entzog er sich und flüchtete in die Unberührtheit der reinen ästhetischen Form. Ähnlich verhalten sich Albanos Reisebegleiter. Sie werden von einem Kunstenthusiasmus ergriffen. Anders der Jüngling. Er ist der einzige, den der Geist der Alten wirklich in voller Größe packt. Aber dieser Geist setzt sich bei ihm nicht in lebenabgewandte Bewunderung vergangener Formen um, auf ihn wirkt die lebenverwandelnde Kraft der Antike als Kultur der Kraft und ruft ihn zur Tat. Tat war der Geist, der diese Ruinen baute, weltumspannend die Kraft, die noch im ausgehenden Mittelalter die Kuppeln der Dome wölbte. Das französische Volk ist zur Freiheit erwacht. Der Kampf 572 des alten morschen Feudaleuropa gegen die neue Freiheit wird entbrennen. Auf der Höhe des Kapitols faßt Albano den Entschluß, an die Seite der Freiheitskämpfer zu treten. Wieder bricht hier der fundamentale Unterschied der persönlichen Stellung zur Antike durch. Es sind im letzten Grunde wieder Goethe und Herder, die sich in des Jünglings Seele feindlich begegnen. Goethe als romantische Nachempfindung einer versunkenen Welt, Herder als wahrhaftige Erneuerung eines dahingeschwundenen Geistes, nicht durch Nachahmung äußerer Formen, sondern durch weltverwandelnde Tat.

Von Rom fährt die Reisegesellschaft nach Deutschland zurück, zum Teil durch eine lebensgefährliche Erkrankung des Fürsten Luigi zurückberufen. Nur Albano und Dian reisen nach Neapel weiter. Mit prachtvollen Farben ist diese südliche Zauberwelt gemalt. (Die Beschreibungen der Herzogin Amalie gaben Jean Paul die Unterlagen.) Aufs neue taucht jener seltsame Mönch auf, der Albano in gauklerischem Spiel weissagt, daß er auf der Insel Ischia die Schwester finden würde. Es ist der Ritter de Cesara, der Albanos Leben durch die Gaukelstimme zu lenken sucht. Jetzt hält er den Jüngling für reif, Linda zu begegnen. Auf der Insel Ischia trifft Albano die Prinzessin Julienne und ihre Freundin Linda di Romeiro. Gaspard de Cesara hat richtig vorausgesehen. Die beiden Menschen sind wie füreinander bestimmt. Bei der ersten Begegnung lieben sie sich, der feurige Jüngling und die stolze titanenhafte Spanierin. Wie Welten brausen sie ineinander, und als sich Linda und Albano gefunden haben, gibt sich Julienne dem Jüngling als seine Schwester zu erkennen. Selig gleiten die Tage dahin. Wie ein vergangener Traum erscheint die sanfte Liebe zu Liane neben der lodernden Flamme dieser Leidenschaft. Gaspard de Cesara scheint am Ziel seiner Pläne.

573 In Pestiz gibt Cesara dem Sohne die Einwilligung zu der Verbindung mit Linda. Aber ein neues Hindernis taucht auf. Ihr Titanencharakter widerstrebt der bürgerlichen und endgültigen Bindung. Sie will den Geliebten lieben aber sich nicht mit unlöslichen Ketten an ihn schmieden lassen. Cesara sucht die Heirat zu beschleunigen. Schließlich gibt Linda seinem Drängen nach, aber zu spät. Ein furchtbares Ereignis ist inzwischen eingetreten.

Mit neuem Auge sah Albano an Lindas Seite alle die Stätten wieder, auf denen sich sein bisheriges Leben abgespielt hatte. Wieder durchwandert er den Garten von Lilar, besucht er die Pflegeeltern in Blumenbühl. Wie eine Ruine tritt ihm Rabette, das Opfer Roquairols entgegen. Roquairol scheint sich von neuem um Rabette zu bemühen, aber es ist nur, um dort Albanos Briefe in die Hand zu bekommen und des ehemaligen Freundes Handschrift genau kopieren zu lernen. Noch immer lodert in ihm die Leidenschaft zu Linda, vor deren Augen er sich schon als Knabe zu erschießen versuchte. Ein teuflischer Plan ist in seinem Innern gereift. Er will die Nachtblindheit Lindas benutzen und sie unter Albanos Maske verführen, um seine Leidenschaft zu kühlen und die beiden von ihm hassend geliebten Menschen zu verderben. Die Fürstin, die von Albano zurückgewiesen wurde und sich an ihm rächen will, unterstützt diesen teuflischen Plan. Als Albano und Linda sich vorübergehend überworfen haben, schreibt Roquairol ihr mit Albanos Handschrift einen Brief und bittet sie, ihn am Abend im Flötental von Lilar zu erwarten. Hier verführt er die Unglückliche in einer alle Leidenschaften seines kranken Herzens aufwühlenden Szene. Die Titanide glaubt, sich dem Geliebten in freier Hingebung zu schenken, als sie ihn auf ewig verloren hat.

Am nächsten Tag hat Roquairol den Hof und alle Freunde 574 zur Aufführung seines Theaterstücks »Der Trauerspieler« eingeladen. In frevelndem Zynismus hat er die Begebenheiten des letzten Jahres, die Liebe Albanos und Lianens, Albanos und Lindas und seine eigene Leidenschaft für die Stolze in seinem Stück behandelt, und auch jenen Abend dargestellt, da Linda das Opfer seines teuflischen Betruges wird. Niemand von den Zuschauern ahnt die fürchterliche Wahrheit seines Stückes, in dem der Rasende die eigene Rolle spielt. Am Schluß läßt er den Helden sich erschießen, und er selbst macht aus dem Spiel blutige Wirklichkeit und zerschmettert sich auf der Bühne mit einer Revolverkugel den Kopf.

Das nächste Zusammentreffen der Liebenden offenbart ihnen die furchtbare Wahrheit. »Ich bin Roquairols Witwe!« ruft Linda aus. »Und das bleibst du!« antwortet Albano hart und geht fort. Wie ein Kirchhof liegt sein bisheriges Leben um ihn her. Jetzt wird er in den Krieg gehen. Aber wie in harten Gewitterschlägen wird die geladene Atmosphäre gereinigt. Fürst Luigi stirbt. Albanos Abstammung wird offenbar. Er ist der Erbe des Throns. Die Aufklärungen überstürzen sich. Wahres mischt sich mit Falschem. Schoppe selbst glaubt entdecken zu müssen, daß Linda und Albano Geschwister sind. In furchtbarer Spannung löst sich der Knoten durch das Testament von Albanos Mutter, die, wie er jetzt erst ganz überraschend erfährt, nicht die Gräfin de Cesara sondern die alte verstorbene Fürstin ist. Linda, die mit Cesara geflüchtet ist, wird als Tochter des Ritters de Cesara festgestellt. In dieses wilde Durcheinander fällt der Tod Schoppes in dem Augenblick, als sein alter Freund Siebenkäs ihn aufsucht. In Albano selbst drängt es zur inneren Klärung. An Lianens Grab begegnet er Idoine, die zu ihrer Schwester, der Fürstin gereist ist. Zum erstenmal sieht 575 Albano das Ebenbild seiner ersten Geliebten, seit sie ihm in den Fieberträumen als Retterin erschien. Jetzt wird es ihm klar, daß er immer Idoine liebte. Daß Idoine von Liebe zu ihm ergriffen war, wußte Julienne, die treue liebende Schwester, schon lange. Am Abend, da Luigi in der Blumenbühler Kirche beigesetzt wird, gehen die drei liebenden Menschen durch die Zaubernacht von Lilar. Albano und Idoine finden sich. Versunken stehen sie Arm in Arm beieinander. Julienne ruft die Liebenden auf: »Schauet auf zum schönen Himmel! der Regenbogen des ewigen Friedens blüht an ihm, und die Gewitter sind vorüber, und die Welt ist so hell und grün – wacht auf, meine Geschwister!«

 

»Titan sollte heißen Anti-Titan,« schrieb Jean Paul am 8. September 1803 an Friedrich Jacobi; »jeder Himmelsstürmer findet seine Hölle; wie jeder Berg zuletzt seine Ebene aus seinem Tale macht. Das Buch ist der Streit der Kraft mit der Harmonie. Sogar Liane, Schoppe müssen durch Einkräftigkeit versinken; Albano streift daran und leidet wenigstens.« Hier ist der Sinn des »Kardinalwerkes« eindeutig festgelegt. Um den Streit zwischen Harmonie, das heißt zwischen allseitiger Ausbildung des Menschen, und einseitiger Kraft, das heißt Einkräftigkeit, handelt es sich. Man könnte bei diesen Worten fast an Goethes Lebensprogramm denken. Aber gerade die Abrechnung mit Goethe sollte hier vollzogen werden. Zwar schließt auch Goethes Persönlichkeitsbegriff die Harmonie und den Gegensatz zu jeder »Einkräftigkeit« ein. Aber das war ja gerade aufzuzeigen, daß Goethes »Harmonie« eine einseitig ästhetisch fundierte Einkräftigkeit ist. Zu Harmonie, wie Jean Paul sie verstand, gehörte volles Umfassen auch der zeitlichen 576 Strömungen und auch kämpferischen Menschentums. Verzicht auf die deutsche Verwirklichung war schon Herausfallen aus dem harmonischen Kreis des Daseins, der immer wieder durch Tat gerundet werden muß. Wir sprachen schon davon, wie anders Jean Paul seinen Helden auf die Berührung mit der Antike reagieren läßt als Goethe. Hier, in der Reise Albanos nach Italien, war die Welt Jean Pauls in offensichtlicher und bewußter Parallele gegen die Gedankenwelt Goethes abgegrenzt. Bei Jean Paul das Erstarken an einer heroischen Vergangenheit, bei Goethe das Hineinflüchten in eine vergangene Formenwelt. Aber nicht nur in diesem Schnittpunkt wird der Gegensatz deutlich, durch den ganzen Roman zieht er sich greifbar hindurch. In den »Wilhelm Meister« hatte Goethe das Theater als wichtigstes Bildungselement hineinbezogen. Welche andere Rolle spielt das Theater im »Titan«! Die charakterlose Selbstbespiegelung eines sich selbst verbrennenden Phantasten, eines Selbstmörders, eines, der nur vom Widerschein der Kunst und der Sensation lebt: das war das Theater im »Titan«. Schärfer konnte der Gegensatz nicht mehr gespannt werden.

Die Begebenheiten des Romans hatten alles Gedankliche in sich eingesogen. Die hinter dem Werk stehende Idee ist restlos Form und Schicksal geworden. Äußerlich betrachtet, hatte sich der Dichter nicht allzu weit von der »Unsichtbaren Loge« und dem »Hesperus« entfernt. Aber ein Neues war hinzugetreten. In seinen Personen und ihren Handlungen hatte sich die Gedankenwelt seiner Zeit manifestiert. Wohl stehen die Personen mit ihren Schicksalen für sich da und sind Menschen, die als solche im Innersten ergreifen. Aber sie sind zugleich Träger der Ideen der Zeit. Klassik und Romantik, Sturm und Drang und Aufklärung spiegeln sich in ihnen wider, und alle empfangen sie aus der Hand des 577 Schicksals ihren Lohn. Zwar wird es ein vergebliches Bemühen bleiben, die einzelnen Personen mit den großen Zeitgenossen zu personifizieren. Weder ist der Ritter Gaspard de Cesara Goethe oder Schiller, noch kann man in Dian Herder, in Roquairol Friedrich Schlegel oder gar Brentano erkennen, noch haben wir in dem Kunstrat Fraischdörfer August Wilhelm Schlegel zu sehen. Der »Titan« ist kein Schlüsselroman. Aber die Welt, wie sie an der Jahrhundertwende von den Großen des Geistes repräsentiert wird, die finden wir in dem Roman wieder. Und auf einen tiefgreifenden Unterschied zu Goethes »Wilhelm Meister« sei gleich hier hingewiesen: Bei Goethe werden die Personen immer mehr Repräsentanten einer Weltanschauung, werden immer ärmer an individuellem Leben. Ganz anders im »Titan«! Auch hier setzt sich die Welt Jean Pauls deutlich gegen die Welt Goethes ab. Er gibt Schicksal und Erschütterung. Seine Menschen sind. Eine Glut der Leidenschaft ist über das Ganze ausgegossen, neben der der »Wilhelm Meister« als eine rein gehirnliche Angelegenheit wirkt. Goethe projiziert seine Gedanken auf die Fläche zeichnerischer Darstellung, Jean Paul aber gibt die dynamisch geladene dreidimensionale Welt schwingender Tonkörper. Seine Menschen sind Bild und Rede in einem, stehen wie Welten voller Atmosphäre da, bedeuten nicht nur, sondern wirken sich aus. Jean Paul nennt die Dinge nicht nur beim Namen, er zaubert sie hervor. Wenn wir die beiden repräsentablen Romane ihrer Zeit, den »Titan« und die »Lehrjahre«, als Kunstwerke miteinander vergleichen, so kann gar keine Frage sein, daß der »Titan« das ungleich gewichtigere Werk ist.

Wie aber kommt es nun, daß der »Titan« über ein Jahrhundert lang vergessen werden konnte, während die »Lehrjahre« heute noch als der Bildungsroman jener 578 Jahrhundertwende ihren Platz behaupten? Gerade infolge der menschlichen Schwere des »Titan«! Gerade deswegen, weil er ein tiefes künstlerisches Werk ist, wird er nicht mit dem Gehirn allein durchmessen. Hier prägt sich kein gedankliches Fazit dem Gedächtnis ein, hier ist alles auf seelische Erschütterung angelegt. Nur mühsam kann man den Gang der Handlung aus den geballten Stimmungen herausnehmen, ohne das Wertvolle zu zerstören. Die Gedankenwelt ist in die Begebenheiten und die Charaktere kunstvoll eingesenkt. Die Umwälzungen, die Albano durchlebt, müssen auch vom Leser durchlebt werden in blitzhafter Schnelle, oder er hält statt der durchmessenen Welten einen romantischen Stimmungsroman in der Hand, der sich nicht wesentlich von der »Unsichtbaren Loge« oder dem »Hesperus« unterscheidet. Wir haben unserer Untersuchung mit Absicht die nackte Handlung vorangestellt, um sie jetzt mit der darin verborgenen Gedankenwelt zu erfüllen. In der bloßen Handlung mochte uns noch die Welt der ersten Romane Jean Pauls umfangen. Jetzt werden wir sehen, welche gedanklichen Tiefen durch diese Handlung aufgewühlt werden. Sie erschließen sich in den einzelnen Charakteren.

Wir wissen aus den früheren Kapiteln, in welchem Lichte Jean Paul Goethe und Schiller erschienen. »Goethe, der mit der gleichen Ruhe eine Welt und einen Sperling fallen sieht«, – schrieb er anläßlich des Atheismusstreits über ihn, und die Worte, mit denen er Gaspard de Cesara charakterisiert, sind fast die gleichen, die er von Schiller gebrauchte, als er ihn das erstemal sah: »Ein Cherub mit dem Keime des Abfalls, ein verschmähender, gebietender Geist stand da, der nichts lieben konnte, nicht sein eigenes Herz, kaum ein höheres, einer von jenen Fürchterlichen, die sich über die Menschen, über das Unglück, über die Erde und über das – 579 Gewissen erheben, und denen es gleich gilt, welches Menschenblut sie hingeben, ob fremdes oder ihres.« So tritt Cesara uns zum erstenmal entgegen. Nicht als eine Maske für Goethe oder Schiller, aber immerhin als eine Verkörperung ihrer kalten heroischen Einstellung zu Menschen und zum Leben. Die Urteile, die nach dem Erscheinen der »Xenien« durch die literarische Welt liefen, haben an der Gestalt Gaspards gearbeitet. Wenn Jean Paul den Ritter anredet: »O Gaspard, stehest denn du in der Frontloge und nicht auch auf dem Theater?« so konnten diese Worte direkt an Goethe oder Schiller mit seiner »felsigten Nase« gerichtet sein. Dieser Grundeinstellung entspricht Gaspards Charakter in der weiteren Handlung des Romans. Er will die Begebenheiten einem bestimmten Ziele zubiegen, aber fast scheint ihm das Spiel mit Menschen Bedürfnis. Mit unbarmherziger Kälte schiebt er sie hin und her, sie tanzen an den Fäden, die er in Händen hält. Das Ziel selbst ist reiner Egoismus: Er will seine Nachkommen auf einem Throne sitzen sehen. Mit der gleichen Kälte trennt er sich von seiner Frau, verbirgt er seiner Tochter Linda den Vater, mit der er Bouverots teuflischem Spiel zusieht, das dem Erbprinzen Luigi Gesundheit und Mannheit und fast das Leben kostet. Als er in Rom seine Pläne durch Albano einen Augenblick durchkreuzt glaubt, greift er zur Pistole und würde den Jüngling unbarmherzig niedergeknallt haben, wenn der Irrtum sich nicht im gleichen Augenblick herausgestellt hätte. Das Wohl des Landes ist ihm ein leerer Begriff, Menschheit ein Phantom, dem er nicht opfert. Nur wenig versöhnt mit der Unbarmherzigkeit seines harten Herzens die Kühnheit seiner Pläne und die virtuose Gelassenheit, mit der er die Fäden zu lenken versteht. Goethes Dienst am Weimarer Herzoghause und die Rolle, die Goethe bei dem Streit zwischen dem Herzog und Herder 580 spielte, mag Jean Paul vorgeschwebt haben, wenn er Gaspards Bemühen um den Hof von Hohenfließ darstellt. Nie kommt dem Ritter der Gedanke, die feindlichen Fürstenhäuser durch eine Verbindung zwischen Albano und Idoine zu versöhnen und beiden Ländern den Frieden zu geben. Mit einer ein Leben lang durchgehaltenen Folgerichtigkeit zerstört er die Pläne des ihm verhaßten Hofes von Haarhaar, nur weil dieser ihn in seinem Selbstgefühl verletzt hat. (Das Verhältnis Goethes zu dem Hof von Gotha?) Er kann es über sich gewinnen, der Vertraute der Fürstin zu sein, deren Hand er einstmals erstrebte, nur in dem sicheren Wissen, daß er einmal alle ihre Pläne durchkreuzen wird.

Fürst Luigi, der »ausgebrannte Menschenkrater«, ist Geist von seinem Geiste. Seit seiner Thronbesteigung, und vielleicht früher, weiß er, daß Albano sein Bruder ist. Und dennoch vermag er ihn mit gleichgültiger Kälte zu behandeln. Mit derselben Kälte, mit der er seine Frau, die Fürstin, zum Werkzeug seiner Rache am Haarhaarer Hof macht, einer Rache, die erst wirksam wird, wenn er die Augen schließt, und die er mit grausamer Freude kommen sieht. Ihnen zur Seite steht der Minister Froulay. Auch er hat die kalte und zynische Menschenverachtung zu seinem Lebensprinzip gemacht. Liane modelt er zum willigen Werkzeug seiner Pläne, nicht achtend, daß er sie einem frühen Tode zuführt. Eine Verbindung des engelreinen Geschöpfes mit dem Wüstling Bouverot, den überdies noch das Ordensgelübde zur Ehelosigkeit verpflichtet, ist ihm als Mittel gerade gut genug, um seine zerrütteten Finanzen in Ordnung zu bringen.

Wichtig an dieser Gruppierung ist die Stellung dieser Menschen zur Kunst. Erst dadurch steigern sie sich aus zufälligen Schurken zu einem Lebensprinzip. Erst hier sieht man, worin die »Einkräftigkeit« dieser Menschen besteht. Nicht daß sie 581 Verbrecher sind, ist das Furchtbare an ihnen, sondern daß sie Ästheten sind. Wenn Luigi »mit der Kälte des Galerieinspektors und Anatomikers« seine Antikensammlung betastet, wenn der Kunstrat Fraischdörfer, uns bereits aus der »Geschichte meiner Vorrede« bekannt, sein Gesicht, »wie die Draperie der Alten in einfache edle große Falten« wirft, wem sollte da nicht Jean Pauls erster Besuch bei Goethe einfallen! Mit Spitzen gegen Goethe ist überhaupt die ganze Darstellung gespickt. Wenn Jean Paul von Albano schreibt: »so wollt er künftig wenigstens Minister werden . . . und in den Feierstunden nebenbei ein großer Dichter und Weltweiser«, so war das ein deutlicher Hieb gegen den Weimarer Heros. Und ebenso die Charakteristik Roquairols: »Er stürzte sich in gute und böse Zerstreuungen und Liebeshändel und stellte hinterher alles auf dem Papier und Theater wieder dar, was er bereute oder segnete, und jede Darstellung höhlte ihn tiefer aus.« Oder jenes kraftvolle Reagieren Albanos auf die Ruinenwelt Roms, in der er nicht begreift, »wie in Rom, im wirklichen Rom ein Mensch nur genießen und vor dem Feuer der Kunst weich zerschmelzen kann, anstatt sich schamrot aufzumachen und nach Kräften und Taten zu ringen«. Hier wird es deutlich, wie er bei diesen ästhetischen Libertins in den Kern der Goetheschen Weltanschauung trifft und wie er mit der Schärfe eines Pamphlets heraushebt, was sich unter dem Persönlichkeitsbegriff zu verstecken pflegt. Nicht daß er Goethe und Schiller die Schurkereien eines Bouverot oder Froulay vorwerfen wollte, er zeigte nur mit unerbittlicher Schärfe diese kühle menschenverachtende Einstellung in ihrer letzten Konsequenz. Zeigte das herzlose Menschentum, das sich in der Nachfolge dieser Einstellung mit Notwendigkeit entwickeln muß. Dem »Wilhelm Meister« hielt er hier gewissermaßen seine Kehrseite entgegen, zeigte die 582 »Einkräftigkeit« des anscheinend harmonisch gerundeten ästhetischen, weltabgekehrten Typus. Es war nicht einmal verbrecherische Anlage, die das Tun dieser Menschen bestimmte, sondern es war ein Mangel, Mangel an bewegender Menschenliebe, die sie abhielt, an Gottes irdischer Stadt zu bauen.

Noch ist in diesen Gaspard, Bouverot, Froulay, Luigi nicht jene Bewegung getroffen, die um die Jahrhundertwende ihren kräftigen Aufschwung nahm: die Romantik, wie sie sich in Friedrich Schlegel und Brentano manifestierte und wie sie ihrem Wesen nach zur »romantischen Ironie« sich langsam zuspitzen mußte. Erst in dieser »romantischen Ironie« war die ästhetische Einstellung auf die höchste Spitze getrieben, war zu einem giftigen Geschwür geworden, das das Empfinden der Zeit von innen her anfressen und zerstören mußte. In Roquairol ist dieser zersetzende Zeitgeist, der damals fast die gesamte literarische Welt beherrschte, Gestalt geworden. Wir haben im vorigen Kapitel Jean Pauls Stellung zur Romantik kennengelernt und haben gesehen, daß starke Verbindungsbrücken zwischen ihm und dieser jungen Bewegung vorhanden waren. Aber es war die schöpferische Romantik, die die seelischen Bindungen des Mittelalters wiederherzustellen suchte, die auf Erneuerung des deutschen Volkstums ausging, die ihren lebendigen Impuls von Herder empfangen hatte – es war diese Seite der Romantik, zu der Jean Paul sich rechnete, nicht jene rationalistische Zuspitzung des ästhetischen Prinzips, die alles Lebendige in Spiel und Spiegel auflöste. Von dieser Entartung trennte er sich entsetzt. Auf philosophischem Gebiet kämpfte er, als er an seinem ersten Band arbeitete, gegen die Verlegung des geistigen Schwerpunktes in das Fichtesche Ich. Dieses Heraustreten aus den Dingen mußte das innere Gleichgewicht aufheben, die Welt zum farbigen Spiel herniederziehen, mußte 583 schließlich das Ich selbst zersetzen. Dieser auflösenden Romantik setzte er im »Titan« die glänzende Gestalt Roquairols als Warnung entgegen.

Glänzend noch in allen seinen Lastern und Schwächen. Nicht umsonst ließ er den Helden Albano an dieser vom Leben zerfressenen Gestalt sich entflammen. Auch Roquairol ist ein Titan oder ein Pseudotitan. Ganz auf das Ungewöhnliche gestellt, verbrennt sein Leben sich selber und jauchzt in rasendem Wahn den zerflatternden Fetzen des Seins nach. Ein gigantisches Spielen mit den eigenen Lebenskräften, ein geniales Spiegeln im eigenen Werk, ein Hinwegbrausen über alle menschlichen Schranken. Gaspard oder Bouverot haben keinen Gott in der Brust. Roquairol hat ihn, aber er muß ihn verhöhnen und gegen ihn freveln. Wir kennen ihn ganz, seit er das erstemal im Roman auftaucht: als der Knabe, der alle Rollen der Weltliteratur zu agieren weiß; als Selbstmörder aus wahnsinniger Liebe, und nicht allein Selbstmörder, sondern einer, der seine mörderische Selbstzerstörungssucht vor aller Welt auf einem Maskenfest herausschreit, einer, der sich in der Sensation erst zu erleben vermag und der immer sich selbst erleben muß. Und das zweitemal: wenn er beim Prunkbegräbnis des alten Fürsten das Freudenpferd im Trauerzuge reitet, unter dem Ernst des Leichenbegängnisses die grinsende Grimasse einer konventionellen Freude zum äußersten Ausdruck steigert, wie der klaffende Widerspruch des Daseins selbst erscheint und sein Gefallen an diesem Schein einer ganzen Stadt sichtbar macht. Dieser Mensch fühlt nicht mehr, er erlebt nur noch in der literarischen Darstellung, in der Vortäuschung eines Gefühls, im Wortrausch. Und diesen Wortrausch schüttet er über die Menschen um sich aus. Ihm ist kein Schwur, kein Mensch mehr heilig. Eines Theatereffektes wegen wird er den Freund 584 verraten, die Geliebte vernichten und sich selbst die Kugel in den Kopf schießen.

Das aber ist nur das Schema dieser Gestalt. Sie selbst funkelt in jedem Wort, in jeder Tat. Wenn er unter der Maske Albanos sich der betrogenen Linda nähert, füllt er noch jedes Wort mit teuflischer Zweideutigkeit. Selbst der Brief, den er mit Albanos Handschrift an Linda schreibt, kann durch die zynische Offenheit entsetzen, mit der er die Wahrheit fast ganz deutlich ausdrückt, so daß Linda ihn beinahe verstehen muß. Was er auch sagt und was er auch tut, immer wirbelt er Stimmungen und seelische Reflexe hoch, die sich in buntem Spiel jagen. Ja, er kann die Wahrheit über sich selber in schneidender Schärfe ausdrücken, um in der Pose des Zynikers zu brillieren. Bis zur äußersten Grenze fast verführerischen Glanzes hat Jean Paul diesen Charakter herangetrieben. Fast nähert er sich dem Idealbild eines dämonisch Schaffenden. Fast hat er die Wirkung Werthers, der die Jünglinge in den Tod nachzieht. Und manchmal ist er wirklich die Gestalt gewordene Tragödie des schaffenden Künstlers mit ihrem notwendigen Drang zur Selbstbespiegelung und Selbstzersetzung, zur Auflösung jeder Empfindung in ihre Elemente, zum Durchkosten aller Gegensätze des Lebens.

Mit der Vollständigkeit einer Kategorientafel fast werden die »Einkräftigen« vor uns aufgereiht. Man sieht, wie lange Jean Paul den Plan des »Titan« mit sich herumgetragen hatte. Bis in die erste Zeit seines Schaffens strecken sie ihre Wurzeln. Wie viele dieser Gestalten gehen auf den Jugendfreund Hermann zurück! Selbst Roquairol kann auf Hermann zurückgeführt werden. Im Ottomar der »Unsichtbaren Loge« tauchte zuerst jenes dämonische Rasen gegen die Grenzen der menschlichen Natur auf. Roquairol ist ein gesteigerter 585 Ottomar, dessen Rasen in sich selbst zurückschlägt, wie ja auch Ottomar schon mit dem Tode zu spielen liebte. Auf Hermann geht aber auch jene Reihe von Gestalten zurück, die mit dem Dr. Fenk in der »Unsichtbaren Loge« anhebt und sich zum Leibgeber des »Siebenkäs« erweitert. Die Höhepunkte des Leibgeberschicksals hatte Jean Paul mit Bedacht für den »Titan« aufgehoben. Hier erst sollte sich diese Gestalt in ganzer Breite entfalten. Schon bei der Besprechung des »Luftschiffers Gianozzo« hatten wir darauf hingewiesen, daß auch Gianozzo ursprünglich nur eine neue Verwandlung Leibgebers sein sollte. Als Jean Paul diese Gestalt dann zu einer besonderen Arbeit herauslöste, führte er Leibgeber unter dem Namen Graul dort ein. In wie vielen Gestalten und Verwandlungen sich Leibgeber aber auch zeigen mag, er ist von Beginn an unverkennbar derselbe. Schon »Habermanns große Tour um die Welt« zeigt seine Züge. Seither lebt er mit seinem Bullenbeißer Saufinder in einer ganzen Reihe Jean Paulscher Werke. Im »Titan« tritt er als Bibliothekar Schoppe auf und wird erst am Schluß des Buches von dem hinzukommenden Armenadvokat Siebenkäs identifiziert. Aber alle Leser des »Siebenkäs« müssen ihn von Anfang an erkennen.

Eigentlich ist Schoppe ein Fremdkörper im Roman, und wirklich tritt er in ganz ausgedehnten Partien fast gar nicht hervor. Er ist Humorist und widerstrebt seinem Wesen nach dem hohen Stil des »Titan«. Deshalb nimmt er mit seinen Grotesken den meisten Raum im Anfang ein, der noch am ehesten idyllisch-humoristischen Charakter trägt. Und mit seinem erschütternden Ende im Schluß des Buches. Schon im »Siebenkäs« hatte Leibgeber seine eigene, von dem Freunde abweichende Weltanschauung. Er war Atheist und leugnete die Unsterblichkeit. Inzwischen hatte sich Jean Paul mit 586 Fichtes Philosophie auseinandergesetzt, und nichts lag näher, als diese schroffe, die Welt vergewaltigende Philosophie mit Leibgeber in Verbindung zu bringen. Die »Clavis Fichtiana« legte er ihm in den Mund, und im Roman selbst läßt er ihn als Fichteaner auftreten. Es war das größte Kompliment, das Jean Paul seinem Gegner Fichte machen konnte, und zeigt, wie er selbst mehr und mehr von dem eigenwilligen gigantischen Charakter dieser Philosophie ergriffen wurde.

Der Fichteanismus ist der innere Angelpunkt Schoppes. Sein unbedingtes Freiheitsbedürfnis hängt aufs engste mit Fichtes Ichphilosophie zusammen. Und auch der Humor dieses von jeder Bindung mit der Welt selbstherrlich losgelösten Menschen ist nur die Frucht des unbedingten In-sich-selber-Ruhens. Von aller Eitelkeit ist er nicht nur frei, sondern in einem Grade frei, daß die Möglichkeit eines solchen Grades selbst in Staunen setzt. Auch Schoppe läßt sich von seinem Innern zu den letzten Grenzen hinreißen (hierin ein Gegenstück zu Roquairol). Es gibt keine noch so bizarre Situation, der er auswiche. Auch er ist Zyniker, aber im veredelten Sinne des Diogenes. Und die Hauptsache: er braucht keine Zuschauer seines phantastischen Tuns. Die Einfälle strömen ungesucht aus ihm hervor, und er muß ihnen nachgeben. So besteigt er nachts die Kanzel einer verlassenen Kirche und hält sich selbst die Predigt, bis ihn der Irrsinn des Lebens zu Tränen erschüttert und er hilflos niedersinkt. Und dieser Mann mit dem unbedingten Unabhängigkeitsbedürfnis muß von Liebe zu Linda ergriffen werden, daß sie ihn durch und durch schüttelt. Er trägt das kummerschwere Herz in die Einsamkeit, den Blick der Geliebten fliehend, leidend unter der Lächerlichkeit seines Zustands. Es ist das erste Zeichen des nahenden Zerfalls. Das »Ich« Fichtes beginnt ihn zu verfolgen. Wenn er die Landstraße entlang geht, muß er auf 587 einmal seine Beine ansehen, und es rührt ihn schauerlich an, daß ein Ich unter ihm daherschreitet. Oder er hebt des Nachts seine Hand hoch und fühlt das nahe und fremde Ich, dem diese Hand gehört. Aus den Spiegeln grinst es ihn an, und als der Armenadvokat Siebenkäs ihn aufsucht und in einer Kirche trifft, schmettert ihn die Ähnlichkeit des Freundes zu Boden. Er glaubt, »der Ich« komme ihn holen, und stirbt.

Der Gigantenkampf Schoppes gegen den Tod gehört zu den erschütterndsten Partien, die Jean Paul geschrieben hat. Durch den Mund Siebenkäs', der selbst ja eigentlich Leibgeber heißt und nur den Namen mit dem Freund vertauscht hat, erfahren wir Näheres von seinem Leben. Er stamme aus Holland und heiße eigentlich Kees, welchem Namen er erst das Seven oder Sieben vorgesetzt habe. Wie es sich aber auch verhalten mag: keine näheren Bestimmungen können die unergründliche Heimatlosigkeit dieses die ganze Welt durchwandernden Sonderlings fortnehmen. Wie er während eines Sturmes auf dem Meere geboren ist, so bleibt er unverankert. Auch Schoppe sinkt durch Einkräftigkeit dahin. Sein sprödes Wesen kann sich der Welt nicht amalgamieren. Das Ich, auf das sein Leben gestützt ist, bricht in sich selbst zusammen. Auch er ist ein Anti-Titan, dessen grenzenloser Drang kein Objekt findet, um daran zu wurzeln. Schoppes Titanengestalt oder Anti-Titanengestalt ist die eigentlich schöpferische Kritik Jean Pauls an der Philosophie Fichtes.

An ihrer Einkräftigkeit vergeht auch die eigentliche Titanide, die dem Werk den Namen gegeben hat: Linda. Zu dieser Gestalt ballte Jean Paul alle die Frauen zusammen, die ihm während der letzten Jahre begegnet waren, allen voran Charlotte von Kalb. In Linda setzte er sich mit diesen Frauen auseinander. Gott und Menschenliebe legte er als die hohen Maßstäbe an diese Gestalt an, und sie erwies sich als zu 588 klein, trotz aller funkelnden Pracht des Geistes und Körpers. Wie eine Erscheinung heroischer Vorwelt ragt Linda in die Zeit hinein. Selbst Schoppe verfällt dem Zauber ihrer echten Kraft. Es ist nicht allein der ränkevolle Betrug Roquairols, an dem Linda zugrunde geht. Ihr Fall ist tief in ihrem Wesen verankert. Den menschlichen und göttlichen Satzungen glaubt sie trotzen zu können. Nur in freier Liebe will sie sich dem Geliebten hingeben. Damit hat sie die Gefahr der ruchlosen Täuschung heraufbeschworen. Wir entsinnen uns des Briefes, den Charlotte von Kalb im Oktober 1798 an Jean Paul schrieb: »Liebe bedarf keines Gesetzes, die Natur will, daß wir Mütter werden sollen.« Es war das erstemal gewesen, daß die Stimme des entfesselten Weibes an Jean Pauls Ohr drang. »Ich sage mit Goethe, und mehr als Goethe,« hatte die Titanide ihm damals geschrieben, »unter Millionen ist nicht Einer, der nicht in der Umarmung die Braut bestiehlt.« Dieser Brief war Lindas Geburtsstunde gewesen. Mochte die Freiheitsgeste der Frau noch so erhaben sein, irgendwie rüttelte sie an den Grundmauern des Ewigbestehenden.

Zu den Einkräftigen gehört auch Liane. Gerade in Gestalten wie Liane glaubte man das eigentliche weibliche Ideal des Dichters zu erkennen. Aber Jean Paul erhebt sich weit über den Horizont des sentimentalen Romans. Nicht nur, daß eine Gestalt wie Liane in solcher Zartheit und Transparenz der Farben ohne Vergleich in der Literatur dasteht, sondern auch sie ist ein Bild, wenn auch das rührendste und magisch schönste, das er warnend der Zeit vorhält. Auch hier berührt er eine Seite der Romantik: die in Novalis verkörperte. Wie sich Novalis dem Leben langsam abtötete, um seiner Braut Sophie von Kühn nachzusterben, wie sich nach ihm die Nazarener der Wirklichkeit entschlugen, so lebt auch schon Liane 589 diese Liebe des Todes. Nicht nur ihr zarter Körper bestimmt sie frühzeitigem Verfall, sie will auch von Anbeginn an ihrer Freundin Karoline nachsterben, die ihr in die Ewigkeit vorangegangen ist. Jean Paul war in Leipzig mit Novalis zusammengewesen und hatte mehrmals die Familie Hardenberg in Weißenfels besucht. Novalis war am 25. März 1801 gestorben. Sein Tod kann kaum noch Lianes Gestalt beeinflußt haben, aber fast gleichzeitig mit seinem Todesentschluß legte Jean Paul Lianens Tod für den »Titan« fest. Ursprünglich sollte sie am Leben bleiben und Albano, nach dessen Umweg über Linda, gewinnen. Mit magischer Gleichzeitigkeit vollzog sich bei Novalis und bei Lianens Gestalt die Wendung zum Tode.

Alle diese Gestalten überschreiten gewaltsam die natürlichen Grenzen des Lebens. Aber der ganze Plan des Romans selbst begreift etwas von dem seltsam krausen Barockwillen der Zeit in sich. Das Bündnis Albano-Idoine ist von Anfang an das naturgegebene. Welch ein Aufwand von Zauberkünsten, Weissagungen, Verwickelungen, Beeinflussungen, um gegen diese naturgegebene Verbindung eine Ehe Albano-Linda durchzusetzen! Auch damit wurde der Nerv dieser spielerischen, die Natur verkünstelnden Zeit getroffen. Im »Wilhelm Meister« setzt die seltsame Turmgesellschaft ihre Pläne durch, im »Titan« wird das naturgegebene Verhältnis hergestellt. Im »Wilhelm Meister« herrscht als künstlerisches Prinzip der Anordnung der Kreis, im »Titan« das musikalische Melos, wird die Entwickelungslinie durch die verschiedenen Gruppierungen der Menschen zueinander weitergeführt. Der Schluß knüpft nicht an den Anfang an, sondern erhebt eine dem Anfang ähnliche Gruppierung auf eine höhere Ebene. Ein einziges Thema: das der Entwickelung des Helden, wird durch alle diese verschiedenen Gruppierungen der einzelnen 590 Gestalten, wie bei einer Fuge, hindurchgetrieben. Diese Gruppierungen entsprechen einander bei stetem Wechsel. Albanos Jugendlehrer, Wehmeier und Falterle, werden abgelöst durch die entsprechenden Schoppe und Augusti. Auch die Geliebten Albanos haben ihre ständigen Begleitfiguren: Liane-Julienne, Liane-Rabette, Linda-Julienne, Idoine-Julienne. Auch die Gegner Albanos wechseln in bestimmter Abstufung. Um Liane bewirbt sich Bouverot, um Linda Roquairol. Der Gegenspieler gegen eine Verbindung Albanos mit Idoine ist von Anfang an Gaspard. In gegnerischer Kunstanschauung stehen sich gegenüber die Gruppen: Fraischdörfer, Gaspard, Luigi, Fürstin und Albano, Schoppe, Dian. Man sieht: mit jeder Weiterentwickelung des Romans verschiebt sich die Perspektive, aber immer wieder zu ähnlichen Gruppierungen und Gegengruppen.

Bisher haben wir aber erst die Titanen oder die Pseudo-Titanen betrachtet, in denen Jean Paul der Zeit den Spiegel vorhielt. Wo liegen nun aber die wahren Werte der Zeit? Außer bei Albano und Idoine allein bei Dian, das heißt bei Herder. Wenn Gaspard, Luigi und die Fürstin etwa die Welt Goethes und Schillers verkörpern, Roquairol und seine Schwester Liane die Romantik, Schoppe Fichte, so steht Dian für Herder da. »Da er für jedes Individuum, Alter und Volk eine andre gleichschwebende Temperatur annahm und in der heiligen Menschennatur keine Saite zu zerschneiden, sondern nur zu stimmen fand«, heißt es gleich im Anfang von Dian. Es ist eine Charakteristik Herders, die Jean Paul mit diesen Worten gibt, und zugleich setzt er diesen Herderschen Geist der »Einkräftigkeit« der Zeit entgegen. Keine Saite in der heiligen Menschennatur zu zerschneiden, sondern sie alle zum Akkord zu stimmen: das ist gewissermaßen das Ziel, dem Dian den geliebten Schüler zuführt. Was Jean Paul Herder 591 zu verdanken hat, das läßt er seinen Helden dem stillen Griechen Dian verdanken: »Er führte ihn mit begeisterter Ehrfurcht in die heilige Welt des Homers und des Sophokles ein; und ging mit ihm unter die höhern, ganz entwickelten, von einseitiger ständischer Kultur noch unverrenkten, schön gegliederten Menschen dieses Zwillings-Prometheus, die wie Salomo für alles Menschliche, für Lachen, Weinen, Essen, Fürchten ihre Zeit hatten und bloß die rohe Grenzenlosigkeit flohen; die auf den Altären aller Götter opferten, aber auf dem der Nemesis zuerst.« »Er führte ihn nicht in den Steinbruch vor die Kalkgrube und auf den Zimmerplatz der Metaphysik, sondern sogleich in das damit fertiggemachte schöne Bethaus, sonst die natürliche Theologie genannt. Er ließ ihn keine eiserne Schlußkette Ring nach Ring schmieden, sondern er zeigte sie ihm als hinunterreichende Brunnenkette, woran die auf dem Boden sitzende Wahrheit herauf-, oder als eine vom Himmel hängende Kette, woran von den Untergöttern (den Philosophen) Jupiter heruntergezogen werden soll. Kurz, das Skelett und Muskeln-Präparat der Metaphysik versteckt er in den Gottmensch der Religion.«

Das alles ist Herder, das ist die Weltschau, die er in seinen Schriften eröffnet, das ist, was er Jean Paul im Gespräch unaufhörlich mitteilte. Hier war Natur, Harmonie und Ungemeines in Einem. Aus dieser Einstellung ergab sich auch die tiefere und richtigere Einstellung zur Antike, wie sie in Albano unter Dians Leitung während seiner italienischen Reise lebendig werden sollte. Hier ergab sich auch ganz unproblematisches einfaches Menschenglück, wie es in Dians kleinem Häuschen in Lilar heimisch war mit einer liebend ergebenen Frau und heiteren wohlgebildeten Kindern, wie sie das düstere Pfarrhaus hinter dem hohen Kirchendach in Weimar in gleicher Weise beherbergte. Lehre und Leben 592 Herders wurden dem Zeitalter rasender Besessenheit entgegengestellt. Tiefes Vertrautsein mit allen Kulturen und warmes Wurzeln in dem Erdreich eines gesättigten Daseins. Das bedeutet Dian im »Titan«.

Und es bedeutet zugleich das Lebensziel, dem Albano zureift. Albano ist der Held des »Titan«, also eines Erziehungsromans. Man hat den passiven Charakter eines solchen Helden, nach dem Muster des Wilhelm Meister, als Norm für den Erziehungsroman überhaupt aufgestellt. An dem Helden sollen sich die Bildungserlebnisse auswirken, ihn ausprägen und sich ihm einprägen. Aber es ist nur der Goethesche Erziehungsroman, für den die Forderung dieser passiven Haltung des Helden gilt, wenn es nicht überhaupt mehr eine Entschuldigung als eine Forderung ist. Albano ist nicht passiv. Zwar vollbringt er im Laufe des Romans keine besonderen Taten, aber dennoch handelt er, und immer aus einer großen Seele heraus. Hier offenbart sich vielleicht am deutlichsten der Unterschied zwischen dem Goetheschen Persönlichkeitsbegriff und dem Idealmenschen Jean Pauls. Jean Paul kannte die Gefahr: seine eigene Person seinen Helden zu unterschieben, sie nicht als werdende Tatmenschen, die im Leben stehen sollen, sondern als werdende Dichter darzustellen. In der »Unsichtbaren Loge« wie im »Hesperus« erlag er dieser Versuchung. Weder Gustav noch Viktor erreichen die höchste Stufe lebendiger Tatwirklichkeit. Im »Titan« aber ist der große Wurf gelungen. Albano bildet sich zum ganzen Menschen, zu einem Manne, der zur höchsten und allseitigsten Wirksamkeit berufen ist. Keine Spur davon, daß in ihm ein verkappter Dichter steckt. Auch die im tiefsten Grunde repräsentative Persönlichkeit, die das Bildungsideal Goethes ausmacht, überholt er weit. Albano wird kein Repräsentant der Bildung seiner Zeit. Gerade diese Zeitbildung 593 bekämpfte ja Jean Paul mit aller Kraft. Albano ist die einzige Gestalt innerhalb der abendländischen Literatur, die einer Jugend als allseitiges Ideal eines wirkenden Menschen nahe gebracht ist. Jedes verkappte Literatenideal ist hier überwunden. Durch die Bildung seiner Zeit ist Albano in Schicksal und Wort hindurchgegangen. Völlig gleichgültig ist, was von Wissen an ihm haftenblieb. Seine Kunsturteile mögen im einzelnen vielleicht falsch sein. Niemals aber werden sie dilettantisch werden. Ganze Wissenszweige mögen ihm verborgen geblieben sein. Dennoch ist er ein Herr auch über die Wissenden.

Gaspard sagt einmal in Rom zu ihm: »Es gibt einige wackere Naturen, die gerade auf der Grenze des Genies und des Talentes stehen, halb zum tätigen, halb zum idealischen Streben ausgerüstet – dabei von brennendem Ehrgeize. – Sie fühlen alles Schöne und Große gewaltig und wollen es aus sich wieder erschaffen; aber es gelingt ihnen nur schwach; sie haben nicht wie das Genie eine Richtung nach dem Schwerpunkt, sondern stehen selber im Schwerpunkte, so daß die Richtungen einander aufheben. Bald sind sie Dichter, bald Maler, bald Musiker; am liebsten lieben sie in der Jugend körperliche Tapferkeit, weil sich hier die Kraft am kürzesten und leichtesten durch den Arm ausspricht. Daher macht sie früher alles Große, was sie sehen, entzückt, weil sie es nachzuschaffen denken, später aber ganz verdrüßlich, weil sie es doch nicht vermögen. Sie sollten aber einsehen, daß gerade sie, wenn sie ihren Ehrgeiz früh einzulenken wissen, das schönste Los vielartiger und harmonischer Kräfte gezogen; sowohl zum Genusse alles Schönen als zur moralischen Ausbildung und zur Besonnenheit ihres Wesens scheinen sie recht bestimmt zu sein, zu ganzen Menschen; 594 wie etwan ein Fürst sein muß, weil dieser für seine allseitige Bestimmung allseitige Richtungen und Kenntnisse haben muß.« Was der spanische Ritter hier zeichnet, ist der ewige deutsche Jüngling, wie er seit Beginn einer deutschen Kultur in allen Generationen sich wiederholt. Zwischen Genie und Talent stehend wie die deutsche Rasse im allgemeinen, nach allen Richtungen hin die Arme ausstreckend, im Gefühl einer besonderen Sendung, und schließlich doch unbefriedigt und »verdrüßlich«, weil sie das Große nicht erzwangen, das ihnen gestaltlos vorschwebte, und sich zu Begrenztem erst in der Resignation entschlossen. In allen Generationen gibt es bei uns die jungen Himmelsstürmer und die »verdrüßlichen« Alten, denen die Blütenträume nicht reiften. »Sie sollten aber einsehen, daß gerade sie, wenn sie ihren Ehrgeiz früh einzulenken wissen, das schönste Los vielartiger und harmonischer Kräfte gezogen.« Hier erst rühren wir an den tiefsten Kern des »Titan«, hier erst wird das Erziehungsprogramm dieses Entwickelungsromans deutlich. Er faßt den deutschen Jüngling bei seiner größten Gefahr, seinen Ehrgeiz zu spät einzulenken, und er überwindet diese Gefahr durch die Idealgestalt Albanos, der rechtzeitig, von Künstlern und Kunstwerken umgeben, allen Kunstidealen entsagt, oder sie gar nicht erst aufkommen läßt, und der seine kriegerische Ruhmbegierde niederzwingt, als ihm eine handgreifliche Aufgabe zuteil wird. Und es ist gar nicht notwendig, daß diese Aufgabe in einem Fürstentum besteht. Um welchen Wirkungskreis immer es sich handle, er wird ihn als »ganzer Mensch« antreten.

Und nicht im Gefühl verdrießlicher Resignation. Das gerade ist ja das Unglück des Deutschen, daß er sich zur beschränkten Aufgabe immer erst als ein Verzichtender bequemt. Daher die unpersönliche Tüchtigkeit bei uns, daher aber auch der 595 Mangel an zielbewußtem Idealismus und menschlicher Liebe. Ganzes Menschentum an der kleinsten Stelle, Freiheitsbewußtsein und tiefste Verantwortlichkeit, das ist das Ziel, das Jean Paul in seinem Helden erreicht. Die vom Leben erzwungene Resignation führt zu Lakaientum und Unpersönlichkeit, wie von ihnen Deutschland überfließt in allen Ständen und Schichten. Und noch etwas ist von Jean Paul nicht vergessen: Albano hielt sich bis zur Aufklärung seiner Geburt für einen Spanier. Nun aber ergreift ihn das Gefühl, ein Deutscher zu sein. »Er gehört nun einer deutschen Heimat an!« jubelt es aus ihm hervor. »Die Menschen um ihn sind seine Landesverwandte!« Aber dieses Gefühl der Stammesverwandtschaft genügt ihm nicht. Deutschsein muß erst umgesetzt werden in die hohen Ideale deutschen Wesens. »Die ahnenden Ideale – – nur Taten geben dem Leben Stärke, nur Maß ihm Reiz.«

»Warum ging ich denn nicht auch unter wie jene, die ich achtete?« fragt er sich in der Stunde der Entscheidung. »Wallete in mir nicht auch jener Schaum des Übermaßes und überzog die Klarheit?« Dann aber kommt das Bewußtsein, das ihn über die Toten, über die »Anti-Titanen« erhebt: »Nein, ich brauche nicht nachzusinnen, warum sank ich nicht auch mit unter.« Der Blick auf die ruhende Lindenstadt Pestiz sagt es ihm: er blies mit Kraft diesen »Schaum des Übermaßes« von seiner Seele ab, er blieb demütig vor einem Höheren. Nun ist er reif, Idoine zu begegnen, dem Wirklichkeit gewordenen Leben des Traumbildes Liane. Höchstes Sinnbild der ins Leben eingehenden Jugendideale: die Geliebte der Jugend naht ihm in erhobener, gesteigerter Gestalt. 596

 


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