Walther Harich
Jean Paul
Walther Harich

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Durchbruch

Noch in den »Grönländischen Prozessen« war es zu erkennen, wie Jean Pauls Stellung zu den Zeitproblemen rein literarischer Natur war. Des Freundes Sterben schuf auch darin Wandel. Der furchtbare Ernst des Lebens rührte an seine Seele. Aus dem Zeitalter der Enzyklopädisten trat Europa in die Ära der französischen Revolution ein, die auch das geistige Deutschland in seine Wirbel hineinriß. Am 17. August 1786 war Friedrich der Große gestorben. Ein europäisches Ereignis. Mit ihm war die Epoche des aufgeklärten Despotismus zu Ende. »Um Ihnen im ersten Augenblicke des Gefühls zu melden, daß der Koloß und Riese unter den Königen gefallen ist: noch unter keiner Krone war ein solcher Kopf und unter keinem Sterne schlug ein solches Herz«, schrieb Jean Paul unter dem ersten Eindruck der Kunde an Aktuar Vogel nach Schwarzenbach. Langsam kamen die Massen Europas ins Schieben, nach neuer Formung zu suchen. Die europäische Menschheit hub ihre große Wanderschaft an, auf der sie bis zum heutigen Tage nicht zur Ruhe gekommen ist.

Wo war die Stellung des deutschen Geistes zu den Ereignissen, die sich langsam vorbereiteten? Der Sturm und Drang hatte den Auftakt gegeben mit seiner radikalen Bekämpfung der menschlichen Gesellschaft. Rousseaus Fanatismus geisterte über den Erdteil. Nur wenige Jahre war es her, daß aus dem protestantischen Schwaben Schiller 145 seinen Donnerruf »In Tyrannos« erhoben hatte. Dicht hintereinander waren die Schläge gefallen: »Die Räuber«, »Fiesco«, »Kabale und Liebe«. Die Akkorde, die Goethe aus Shakespeare-Begeisterung im Götz angeschlagen hatte, hallten auf einmal als furchtbar ernste Gewitterstimmung aus allen deutschen Winkeln zurück. Vorüber war der billige Optimismus der rationalistischen Periode. Der heilige Ernst des Blutes und der Geschichte stieg aus den Tiefen der Erde. Eine neue Rasse fast, wuchs es in die Ereignisse hinein.

Ein starkes volkhaftes Moment trennte die Gegenwart scharf von dem Kosmopolitismus der jüngsten Vergangenheit ab. Das war keine Erscheinung, die etwa an Völkergrenzen gebunden gewesen wäre. Überall, in Frankreich wie in Deutschland, erwachte ein »Volk« zum Bewußtsein der eignen Kraft, der eignen Geschichte, beide bereit, sich blutig zu umarmen, und die Literatur ging den Geschehnissen, die in der Luft lagen, voran. Auf einmal standen Klopstocks Bardengesänge und Hermannsdramen in einem neuen Zusammenhang. Man sah den Gang der Entwicklung, wo man früher schrullige Seltsamkeiten und Sackgassen vermutet hatte. Herders Aufsätze und Schriften von deutscher Baukunst und der Volkspoesie standen auf einmal als Drehpunkte der Menschheitsentwicklung da. Berlin, das Zentrum des Rationalismus, der Sammelpunkt der führenden Geister, sank zur Bedeutungslosigkeit herab. Von der Peripherie, von Königsberg her, dem Königsberg der Kant und Hamann, aus dem Schwaben der Schiller, Hegel, Schelling, aus dem Weimar Herders brach das neue Ethos der Zeit in das knisternde Gefüge.

Jean Paul, der arme und halb aus Mitleid aufgenommene Hauslehrer in einem öden Gut bei Hof im Fichtelgebirge, sammelte die Strahlen der Zeit in sich ein. Noch immer rang er in seiner Satirendichtung mit den Schatten 146 der rationalistischen Kunstpoesie, aber er war doch der Ersten einer, der das Wehen der neuen Zeit begriff. Gewiß war es damals nichts Leichtes, nach der Kritik der reinen Vernunft bereits die Ziele zu erkennen, die Kant im Auge hatte. Jean Paul faßte sie. »Ich weiß aber nicht, wie Platner ihn mit Hume vergleichen können, da er nichts weniger als ein Skeptiker ist«, schrieb er schon im Februar 1785 an Oerthel. Das war das Entscheidende: daß Kant der Periode eines unfruchtbaren Skeptizismus ein Ende setzte und nach der Reichweite der Vernunft überhaupt zu fragen begann. Wie eine Befreiung hatte die »Metaphysik der Sitten« auf den im Irrgarten der Vernunft taumelnden Jüngling gewirkt. Unter dem Eindruck der Lektüre fand er das bekanntgewordene Wort über Kant in einem Brief an Vogel: »Kant ist nicht ein Licht der Welt, sondern ein ganzes strahlendes Sonnensystem auf einmal.« Und in einem Brief an Hermann nannte er ihn »den Kometen, auf dem der Jüngste Tag flammt, und der die Himmelsstufen zum Spaß auf und nieder springt«. Niemand hatte so unmittelbar nach Erscheinen der Kritik dem ostpreußischen Genius eine solche Begrüßung darzubringen vermocht, und wenn sie nur in kurzen Briefstellen bestand, die Jahrzehnte hindurch unbekannt blieben: einmal arbeiteten sie sich doch ans Licht und beleuchteten nachträglich die ersten Schritte der kritischen Philosophie.

Jean Pauls Stellung zum Kritizismus hat später Wandlungen durchgemacht. Mit heißer Seele ergriff er in ihm das bahnbrechend Neue, aber die Verflüchtigung des »Dinges an sich«, die mehr und mehr in den Vordergrund trat, war gegen seine innerste Natur, und gegen die Zuspitzung der kantischen Philosophie in Fichte schrieb er später seine »Clavis Fichtiana«. Was die Jenenser Romantiker von Fichte 147 fort zu Schelling führte: die Vernachlässigung des Menschen, die Ableitung der Natur als eines untergeordneten Nicht-Ich, dasselbe Empfinden begründete Jean Pauls Stellung gegen ein System, das die ungeheure Realität der Außenwelt antastete. Kleist reagierte später auf die kantische Philosophie mit innerem Zusammenbruch. Jean Paul schrieb gegen sie seine »Clavis Fichtiana« und hetzte sie unermüdlich in Satiren zu Tode. Es war die gleiche Auflehnung des mit der Erde Verbundenen gegen den Geist einer Systematik, die sie in Denkformen auflösen wollte.

Schon in Töpen fand sich Jean Paul zur Klarheit seiner Stellung hindurch. Sie konnte trotz allem nicht in der Nachfolge Kants bestehen. Goethe freilich fand, seit er aus Italien zurückgekehrt war, seinen Platz im kantischen System. Seine Scheidung von Form und Stoff, von Kunst und Leben ermöglichten dies. Wie Kant war er geschichtlichem Denken abgeneigt und glaubte an die Stabilität der menschlichen Institutionen. Jean Paul aber mußte sich ganz von selbst jener von Hamann ausgehenden Richtung zuwenden, die die Auflösung der Lebenstotalität ablehnte und das Dasein nur in seiner Gesamtheit als Offenbarung begreifen konnte. Es war Herder, der in dem Jüngling die größten Erschütterungen erregte und seinem Denken und Leben für immer die Richtung gab. Im Jahre 1788, als Jean Paul noch in Töpen weilte, fuhr der Vergötterte auf seiner Reise nach Italien, der ersten größeren Station, Koburg, sich nähernd, dicht an Jean Pauls Aufenthaltsort vorüber und einige Jahre später sogar durch Hof. Hätte Jean Paul davon gewußt, kein Weg wäre ihm zu weit, kein Wetter zu schlecht gewesen, dem Reisewagen Herders sich zu nahen. Noch in den »Flegeljahren« führte er diese Möglichkeit der Begegnung liebevoll aus.

148 Wie mannigfach wirft die Zeit Menschen und Schicksale durcheinander! Einige Tage später traf Herder in Augsburg mit dem damals achtundzwanzigjährigen Dalberg, Domherrn zu Worms, Trier und Speier zusammen, der auch in Jean Pauls Leben bedeutungsvoll eingreifen sollte. Wie begegneten sich unsichtbar in diesen Tagen Jean Pauls und Herders Anschauungen, wenn Herder von Nürnberg aus über Dürer nach Hause schrieb: »Solch ein Maler möchte ich auch gewesen sein.« »O wie haben die Fürsten den Geist der deutschen Nation verkannt, unterdrückt, verschlemmt und vergeudet.«

Damals stand Herder auf der Höhe seines Ruhms und seines Lebens. Aber schon machte sich ein leiser Umschwung der Zeit bemerkbar, standen dunkle Widerstände rings um ihn auf. Die ersten Bände der »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« waren erschienen und hatten seine Ideenwelt in einem großen Bilde umrissen. Ein Lebenswerk, das alle Ströme eines Lebens in sich einfing und ihnen Sinn gab. Ein Lebenswerk in einem höheren, damals erst geschaffenen Sinne, nicht nur im Sinne eines umfassend gefügten Gedankenbaus, sondern als Ausdruck eines Denkens, Fühlens, Wollens zugleich, eines Werkes, in dem ein ganzer Mensch mit seinem Schicksal sich offenbarte. Damals nahm noch Goethe an Herders Briefen, die Karoline Herder ihm vorwies, den stärksten Anteil und lobte Herders »gute Art und das rein gewaschene Auge, mit dem er alles sah«, und so vielfach sah, da er, Goethe, immer nur eine Sache sähe. Es war wie immer bei Goethe der treffende Ausdruck: Er sah im Einzelnen die Welt, während Herder sein Auge über das Weltganze schweifen ließ.

Und dennoch trieb das geistige Dasein schon in einer neuen Richtung. Unerheblich und rein komisch war es 149 freilich, wenn der Patriarch der Aufklärung, der alte Moses Mendelssohn, äußerte: »Ich fürchte, ich fürchte, es steckt Schwärmerei dahinter.« Aber auch die Jenaische Allgemeine Literaturzeitung brachte ablehnende Besprechungen im Januar und November 1785. Über den ersten dieser Aufsätze schrieb Knebel an Herder: »Ich habe mich gestern Abend noch über den Artikel, der Ihre Ideen betrifft, etwas geärgert, ich kann es nicht leugnen. Er ist gewiß von so einem illustren Dummkopf, einem Professor, der die Weisheit nach Maß und Elle zuschneidet. Wie schade wäre es, wenn ein so gelehrter Esel Sie nur um einen Schritt in Ihrem Wege störte und Ihnen eine Stunde Zeit verdürbe. Freilich mag es der lichtscheuen Fledermaus wehe tun, wenn sie sich nicht wie der große Vogel des Tages erheben kann.« Diese »lichtscheue Fledermaus« war niemand anders als Kant.

In Kants Kritiken des Herderschen Hauptwerks kreuzten sich zwei Weltanschauungen, die ohne Ausgleich scharf gegeneinanderstehen. Der Erkenntnisdichter stieß hier auf den Erkenntnistheoretiker. Intuitives Welterfassen auf kritische Methode. In diesem Kampf konnte es keine Entscheidung geben, denn freilich als Wissenschaft war Kants Methode weit überlegen. Aber was Herder wollte, war ja gar nicht reine Wissenschaft. Er lehnte es ja gerade ab, mit Hilfe bloßer Erkenntnis die Welt einfangen zu wollen, und wie weit er von bloßer Wissenschaft entfernt war, zeigte in voller Klarheit die Aufreihung seiner »Gedanken« in der kantischen Darstellung. Das war nicht Herder mehr, was Kant in den »Ideen« als Herders Gedankengefüge erkennen wollte; das war eine metaphysische Begriffsspekulation, die Herder zu allererst abgelehnt haben würde.

Aber was der grimmige Knebel für die Afterweisheit eines »illustren Dummkopfs« hielt, das schlug in Wahrheit die 150 erste Bresche in die Welt Herders, das »erledigte« ihn in der Tat für die kommenden Menschenalter. In Kant siegte die Wissenschaft, das heißt der spezialisierte Mensch, über den allumfassenden Menschen. Hamann wie Herder schickten eine »Metakritik« als Warnung hinterher. Die Erkenntnis aus der Einheit des Menschen herausisolieren zu wollen und auf ihr das Weltbild zu errichten, erschien ihnen als der verhängnisvolle Grundirrtum Kants und der Zeit.

Hatten sie recht? Die Beantwortung dieser Frage schließt das Urteil über die Entwicklung des deutschen Geistes und das Schicksal des deutschen Volkes seither ein. Wenn man in gesteigerter Tüchtigkeit und Differenzierung den Endzweck menschlicher Gemeinschaft erblickt, kann man sich bejahend zu dem Sieg der kritischen Methode stellen, wobei noch zu bemerken ist, daß es sich bei dieser Wertung um die Auswirkung Kants, nicht völlig um ihn selbst handelt. Aber als menschlicher Typus war er der Träger des fortgesetzten Rationalismus, des rein logisch orientierten Verstandesmenschen, der die Eigenschwere der Welt verflüchtigte, der die Frage nach dem Ding an sich als interesselos offen ließ. Durch den Kritizismus konnte nur eine Periode der strengen und exakten Wissenschaft und Technik eingeleitet werden. Nur wenige damals sahen, daß die Welt in der Verfolgung der kritischen Philosophie veröden und auseinanderbersten mußte. Zu diesen wenigen gehörten Hamann, Herder und als dritter Friedrich Jacobi. Aber diese wenigen wurden in den entscheidenden achtziger und neunziger Jahren beiseitegeschoben.

Letzten Endes war dieser Konflikt nur ein Kapitel in der tausendjährigen Geschichte des deutschen Volkes überhaupt. Ein Abschnitt von dem schmerzvollen Wege der germanischen Stämme zur Deutschwerdung. Wie einst den Frühstämmen 151 römische Kirche und römisches Recht aufgezwungen worden war, – wie in der Aufklärung spätrömische Zivilisation Luthers Suchen nach einem deutschen Glauben überwunden hatte, so siegte auch diesmal römische Begrifflichkeit über deutsches Natur- und Allgefühl, römischer Staatsbegriff über deutsches Volksbewußtsein und deutsche Reichsidee. Das aber ist der unvergängliche Sinn jener Gestalten von Klopstock, Hamann bis zu Jean Paul, und über sie hinaus in ihrer Wirkung bis zu den Männern der Paulskirche: daß in ihnen die deutsche Sehnsucht nach der ihr eigentümlichen Form ihre Verwirklichung fand. Aus der Ganzheit eines umfassenden und jeder Spezialisierung spottenden Weltgefühls wurde hier aus der Tiefe deutscher Volkstümlichkeit heraus deutsches Leben gelebt, das, wenn es nach Völkerfrieden und Menschheitsversöhnung die Fahnen aussteckte, immer noch tausendfach deutscher war (auch im realpolitischen Sinne!) als alles, was als »staatserhaltend« und »streng national« seither auf den Plan trat und doch immer nur die Interessen der Territorialstaaten und ihrer Dynastien vertrat.

Nur eine Zeit, die an voraussetzungslose Wissenschaft und überzeitliche und übervolkhafte Erkenntnis glaubte, konnte an Erscheinungen wie Hamann und Herder vorübergehen. Im Lichte dieser Wissenschaft freilich mußte ihr Stern verlöschen, aber diese Wissenschaft raubte uns zugleich den Sinn für das, was sie waren, ohne uns einen Ersatz für die Weite und menschliche Tiefe ihrer Weltschau zu reichen. –

In Töpen trug Jean Paul diesen Konflikt der Weltanschauungen zur vollen Klarheit aus. Schon in der Leipziger Zeit hatte er das Urteil gefällt, daß die Zeit keine großen Menschen habe. »Wir haben große Geister gehabt, aber noch keine großen Menschen. Alle unsere Genies 152 schwingen sich durch ihren Verstand über diese Erde weg . . . Allein eine Ausnahme ist da: Rousseau – Seine Fähigkeiten machen ihn zum großen Mann – sein Herz zum großen Menschen.« Hier ist zum erstenmal das Ideal eines geistigen Führers gekennzeichnet, wie Jean Paul ihn ersehnte. Nicht die höchste Steigerung intellektueller Begabung schwebte ihm vor, sondern der große Mensch, das heißt einer, der mit Denken, Fühlen, Wollen zugleich der Zeit dient, ohne auch in seinem Leben diese drei notwendigen Seelenfunktionen des Menschen voneinander zu trennen und isoliert auszubilden. In Töpen wurde er sich darüber klar, daß dieses sein Ideal nicht von Kant, sondern nur von Herder erfüllt wurde.

»Edler Mann, gegen den ich nicht den Mut habe, höflich zu sein«, schrieb er schon von Hof aus an Herder. Und bald darauf: »Mir tat es allzeit wohl, wenn ich die Sonne mit einem menschlichen Gesicht im Kalender gemalet sah. Diese Art von Menschsein milderte ihren Glanz und brachte sie den Menschen näher . . . Aber Sie haben ja ein Menschenangesicht! und vielleicht doch auch für mich.« Trotz mehrmaliger vergeblicher Versuche unternimmt er immer wieder das Wagnis, sich dem angebeteten Verfasser der »Ideen« zu nähern. Wie wenig sollte er sich getäuscht haben. Nur daß er dann schließlich in Herder nicht mehr den thronenden Sonnengott, sondern einen vom Schicksal übergangenen und verkannten Menschen antraf.

»O wie haben die Fürsten den Geist der deutschen Nation verkannt, unterdrückt, verschlemmt und vergeudet« schrieb Herder von Nürnberg an seine Karoline. Und rührte damit an eine Saite, die so mannigfach zur gleichen Zeit in Jean Paul anschlug. Das Fürstentum Baireuth war mehr als Jahrhunderte lang von seinen Fürsten ausgesogen worden 153 und hatte fürstlichen Übermut in ganz besonderem Grade an sich erfahren. Die Erinnerung daran lag noch in aller Herzen. Nie wieder seit den römischen Cäsaren haben sich Menschen in dieser Weise mit allen ihren übelsten Instinkten ausleben können wie die deutschen Fürsten des Barock. Ihre Geschichte ist eine Geschichte der Laster und Verbrechen, und noch zu Jean Pauls Zeiten seufzte das Land unter der Schuldenlast, die zum Bau der Prunkschlösser und zur Befriedigung schamloser Lüste gehäuft war. Untertanen wurden zur Unterdrückung der amerikanischen Freiheit, wie in Hessen so auch von den Baireuther Markgrafen, um Geld verkauft. Bauern und Stadtbevölkerung lebten in dürftigster Armut. Der Stand der Theologen war ja nicht der einzige, der zeitlebens am Hungertuch zu nagen hatte. Bettler durchzogen in Scharen das Land. Und über dem Elend der Massen füllte pomphafter Prunk die zauberhaften Paläste, die aus Tränen errichtet waren. Hatte Jean Paul bis dahin in diesen Zuständen willkommenen Stoff zur Satire gesehen, obwohl ihm eigene Not den ganzen furchtbaren Ernst dieser Verhältnisse täglich vor Augen führte, so schlug doch jetzt erst die Flamme in sein Herz und entzündete dort brennende Sucht, zu helfen und zu bessern.

Es war ja auch nicht nur, daß einige Ländchen durch despotische und verschwenderische Regierungsweise ausgesogen wurden. Viel verhängnisvoller war die Rolle der kleinen Dynastien für das deutsche Schicksal gewesen. Sie zerrissen das deutsche Reich, sich zwischen Volk und Reichsgewalt schiebend und die Einheit des Volkes von innen her zerstückelnd. Der Ruf nach dem deutschen Kaiser, es war seit einem halben Jahrtausend der Ruf nach starker Reichsgewalt gewesen und immer gegen das Willkürregiment der Territorialstaaten erhoben. Das Volk in seiner Not, die Bauern 154 bei ihren Aufständen: sie riefen alle nach dem Kaiser, niedergeknüppelt von den Herren, die sich deutscher Volkseinheit widersetzten, nicht nur Waffengewalt, auch alle Mittel geistiger Überredung und einer erstarrten Kirche aufbietend.

»Eine Demokratie ist eine Theokratie, denn vox populi vox dei«, lautet ein Aphorismus aus jener Zeit, und in der Tat konnte Jean Paul kaum einer andern Ansicht sein, als die dem Schreckensregiment kleiner Despoten die Herrschaft eines geeinten Volkes entgegensetzt. Hier rühren wir an die junge Wurzel jener Bewegung, die später den Ruf nach Einheit mit dem Ruf nach Freiheit ihrer Natur gemäß vereinen mußte. Denn sie entkeimte der Sehnsucht nach der deutschen Verwirklichung. Wenn man die Verhinderer deutscher Einheit und Freiheit traf, dann räumte man zugleich die Hindernisse deutschen Volkstums hinweg und machte den Weg für die Entwicklung frei. Dieser Wille steht von nun ab immer hinter seinen Satiren: die Verwirklichung der Herderschen »Humanität«. Das hebt ihren Spott zum heiligen Gelächter. Die Territorialgewalten und die schützend vor ihnen aufgebaute orthodoxe Theologie, diese Drachen vor der Schatzkammer der deutschen Verwirklichung, ins Herz zu treffen, um den Weg zu bahnen.

Der Aufenthalt auf dem Gute des Kammerrats von Oerthel war durchaus geeignet, solche Gedanken zur Reife zu bringen. Geiz und Habgier hatten in dem Kammerrat den schönen Bund mit Titelsucht und Bigotterie geschlossen. Ein Zusammenstoß mit dem Töpener Pfarrer Morus, der Jean Paul auf der Landstraße zur Rede stellte, weil er Atheist und Materialist sei, mochte den besonderen Anstoß zur endgültigen Ausarbeitung einer Satire bilden, die bereits im Oktober 1787 an Archenholz geschickt werden konnte. Es war die »Launigte Phantasie von J. P. F. Hasus«. Später als 155 »Scherzhafte Phantasie« in die »Herbst-Blumine« aufgenommen.

Schon aus dem Jahre 1784 stammte die erste Niederschrift der kleinen Arbeit. Jetzt aber wurde sie mit frischem Feuer erfüllt und einer Kunst der Handhabung satirischen Stils, die Jean Paul erst gewann, da er über die Satire hinauswuchs.

Von einem Hinausfallen aus dem satirischen Scheinernst, den noch der alte Weiße bei den »Grönländischen Prozessen« getadelt hatte, war jetzt keine Rede mehr. Mit strenger Selbstzucht wurde die Tonart des Ganzen durchgehalten, das aufschäumende Temperament immer wieder in die Form gepreßt, so daß die Glieder der Sätze nicht mehr wie früher nur mit Bildern und Gleichnissen, sondern mit Energie und Empörung geladen sind. Nicht mehr von weit waren die Vergleiche herbeigeholt, sondern aus der Vorstellungswelt der von der Satire Getroffenen genommen und schon in dieser Wahl die Kupplung zwischen Tyrannei und heuchlerischer Kirche gekennzeichnet. Gleich einer der ersten Sätze: »Wenn dem Throne des Lammes im Himmel der Thron des Wolfes auf Erden korrespondiert, so erfreue man sich über das Gute dabei: daß schon hienieden jedes Reich in ein seliges Reich der Schatten (nach dem Aussehen der Untertanen) zu verwandeln ist.« Diese elenden Gestalten der ausgesogenen Bauern wanken durch die ganze Satire. Ihrer war er erst in Töpen inne geworden. Er vergaß diesen Anblick nicht mehr bis zum Tode, und er kehrt in seinen Dichtungen immer wieder. »Wie die Engländer«, heißt es in der »Phantasie«, »den städtischen Palast mit einer künstlich wilden Einöde umringen: so fehlet in jenen Ländchen selten einem prächtigen Landhause, das etwan dem Hofe gehöret, die Nachbarschaft der schönsten, natürlichen unbebauten Wüsten und Wildnisse, die den Bauern gehören. Wie ferner 156 die englischen Gärten . . . durch eingefallne, halb angebrannte Gebäude, durch aufgestellte Galgen und Torturwerkzeuge, durch Beschreibung der schrecklichsten Begebenheiten auf steinernen Pfeilern, kopieren: so möcht ich doch wohl manchen fragen, ob es nicht so glückliche und diesen Gärten nachgearbeitete Länder gebe, in denen niedergebrannte Wohnungen, Ruinen und Galgen für die Bewohner der letzteren, jedem Postwagen vielleicht so zahlreich entgegenlaufen, daß sie die lange und wohltätige Hand leicht verraten, die sie zu solchen Tiergärten umgeändert.«

Auch den Kriegen gelten die Geißelhiebe seiner Satire, und ihren Opfern, den Soldaten. Über Jean Pauls Ansichten vom Kriege wird in einem späteren Zusammenhange zu sprechen sein. Er hat über ihn das Tiefste gesagt, was je kriegsbegeisterte Jünglinge oder je begeisterte Pazifisten über ihn gesagt haben. Aber der Krieg selbst wurde ihm erst später zum Problem, als die Napoleonischen Kriege die Welt erschütterten. Was ihn in seinen Satiren und auch in der »Scherzhaften Phantasie« ergreift, ist das Schicksal des durch Zwang ausgehobenen Soldaten, dieses unglücklichsten Opfers des Despotismus und seiner Kabinettskriege. Für die Tragödien, die sich hier in Kasernen und auf Schlachtfeldern abspielten, hat Jean Paul die ersten Augen gehabt.

Wachsendes historisches und politisches Interesse hatte vielleicht seinen Grund in der Freundschaft mit Christian Otto, die unmittelbar nach Oerthels Tod einsetzte und bis zum Tode Jean Pauls fortdauern sollte. Des Freundes Sterben blieb eines der ganz großen, eingreifenden Erlebnisse Jean Pauls. Aber seine Vitalität bedurfte eines neuen Freundes, der an seinen Arbeiten und Empfindungen ständigen Anteil nahm, dem er jedem Augenblick seine Seele ergießen konnte. Niemand war für diese Freundesrolle geeigneter als 157 Christian Otto. Von heißer Liebe zu allen Idealen erfüllt, entbehrte seine Natur dennoch eines schöpferischen Momentes. Durch seine Freundschaft für Jean Paul erhielt sein Leben erst Inhalt und Erfüllung, und in viel stärkerem Maße müssen wir ihn den Freund des Dichters nennen, als es etwa Hippel für E. T. A. Hoffmann war. Er gab sein Eigenleben völlig an den Freund hin, und dies in einem Maße, daß wir Jean Paul ohne Otto hinfort nicht mehr denken können. Im Laufe der nächsten Jahre freilich finden wir Otto noch mit eignen Arbeiten juristischen und historischen Inhalts beschäftigt. Seine »Einleitung zu einer Geschichte des europäischen Gleichgewichts« zeigt große und tiefe Gesichtspunkte und faßt das Problem bei der Wurzel. In der Folge aber lebte er nur noch für den Freund. Welchen starken Anteil der freisinnige Otto bereits an der »Scherzhaften Phantasie« nahm, zeigt der Schluß des Aufsatzes: »Ich könnte, sagte ich zu meinem Freunde Otto, diese Phantasie in Druck geben. – Warum? sagte er.« – Ein merkwürdiger Schluß, schon ganz voll Jean Paulischer Eigenwilligkeit.

Am 19. Oktober ging die Satire an Archenholz ab und erschien im Mai des nächsten Jahres in seiner Zeitschrift »Neue Literatur- und Völkerkunde«. Archenholz war der Aufsatz nicht unwillkommen, und der Verfasser des Werkes »England und Italien« mochte in Jean Paul mit Recht Geist von seinem Geiste vermuten. Etwas später schrieb Jean Paul an ihn: »Sie haben das Verdienst, uns aus unsern monarchischen Ketten und Banden aufzurütteln, durch das Beispiel eines Volkes, das sich frei bewegt . . . Möge es Ihnen nie an Zeit . . . fehlen, unserm Frühlingsgefühl (das, wie Gewächse unter Steinen, unter Thronen kränkelt) durch lebende Beispiele, nicht vage Bruder Redners Predigten Luft und Sonne zu geben.«

158 In Leipzig wie in Hof hatte Jean Paul in seiner eignen Dürftigkeit die Not seines Lebens erfahren. In Töpen gewann er Einblick in wirtschaftliche Zusammenhänge. Er lernte den Betrieb einer Gutsverwaltung kennen, und wie scharf er in ihn hineinsah, bezeugt der Umstand, daß er sich in seinem ersten Roman, der »Unsichtbaren Loge«, selbst als Gerichtshalter eines Gutes einführt und mannigfaches Detail einer solchen Tätigkeit gibt. Aber seine veränderten Lebensumstände mußten doch auch andre Töne in ihm aufklingen lassen. Zum erstenmal seit Jahren war er wenigstens der unmittelbaren Not enthoben und in reiche Verhältnisse gestellt. Mochte auch sein Erzieherberuf einen großen Teil seiner Zeit in Anspruch nehmen, so verfügte er doch endlich über einen eignen Raum und Stunden, die ihm selbst gehörten. An allen altvertrauten Stätten, auf denen er mit dem verstorbenen Freund gewandelt, konnte er verweilen und unaufgeschreckt durch die tägliche Lebensmisere wachsen lassen, was sich an Empfindungen in ihm regen wollte. Vielleicht ward er sich jetzt erst dessen bewußt, was das ständige Knarren eines Haushalts und Geschwätzes um seinen Schreibtisch an aufsteigenden Welten erdrosselt hatte. Wahrscheinlich war es überhaupt der ständige Druck, unter dem er lebte, das ständige Geräusch und Leben um ihn, das ihn gezwungen hatte, sich krampfhaft in seine Satiren zu verbeißen. Wieviel reicher umströmten ihn in Töpen die Gedanken und Empfindungen, wuchsen seine Satiren in die Tiefe. Und zum erstenmal konnte er hier aus reiner Empfindung heraus schaffen. Der kleine Aufsatz »Was der Tod ist« zeigt die ungeheure Umwandlung, die in Töpen mit ihm vorgegangen war.

Der Aufsatz wurde später umgearbeitet und als »Der Tod eines Engels« dem »Quintus Fixlein« beigegeben. Den Engel der letzten Stunde, den wir den Tod nennen, verlangt es, 159 einmal selbst das Sterben der Menschen, dem er so oft beigewohnt, am eignen Leibe auszukosten. Auf dem Schlachtfeld, das von Wunden und Qualen dampft, liegt ein Jüngling, dessen Brust zerschmettert ist, und über ihn hat sich die weinende Braut geworfen. In dieses schwindende Leben geht der Todesengel ein und leidet zum Schmerz des Sterbens den Schmerz der Trennung vom Geliebten. »Da überdachte er sanft das schwere Menschenleben . . . . tief rührte ihn die menschliche Tugend und er weinte aus unendlicher Liebe gegen die Menschen, die unter dem Anbellen ihrer eignen Bedürfnisse, unter herabgesunkenen Wolken, hinter langen Nebeln auf der einschneidenden Lebensstraße dennoch vom hohen Sonnenstern der Pflicht nicht wegblicken, sondern die liebenden Arme in ihrer Finsternis ausbreiten für jeden gequälten Busen, der ihnen begegnet, und um die nichts schimmert als die Hoffnung, gleich der Sonne in der alten Welt unterzugehen, um in der neuen aufzugehen.«

Diese kleine Dichtung, die in der deutschen Literatur seit Klopstock nicht mehr gehörte Töne einer kosmischen Schau in sich barg, sandte er, zusammen mit einer Satire »Ob man den Pöbel aufklären dürfe« an Herder mit der Bitte, sie in Wielands »Merkur« unterzubringen. Ende Oktober mahnte er noch einmal. »Ich kann meine unberufene Vermehrung und Unterbrechung Ihrer Geschäfte mit nichts entschuldigen, als mit dem Vertrauen auf helfende und vertrauende Humanität.« Von seiner Armut hatte er Herder bereits früher geschrieben. Ganz stark glaubte er unter Berufung auf die »Humanität« ihres Verkünders an das Tor pochen zu dürfen. Hätte Herder seine Briefe wirklich erhalten, er würde wahrscheinlich auch diesmal Jean Pauls Arbeiten mit einem kurzen Höflichkeitsvermerk zurückgesandt haben. Nicht aus Mangel an Hilfsbereitschaft sondern an Zeit. Es war sein 160 Schicksal, stets durch eine Flut von Berufsgeschäften überlastet zu sein. Aber diesmal befand er sich in Italien, und Karoline Herder empfing Jean Pauls Sendung. Infolge dieses Zufalls wurde sie die erste Frau, deren Herz Jean Paul eroberte. Es war die kleine Dichtung »Was der Tod ist«, die sie für den unbekannten Verfasser gefangennahm. »Ihr zweites Stück, was der Tod ist, hat mir so innig wohl gefallen; ich hätte beinahe Ihren wahren Namen anstatt Hasus darunter gesetzt.« Sie traf damit ins Schwarze, denn Jean Paul war in der Tat im Begriff, den Satirenschreiber »Hasus« zu überwinden und als eignes Wesen unmaskiert in die Welt zu treten.

Karoline hatte die Aufsätze wie gebeten an Wieland geschickt, sie aber von ihm zurückerhalten. Einmal für ihren unbekannten Schützling tätig, hatte sie dann mit größerem Erfolg versucht, die beiden Arbeiten bei Boie, dem Herausgeber des »Deutschen Museum« in Göttingen anzubringen. Indessen ging das »Museum« gerade damals ein, und nur in das letzte Heft konnte noch schnell die Dichtung »Was der Tod ist« eingerückt werden. Die Satire sandte sie notgedrungen zurück, und es wird ihr wahrscheinlich nicht allzu leid getan haben, für diese Arbeit nicht sorgen zu können.

Karolines Brief machte Jean Paul überglücklich. Zum erstenmal ergriff er mit einer Arbeit das Herz einer von ihm schon durch die Verbindung mit dem vergötterten Herder verehrten Frau. Sein Name war in Herders Hause mit Anerkennung genannt worden, und es mußte ihm ein deutlicher Wink sein, daß er diese Auszeichnung nicht durch eine Satire, sondern durch die erste kleine ernste Dichtung erreichte, die er nur wie eine Nebenarbeit mit leichterer Mühe geschrieben hatte. Immer näher rückte der Entschluß, den Satirenschreiber ganz abzuwerfen, um in echten Dichtungen 161 Herzen zu rühren. Sein bis dahin ausschließlich männlicher Verkehr hatte ihm überhaupt die Rolle des Spottenden so lange erträglich sein lassen. Jetzt, da er zum erstenmal in die Nähe des weiblichen Elements kam, mußte die rauhe Außenschale hinsinken. Es war vor allem der Verkehr mit den Frauen und Mädchen von Venzka, dem benachbarten Gut der befreundeten Familie von Spangenberg, der tiefe Wandlungen in ihm hervorrief. Ja, von den Freunden wurde sogar sein ein Jahr später erfolgter Entschluß, seine eigenwillige Tracht aufzugeben und wieder zum Zopf zurückzukehren, auf die Rechnung Wilhelmines von Spangenberg gesetzt.

Heinrich von Spangenberg, der jüngste Sohn der Familie, etwa zwölf Jahre jünger als Jean Paul, hat später über des Dichters Verkehr in Venzka folgende Schilderung gegeben: »Während seines Aufenthalts in Töpen und später in Hof war Jean Paul öfters in dem nur eine Stunde von Töpen und zwei Stunden von Hof entfernten Gute Venzka und dort der Familie von Spangenberg sehr willkommen, die er schon in früher Jugend kannte . . . Mit einem Buche in der Hand, worin er im Gehen zu lesen pflegte, kam er gewöhnlich in den Abendstunden dahin, ging aber früh, nicht selten vor Tagesanbruch, im stillen wieder fort. Vorzüglich gern unterhielt er sich mit der Frau von Spangenberg und ihrer jüngsten Tochter, und obgleich er fast so zu sprechen pflegte, wie er schrieb, so hatte dies in seinem Munde doch nichts Gesuchtes oder Erzwungenes. So äußerte er unter anderm einmal beim Abschied: »Es wäre jämmerlich, wenn ich sagen wollte, es wäre mir angenehm, bei Ihnen gewesen zu sein – denn wie wenig will das sagen!« Die angeborene Sanftmut und Milde, die in seinem Wesen lag, ging auch auf seine Worte über, die durch seinen Baireuther Dialekt 162 einen ganz eigentümlichen Reiz erhielten; und sein lebhafter, stets beschäftigter Geist bewog ihn, sich über jede neue Idee mitzuteilen, welche sich in ihm regte.«

Auffallend, und auch von anderer Seite hervorgehoben, ist die betonte Sanftmut und Milde seines Wesens. Sie erst macht uns seine Erscheinung ganz wahr und deutlich. Dieser Feuergeist, der ständig hingerissen war und andere hinriß, hatte in seinem Verhältnis zu allen Menschen eine zarte Liebe und Rücksichtnahme. Er war eine jener wahrhaft starken Naturen, die des äußerlichen Betonens von Kraft nicht bedürfen. Er stürmte gegen die Mächte der Zeit an, aber aus einem Herzen voller Liebe heraus, und seine Kraft war unbeweglich wie jene höchste Kraft, die Laotse preist.

In seinem letzten Roman »Der Komet« hat er sich selbst beschrieben, wie er damals als Kandidat Richter auf den Landstraßen zwischen Hof und Töpen einherrannte: »einen dürren Jüngling mit offener Brust und fliegendem Haar und mit einer Schreibtafel in der Hand«. So konnte man ihn »singend im Trabe laufen« sehen. Zur höchsten Fertigkeit ausgebildet war seine Kunst, im Gehen zu lesen, die allein die Verbindung unendlicher Spaziergänge mit der Bewältigung einer staunenswert vielseitigen Lektüre erklärt.

Wie früher Oerthel war jetzt Christian Otto seinem Leben der Nächste, und es besteht kein Zweifel, daß Jean Paul diesen Freunden ein Übermaß von Freundschaft und Hingabe entgegengebracht hat. Aber einem andern fühlte er sich doch noch tiefer und dämonischer verbunden, und während die Freunde um seine Liebe rangen, so rang er um die Freundschaft dieses einen, die ihm erst nach jahrelanger Mühe zuwuchs. »Ich werde wohl nicht eher ruhen, als bis ich mich mit ihm verloben dürfen«, schrieb er schon Anfang 1785 über Hermann an Oerthel. »Ich spiele auf die 163 Gewohnheit der Morlakken an, bei denen ein Paar Freunde sich ordentlich kopulieren und feierlich einsegnen läßt . . . An etwas Körperliches müssen alle unsere Empfindungen sich halten und das griechische Feuer der Freundschaft würde gewiß bei uns noch häufiger sein, wenn es sich noch von der körperlichen Schönheit mit nährte . . . Daß sich dieses Feuer zuletzt mit einem Sinnenküzel und -triller endigt, kann nur dem anstößig sein, der das Geschlechtsvergnügen an sich für etwas Niedriges hält. Wer die Reinheit und Höhe kennt, zu der einige unserer Empfindungen nur ein- oder zweimal im ganzen Leben getrieben werden; wer das Hinkende, Niedrige, Mangelhafte, Kraftlose, Flüchtige und Unbeständige, das unsere edlen Empfindungen immer entstellet, mit den Idealen zusammenhält, die in seiner Seele davon liegen: der muß gestehen, daß dieses Leben ein elendes Spiel- und Flickwerk ist und daß wir bestimmt sind, hier auf der Folter unserer Wünsche und des Gefühles unseres Unvermögens zu liegen, wofern es nicht ein zweites wahres Leben gibt, wo unsere Empfindungen aus einem ungesunden dunstvollen Winterhaus ins Freie und in die Strahlen einer größeren Frühlingssonne kommen, wo die Freundschaft die Flügel der Liebe nimmt.«

Bei Hermann kam nun allerdings griechische Schönheit zu den Vorzügen seines Geistes, und so beständig schwebte Jean Paul das Antlitz des Freundes vor, daß er sich Hermanns ihm ähnliche und gleich ihm schöne Schwester, wie er einmal schreibt, nicht als seine Braut vorstellen könne, da er die Empfindung haben würde, mit ihm, Hermann, verbunden zu sein. Jean Paul war vom Eros in seiner tiefsten und schönsten Gestalt erfaßt, und erst heute läuft er nicht Gefahr, mißverstanden zu werden, da wieder einmal eine deutsche Jugend auf männliche Gemeinschaft gestellt ist. 164 Männliche Gemeinschaft, wie sie seit Klopstock im Hainbund und ähnlichen Bünden in Erscheinung trat, war auch die Lebensatmosphäre Jean Pauls. Wohl nie hat ein Dichter tiefere Worte über die Frau ausgesprochen als er, nie seinen Mädchengestalten größere Zartheit und vergehendere Umrisse gegeben als er. Das tiefere Erlebnis aber kam ihm von der Freundschaft, und gerade weil er der Welt der Frau sich nur mit der Peripherie seines Wesens näherte, behielt diese Welt für ihn den Schmelz der Unberührbarkeit. Seine schönsten Mädchengestalten werden von der Wirklichkeit zerbrochen und zerrinnen unter der Spannung ihres eigenen Gefühls. Gemeinschaft kam ihm nur vom Freunde. Seit hundert Jahren ist uns das Gefühl der Freundschaft fremd, und es war wohl nicht zum wenigsten die öde Nivellierung zwischen den Geschlechtern, die unsere Kultur so jämmerlich verarmen ließ. Wie bequem ist es und jedes Gefühl an der Wurzel abtötend: alle Empfindungen auf den Gegensatz der Geschlechter zurückzuführen, als wenn es keine höhere Spannung von Mensch zu Mensch gäbe als das biologische Gesetz.

Jean Paul lebte in einer männlichen Welt, die gerade deshalb voller Spannung und Empfindung war. Gerade deshalb konnte sie den Umkreis unserer auf Männlichkeit gestellten Kultur erfüllen und umfassen, ohne der geschlechtlichen Erotik als eines Empfindungsersatzes zu bedürfen. Aber wie die Welt des Mannes war auch seine Welt voller Hinneigung zu der ewig unbegreiflichen Welt der Frau, die erst durch ihre Unbegreiflichkeit ihre ganze mystische Tiefe und Schönheit erhält, und der mit vager Angleichung am allerschlechtesten gedient ist. Gerade weil Jean Paul ständig in männlichem Lebenskreise weilte, erschloß sich ihm die Natur des Weibes in ihrem zauberischen Glanz. Das ist das Geheimnis seines Verhältnisses zu den Geschlechtern: 165 er umwarb und umspielte die Frau; aber ihr Höchstes erschloß sie ihm nicht im Besitz, vor dem er bis in sein Mannesalter zurückbebte, sondern in ihrer Unberührbarkeit. Sein Schaffen und Menschsein aber ruhte in seiner Freundschaft.

Zwischen Venzka und Töpen flogen seine und Wilhelmines Briefe hin und her. Aber die stärkere Seite seines Gefühls gehörte doch Hermann, der gerade damals unsagbar schwere Zeiten durchmachte.

Wir verließen den Unglücklichen bei Jean Pauls Flucht aus Leipzig. Damals hatte er den Koffer des Fliehenden gepackt und war ihm auch sonst behilflich gewesen. Aber noch immer stand er dem Freundschaftswerben des Mitschülers kühl gegenüber, und erst in der Töpener Zeit zeigen ihre Briefe das vertrauliche Du. Inzwischen war Hermanns Not in Leipzig auf das Äußerste gestiegen. Ein Hofer Stipendium war ihm entzogen worden, und lange bemühten sich die Brüder Otto vergeblich, ihm zu helfen. Um nur das Leben zu fristen, zog er auf die Stube zweier jüdischer Studenten, die er bei ihren Arbeiten unterstützen mußte und in deren Gesellschaft ihm nicht immer sehr wohl war. Dazu kam, daß sein Körper infolge der Entbehrungen und Überarbeitung von Kindheit an seine Widerstandsfähigkeit einzubüßen begann. Durch wochenlange Fußreisen, auf denen er bei Bauern umsonst unterkroch, suchte er sich über die Zeit der höchsten Not hinwegzubringen. Aber völlig krank und ausgehungert kehrte er von ihnen zurück.

Eine Menge wissenschaftlicher Entwürfe hielt ihn ständig im Atem. Im April 1786 schickte er seine »Epistola gratulatoria ad M. Joannem Wilelmum Link« nach Hof, und einige Wochen später folgte seine unter dem anagrammatischen Pseudonym N. H. Marne in Leipzig erschienene Schrift 166 »Über die Anzahl der Elemente«. Ein Jahr später, als Jean Paul bereits ein halbes Jahr in Töpen weilte, kam er nach Hof zurück und wurde bei dem preußischen Rittmeister von Wessenig Hauslehrer. Es war nur eine kurze Ruhepause für den Unsteten, den es nie lange an einer Stelle hielt. Kurze Zeit darauf ging er auf die Baireuther Landesuniversität Erlangen. Hierhin schrieb ihm Jean Paul den für die Folgezeit so außerordentlich wichtigen Satz: »Ich bin des Teufels, wenn ich nicht einmal deinen ganzen Charakter in einen Roman pflanze.« Denn in der Tat sollte Hermanns Charakter nicht nur in einem Roman Jean Pauls vorkommen, sondern eine ganze Seite seines gesamten Schaffens mit ihren wichtigsten Gestalten, bis zu Leibgeber, Schoppe und Dr. Katzenberger hin, erfüllen.

Aber in Erlangen geriet er von neuem in furchtbare Not. Eine von den Ottos versprochene Unterstützung blieb aus, und er drohte, aufs Geratewohl davonzulaufen. Der Plan einer Dozentur in Erlangen für Chemie und Physik zerrann an den dürftigen Lebensumständen des genialen Mannes. Jean Paul schrieb ihm zur Zeit, da er ganz niedergedrückt war und die alte Hypochondrie von ihm Besitz ergriff: »Zu andern muß man sagen: sei, was du scheinst; zu dir: scheine, was du bist. Erdulde noch einmal wie ein Mann das Alpdrücken des Schicksals.« Und nun kommt die wundervolle Stelle, die schon den ganzen Jean Paul in dem Glanz seiner wie aus lichter Höhe quellenden Sprache enthält: »Es wird dich einmal jemand bei Namen nennen, du wirst die Augen aufschlagen und statt der quetschenden Gespenster die Sonne erblicken.« Aber Hermann sollte jene Sonne nicht mehr erblicken.

Auch in Erlangen hielt es ihn nicht. Sein zweites Buch war inzwischen erschienen, »Über Feuer, Licht und Wärme«. 167 Es brachte keine Wendung in sein Leben. Mit einer von ihm geliebten Geheimtuerei enthielt er den Freunden vor, wohin er sich wenden wollte oder deutete es nur mysteriös an. Am 6. September traf er nach einer von schrecklichen Kolikanfällen begleiteten Fußreise in Göttingen ein. Es war die Stadt, die er nicht mehr verlassen sollte.

Inzwischen war es Jean Pauls jahrelangem Bemühen endlich geglückt, die volle und ungeteilte Freundschaft Hermanns zu erringen. Im August 1788 schrieb Hermann ihm, daß man wenigstens einen Menschen sich wünsche, mit dem man ganz aufrichtig sein könne, mit dem man wie mit einem alles durchsehenden Gotte müsse umgehen können, und dieser eine sei er, Richter! aber noch nicht länger als seit etwa drei Vierteljahren, in seinen Augen. Vielleicht durch diesen Satz erst wurde ihm der Freund zu einem zweiten Ich. Er fühlte sich magisch mit ihm verbunden. In seinem späteren Schaffen warf er beider Wesen in einen Schmelztiegel zusammen und legte die Masse wiederum in die beiden Ichs auseinander, die die Pole seines wie Hermanns Wesen bildeten. Im Leibgeber und Siebenkäs, in Walt und Vult waltet die Liebe zu Hermann.

Ein widriges Geschick hatte den zartesten Menschen in das härteste Leben gestoßen, und der Zufall brachte es mit sich, daß Hermanns Hang zu den Naturwissenschaften ihn zum medizinischen Studium führte. So kamen zu dem eigenen Elend noch tägliche Eindrücke fremder Not und fremden Leidens. Die vielfältigen Möglichkeiten von Erkrankungen und körperlichen Qualen umstanden ihn immerwährend, und er reagierte auf diese Eindrücke mit Hypochondrie oder einem Zynismus, in dem sein Ekel an den Widrigkeiten des Daseins sich Luft machte. Von Erlangen aus hatte er eine Schilderung seines Praktikums in Geburtshilfe dem Freunde 168 geschickt, die von Zynismen strotzte. Je scheuer er dem Weibe gegenüberstand, um so tiefer mußte es ihn verletzen, sich mit dem Mechanismus des weiblichen Körpers zu befassen. Zum erstenmal hatte er in der Erlanger Klinik den Zeigefinger in eine lebendige Vulva stecken müssen. »Wie wird mir's gehen, wenn ich einmal bei meiner Frau mit dem eilften Finger touchieren soll.« Seitdem hörte er nicht mehr auf, auf das Mechanische beim Liebesvorgang anzuspielen, und der gleich scheue und zart empfindende Jean Paul, in die Seele des Freundes hinein verletzt, antwortete in der gleichen Tonart, auch er vor diesen Eindrücken in zynische Redewendungen sich flüchtend. »Wo bist du jetzt eigentlich in Condition?« fragt Hermann aus Göttingen an. »In Schwarzenbach oder in Venzka? Ha! ha! jetzt fällt mir wie neu auf einmal die griechische Nase und die so fein geschlängelte Mundeslinie ein; ja, ja, du hast recht: Noscitur ex labiis, quantum sit virginis antrum; noscitur ex naso, quanta sit hasta tua. – Und das Hirschberger Bier dazu! Potz Sapperment, da brauchst du weiter keine Aphrodisiaca. Und hinc illae lacrimae, daher die Verbergung deines straubichten Haares.« (Es war eine Anspielung auf den damals bereits wieder angelegten Zopf.) Oder Hermann schrieb, als er schließlich in Göttingen ein Unterkommen als Hofmeister eines französischen Grafen gefunden hatte, von dessen »unbändiger Gabe zu forzen«, gegen die Hermann mit einer strengen Diät zu Felde zog. Und Jean Paul antwortete in drastischen Purzelbäumen. In diesen Briefstellen wurde die Gestalt Ottomars aus der »Unsichtbaren Loge« geboren, der von den Widrigkeiten des Daseins Zerrissene, und Dr. Katzenberger warf seinen Schatten voraus.

In das Töpener Jahr, von dem wir so wenig Einzelheiten wissen, drängten sich die Eindrücke zusammen, die den Grund 169 eines völlig neuen Jean Paul legten: Die Person Hermanns, die ihm hier als dichterische Gestalt aufging. Die Vertiefung des historisch politischen Blicks. Kant, Herder, und damit auch der Dritte nicht fehle, der ihm fast der Wichtigste werden sollte: Friedrich Jacobi. Anfang 1788 hatte Pfarrer Vogel seine neue Stelle als Superintendent in dem romantisch gelegenen Arzberg angetreten und seinem alten Schüler und Schützling von dort zum erstenmal über Friedrich Jacobi geschrieben, der in Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek gerade wegen seines Streites mit Mendelssohn heftig angegriffen wurde. Noch vor wenigen Jahren hatte Jean Paul sich mit der ersten Fassung der »Scherzhaften Phantasie« an Nicolai gewandt. Jetzt war ihm kein Zweifel mehr, daß er mit der Berliner Aufklärung nichts mehr zu tun hatte. Mit vollem Herzen ergriff er für Jacobi Partei. Schon in den »Teufelspapieren« trat er warm für dessen »Vermischte Schriften« ein, um in der »Unsichtbaren Loge« den Hymnus auf ihn anzustimmen, der mit seinem vertieften Offenbarungsglauben und seiner Gegnerschaft gegen Kant und Fichte für ihn der Philosoph wurde.

Und endlich sollte mit dem Druck der »Teufelspapiere« auch äußerlich die alte Periode zu Ende gebracht und eine neue eingeleitet werden. Noch einmal hatte er das Manuskript umgearbeitet und seinem neu gewonnenen Lebensstandpunkt möglichst angeglichen. In den ersten Monaten des Jahres 1789 – Jean Paul war inzwischen ein Sechsundzwanzigjähriger geworden; mit zwanzig Jahren hatte er das Buch begonnen! – machte sich Beckmann in Gera an den Druck, den er vor drei Jahren versprochen hatte, und im Mai konnte Jean Paul nach sieben langen Jahren erzwungenen Schweigens endlich einmal wieder Dedikationsexemplare an seine Freunde versenden.

170 Nicht sogleich hatte das Buch den Titel getragen, unter dem es das Licht der Welt erblicken sollte, wenn man die Teilnahme ganz weniger Leser – der Erfolg blieb noch hinter den »Grönländischen Prozessen« zurück – so nennen kann. Beckmann hatte auf einem möglichst auffallenden Titel bestanden, zuerst »Faustin« vorgeschlagen, und erst allmählich hatte sich die Bezeichnung »Auswahl aus den Papieren des Teufels« herausgebildet. Um diesen Titel zu erklären, setzte Jean Paul der Schrift das »Aviso des Juden Mendel« voraus, in welchem Mendel erklärt, das Buch unter den nachgelassenen Papieren des ihm verschuldeten J. P. F. Hasus gefunden und beschlagnahmt zu haben. Eigentlich aber habe nicht Hasus das Buch geschrieben, der ein sanfter, milder Mann gewesen sei, sondern der Teufel, der sich nachts, wenn Hasus schlief, seines Körpers bemächtigt habe. (Kennzeichnung der dem Dichter so schwer gefallenen Rolle des herzlosen Spötters!)

Gleich der Anfang zeigt den unendlichen Fortschritt gegen das erste Satirenbuch. Eine feste Situation ist umrissen, und an sie knüpft die Satire an. Mit der ganzen Rücksichtslosigkeit gegen sich selber, die später noch viel auffälliger zutage trat, hat Jean Paul in der Person des Hasus sich selbst herausgestellt. Er ist dieser Hasus, in den der Teufel fuhr, um sich seines schlafenden Körpers zu bedienen. Und zugleich werden die Kulissen der Wirklichkeit beiseitegeräumt und der Blick, wenn auch nur scherzend, ins Kosmische gewendet. Auf einem höheren Planeten will Hasus einst gelebt und dort alle die großen Werke geschrieben haben, die heute auf der Erde unter fremdem Namen gehen. Swift, Sterne und überhaupt die größten Schriftsteller hätten vor ihm den Planeten verlassen und mit ihrem vorzüglichen Gedächtnis auf der Erde dann die Bücher niedergeschrieben und als 171 eigene ausgegeben, die er allein dort oben verfaßt. Das Märchen von der Tonne und der Tristram Shandy wären von ihm, und ebenso die Werke Herders. Hätte man diese Wahrheit früher gewußt, so wäre das Schicksal aller dieser Werke nicht so traurig gewesen, und »besonders die ausgesuchten, die ein gewisser H. Herder ganz frei unter seinem Namen edieret, wären dem traurigen Lose entkommen, daß man sie jetzt in mehr als Einem Kreise Deutschlands, bei allen ihren offenbarsten Merkmalen und Gerüchen eines höhern ätherischen Vaterlandes, bei ihren Sonnensystemen strahlender Gedanken, bei einem Ausdruck, der Blüten und Früchte zugleich trägt, gleichwohl in das Register der Werke einschreibt, die wirklich auf dieser Erde und von einem hiesigen Menschen wären erzeugt worden«. Es war das erste öffentliche Bekenntnis zu Herder, als sein Stern bereits zu sinken begann, und es muß zu Ehren Jean Pauls wie Herders gleich hier vorausgenommen werden, daß auch, als Herder von seiner Zeit gänzlich vergessen und verstorben war, Jean Paul am Schluß seiner »Vorschule der Ästhetik« sein Bekenntnis zu dem großen Ostpreußen erneuerte und sein größtes theoretisches Werk in einen Panegyrikus auf Herder austönen ließ.

Im allgemeinen wird man die ablehnende Haltung auch bei diesem Buch durchaus begreifen können. Und doch sind Dinge darin, die nur einem großen Dichter und Denker einfallen konnten. In der Zeitsatire wurde weit über das damals Übliche hinausgegangen. Noch hatte kein Schriftsteller der neuen Epoche aus dem von Frankreich her kommenden populären Materialismus die Folgerung des mechanischen Menschen gezogen, im Anschluß etwa an La Mettries Buch »L'homme machine«. Es war den »Teufelspapieren« vorbehalten, uns den Automaten als 172 Menschenersatz vorzusetzen, und Herr von Kempele, der seine künstlichen Spiel und Sprechmenschen vorführt, ist die wohlgelungene Ironisierung einer herzlosen gesellschaftlichen Konvention, wie sie einige Jahrzehnte später im Anschluß an Jean Paul von E. T. A. Hoffmann gegeißelt werden sollte. Oder der launige Einfall, den Romanen und Dramen andere Schlußkapitel und sechste Akte anzuhängen und so eine Unzahl guter Menschen wie Siegwart und Werther oder Schillersche Helden vom Tode aufzuerwecken, ist schon ungemein lustig. Und welche Souveränität in der Sprachbehandlung! Wie Jean Paul in dem noch nicht zwei Seiten langen Aufsatz »Warum ich kein Jesuit geworden?« die Triebe und Gründe gegeneinander aufmarschieren läßt, dafür konnte freilich seine Zeit noch kein Verständnis haben. Aber die Virtuosität Morgensterns ist hier bereits erreicht, wenn nicht übertroffen. Oder das grandiose Bild beim Anblick des Luftfahrers Blanchard: wie er ihn über sich sieht als schwimmenden toten Hecht oder als Styliten auf einer Säule von Luft, oder den über sich Schwebenden mit Treibeis und sich mit Grundeis vergleicht – das hat bereits den großartigen Wurf, mit dem der reife Jean Paul seine Bilder aufschleudert.

»Habermanns große Tour um die Welt« mit ihren weit auseinandergerissenen Schauplätzen und dem Durcheinanderwirbeln von Ort und Zeit hat Jean Paul selbst besonders geschätzt. Es gewährte ihm, wie er an Christian Otto schrieb, besonderes Vergnügen, »das rechte Bein am arktischen und das linke am antarktischen Pol zu haben«. Aber die Zeitgenossen schüttelten über diesen vorweggenommenen Expressionismus die Köpfe. Hier, wie an so vielen Stellen des Buches, war Saat ausgestreut, die erst später aufgehen konnte. Wieviel aber nimmt die Schrift schon vom späteren Jean Paul vorweg! Erwähnen wir nur noch die Figur des 173 reisenden Bratschisten Habermann, in dem schon der ganze Flötenspieler Vult steckt.

Unmittelbar an die »Teufelspapiere« schloß Jean Paul eine andere kleinere Arbeit an, die sich im Stil wenig von dem ersten Buch unterscheidet, nur vielleicht noch verwirrender und reicher ist: die »Baierische Kreuzerkomödie«. War schon in den »Teufelspapieren« eine in Hogarths Stil gehaltene Dorfkomödie aufgetaucht, so wurde diese ganze Arbeit gewissermaßen als eine Dorfkomödie aufgebaut, in die die Bauern für einen Kreuzer hineingehen können. Aber dieser Rahmen wird alsbald auch wieder zersprengt, denn »mit dem plombierten Titel will ich nichts haben als etwa – Käufer«, heißt es in der Vorrede. Trotz einzelner lustiger und geistreicher Einfälle ist das Ganze, ebensowenig wie die »Teufelspapiere«, für uns heute nicht mehr recht genießbar. Nur eine Satire daraus, »Meine lebendige Begrabung«, von einem Zynismus, der schon den »Dr. Katzenberger« vorwegnimmt, verdient ausgenommen zu werden, schon weil hier zum erstenmal jenes Motiv des Scheinsterbens auftaucht, das einige Jahre später im »Siebenkäs« zu erschütternder Größe gesteigert wiederkehren sollte. Ein Verleger fand sich für die »Baierische Kreuzerkomödie« nicht. Erst nach Jean Pauls Tode wurde sie von seinem Neffen Förster im »Papierdrachen« herausgegeben.

Mit diesen Hinweisen auf Jean Pauls damalige Arbeiten haben wir ihren Reichtum keineswegs erschöpft, sondern nur durch die wachsenden Wälder seiner Produktion einige Richtwege festgelegt. Ständig entstanden neue Satiren, wurden an Meißner und an Archenholz oder später an Bartuch für das»Journal des Luxus und der Moden« gesandt, kamen zurück oder wurden gedruckt. Weiter rannte die Satirendichtung gegen den Despotismus der kleinen Fürsten an oder 174 die Modetorheiten der Frauen oder die menschlichen Schwächen der Geistlichen. Witzige Einfälle jagten einander, von denen heute noch humoristische Zeitschriften einige Jahre zu leben hätten. Und ganz versiegte der Strom niemals. Noch in den spätesten Werken wird die Darstellung immer wieder durch »Extrablätter« oder andere Einschiebsel unterbrochen. Der »Witz« in dem tiefen Sinne der »Vorschule der Ästhetik«, das heißt der einmalige Einfall, der wie ein Blitzstrahl durch ganze Welten fährt und die fernsten Dinge miteinander verbindet, blieb für Jean Paul dasselbe, was andern Dichtern die Lyrik ist. Später näherten sich diese Einfälle auch in der Form der sogenannten »Streckverse« der lyrischen Gattung. Es war beschwingte Prosa, von einem lyrisch »witzigen« Einfall genährt, wobei wir bei dem Wort »Witz« nie an die heute herrschende banale Bedeutung des Worts zu denken haben. Hier wurden die auffälligen Erscheinungen des Daseins wirklich bis in ihre tiefste Wurzel verfolgt und gaben ihr Äußerstes an Essenz alles Lebens her.

 

Zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Ereignisse erschütterten von neuem Jean Pauls Lebensbahn. Mitte April 1789 ging sein Bruder Heinrich, damals neunzehn Jahre alt, aus Verzweiflung über das Elend seiner Familie, das er nicht mehr ertragen konnte, in die Saale und wurde als Leiche herausgefischt. Und höchstens zwei Wochen später mußte Jean Paul Töpen verlassen und in die Stube der Mutter zurückkehren. »Oerthel mußte,« schrieb er am 28. April schon von Hof aus höhnend an Hermann, »nachdem er sich und seinen Wald diesen harten Winter hingefristet, aus Alimentenmangel seinen ihm so teuren Hofmeister abdanken und kann nie mehr daran denken, einen neuen zu bestreiten.« 175 Ob allein des Kammerrats allbekannter Geiz die Ursache der Kündigung war, wissen wir nicht. Unmittelbar nach Jean Pauls Fortgang begann jedenfalls ein unerquickliches Gezänk über Oerthelsche Bücher, die Jean Paul wohl an Bekannte verliehen hatte und nicht sogleich zurückgeben konnte. »A celui, qui m'a connu et oublié!« schrieb Jean Paul an seinen einstigen Schüler, den kleinen Christian von Oerthel. Aber es stellte sich heraus, daß Christian mit alter Liebe an ihm hing, nur hatte ihm der Vater die Korrespondenz mit dem in Töpen Verfemten verboten. Dafür schrieb der Kammerrat selber: »Schicken Sie dahero mir das widerrechtlich mitgenommene sowohl als eigenmächtig verliehenes, und bezahlen Sie, was Sie schon lang zu tun versprochen, dann bleiben Sie, was Sie in Ihrem Geiste sein mögen. Bei Unterlassung eines als des andern werde sodenn notgedrungen meine Messures schon zu nehmen wissen.« Jean Paul antwortete durch Übersendung eines Dedikationsexemplares. »Da ich das Glück habe, mit einer Gilde und Garnitur von Gläubigern umzogen in der Welt herumzugehen: so kann ich Sie, da das Kreditorenkorps nicht so viel wie Sie allein besitzt, nicht eher bezahlen, als bis ich die minder reichen bezahlt habe.« Noch den Winter über zog sich der Streit um fehlende Bücher hin, und man wird in diesem Punkte Jean Paul von einer gewissen Sorglosigkeit nicht freisprechen können. Auch Christian glaubte er sich wiederholt entfremdet, und das war das eigentlich Unangenehme für ihn. Aber sein alter Schüler ließ trotz des Korrespondenzverbotes keine Gelegenheit beiseite, an den geliebten Lehrer zu schreiben. Noch im März nächsten Jahres richtete er an ihn einen langen und ausführlichen Brief, glaubte nur von einem Besuch in Töpen abraten zu müssen, da er leider »für einen kleinen Ausbruch des Unwillens meines lieben Vaters, 176 da er sich so leichte nicht lenken läßt«, nicht einstehen könne. Jean Paul hat das schmerzliche Erlebnis eines so brutalen und ungebildeten und dabei der höchsten Ehrenstellen genießenden Menschen wie des Kammerrats nur schwer verwunden. Diese Gestalt schrieb sich ihm in die Brust und sollte immer wieder in seinen Dichtungen auftauchen, von dem Kommerzienagenten Röper in der »Unsichtbaren Loge« an bis zum Kaufmann Neupeter in den »Flegeljahren«.

Jean Paul hauste nun wieder in dem alten Zimmer, und es mochte sogar ein gewisser Reiz für ihn darin liegen, von dem zeitfressenden Unterricht entbunden zu sein und sich wieder ganz seinen Arbeiten widmen zu können. Jedenfalls drängte er nicht fort, und selbst als seine Schwarzenbacher Freunde, Pfarrer Völkel, der inzwischen zum Kommissionsrat avancierte Vogel und, eine neue Erscheinung, Amtsverwalter Clöter, ihm die Erziehung ihrer Kinder in Schwarzenbach antrugen, sagte er zwar zu, verschob aber die Übernahme des Amtes bis zum Frühling des nächsten Jahres. Vielleicht war es der Tod des Bruders, der ihn zum Bleiben bei der Mutter zwang.

Einige Wochen nach der Übersiedelung erschienen die »Teufelspapiere«. Noch in seinem letzten Werk, dem »Komet«, macht sich Jean Paul über die gänzliche Erfolglosigkeit des Buches lustig. Damals aber verwand er den Mißerfolg seines zweiten Werkes nur schwer. Vielleicht war es die Kritik des Pfarrers Vogel in Arzberg, die den Briefwechsel zwischen ihnen fast vier Jahre zum Schweigen brachte. Schon früher hatte ihm, bei Durchsicht der ersten Aufsätze, Vogel den Rat gegeben: »Schreiben Sie lieber einen philosophisch pädagogischen Roman, oder etwas über die Religionen in der Welt; das bringt Ihnen Beifall auf Erden und eine Stelle neben Rousseau im Himmel«, und er hatte sich der Kritik Gleims 177 über die »Grönländischen Prozesse« angeschlossen: Sie wären so voll Witz, daß man vor Witz möchte des Teufels werden. An den »Teufelspapieren« tadelte Vogel ihre Schwerverständlichkeit. Und zur gleichen Zeit riet Archenholz, dem die »Baierische Kreuzerkomödie« überschickt war, lieber einen Roman zu schreiben. Wie aber konnte sich Jean Paul, der kaum mit kleinen Aufsätzen fertig zu werden glaubte, vermessen, eine ganze Welt aus sich herauszustellen! Von neuem ging er daran, sein Handwerkszeug zu überprüfen und zu verbessern. Damals entstanden die später so oft berufenen Hefte, die von tausend Aufzeichnungen wimmelten und die höchste Meisterschaft der Sprachbehandlung anstrebten, von der Jean Paul sich noch immer weit entfernt glaubte. »Kettengebirge der Arbeit« stiegen vor seinen Augen auf. Das Leipziger »Andachtsbüchlein« wurde fortgesetzt mit einem Buch, dem er den Titel »Studierreglement« gab. »Lebensregeln«, »Lebensmarschroute«, »Observante« steht über den einzelnen Heften, in denen er sich strenge Vorschriften über die Einteilung, die Diät seines Tages und eine Art zu übender Selbstdisziplinierung machte. Was immer ihm einfiel, wurde von nun an eingezeichnet, einer Anregung von Herders »Humanitätsbriefen« folgend. »Gedanken«, »Bemerkungen über uns närrische Menschen«, »Satiren«, »Ironieen«, »Launen«, »Torheiten«. Zu allen diesen Heften, die durch Fülle bald unübersichtlich wurden, mußten Inhaltsverzeichnisse angelegt werden. Das Hauptgewicht lag auf einem synonymen Wörterbuch, dem »Mitwörterbuch«. Allein für »Besser werden« fand er darin gegen 40 verschiedene Ausdrücke, für »Verschlimmerung« gar 184, für »Sterben« 200. Auf den genauesten charakteristischen Ausdruck arbeitete er ständig hin. Seine Sprache pflügt sich wie in schwerem Boden durch das Land. Hinter dem kleinsten Satz steht eine Fülle von Assoziationen, 178 die alle aufs feinste ausgewogen sind. Vielleicht war es die Arbeit an dieser Technik der Sprache, die ihn trotz des verführerischen Angebots der Schwarzenbacher so lange in Hof zurückhielt. Denn alles bei ihm war dem Gedanken, ein großer Dichter zu werden, untergeordnet, und immer blieb ihm im Grunde etwas von der Anschauung des Rationalismus über die Lehr- und Lernbarkeit der Kunst. Nicht daß mangelnde Begabung ersetzt werden oder Dichtung nach seiner Anschauung des großen Menschen entbehren könnte, aber die Technik war trotz aller Begabung nach seiner Anschauung immer zu erweitern. Was wie ein Zeitresiduum erscheint, war in Wahrheit die Tradition einer großen Kultur, die ihn weiter trug als jeden anderen. Kein Dichter seiner ganzen Epoche, der sich – vielleicht Hölderlin ausgenommen – an Beherrschung der Sprache mit ihm hätte vergleichen können.

Auf einer höheren Ebene stand er, als ihn das alte Höfer Leben wieder umfing. Zwar äußerlich war nichts gebessert. Er war noch immer »der Kandidat Richter«, den man wohl im allgemeinen für einen verbummelten Studenten ansah. Empfindlich war, daß nicht nur das Honorar für die »Teufelspapiere« sehr klein ausfiel, sondern von Beckmann auch noch in einer minderwertigen Münze bezahlt wurde. Hierüber und über die Fülle von Druckfehlern hatte er berechtigte Klage zu führen, die ihm nichts half. Wieder mußte er für den Haushalt der verarmten Familie betteln, für Brennmaterial sorgen, Briefe schreiben. Und nur die Möglichkeit, jeden Tag das Bündel zu schnüren und nach Schwarzenbach zu gehen, machte das Leben in Hof für ihn erträglich. Außerdem war die Familie nicht nur durch den Tod Heinrichs kleiner geworden. Bruder Gottlieb war in Naila beim Bezirksamt als Schreiber untergekommen und schickte von Zeit 179 zu Zeit, kraft einer angenehmen Verbindung mit einer Fleischerstochter, ein Stück fettes Schöpsenfleisch. Diese Verbindung blieb übrigens nicht ohne Folgen. Das Taufregister von Naila verzeichnet, während Gottliebs Briefe von einer »Heirat« berichteten, unterm 30. Mai 1791 die Geburt eines »Hurenkindes«. »Mutter: Katharina Hagenin, ledige jüngste Tochter des Fleischhackermeisters etc. . . . Vater: Johann Gottlieb Richter, Skribent beim hiesigen Vogtei-Amt, ein unwürdiger Pfarrerssohn von Schwarzenbach an der Saal.« Auch der fortgelaufene Bruder Adam befand sich längere Zeit als Barbier in Naila, vielleicht von Gottliebs nahrhafter Verbindung angelockt. Das war das Milieu, unter dem Jean Paul stand, wenn er bei seiner Familie wohnte. Eine heroische Selbstzucht mußte sich als eiserner Panzer um seine Brust legen, um hier nicht zu erliegen.

Ein neuer Freund tauchte in dem Kandidaten Wernlein auf. Er heiratete später eine Schwester der Ottos. Jetzt war er Hauslehrer bei der Familie eines Kaufmanns Herold, deren Töchter in Jean Pauls Leben keine unwichtige Rolle spielen sollten. Amöne Herold wurde für Jahre seine beste Freundin, und mit ihrer jüngeren Schwester Karoline war er sogar eine Zeit hindurch verlobt. Schließlich verheiratete sich Amöne, die geistig Bedeutendste des freundschaftlichen Höfer Zirkels, mit Christian Otto und wurde dadurch auch dem Leben Jean Pauls endgültig eingefügt. Aber dieses vielfache Hin und Her der Herzensbeziehungen spann sich erst allmählich an. Noch lange stand die Freundschaft zu Christian Otto, Hermann und Wernlein, der ihn besonders durch seine philosophischen Kenntnisse und Interessen anzog, völlig im Vordergrund seines Lebens, und der noch immer fortgesetzte briefliche und persönliche Verkehr mit Spangenbergs in Venzka nahm ihn so gefangen, daß er der 180 Freundinnen in Hof erst allmählich gewahr wurde. Er lebte gewissermaßen in zwei ganz voneinander verschiedenen Tonarten. Mit den an ihm hängenden und gleichstrebenden Jünglingen verkehrte er im Stil seiner Satiren mit ihren kühnen Vergleichen und Bildern. Wir können uns vorstellen, daß er hier schon durch seine drastische Ausdrucksweise eine Quelle steter Belebung war. Vielleicht kennzeichnet es ein wenig seinen Gesprächston mit den Freunden, wenn er an Archenholz schreibt: er hätte für seine Kreuzerkomödie das Honorar eines englischen Hengstes für den Gebrauch seines Geschlechts fordern wollen.

Welch andere Töne, wenn er einer der neuen Freundinnen ins Stammbuch schreibt: »Wie einer, der die Sonne untergehen sah, von Hügel zu Hügel klettert, um ihren Untergang noch einmal zu sehen, und wie jede neue Höhe ihm den Untergang wiederholet: so zieht der arme Sterbliche von Hoffnung zu Hoffnung und tritt höher, um von den Freuden, die untergesunken, noch einmal Strahlen ins Angesicht zu bekommen und ihren Untergang weniger zu verschieben als zu verdoppeln. Tritt höher und stoße die Erde zurück: so geht keine Freude und keine Sonne mehr unter, sondern beide stehen. – Diese vierzehn Zeilen habe ich gemacht, nicht um Sie an mich – sondern um mich an Sie zu erinnern, wenn ich in der Abendsonne spazieren gehe und an die Menschen denke, die ihr und ihrem Abschied ähnlich.« – Hier steht der auf den Hügeln der Heimat rings um die Stadt Schweifende vor uns, dem die Natur ringsum mit ihren Bildern zum Abbild seines inneren Lebens wurde oder der die eigenen Qualen und Erhebungen riesengroß in den Kosmos projizierte.

Der Sommer in Hof ging vorüber. Draußen wandelte er auf den Bergen und im Innern auf den »Kettengebirgen der 181 Arbeit«. Von Zeit zu Zeit besuchte er die Venzkaer Freunde. »Denn die Flitterwochen, die ich unter den Karwochen dieses Lebens genieße, bestehen meistens aus Tagen, die ich in Venzka verbracht«, schrieb er an seinen Freund Spangenberg, und es war wohl keine leere Höflichkeit. Der Verkehr in Venzka soll es ja auch gewesen sein, der ihn den alten Zopf wieder anlegen ließ. Es war der Frieden, den das junge Genie mit der menschlichen Gesellschaft machte, und nach seiner Art konnte er diesen Frieden nicht ohne einen besonderen Traktat vorübergehen lassen. Zunächst an die Brüder Otto mag wohl das folgende »Avertissment« gerichtet worden sein:

»Endesunterschriebener steht nicht an, bekannt zu machen, daß, da die abgeschnittenen Haare so viel Feinde haben wie die roten; und da die nämlichen Feinde zugleich es von der Person sind, worauf sie wachsen; da ferner so eine Tracht in keiner Rücksicht christlich ist, weil sonst Personen, die Christen sind, sie haben würden; und da besonders dem Endesunterschriebenen seine Haare so viel geschadet wie dem Absalom die seinigen, wiewohl aus umgekehrten Gründen; und da ihm unter der Hand berichtet worden, daß man ihn ins Grab zu bringen suche, weil da die Haare unter keiner Scheere wüchsen: so macht er bekannt, daß er freiwillig so lange nicht passen will. Es wird daher einem gnädigen hochedelgeborenen pp Publikum gemeldet, daß Endes Unterzeichneter gesonnen ist, am nächsten Sonntage in verschiedenen wichtigen Gassen mit einem kurzen falschen Zopfe zu erscheinen und mit diesem Zopfe gleichsam wie mit einem Magnete und Seile der Liebe und Zauberstabe sich in den Besitz der Liebe eines jeden, er heiße wie er wolle, gewaltsam zu setzen.« Durch die skurrile Art, mit der er die Angelegenheit behandelt, schimmert deutlich der Ernst hindurch. In 182 einem fast neun Jahre durchgeführten Kampf, der ihm schon den Genuß seiner Leipziger Gartenwohnung verkümmert hatte, gab er dem Drängen der Freunde und den Forderungen der Welt nach. Ein Symbol des Kampfes gegen die Gesellschaft sank hin, und er merkte bald die für ihn wohltätigen Folgen. »Ich habe mich enthülset und meinen bisher broschierten Leib in Franzband eingebunden«, schreibt er an Vogel. »Meinen Hals presset jetzt das Zilizium und der Ringkragen einer Binde und meine Haare laufen in ein Suffixum und einen accentus acutus aus, den man hie zu Lande einen Zopf nennt. Ich merke aber sehr, daß andere Menschen, seit ich meinen alten Adam ausgezogen, gegen mich den neuen bessern angezogen.« Während er diese Zeilen an den alten Freund und Berater schrieb, erhielt er die Tochter des Postmeisters von Hof, Renate Wirth, als Schülerin und kam somit mit dem jungen Mädchen in nähere Verbindung, die für ihn in den nächsten Jahren die wichtigste Herzensverbindung sein sollte. Die Familie Wirth gehörte wohl zu den ersten, die gegen ihn einen neuen Adam anzog, wie er sich ausgedrückt hatte.

Und dennoch lag es wohl mehr an seinen Arbeiten als an den neuen Bekanntschaften, daß er die Übersiedlung nach Schwarzenbach noch immer hinauszog. Zu Neujahr hatte er zu kommen versprochen, aber der Anfang des neuen Jahres sah ihn immer noch in Hof und keineswegs mit Umzugsvorbereitungen beschäftigt. Vielleicht war durch das Bemühen seiner Freunde, vorzüglich Ottos, die größte Not seiner Familie gelindert, und die vielen Einladungen, die er nach Venzka und Arzberg erhielt, mochten ihn das häusliche Elend nicht so sehr fühlen lassen. Da wurde dieses Dasein jäh unterbrochen durch den Tod Hermanns, der am 3. Februar 1790 in Göttingen erfolgt war. Obwohl dieses Ereignis 183 vorausgesehen werden konnte, traf es ihn doch mit der ganzen Wucht einer plötzlichen Katastrophe. Ein Göttinger Freund des Verstorbenen gab ihm die erste Nachricht und übersandte ihm einen Brief, den Hermann an ihn zu schreiben begonnen hatte, und den der Tod mitten im Satz abbrach. Er beschwor ihn, den Nachlaß des Freundes zu betreuen und seine Papiere ihm zu übermitteln, der »wie ein Abgebrannter um den Aschenhaufen geht und die geretteten Überbleibsel seiner vorigen Freuden auflieset«. »Als mein Bruder starb,« schrieb er an den Amtsverwalter Clöter in Schwarzenbach, die erneute Verzögerung seiner Übersiedlung erklärend, »glaubt ich nicht, daß noch ein Tag kommen könnte, der das Herz mehr zerquetschte; aber der Tag kam, Hermann starb an seiner mit einem Steckfluß beschließenden Hypochondrie, mein von der Natur geliebter, vom Glück gehaßter Freund.« Eine Welt von Schmerzen und Ahnungen drang auf ihn ein. Er fühlte, daß ihm etwas Ungeheures geschehen war, viel mehr als beim Tode Oerthels, und über ein Jahr lang irrte er um den schriftlichen Nachlaß des Geliebten, um aus ihm sein Bild erstehen zu lassen. Ein Denkmal wollte er ihm aus des Freundes eigenen Schriften und kühnen Systemen errichten, bis er einsah, daß es unmöglich war. Aus einer Neuordnung und Herausgabe der Hermannschen Schriften wurde nichts, und wir bleiben über seine eigentliche Bedeutung im Dunkeln. Vielleicht war er einer jener Unglücklichen, früh Entrissenen vom Schlage der Weininger, nur daß sein Werk noch nicht zu Ende gediehen war. So leuchtet er nicht mit eigenem Licht in die Zukunft hinein, und nur daß er in einigen Gestalten unsterblicher Werke weiterlebt, ist seine Unsterblichkeit. Leibgeber und Siebenkäs und Vult und Dr. Katzenberger steigen aus seinem Grabe, mit ihren Wurzeln von seinem Blut sich nährend.

184 Anfang März endlich erklärte sich Jean Paul zur Übersiedlung nach Schwarzenbach bereit. Amtsverwalter Clöter stellte ein Fuhrwerk und sandte, statt eines Koffers, eine – Tonne, die die Habseligkeiten des neuen Schulmeisters aufzunehmen hatte. Unter glücklicheren Auspizien als die Abreise aus Töpen stand diese neue Fahrt. Clöter, auf Jean Pauls mythisch verankerten und mit ein wenig Selbstverspottung geübten Aberglauben ironisch anspielend, riet, doch ja zur Reise die Zeit des zunehmenden Mondes abzuwarten. Jean Paul, den Ton aufnehmend, antwortete indes zukunftsfreudig, »daß, da die Erde der Mond des Mondes sei, dieselbe bei jenes Abnehmen zunähme, mithin auch er im zunehmenden Licht der Erde und folglich des Stückchens, das man Schwarzenbach nenne, dort ankäme.« Und in der Tat sollte das Stückchen Erde, das Schwarzenbach heißt, bald für ihn in zunehmendem Lichte liegen.

Diesmal ging es nicht in einen fremden Haushalt. Die Erfahrungen von Töpen hatten ihn belehrt. Clöter wollte den von ihm fast allzu stürmisch geliebten Jüngling ganz in sein Haus ziehen, aber Jean Paul stellte die Bedingung, daß er in einem kleinen Schulmeisterhäuschen untergebracht würde und abwechselnd bei den Freunden zu Tisch erschiene. Seine innere und äußerliche Unabhängigkeit wollte er diesmal nicht wieder aufs Spiel setzen. Um aber den für seine erzieherischen Pläne notwendigen Zusammenschluß sicherzustellen, wurde beschlossen, daß Erzieher, Eltern und Zöglinge jeden Mittwoch in einem Gasthaus, außerhalb des Ortes in einem malerischen Birkenwäldchen gelegen, zusammenkommen sollten. In welchem Geiste er diese Zusammenkünfte aufgefaßt wissen wollte, zeigte seine bald nach der Übersiedelung entstandene »Birkenpredigt mit ihren vier Seligpreisungen und dem Schlußsatz: ›Verdammt sind bloß 185 die, die keinen Spaß verstehen; denn diese verstehen auch keinen Ernst.‹« Schon damals also hatte Jean Paul eine Einrichtung im Sinne, die wir heute als »Elterntage« bezeichnen würden. Aber Elterntage in welchem Geiste! Jean Paul war sich darüber klar, und er hat es in der»Levana« deutlich genug ausgesprochen, daß die wichtigste Voraussetzung einer Jugenderziehung erzogene Eltern sind. Von dem Geiste seines Unterrichts sollte ein Hauch in die Häuslichkeit seiner Zöglinge zurückschlagen. Das Entscheidende aber scheint, daß bei diesem erzieherischen Reformwerk der Humor nicht ausgeschaltet, sondern gerade diese Kraft fruchtbar gemacht wurde. Wieviel heiligernste Reformpläne sind seitdem, zum großen Teil an Jean Pauls Gedanken anschließend, ins Werk gesetzt worden. Ihnen allen aber fehlte es an der beschwingenden Kraft des Humors, die Jean Paul in so reichem Maße zur Verfügung stand.

In dieser Berührung mit einer ganzen, ihm anvertrauten Kinderschar entdeckte der junge geniale Erzieher auch in sich Neuland. Nicht wie eine Last, des Broterwerbs halber, übernahm er die ihm gestellte Aufgabe, und er improvisierte auch keineswegs frisch darauf los. Was ihm als Erziehung vorschwebte, hatte sich ihm wohl schon in Töpen zu Grundsätzen verdichtet, die allerdings dort um so weniger auszuführen waren, als er auf den Geist der Häuslichkeit seines Zöglings keinen Einfluß hatte. Diesmal hatte er sich diesen Einfluß durch kluge Maßregeln gesichert und wahrte ihn bis zum Ende seiner Schwarzenbacher Zeit. Wir werden uns mit der Art seiner Erziehung, die er fünfzehn Jahre später in seiner»Levana«, einem der wichtigsten Werke der Pädagogik, zusammenfaßte, noch ausführlich zu beschäftigen haben. Denn diese Tätigkeit leitete unmittelbar in seine große Dichtung über.

186 Seine Schülerschar setzte sich aus sieben Kindern zusammen. Sechs Knaben im Alter von sieben bis fünfzehn Jahren und einem neunjährigen Mädchen. Der älteste Knabe war der Sohn des Kommissionsrats Vogel, zwei andere waren Söhne des Pfarrers Völkel, der einst sein Lehrer gewesen war. Die andern Kinder gehörten zur Familie des Amtsverwalters Clöter. Clöter hatte als Husar mit Blücher zusammen den Siebenjährigen Krieg mitgemacht und vor längerer Zeit einen Eisenhammer, den sogenannten Wendenhammer, in Schwarzenbach erworben. Außerdem war er Fürstlich Schönburgischer Amtsverwalter in Förbau und Schwarzenbach und im ganzen wohl einer der wohlhabendsten Bürger des Marktfleckens. An Jean Paul hing er mit einer für den weit älteren Mann fast rührenden Verehrung, aber auch der Dichter bewahrte ihm Zeit seines Lebens ein verehrendes Angedenken. Zweiundzwanzig Jahre später empfahl er ihn dem in München wohnenden Freunde Jacobi.

Zu dem selbständigen Leben, das zu führen er sich vorgenommen hatte, gebrach es ihm zunächst an jeder Art von Ausstattung. »Beim Antritt meines Schwarzenbacher Schulamts muß ich das gewöhnliche Inventarium übernehmen, das in Stiefeln, Strümpfen, Schnupftüchern und ein paar Kreuzern Geld besteht. Aus diesen vier Artikeln fehlt mir nun besonders der erste, der zweite, der dritte und der vierte«, schrieb er an die immer hilfsbereiten Brüder Otto. Auch auf diese hoffnungsreiche Abreise warf der Mangel seinen drückenden Schatten, und Jean Paul nahm die Hilfe seiner Freunde keineswegs leicht oder gleichgültig entgegen. »Der Brief ist vergnügter als ich,« fährt er fort, »und ich fühle meine beschwerliche Zudringlichkeit darum nicht minder.«

Der 28. Geburtstag aber sah ihn über alle Schwierigkeiten hinweg in dem neuen Wirkungskreis, mit dem sich ihm eine 187 neue Welt eröffnete. Wohl nahm die Erziehertätigkeit einen großen Teil seiner Zeit und Kraft in Anspruch, aber er fühlte sich doch frei und unabhängig. Wo der Tag nicht ausreichte, nahm er die Nacht zu Hilfe, um alle auf ihn einstürmenden Ansprüche zu bewältigen. Nach allen Seiten hin blieben die Fäden ausgesponnen. Mit Venzka unterhielt er immer noch einen regen Briefwechsel. Die Hofer Freunde, allen voran Christian Otto und die Familie Wirth, besuchten ihn des öfteren in seiner Klause, und er wanderte ihnen entgegen oder mit ihnen zurück bis an die Tore Hofs, immer noch seinen Weg verlängernd, um die Trennung hinauszuschieben. Eine Birke zwischen Hof und Schwarzenbach war der gewöhnliche Treffpunkt mit Otto, von wo sie dann in mannigfachen Gesprächen über tausend Gegenstände weiterwanderten. Seine Lebensweise hatte etwas Fliegendes bekommen. Wie seine Definition des Witzes schuf er Beziehungen zwischen den fernsten Dingen, an alle Dinge mit überschäumender Seele anbrandend.

Wie wirkte er damals auf die Menschen um sich? Das Zeugnis Spangenbergs wurde bereits angeführt. Damals aber fehlte ihm noch die lebendige Gemeinschaft mit einem größeren Kreis, der erst in Hof sich um ihn schloß. Erst hier entwickelten sich seine großen gesellschaftlichen Talente. Seine Freundin Helene Köhler, Tochter des einen der einander abwechselnden Bürgermeister von Hof, schreibt über ihn:

»Bei einer gemeinschaftlichen Landpartie lernten wir Richter durch Christian Otto kennen, der ihn uns als seinen besten Freund vorstellte. Meine Mutter, bei ihrer großen Empfänglichkeit für alles Gute, war von dem genialen Jüngling bezaubert, und sein glänzender Humor, in welchem sich zu zeigen er die Liebenswürdigkeit hatte, riß sie zu der lebhaftesten Bewunderung hin. Wie war dies auch anders 188 möglich? Witz, Geist, Gedankenfülle, Empfindungsglut sprudelten mit nie zu erschöpfender Fülle aus ihm; alles ward von seinem mächtigen Geiste ergriffen, und wir fühlten, daß wir noch nie einen solchen Nachmittag verlebt hatten. Von nun an kam Richter in unser Haus, und wir wußten bei näherer Bekanntschaft nicht, ob wir mehr seinen Geist bewundern oder seinen Charakter lieben sollten. Kindlich bis zur Naivität, war er immer bescheiden, offen und gut. Liebenswürdig, fremd in den gewöhnlichsten Dingen des Lebens, ließ er sich mit rührender Gutmütigkeit den Spott über kleine Ungeschicklichkeiten gefallen; so scharf seine Feder und seine Worte treffen konnten, nie war er wahrhaft verletzend, nie traute er jemandem eine böse Absicht zu; sein heiterer genügsamer Sinn nahm willig jede kleine Freude auf, und ihn ergötzte, was andere oft kaum bemerkten. Für die Welt war er ein Gegenstand der Bewunderung und des Ruhms, aber für diejenigen, die das Glück hatten, ihm als Jüngling nahezustehen, blieb er stets der Inbegriff des Edlen und Reinen . . .

»Es begann in unserm Hause eine schöne genußreiche Zeit, an welche ich noch jetzt, nachdem alle Stürme des Lebens über mein Haupt gegangen sind und so viele schöne Erinnerungen entlaubt haben, mit süßer Wehmut zurückdenke. Christian Otto war und blieb unter seinen Brüdern der innigste Freund Richters . . . Richter liebte jenen um so mehr, je häufiger er Gelegenheit hatte, ihm Schonung und Nachsicht zu beweisen; denn Christian Otto hatte eine etwas krankhafte, hypochondrische Natur; es kamen Tage des Trübsinns und der üblen Laune über ihn, wo er mit schonender Rücksicht und Freundschaft behandelt werden mußte, und niemand verstand dies besser als Richter . . . Wir waren alle jung, lebensfroh, zufrieden; wir ergötzten uns an 189 Gesellschaftsspielen, bei welchen das witzige Schreibespiel obenan stand, und die reinste Heiterkeit herrschte in unsern Abendzirkeln, die oft in den verschiedenen Häusern wechselten.

»Richter arbeitete mit bewunderungswürdigem Fleiße. In der stillen Holunderlaube des kleinen idyllischen Häuschens am Schloßplatz entstanden viele jener Blätter, welche sich bald zu dem reichen Kranz des Ruhmes winden sollten, der das Haupt des gefeierten Dichters schmückte.«

Auch Amöne Herold, dem Dichter weit enger verbunden als Helene Köhler, hat später Schilderungen Jean Pauls veröffentlicht. Sie schildert zunächst sein unbefriedigtes Dasein in Töpen: »Denn sobald seine Lehrstunden, die er gewissenhaft abwartete, vorbei waren, eilte er ins Freie, am liebsten in den Wald, legte sich hier unter den ersten besten Baum, starrte unverwandt Wald und Himmel an, zog dann und wann ein weißes Blatt Papier aus der Tasche, schrieb darauf einzelne Worte und eilte nicht selten gleich nach dem Schreiben fort, um zu Hause Gedanken und Bilder, die er sich dort nur angedeutet hatte, weiter auszuführen und auszumalen. Jedem, der ihm unterwegs begegnete, wich er schon von weitem aus; mußte er aber ja einem Bekannten oder Freunde stichhalten, blieb er so einsilbig und kalt, daß man ihn gern wieder sich selbst überließ. Überhaupt suchte er damals nie Umgang, sondern floh ihn vielmehr und galt deshalb für den größten Sonderling, mit dem niemand gern verkehrte. Wer ihn aber näher kennenlernte, fand stets Gelegenheit, Geist und Witz an ihm zu bewundern.« Es ist ein Bild aus seiner zopffreien Zeit, da noch Mißtrauen und Menschenverachtung ihn beherrschten. Wie anders er im Grunde schon damals war, zeigt das Bild, das Spangenberg von ihm entwarf. Bald sollte aber seines Wesens strahlender Kern auch für andere sichtbar werden. Die gleiche 190 Amöne Herold beschreibt ihn auch in der späteren Zeit im Kreis der Freunde und Freundinnen: »Oft, wenn wir uns in der Dämmerstunde um ihn versammelt und er sich und uns mit seinen Phantasieen auf dem Klavier in solche wehmütige Stimmung gebracht, daß uns die Tränen über das Gesicht liefen und er vor Rührung nicht weiterspielen konnte, brach er schnell ab, setzte sich zu uns und sprach uns von seiner Zukunft, seinen Reisen, seiner Frau, die er irgendwo finden würde und die lange schon auf ihn passe, von seinen Kindern (meist waren es drei) und seinem ganzen häuslichen Glück; dann prophezeite er auch wohl, aber immer mit der Miene, mit der er Späße sagte, was er noch für ein großer Mann werden und alle Welt von allen Welten zu ihm kommen und nach ihm fragen würde, wenn er nur erst aus dem Höfer Druck in einen andern mehr hineinkommen, und es würde von ihm im ganzen Lande die Rede sein, und die Höfer würden – dies waren seine Worte – noch große Augen machen über ihre jetzigen kleinen, und Fürstinnen und Prinzessinnen würden uns noch einmal um das Glück seiner Gesellschaft beneiden, – was uns alles freilich sehr unglaublich vorkam.«

Von den Freundinnen war es Renate Wirth, die allmählich sein Interesse am stärksten gefangennahm. »Renate versteht mich«, trug er in sein Tagebuch ein. Er schreibt Briefe an sie, als sie, wie oft, in Baireuth bei seiner Tante zu Besuch ist. Zum erstenmal tritt Baireuth in sein Gesichtsfeld als himmlisches Eldorado, nach dem seine Gedanken hinfliegen. Er hört von den zauberischen Lustschlössern, der Fantaisie und Eremitage, und phantastische Vorstellungen davon nisten sich in seinem Innern fest. Mit Sehnsucht wartet er auf ein Zusammensein mit ihr. Liebt er sie? Er hat es vielleicht selbst des öfteren geglaubt. Aber in seiner Liebe ist etwas, 191 das die Wirklichkeit flieht. Auch hier hat sein Leben etwas Fliegendes. Er stößt in den Bannkreis des Weiblichen hinein und liebt die Person, die ihm diesen Bannkreis am stärksten verkörpert. Seine Liebe wie sein Wesen sind musikalisch. Die Musik tritt wieder in den Vordergrund. Seit seiner Kinderzeit hatte er kaum die schwarzweißen Tasten berührt. Erst in Venzka stand ihm wieder ein Flügel zur Verfügung. Jetzt phantasiert er im Kreise der Freundinnen, schreibt von seinen »Klavierfingern«, und vielleicht waren es sogar Klavierstunden, die er Renate gegeben hatte. Musik wurde ihm in dieser Zeit zum unmittelbaren Ausdruck seines Innern. Beim Phantasieren kamen ihm die Gedanken, und aus seinem nahen Verhältnis zur Musik erst sollten sich seine eigentlichen Schöpfungen losrollen. Anders als bei Goethe, dessen Schaffen auf seinem Verhältnis zur bildenden Kunst basierte. Darin lag nicht einmal die zufällige Verschiedenheit zweier gleichmäßig nebeneinanderstehender Typen, eines musikalischen und eines plastischen Typus, sondern die Verschiedenheit zweier Welten. Plastik war die Kunst des klassischen Altertums gewesen, Musik war der künstlerische Ausdruck der nordisch christlichen Völker. Wenn der Glaube der Alten sich zu Götterstatuen von vollendetem Ebenmaß verdichtete, der Glaube der Nordländer hatte sich von je zum Anstaunen von Naturgewalten erweitert. Goethe war der Träger einer geistigen Tradition, die sich aus der Wiege der europäischen Kultur, aus Hellas, herleitete. Das Anstaunen der Naturgewalten, die Auflösung des Daseins in das Wogen des Rhythmus und der Töne, das stieg von neuem aus der Erde auf, schlug Brücken durch die anerzogene und angewandelte Kulturschicht hindurch zu dem Urgrund der nordischen Seele. Auch Goethe ward dem Werden der Natur hingegeben, aber ihn lockte das plastisch sich Bildende und Entwickelnde in ihr. 192 Die Klarheit ihrer Formen, wie ihre Geschichte sich in einem Zwischenkieferknochen manifestierte, das war es, was ihn ergriff. Wie anders Jean Paul!

In seinem letzten Roman schilderte er sich selber in seinem Verhältnis zur Natur. »Bleibt wohl schön Wetter, mein Herr?« fragt im »Kometen« der Reisemarschall Worble den Kandidaten Richter, und der antwortet: daß es in fünf Minuten wehen würde, weil der Mond dann eben über Amerika kulminiere. Täglich viermal bezeichne der Mond mit einer kleinen Wetteränderung, und wär' es die Verdünnung des Gewölks oder ein neuer anderer Wind, seine Bahn, nämlich erstens bei seinem Aufgange, zweitens bei seinem Untergange, drittens bei seiner Kulmination über uns und viertens bei seiner Kulmination über Amerika. So belauscht Jean Paul das Hineinragen des Kosmos in unsere Atmosphäre, und es ist ihm mehr als eine Spielerei mit Zahlen und Größen. Etwas von der Naturandacht Keplers oder des Kopernikus ist in ihm lebendig, von diesem Geiste des Nordens, der sich der überlieferten Sternenlehre bemächtigt, die ihm durch die Überlieferung des Altertums fast unverstanden zugetragen wird, und sie aufnimmt, sich anverwandelt und aus ihr das neue kosmische Weltbild schafft. Das ist Jean Paul als »Wetterprophet«, wie ihn seine Freunde scherzhaft nannten. Er lebte unter dem Bann des Sternenjahres, und in jedem Augenblick war er sich der Himmelskonstellation bewußt und empfand Wärme und Winde als aus dem großen Weltenraum zu ihm kommend.

Man staunt vielleicht, daß der Jüngling, dessen Schriften und Sprache gelehrte Männer wie den Pfarrer Vogel vor Rätsel stellten, Verständnis bei einem Kreis sechzehnjähriger Mädchen suchte. Und doch ward es ihm zuteil. Mit der Empfängnisfähigkeit der ersten Jugend nahmen die Freundinnen 193 ihn und alles Seinige auf. Die aufnehmende Genialität des weiblichen Geschlechts wurde ihm zum Erlebnis. Was er nur bei wenigen Männern fand, das floß diesen Mädchen in ihrer Gesamtheit zu. Eine weiche und in ihren Möglichkeiten unendliche Welt erschloß sich ihm. Und so wie er es wollte: nicht nur in intellektuell festgelegten Ergebnissen, sondern als Totalität und Leben in der Gesamtheit. Dieser Höfer Kreis war bereits typisch für seine spätere große Wirkung: wenige und auserwählte Männer verstanden ihn, aber der Frauenwelt löste er die Seele. Er zog keine einzelne besonders an sich heran. In ihrer Gesamtheit waren sie der große Gegenpol seiner männlichen Welt.

In diesen Frühjahrswochen schrieb er das Großartigste, was er vielleicht überhaupt je geschrieben hat. Es war ein nicht allzulanger Aufsatz: »Des toten Shakespeare Klage, daß kein Gott sei.« Bald aber hob er diesen Einfall noch höher in die Welt des Geistes. Shakespeare war gewiß ihm und seiner Zeit ein Gott, aber die letzte und höchste Erkenntnis und tiefste Klage, die mußte doch von einem noch Größeren ausgesprochen werden, und so schrieb er den Aufsatz um und gab ihm den Titel: »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei.«

»Da träumte mir, ich erwache auf dem Gottesacker. Der Nachthimmel ist ausgeleert, die Gräber sind aufgetan, und die Türen des Gebeinhauses gehen unter unsichtbaren Händen auf und ab. Hoch oben donnert der Fall der Lawinen und unter der Erde der erste Tritt eines unermeßlichen Erdbebens. Die Kirche schwankt auf und nieder von zwei Mißtönen, die sich in ihrem berstenden Innern bekämpfen. Das Blei der Fenster schmilzt hernieder. Durch den Strom der Schatten wird er in das Innere der Kirchen getragen. Alle Schatten stehen um den Altar und statt des Herzens 194 zittert ihnen die Brust. Einer, der eben erst gestorben, hebt die Hände, aber die Arme verlängern sich und lösen sich ab, und die Hände fallen gefaltet hinweg. Am Gewölbe oben steht das Zifferblatt der Ewigkeit, das sein eigner Zeiger ist, nur ein schwarzer Finger zeigt darauf. Auf dem Altar steht Christus, und alle Schatten rufen ihn an: ›Christus! ist kein Gott?‹ Er antwortet: ›Es ist keiner!‹ Es strömt vom Weltgebäude herab sein angstvolles Rufen: ›Vater, wo bist du?‹ dem keine Stimme antwortet. ›Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.‹ Er schaut in das mit tausend Sonnen durchbrochene Weltgebäude herab, gleichsam in das um die ewige Nacht gewühlte Bergwerk, in dem die Sonnen wie Grubenlichter und die Milchstraßen wie Silberadern gehen. ›Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich?‹ ›Zufall, weißt du dich selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere auswehest?‹ Und er schreit nach seinem Erdendasein, da er den unendlichen Vater noch hatte. ›Ach, ihr überglücklichen Erdenbewohner, ihr glaubt ihn noch. Vielleicht gehet jetzt eure Sonne unter und ihr fallet unter Blüten, Glanz und Tränen auf die Knie und ihr hebt die gefalteten Hände empor.‹ Aber rings ist nur reibendes Gedränge der Welten, Fackeltanz der himmlischen Irrlichter, und liegen die Korallenbänke schlagender Herzen. Die Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit heben sich, fallen nieder und umfassen das All doppelt, es zu zermalmen, und ein Glockenhammer zerschlägt die letzte Stunde der Zeit . . . als ich erwachte.« Niedersinkt er, Gott anzubeten in freudigem Weinen, und der Glaube an ihn ist Gebet. Die Sonne glimmt tief unter den vollen Kornähren, und der Mond steigt friedlich im Morgen ohne Aurora auf. Die Erde streckt die kurzen Flügel aus und lebt wie alles vor dem unendlichen Vater. –

195 Ward je ein größeres Fragezeichen errichtet und über dem Weltgebäude stehengelassen?? Werden wir wie die Toten des Traumes vergeblich nach dem Vater suchen und ist das All ein leerer sinnloser Zufall, in dem »die Eimer auf- und niedersteigen?« Aber diese Frage ist nebensächlich neben dem ungeheuern Bild, das den Grund der Erde aufreißt. Das furchtbare Entsetzen über die Sinnlosigkeit des Lebens kommt wie ein Alpdruck über uns. Der panische Schrecken der Alten gesteigert zum kosmischen Entsetzen. In die niederdrückenden Bilder von den Korallenbänken der schlagenden Herzen, der auf- und niedertanzenden Kirche, diese Erdrindenerscheinung Leben gepreßt. Das alles stellt sich von nun an über alles Leben, auf dem Weltgebäude steht nun immer Christus und erhebt den Ruf: »Vater, wo bist du?«, auch wenn wir mit gefalteten Händen beim Untergang der Sonne niedersinken. Der Ton, der zum erstenmal in der kleinen Abhandlung »Was der Tod ist« angeschlagen war und Karoline Herder ergriffen hatte, der wuchtete jetzt wie der Klang einer Riesenglocke über das All.

Im Frühjahr 1789 war das Vogtland von drei Erdbeben heimgesucht worden, und Jean Paul hatte das unterirdische Stoßen und Dröhnen mit seiner ganzen Dichterphantasie in sich aufgenommen. Zum erstenmal mag ihn hier das kosmische Entsetzen befallen haben, das er in seine Dichtung projizierte. Der Gedanke, daß mechanische Gewalt alles Seelische durcheinanderzuwirbeln vermag, hat sich ihm tief ins Herz gebohrt und unvergänglichen Eindruck hinterlassen. Wenn Naturgewalt seelisches Leben zu vernichten vermag – und wer wollte nicht bei einem Erdbeben für Augenblicke spüren, daß es wirklich so ist! –, dann konnte auch die Welt ohne Gott, das ist: ohne Sinn sein, und wir zerstäubten in Atome, statt ewigem Verein entgegenzuwallen.

196 In seiner Weltanschauung hatte er das Entweder-Oder der Systeme überwunden. In einem Brief an den neuen philosophischen Freund Wernlein, den ersten, mit dem er wirklich und sachgemäß philosophieren konnte, drückt er es aus: »Ich habe Hochachtung vor jedem Unsinn, weil er von und in einem Menschen ist und weil jeder Unsinn bei näherer Umleuchtung Gründe verrät, die seine Annahme entschuldigen . . . das nützlichste Buch wäre eines, das die Vernunftmäßigkeit alles menschlichen Unsinns darstellte.« Deshalb konnte er in seinem visionären Traum keine Entscheidung fällen, denn jenes »nützlichste Buch« lebte mit seinen Resultaten in seinem Innern. Es war die entwicklungsgeschichtliche Aufhebung alles Bestehenden und Gewesenen in einen höheren Zusammenhang, wie sie ihm Herders Anschauung darbot, Hegels Entwicklungsphilosophie bereits vorausnehmend.

Gewaltiges staute sich in ihm an, hinter dem die Satirenschreiberei nun gänzlich zurücktrat. »Indes ich hier mit meinem pädagogischen Quentlein wuchere,« schreibt er im Juli an Otto, »und Einem Orte nütze: tu ich wieder allen übrigen Orten den wirklichen Schaden, daß ich nichts Satirisches hecke. Ich werde mich wahrhaftig schlecht bei der klugen Welt entschuldigen, wenn ich mich mit den vielen Bänden bloß entworfener Satiren, die ich jede Stunde gerichtlich niederlegen kann, zu decken meine.« Er schickt dem Freund ein Verzeichnis solcher entworfener Satiren und bittet, ihm einige der darin aufgeführten Entwürfe zur Ausarbeitung zu bestimmen. Otto wählte »Florian Fälbels Reise mit seinen Primanern« und »Weibliche Ohnmachten« aus, die Jean Paul denn auch in der Folge ausarbeitete. Aber sein Herz weilte doch schon bei einem andern Plan. Schon in dem Brief an Otto spricht er von »dem Romane, an dem ich laiche«, und bald sollte dieser Vorwurf greifbare Gestalt annehmen.

197 Indessen zog sein ganzes Leben an seinem innern Blick vorüber, wie in dem deutlichen Gefühl, daß er vor einer neuen Periode stand. Es geschah in dem Augustbrief an Wernlein. »Seit vielen Jahren schrieb ich nicht so viel Ernsthaftes als im heurigen. Außer Ihnen muß noch, da ich obendrein von Tag zu Tag wieder mich zum zwölften Jahre zurückbegebe, in dem man am weichsten, entweder das Machen eines Romanes daran schuld sein oder das Spielen desselben.« »O, wenn Sie mir vor zehn Jahren einen solchen (Brief) geschenkt hätten, wo ich meine Arme um jeden ephemerischen Freund so innig schlug wie um einen perennierenden – wo ich keinen Menschen kannte, nicht einmal den nächsten, mich selbst, alle aber liebte . . .« Immer tiefer wandern seine Gedanken zurück in die Zeit der ersten aufkeimenden Arbeiten mit ihrer Leipziger Trostlosigkeit. Er spricht von dem Heerrauch, der im Jahre 1783 über weiten Teilen Mitteldeutschlands lagerte wie ein dumpfer Druck. »Im Heerrauchsjahr wölkte dieser Seelenheerrauch (der Skeptizismus) meine so sehr ein, daß mir keine Wissenschaft mehr schmeckte und ich ein Buch mit scharfsinnigem Unsinn lieber las als eines mit schlichtem Menschenverstand, weil ich bloß noch las, um meine Seele zu üben, nicht aber zu nähren.« Wie in eine dunkle Wolke blickte er in die Zeit seiner Satirenschreiberei zurück, das Herz schon voll von dem Roman, an dem er schreibt oder den zu leben ihm bevorsteht. Er war in Venzka zu Besuch gewesen, und vielleicht mag des früh verstorbenen Oerthel gedacht worden sein. Denn unmittelbar darauf sandte er einige Aufsätze an Beate Schäfer, geb. von Spangenberg, Oerthels einzige Liebe. »Meine Absicht war aber auch nur, mir selbst einen Gefallen zu tun, damit ich prahlen und sagen könnte, ich habe an das vortrefflichste Frauenzimmer, das ich in meinem närrischen bloß tockierten 198 Leben gesehen, einen kurzen Brief geschrieben.« Wenige Tage darauf fand das »Examen« seiner Zöglinge statt in dem oft besuchten Birkenwäldchen. »Wie man nämlich von dem jüngsten Richtstuhl in den Himmel übertritt: so wurde unser Examen mit einem Tanz im hiesigen Walhalla verknüpft. Was mich noch in dieser Minute selbst wundert, ist, daß der Examinator selbst mittanzte, und er muß nicht nur zuviel getrunken gehabt haben.« Mit vollem Herzen strömte er in die Kinderwelt ein, die ihm in seinen Zöglingen von neuem sich darbot. Das eigene Kinderland gewann er wieder, aus dem ihm immer die eigentliche Schöpferkraft kam. »Über die verwelkten Kindheitsjahre strömt auf uns ein Wohlgeruch herüber, der schwer zu erklären ist«, fährt er an Wernlein fort. Schon suchte er in dem mehrmals erwähnten Roman, an dem er »laiche«, die Gestalten der eigenen Kindheit zu beschwören. In diesen fröhlichen Sommermonaten, im ständigen Verkehr mit den geliebten Zöglingen, in neuer Freiheit und edelstem Wirken geschah, was er selbst »den seligen Übertritt in die unsichtbare Loge« nannte. Eine ganze Welt erfüllte er zum erstenmal mit seinem Hauch. Über die Erde fühlte er sich emporgetragen und selbst den kosmischen Kräften eingereiht. Nach einigen Monaten der Arbeit empfand er es an einem Abend besonders deutlich, so daß es sich ihm in Worte faßte, die wenigstens einen Schimmer des innern Erlebens einfangen, das ihm die Welt aus den alten Angeln hob. Am 15. November trug er in das Tagebuch ein:

»Wichtigster Abend meines Lebens; denn ich empfand den Gedanken des Todes, daß es schlechterdings kein Unterschied ist, ob ich morgen oder in dreißig Jahren sterbe.« Oder am nächsten Tag: »Ich richtete mich wieder auf, daß der Tod das Geschenk einer neuen Welt sei und die unwahrscheinliche 199 Vernichtung ein Schlaf.« Es war die Antwort, die er sich selbst auf das Fragezeichen seines »toten Christus« gab. Nicht nur so zu deuten, daß ihn die Sicherheit der eigenen Unsterblichkeit in diesen zwei totengleich zugebrachten Tagen überkam, sondern daß er sich selbst als ewige Einheit, als unvergängliche Monade erkannte, von der das Erdenleben nichts fortnehmen und zu der es nichts hinzutun konnte. Es war gleichgültig, was er schrieb und wieviel er schrieb. Er und die Welt war ewig, und kein Sonnenstäubchen ging verloren oder hinzuzugewinnen. Alle Keime enthielten schon Blüte und Frucht. Es war die Befreiung vom Werkwahnsinn der Zeit, der damals die größten Geister selbst erfaßte. Er wollte nichts werden und schaffen, nur sein und ewig sein und in sich hineinströmen lassen und wieder herausströmen nach kosmischem Gesetz. Und gerade dadurch wurde seine Welt so weit und reich. 200

 


 << zurück weiter >>