Walther Harich
Jean Paul
Walther Harich

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Weimar

Um Weimar kreisten Jean Pauls Gedanken. Unter dem Einfluß von Karl Philipp Moritz war Herder hinter Goethe ein wenig zurückgetreten. Moritz hatte mit Goethe in Italien unvergeßliche Zeiten verlebt, und es war nur natürlich, daß er Jean Pauls Blicke wieder auf den Großen von Weimar lenkte. Wir sahen im vorigen Kapitel, welchen Eindruck Goethes und Schillers Bildnisse auf Jean Paul gemacht hatten. Dicht hintereinander hatte er Goethe die »Unsichtbare Loge« und den »Hesperus« übersandt, freilich ohne eine Antwort zu erhalten, aber es war wohl in erster Linie Goethe, der ihn nach Weimar, diesem »Keblah der Seele«, wie er an Wieland schrieb, zog. Wenn Karl Philipp Moritz länger gelebt hätte, so wäre es ihm wohl bald zum Bewußtsein gekommen, welcher unüberbrückbare Abgrund zwischen Jean Paul und Goethe klaffte. Mit seinen Worten nach der ersten Lektüre der »Unsichtbaren Loge«: »Das ist etwas ganz Neues, das ist noch über Goethe!« hatte er eigentlich schon den tiefen Unterschied zwischen beiden Dichtern anerkannt und war auf Jean Pauls Seite getreten. Sein plötzlicher Tod überhob ihn der peinlichen endgültigen Stellungnahme. Auf eine allgemeine Stellungnahme und Auseinandersetzung spitzten sich gerade in diesem Jahr 1796 die Verhältnisse zu. Bekanntlich brachte dieses Jahr auch den endgültigen Bruch zwischen Goethe und Herder, der nur die Einleitung zu andern Auseinandersetzungen, zum Beispiel zwischen Goethe und dem Kapellmeister Reichardt auf Gibichenstein, bildete.

392 Goethe wuchs sich mehr und mehr zum Repräsentanten des alten Europa aus. Die alte Bildungs- und Herrenschicht, die über den erwachenden Völkern lagerte, fand in seiner allem Völkischen und vom Volke her Bewegten abgeneigten Persönlichkeit ihren stärksten Ausdruck. Er glaubte, im Griechentum seine starke Wurzel gefunden zu haben, aber es war Spätrom, das in seiner von jedem Volksbewußtsein losgelösten Persönlichkeit und der von ihm vertretenen Schicht über Europa schattete. Mochte diese Persönlichkeit noch so stark und groß sein, sie konnte die Zeit nicht aufhalten und verbreiterte nur durch ihre Bedeutung den unheilvollen Riß in der europäischen Entwickelung, bis er im allgemeinen Zusammenbruch zutage trat.

Wie immer in bewegten Zeiten, gab es Abtrünnige und Überläufer auf beiden Seiten. Ein Teil des Adels war den neuen Ideen zugeneigt. Der Herrenstand begann deutliche Zeichen der Zersetzung zu tragen. Ein literarischer Libertinismus machte sich breit, der zum großen Teil in Angehörigen der Adelskaste seine Vertreter hatte. Mochte der Adel in Frankreich bis zur Revolution noch so wenig durch Sittengesetze gebunden gewesen sein, er war doch im Rahmen seines Standes geblieben. Abenteuerlust und Leidenschaft wurden befriedigt, doch innerhalb der Grenzen, die Sitte und Herkommen setzte. Und ähnlich war es in Deutschland gewesen. Nun aber lockerten sich die festen Bindungen. Auch aus dem Adelsstande trat das Individuum mit dem Anspruch heraus, sich voll auszuleben. Die Höfe hatten das denkbar schlechteste Beispiel gegeben. Selbst in Weimar, unter den Augen Goethes, war es nicht anders als überall. Die Literatur und der mit ihr verbundene Individualismus hatte entfesselnd gewirkt, besonders auf die Frauenwelt. Zwischen dem alten Herrenstand und der Bewegung, die aus 393 dem Volke sich emporhob mit neuen aber festen Bindungen, bildete sich nun eine neue Schicht heraus: eine entwurzelte, verliterarisierte Gesellschaft. Entfesselte Männer und Frauen, die sich hemmungslos dem neuen »Geist« hingaben, alle Schranken der Sitte niederrissen und sich ausleben wollten in literarischen und körperlichen Neigungen. Die Saat des Sturmes und Dranges ging auf. Riesenvermögen gaben die Mittel her. Mit Freiheitsideen kokettierend, gab man sich den geistigen und leiblichen Trieben hin, von dem Vermögen des Volkes zehrend, für dessen Rechte man einzutreten sich und andern vorspiegelte.

Diese literarische Zwischenschicht machte nun auf den Dichter des »Hesperus« und des »Quintus Fixlein« förmlich Jagd. Hier witterte man die Sensationen, deren man bedurfte, um das schale Leben wieder interessant zu finden. Etwas Parzivalhaftes war an dem aus entlegenen Landstrichen auftauchenden Dichter. Kein Wunder, daß sich der Zaubergarten Klingsors ihm auftat. In seinen Helden wie Gustav und Klothilde fand man die idealisierten Abbilder der eigenen Person. Ihre Leidenschaften, auf denen noch der Tau der Unberührtheit lag, wollte man auch leben, womöglich jedes Jahr wieder. Von den ernsten und heiligen Zielen Jean Pauls nahm man so gut wie nichts ins Bewußtsein auf. Man berauschte sich an seinem Ethos, nahm die zauberischen Ekstasen seines Werks. Es war ein ungeheures Mißverständnis, das den Dichter und Anwalt der Armen in kurzer Zeit zum Mittelpunkt der adligen literarischen Kreise machte.

Mit Parzivalreinheit ging Jean Paul unangefochten durch diese Welt hindurch. Er lebte in ihr, aber sie berührte ihn nicht. Kein Gran seines Wesens gab er ihr zuliebe auf, ja er hat alle diese Menschen, die sich an seine Rockschöße 394 hefteten, mit der Grobheit behandelt, die sie verdienten, die ihnen aber wieder nur eine neue Sensation war. Riesenvermögen und Grafschaften wurden ihm zu Füßen gelegt. Er schlug sie aus und reichte schließlich die Hand einem schlichten Bürgermädchen zum Bunde.

Und dennoch ging er freudig in diese Welt ein, als sie sich ihm, unmittelbar nach dem »Hesperus«, auftat. Am 11. Januar 1796 reiste der Berliner Justizassessor Hans Georg von Ahlefeldt von Baireuth, wo er seiner angebeteten »Minette«, Wilhelmine von Kropff, zu Füßen gelegen hatte, nach Berlin zurück und besuchte in Hof den »genialen Humoristen Richter«. Bei Champagner wurde die Freundschaft geschlossen und besiegelt. Im Handumdrehen duzten sich beide jungen Männer und blieben lebenslange Freunde. Ahlefeldt weihte den Dichter in sein Verhältnis zu Minette, der Frau des Oberstleutnants von Kropff im Regiment v. Unruh in Baireuth, ein. Sie wäre die Klothilde des »Hesperus«. Ein reger Briefwechsel geht zwischen den drei Personen hin und her, und als Jean Paul seine Pfingstfeiertage in Baireuth verlebt, jene denkwürdigen »Hesperuspfingsten«, wie er diesen Baireuther Aufenthalt nennt, lernt er Minette von Angesicht kennen. Diesmal ist er nicht mehr, wie noch bei der Fürstin Lichnowsky, der Anbeter, sondern der Angebetete. Minette fährt ihm bis Berneck entgegen. Sie verfehlen sich, weil Jean Paul zu Fuß gewandert ist und einen andern Weg einschlug. In Baireuth verbringt er einige Tage mit ihr. »Anlangend die schöne Klothilde,« schreibt er an Otto, »so ist alles prächtig und so: Sie fuhr mir Donnerstags bis Berneck entgegen und schickte, da es nichts war, einen noch unerbrochenen in Hof liegenden Brief. Sonnabends früh war nach meiner Ankunft mein erster Griff nach einer Feder, um mich auf fünf Uhr selber vorzuladen. Sie sandte mir sogleich 395 durch den Bedienten ein Billett, worin sie meinen Stundenzeiger um zwei Stunden zurückdrehte: ›Wir wollen alle beide um drei Uhr durch die Eremitage fahren.‹ Ich trabte denn ins untere Stockwerk des Reizensteinischen Hauses und trat durch zwei schöne Zimmer ins dritte, wo sie neben zwei Nachtigallen und neben dem halbverhangenen und unverblümten Fenster saß. Ich sage dir, könnt' ich sie schildern, so hattest du einen ganz neuen weiblichen Charakter im Kopf oder gar im Herzen. Sie hat keine gebogene noch gerade sondern wellenhafte Nase – einen halb übers Gesicht zergangenen Widerschein der Morgenröte und nichts als Schönheiten auf dem Gesicht, dem bloß ein wenig das weibliche Oval abgeht – die schönste veredelte Berliner Aussprache . . . Ihre Stuhl- und Fensterreden waren voll Menschenliebe. Festigkeit, Sanftmut – sie duzet sich Gott weiß mit welcher Prinzessin und war am . . . Hofe, also ist sie gerade so bestimmt und ungeniert, nur talentvoller und herzlicher als die Wiener Fürstin. Du solltest sie gehen sehen. Sie hatte meine Loge ungebunden vor sich liegen und klagte über den zögernden Buchbinder, und zugleich gebunden aus der Lesegesellschaft und gab mir gleich die zehnte Seite des ersten Teils zum Beurteilen oder Verurteilen vor.« Er fährt mit ihr im Wagen durch die Anlagen der Eremitage, verbringt den nächsten Tag mit ihr, lernt ihren Mann kennen. »Ihr Mann ist ein gutmütiger Pommer: sie sagt, sie sei ohne Liebe in der Ehe, doch durch die Achtung für ihn glücklich.« Eine Ehe wie die bekannte der Frau von Stein. Herr von Ahlefeldt versorgt ihr Dasein mit der notwendigen Romantik, ohne übrigens den Frieden ihrer Ehe mit dem »gutmütigen Pommern« (richtiger Braunschweiger) zu zerstören. Sie schreibt an Jean Paul von Ahlefeldts Liebe, »die nie erwidert werden kann, ihn den Guten, Edlen unglücklich macht 396 und meine Tage oft trübt«. Jean Paul schwelgt in dem vornehmen Verkehr, der kultivierten Umgebung, den halb verdunkelten Zimmern. Es ist die Welt, nach der sich schon der junge Leipziger Student gesehnt hat.

Wie werden diese Menschen, so fragt man sich, dem Andrang einer neuen Welt standhalten? Noch liegt der ungeminderte Glanz sonnbestrahlter Vergangenheit auf ihnen. Aber schon grollt es in der Tiefe. Im Januar hatte Jean Paul an Otto aus Baireuth geschrieben: »Die Staatsinquisition hier liegt wie Bleiplatten auf Kopf und Brust und es laufen eigentliche mouchards herum. Alles seufzt, keiner spricht. Gleichwohl ist ein Auskulant Geier aus Erlang hier, der öffentlich in Redouten Freiheit und Gleichheit predigt, der gleich seinen zwei Klientinnen schon siebenmal hinausgeworfen wurde, und der das achte Mal wieder auftritt. Er stellet den Soldaten Dinge vor, die sie nicht anhören dürfen, solange sie nicht Sansculotten im bildlichen Sinne sind. Völderndorf ließ ihn . . .« Wir erfahren aus dem Briefkonzept nicht, was der Regierungspräsident von Völderndorf, mit dem Jean Paul übrigens später befreundet wurde, mit dem Aufsässigen machen ließ. Jedenfalls wurde den Soldaten des Herrn von Kropff bereits die Revolution gepredigt, während seine Frau mit dem Justizassessor von Ahlefeldt schwärmende Briefe schrieb. Die Zeit war in Zersetzung begriffen. Es tat not, nach neuen Formen zu suchen, die Bewegung in geordnete Bahnen zu zwingen. Aber wie diese Menschen mühelos den Geist von Sturm und Drang in sich aufnahmen, ebenso mühelos saugten sie wenige Jahrzehnte später das Narkotikum der Heiligen Allianz in sich ein. Die wichtigen Probleme blieben ungelöst. Goethe hatte die Bildungsschicht von den großen Bewegungen weg zur Beschränkung auf die eigene Persönlichkeit hingeleitet. Aber mit 397 den großen Zielen sanken auch die Persönlichkeiten dahin, und übrigblieb allein die leere Macht, hinter der keine Idee mehr stand, und ein Repräsentantentum, das nichts mehr repräsentierte.

Noch ein anderer Vertreter des literarisch interessierten Adels trat zur gleichen Zeit in den engeren Freundeskreis Jean Pauls ein: Friedrich von Oerthel, und so eng schloß sich Jean Paul an ihn, daß der neue Freund ihm später mit seinem Jugendintimus Adam von Oerthel fast zu einer Person verschmolz. Friedrich von Oerthel – auch sein Vater war Besitzer eines Rittergutes und erst nachträglich geadelt – hatte eine Reihe von Schriften verfaßt, unter denen seine Arbeit »Über Humanität; ein Gegenstück zu des Präsidenten von Kotzebue Schrift vom Adel« wenige Jahre vor der Bekanntschaft mit Jean Paul erschienen war. In der von Oerthel angegriffenen Schrift hatte Kotzebue den Verfasser der »Grönländischen Prozesse« wegen seiner Ausfälle gegen den Adel einen elenden Witzling genannt. Daß Oerthel gegen diese Schrift Kotzebues aufgetreten war, mochte Jean Paul von Anfang an für den neuen Freund einnehmen. Mit vollem Herzen ergab er sich der anziehenden Bekanntschaft, die bis zu Oerthels geistiger Umnachtung ungetrübt andauerte.

Weit wichtiger aber als diese neuen Bekanntschaften sollte für Jean Paul der Brief werden, den er am 8. März 1796 von einer Weimarer Dame ganz überraschend erhielt, da seine Gedanken mehr und mehr um Weimar kreisten. Charlotte von Kalb, die einstige Freundin Schillers und Hölderlins, schrieb ihm: »In den letzten Monaten wurden hier Ihre Schriften bekannt. Sie erregten Aufmerksamkeit, und vielen waren sie eine sehr willkommene Erscheinung. Mir gaben sie die angenehmste Unterhaltung, und die schönsten 398 Stunden der Vergangenheit verdanke ich dieser Lektüre, bei der ich gern verweilte; und in diesem Gedankentraume schwanden die Bildungen Ihrer Phantasie, gleich lieblichen Phantomen aus dem Geisterreiche, meiner Seele vorüber. Oft ward ich durch den Reiz und Reichtum Ihrer Ideen so innig beglückt! Dankbar ergriff ich die Feder. Aber wie unbedeutend wäre dies Zeichen von einer Unbekannten gewesen! Also untersagte ich mir, an Sie zu schreiben, bis in einer glücklichen Stunde ich Ihr Lob von Männern hörte, die Sie längst kennen und verehren. Dann ward der Vorsatz von Neuem in mir rege. Jetzt ist es nicht mehr die einsame Blume der Bewunderung, die ich Ihnen übersende: sondern der unverwelkbare Kranz, welchen Beifall und Achtung von Wieland und Herder Ihnen wand. Wieland hat vieles im »Hesperus« und »Quintus« ausnehmend gefallen; er nennt Sie unsern Yorik, unsern Rabelais. Das reinste Gemüt, den höchsten Schwung der Phantasie, die reichste Laune, die oft in den überraschendsten, anmutigsten Wendungen sich ergießt: dies Alles erkennt er mit innigster Freude in Ihren Schriften.

»Vor einigen Tagen lasen wir in Gesellschaft das Programm vom Rektor Freudel. Sonst wirken Satiren, auf mich wenigstens, beschränkend. Mit kaltem Sinn schwingen die meisten ihre Geißel willkürlich, oder der gereizte Affekt bewaffnet ein Vorurteil gegen das andere – Ihrem Blicke hingegen hat sich ein weiter Horizont eröffnet; Ihr Herz achtet jedes Glück der Empfindung, jede Blume der Phantasie. Es ist eine helle Fackel, mit der Sie die Torheiten und Unarten beleuchten, und Scherz, Gefühl und Hoffnung folgen stets diesem Lichte Ihres Geistes. – Sie finden hier noch mehrere Freunde, deren Namen ich Ihnen auch nennen muß. Herr von Knebel, der Übersetzer der Elegien des Properz 399 in den Horen, Herr von Einsiedel und von Kalb. Ihre Schriften gehören zu ihrer Lieblingslektüre, die noch lange ihr Lesepult zieren. Ja wir hoffen, daß bei dieser Empfänglichkeit für Welt- und Menschenkenntnis und diesem Talent, seine Individualitäten zu zeichnen, Sie uns noch viele Werke Ihrer Feder schenken werden. – Leben Sie wohl, beglückt durch die Freuden der Natur, erhöht durch die Genüsse der Kunst, und machen Sie uns mit Idealen bekannt, die den Dichter ehren und den Leser veredeln werden!«

Jean Paul war wie von einem elektrischen Schlage berührt. Umgehend übersendet er den »überraschenden« Brief an Otto, will ihn aber in einigen Stunden wiederhaben. Fieberhaft arbeitet er nun am Schluß des »Siebenkäs«. Der arme Advokat lernt auf der Baireuther Fantaisie seine Natalie kennen, das große Leben berührt ihn. »Der Mai wird mich nach Leipzig und Weimar in freundschaftliche Arme führen«, schreibt Jean Paul schon Anfang April an Emanuel. Weit ist seine Seele den neuen Freunden geöffnet. Minette zieht in sein Herz. Oerthel lockt von Leipzig her. Allem voran aber steht der geplante Besuch in Weimar, wo die Titanen dieser Erde ihn sehnsüchtig erwarten. Im Mai schreibt Charlotte von Kalb wieder: »Keiner weiß und darf es wissen, daß Sie mir geschrieben und ich an Sie als mein Mann, der auch jetzo trauret, daß er vergeblich Sie erwartet hat, in acht Tagen muß er verreisen. Keiner weiß als ich, daß wir Sie hier in Weimar erwarten dürfen; doch ist es fast das Zeichen unseres Grußes: Ist Richter noch nicht hier? Sind Sie krank oder haben Sie nicht meinen Brief vom 1. oder 2. April erhalten?«

Immer dringender wird der Ruf, der ihn nach Weimar ziehen will. »Zwei Dritteile des Frühlings sind vorüber, wie ich eben im Kalender sehe, die Bäume stehen noch unbelaubt 400 im schönen Park, die Nachtigall hat noch nicht gesungen, und – Sie waren noch nicht hier. Alle Zeichen des Frühlings bleiben aus! Welches erwartet die andern? Er könnte kommen mit edlem Reiz, der Bäume Pracht, der Blüten Duft, der Vögel Liebgesang, der Lüfte lindem Fächeln – für Ihre Freunde war er nicht gewesen, wenn Sie uns nicht erscheinen . . . Iffland ist fort, und Wieland reist in einigen Tagen nach der Schweiz, im September will er wieder hier sein. Herder, Knebel, Einsiedel sind hier, die einer unbefangenen hohen Freude über die Vollkommenheit eines andern fähig sind.«

Hier ist es zum erstenmal ausgesprochen. Wer war in Weimar keiner »unbefangenen hohen Freude über die Vollkommenheit eines andern« fähig? Goethe! Und das ist der tiefste Grund, aus dem alle diese Briefe steigen: Man hat einen neuen großen Dichter, und will ihn heranziehen, um ihn gegen Goethe auszuspielen. Jean Paul ahnt nichts von den neuesten Vorgängen in Weimar. Und wenn er von dem Bruch mit Goethe und Schiller gehört hätte, so würde er vielleicht Bedenken gehabt haben, sich dieser unheilvollen Atmosphäre anzuvertrauen. Gewiß, er gehört zu denen, die ihn rufen und nicht zu dem Gewaltigen, der auf dem Weimarer Parnaß thront. Wieland steht ihm näher, und am nächsten der alte Abgott seines Herzens: Herder! Und doch wäre es ihm vermessen erschienen, sich gegen Goethe ausspielen zu lassen. Das hätte er unter allen Umständen vermieden.

Endlich sagt er zu. »Ich komme nicht als ein bescheidener Mann, sondern als ein demütiger nach Weimar«, schreibt er. »Ach ich bin so wenig und komme vor Herder!« Jetzt, da die Reise Wirklichkeit wurde, trat doch Herders Gestalt allen andern voran. Es wäre nur natürlich gewesen, wenn er nach 401 dem enthusiastischen Briefwechsel mit Charlotte auch vor der persönlichen Begegnung mit ihr ein leises Bangen verspürt hätte. Aber kein Gedanke kam ihm, daß seine persönliche Gegenwart nicht halten könnte, was seine Werke versprochen. Allen den andern, die doch an Titanennähe gewohnt waren, trat er als Sieger entgegen. Nur Herder gegenüber hatte er Furcht, oder besser: Ehrfurcht.

 

Jean Paul konnte also nicht ahnen, daß er geradeswegs den Feinden Goethes in die Arme lief. Vor seinem Eintritt in Weimar müssen wir uns klarmachen, wie dort die Dinge lagen.

Schon während Herders italienischer Reise war der erste Mißklang in das Verhältnis der großen Männer gekommen, aber noch jahrelang bildeten Goethe, Schiller und Herder ein Triumvirat, dessen Geschlossenheit undurchbrechbar erschien. Herder wurde zu lebhafter Mitarbeit an den »Horen« herangezogen, und es war nur natürlich, daß er mehrere seiner schönen Arbeiten der befreundeten Zeitschrift übergab. In den Anschauungen der drei Großen schien völlige Übereinstimmung obzuwalten. Mit Entzücken las Schiller in Herders Humanitätsbriefen seine Darstellung der griechischen Plastik. »Das ist das so sehr Auszeichnende darin (und was auch schon das Prädikat der Humanität eigentlich ausdrückt), daß Sie Ihren Gegenstand nicht mit isolierten Gemütskräften auffassen, nicht bloß denken, nicht bloß anschauen, nicht bloß fühlen, sondern zugleich fühlen, denken und anschauen, das heißt mit der ganzen Menschheit aufnehmen und ergreifen.« Eigentlich hätte hier schon der tiefe Gegensatz der Meinungen zutage treten müssen. Das Griechentum Herders war ein anderes als das Goethes und 402 Schillers. Die beiden Dioskuren sahen in Hellas die der europäischen Menschheit aufgestellte ewiggültige Gesetzestafel. Herder sah auch im Griechentum nur die Einmaligkeit einer ungeheuren Blütezeit, und hatte damit von seinem Wesen viel mehr erfaßt als die beiden. In dem Schluß der »Vorschule der Ästhetik« hat Jean Paul ausführlich über Herders griechische Anschauung gesprochen, wie schon das erste Buch der »Vorschule« das Griechentum im Herderschen Sinne umgreift. »Griechenland war ihm das Höchste«, schreibt er im Schluß der »Vorschule« unter dem Eindruck von Herders Tod, »und wie allgemein auch sein episch-kosmopolitischer Geschmack lobte und anerkannte – sogar seines Hamanns Stil – so hing er doch, zumal im Alter, wie ein vielgereister Odysseus nach der Rückkehr aus allen Blütenländern, an der griechischen Heimat am innigsten. Er und Goethe allein (jeder nach seiner Weise) sind für uns die Wiederhersteller oder Winkelmanne des singenden Griechentums, dem alle Schwätzer voriger Jahrhunderte nicht die Philomelenzunge hatten lösen können.«

»War er kein Dichter,« sagt er einige Seiten vorher von dem vergötterten Freund, »so war er bloß etwas Besseres, nämlich ein Gedicht, ein indisch-griechisches Epos, von irgendeinem reinsten Gott gemacht.« An diesen Gedanken anknüpfend kann er fortfahren: »Herder war gleichsam nach dem Leben griechisch gedichtet . . . Daher kam seine griechische Achtung für alle Lebensstufen.« Hiermit hat er die Griechenliebe Herders am tiefsten erfaßt. Für Goethe und Schiller bedeutete Griechentum ein künstlerisches Programm. Herder aber war Grieche seinem innersten Wesen nach, ohne seine Achtung »für alle Lebensstufen« zu verlieren. Es war die Universalität seines Geistes, die ihn davor bewahrte, und diese Universalität führte den ersten Konflikt 403 mit Schiller herbei. Herders Anschauung von der griechischen Plastik kam von seinem geschichtlichen Erfassen des Griechentums her, nicht von systematischer Ästhetik wie bei Schiller. In dem Aufsatz »Iduna oder der Apfel der Verjüngung«, den Herder für die »Horen« beizusteuern gedacht hatte, offenbarte sich der Gegensatz der Meinungen. In diesem Aufsatz setzt Herder, seiner geistigen Einstellung gemäß, auseinander, wieviel für geistige Entwickelung und für die Dichtung eines Volkes eine dem eigenen Sprachgeist und dem eigenen Volkstum entwachsene, selbsterlebte Mythologie bedeutet. Darin beruhte gerade die Stärke der Griechen, daß ihre Kultur aus dem Schatz alter Volksvorstellungen schöpfen könne. Uns Deutschen ist der Zusammenhang mit der eigenen Mythologie abhanden gekommen. »Wie nun, wenn aus der Mythologie eines benachbarten Volkes, auch deutschen Stammes, uns hierüber ein Ersatz käme, der für unsere Sprache gleichsam geboren sich ihr ganz anschlösse und ihrer Dürftigkeit an ausgebildeten Fiktionen abhülfe, wer würde ihn von sich stoßen?« Als einen solchen Schatz von ausgebildeten Stammesvorstellungen empfiehlt er den deutschen Dichtern die nordische Mythologie.

Man kann sich nicht wundern, daß Schiller voller Ablehnung antwortet. Wenn nämlich die Poesie, setzt er auseinander, aus dem Leben, aus der Zeit, aus dem Wirklichen hervorgehe, dann hätte Herder wohl recht. Dann entscheide für jene nordischen Gebilde ihre Verwandtschaft mit unserm germanischen Geiste. Aber diese Voraussetzung wird von Schiller auf das heftigste bestritten. »Es läßt sich, wie ich denke, beweisen, daß unser Denken und Treiben, unser bürgerliches, politisches, religiöses, wissenschaftliches Leben und Wirken wie die Prosa der Poesie entgegengesetzt ist.« Die Übermacht der Prosa im Ganzen unseres Zustandes wäre 404 zu entschieden und zu groß, als daß der poetische Geist darüber Meister und Herr werden könnte, er könne nur davon angesteckt und zugrunde gerichtet werden. Daher verlangt Schiller statt enger Verbindung vielmehr strengste Scheidung zwischen der poetischen und der wirklichen Welt. Hierin liege gerade der Einzigkeitswert der griechischen Mythologie für die deutsche Kunst. Daher scheint es ihm gerade ein Gewinn für den dichterischen deutschen Geist, »daß er seine eigene Welt formiert und durch die griechischen Mythen der Verwandte eines fernen, fremden und idealischen Zeitalters bleibt, da ihn die Wirklichkeit nur beschmutzen würde«.

Man übersieht gewöhnlich das wirklichkeitfliehende Moment bei unsern Klassikern. Hier ist es einmal deutlich und in seiner ganzen grandiosen Einseitigkeit formuliert. Durch die Berührung mit der eigenen Wirklichkeit, mit den ihm verwandten mythologischen Vorstellungen, könne der deutsche dichterische Geist nur beschmutzt werden. Bis zu diesem erschreckenden Grade geht Schillers Abneigung gegen die deutsche Überlieferung. Was sollte Herder gegenüber dieser Verstiegenheit anfangen? Für ihn war es ja selbstverständlich, daß die Dichtung »aus dem Leben, aus der Zeit, aus der Wirklichkeit hervorgehen« müsse. Es ist die gleiche Einstellung, die wir immer wieder bei Jean Paul finden, so wenn er in der »Unsichtbaren Loge« schreibt, daß die Griechen ohne das Vorbild der Griechen gebildet haben, und daß ihre Kunst aus Stammesart, Klima und Verfassung hervorgegangen ist. Herder schwieg und gab die Mitarbeit an den »Horen« auf.

Dieser Zusammenstoß mit Schiller offenbarte den angesammelten Konfliktsstoff viel deutlicher als der Anlaß, der zum endgültigen Bruch mit Goethe führte. Dieser Anlaß ist für alle Beteiligten ganz außergewöhnlich peinlich.

405 Als Herder einen Ruf an die Göttinger Universität erhielt, hatte ihm Goethe in aufrichtiger Freundschaft abgeraten, von Weimar fortzugehen. Die ersehnte Muße für seine Arbeiten würde er auch in Göttingen nicht finden, vielmehr wie überall so auch dort auf Kabalen und Intrigen stoßen. In den Verhandlungen mit dem Herzog wurde die Amtstätigkeit Herders nennenswert erleichtert, sein Gehalt erhöht und, als wichtigstes, die Zusicherung gegeben, daß der Herzog für die Kosten des Studierens seiner Kinder und für deren Unterkommen sorgen werde. Gerade dieser letzte Punkt war es, der Herder zum Bleiben in Weimar bestimmte. Man kann wohl sagen, daß der Fortgang Herders ein unersetzlicher Verlust für das Herzogtum gewesen wäre. Im Kirchen- und Schulwesen hat er schlechthin Mustergültiges geschaffen. Sein Amtseifer war so groß, daß er fast alle Kleinarbeit sogar an sich riß, wenn er sie nicht in den besten Händen wußte, und unter der Last der Amtsgeschäfte zu erliegen drohte. Er war einer jener Menschen, die stets das Äußerste an Kraft hergeben müssen und dann noch nicht von sich befriedigt sind. Darin mochte Goethe recht haben, daß Herder auch in Göttingen keine Muße für seine Schöpfungen aufgebracht haben würde. Er war nicht der Mensch, um den herum es Frieden und Muße gab, und auch an der Universität würde sein Feuereifer alle Arten von Amtsgeschäften und Reformplänen an sich gerissen haben. Wie dem auch sein mochte: es gelang, Herder in Weimar zu halten.

Inzwischen wuchsen die Söhne, für deren Unterhalt aufzukommen der Herzog sich verpflichtet hatte, heran. Gottfried hatte 1792, August 1794 die Universität bezogen. Wilhelm und Adalbert waren ebenfalls an der Reihe. Die Kosten waren erheblich, und Herders sahen sich auf einmal in arger 406 Bedrängnis. Zu allem Unglück ließ sich das Blatt mit den Zusicherungen des Herzogs nicht finden. Angst und Aufregung stiegen hoch im Herderhaus. Schließlich wurde es gefunden. Nun gab es Unterhandlungen, Erbitterung, Zurückweisungen. Die energische Frau Karoline nahm, wie immer in praktischen Angelegenheiten, das Wort. Mutterangst um ihre Söhne, Bitterkeit um ihren Mann gab ihren Worten eine unangenehme Schärfe. Man ist im Herderhaus allmählich überzeugt, daß man durch leere Versprechungen an der Nase geführt und um das sichere Glück in Göttingen betrogen worden ist. Die Gegner machen den Einwand, daß der Herzog, da er die Mittel hergeben soll, bei der Berufswahl der Söhne hätte zu Rate gezogen werden müssen. Die Eltern hätten den Lebensweg der Söhne allein bestimmt, jetzt, da sie Geld brauchten, wende man sich an den Herzog. Eine leere Ausflucht, denn in dem Übereinkommen ist nichts davon enthalten, daß der Herzog sich ein Mitbestimmungsrecht vorbehalten habe. Man würde es ihm vielleicht nicht einmal eingeräumt haben. Der Fall liegt ganz klar. Es handelt sich um beträchtliche Summen. Gottfried kostet jährlich 350 Taler, Adalbert 300, Wilhelm und August haben für ihre Schweizer Reise und Aufenthalt 1250 Taler gebraucht. Die Schwierigkeit ist die, daß das Geld in den herzoglichen Kassen nicht disponibel ist. Herder ist durch die Angelegenheit völlig gebrochen. »Ich befürchte oft die unangenehmsten, traurigsten Folgen«, schreibt Karoline. »Gewiß ist es, daß mein Mann physisch diesen Zustand nicht mehr lange ertragen kann.« Goethe ist tief bewegt und verspricht Hilfe. Die Herzogin Luise, stets die Zuflucht und Hoffnung der Herders, will alles tun, was in ihren Kräften steht.

Der Herzog macht einen Vergleichsvorschlag: er will für Gottfried die Kosten der Promotion bezahlen und August, 407 der das Bergfach studiert, in einer seiner Kanzleien unterbringen, Adalbert auf Gütern im Eisenachschen verwenden. Karoline wagt diese Vorschläge nicht einmal ihrem Mann mitzuteilen. Sie wendet sich an die Herzogin in einem Brief, der drohend anklagende Töne enthält. Herder hätte sich in Erfüllung der Abreden aufgerieben, hätte »seine Pflicht mehr als er durfte erfüllt«. Seine Durchlaucht werden nun auch von ihrer Seite den Kontrakt erfüllen. Noch deutlicher schreibt sie an Goethe. »Dulden Sie nicht, daß der Herzog sein Versprechen so schnöde brechen will. Hier ist es Ihre Pflicht, des Herzogs Ehre und Moralität zu retten.« Sie pocht mit Ungestüm auf ihr Recht. »Wir brauchen Geld und müssen es vom Herzog erhalten.« Kein Zweifel, Karoline hatte die Tonart überspannt. Aber es wäre die Pflicht der Überlegenen gewesen, Unrecht gutzumachen und die Äußerungen der gereizten Frau zurechtzurücken. Statt dessen kam von Goethe ein Brief, der wie ein Peitschenschlag ins Gesicht wirkt: Herders hätten die rechte Zeit der Erinnerung beim Herzog versäumt, da sie über die Söhne bestimmten, ohne ihn zu fragen. Ein Fürst, der für fremde Jünglinge die Kosten der Bildung trage, verlange ein Recht auf Mitsprechen. Die revolutionären Familiengesinnungen der Herders erleichtern nicht eben des Fürsten Wohlwollen und Hilfe. Er erwähnt »Ihren Wahn, als wenn Sie im vollkommensten Rechte stünden, Ihre Einbildung, als wenn niemand außer Ihnen Begriff von Ehre, Gefühl von Gewissen habe«. »Der Schaden liegt viel tiefer.« Und nun kommen jene grausamen Sätze, die um so grausamer sind, da sie wirklich in Herders tragische Einstellung hineinleuchten, aber mit harter, liebloser Hand: »Ich bedaure Sie, daß Sie Beistand von Menschen suchen müssen, die Sie nicht lieben und kaum schätzen, an deren Existenz Sie keine 408 Freude haben und deren Zufriedenheit zu befördern Sie keinen Beruf fühlen . . : Freilich ist es bequemer, in extremen Augenblicken auf Schuldigkeit zu pochen, als durch eine Reihe von Leben und Betragen das zu erhalten, wofür wir doch einmal dankbar sein müssen.« Und jener schonungslose Hieb für Karoline: »Glauben Sie doch, daß man hinter allen Argumenten Ihr Gemüt durchsieht.«

Die Geldangelegenheit wurde notdürftig geschlichtet. Für Gottfried erhielt Herder 600 Taler, für August, Rinaldo und Emil vier Jahre lang jährlich je 200 Taler. Diese Summen blieben hinter Herders Ansprüchen zurück, waren aber doch so hoch, daß sie akzeptiert werden mußten. Der Bruch mit Goethe blieb endgültig. Er wurde für Herders zum kalten, bis zur Niederträchtigkeit herzlosen Egoisten.

Mag man dieses Urteil in seiner Verallgemeinerung auch unberechtigt nennen, so kann man doch Herder eine gewisse Berechtigung zu dieser Auffassung nicht absprechen. Alles, was von Goethe ausging, wird ihm von jetzt ab verhaßt. »Die Mariannen und Philinen, diese ganze Wirtschaft ist mir verhaßt«, schreibt er, und an anderer Stelle: »Vielleicht an keinem Orte Deutschlands setzt man sich über zarte moralische Begriffe, ich möchte sagen, über die Grazie unserer Seele, in manchem so weit weg als hier, und damit entgeht dem armen Menschen der größte Reiz seines Lebens, und es erklingen sehr falsche Dissonanzen.« Es ist nicht Pastorenmoral, in die Herder sich hier hineinflüchtet, sondern Anklage gegen das Jahrhundert. Auch hier berührt er sich wieder mit Jean Paul, der in der »Unsichtbaren Loge« die donnernde Anklage erhebt: »Und ihr, entsetzlichen Seelen . . . Was werdet ihr noch aus unserm Jahrhundert machen? . . . und gerade im Jahrhundert eurer Verschönerung vereinigen sich alle Schriftsteller, Künstler und Große zu einem Wald von 409 Giftbäumen, unter denen ihr sterben sollt.« So erscholl seine Klage über das Hinmorden weiblicher Tugend. »Alle Schriftsteller, Künstler und Große«, das ging damals nicht zum wenigsten gegen Goethe. Inzwischen war Goethe durch Moritzens Einfluß bei ihm mehr und mehr in den Vordergrund getreten. Ja man kann vermuten, daß Goethes und Schillers Gestalten hinter dem Plan seines »Kardinalromans«, des lange gehegten »Titan«, standen und ihn erfüllen sollten. Das Schicksal dieses Romans stand jetzt auf dem Spiel, als er sich Weimar näherte. Noch ahnte er nicht den Bruch zwischen Herder und Goethe, aber die Auseinandersetzung nahte. Würde sein Roman ein »Titan« oder ein »Anti-Titan« werden? Das war die Frage.

 

Am 9. Juni früh geht Jean Paul, von einem Boten begleitet, der sein Gepäck trägt, von Hof ab. Otto begleitet ihn ein Stück des Weges. In den letzten Tagen ist er bei den verschiedenen Hofer Freunden herumgereicht worden. Herolds gaben ein Mittagessen zu Ehren des Scheidenden. Er nahm es an, da es im Garten stattfand. Einen Termin für sein Eintreffen hatte er der Kalb nicht angegeben. Vom Wetter sollte die Reise abhängen. Die erste Nacht verbringt er in Schleiz. Weil er zu Fuß kommt, räumt ihm der Wirt nur die allgemeine Gaststube zum Übernachten ein. Von dort geht's nach Jena. »Über den Orlagrund geht keine Schönheit der Welt – ausgenommen die lebendigen, die in doppeltem Sinne darübergehen.« Über Kahla trifft er nachmittags um vier Uhr in Jena ein. Auch dort gibt der Erbprinzwirt dem bestaubten Wanderer nur ein Loch. »Aus dem Ort, wo du so viel Literaturzeitungen bekömmst, schick' ich Dir nun die illiterarische.« Immer weilen seine Gedanken 410 bei Christian Otto, dem er die Ereignisse jedes Tages mitteilt. Von Jena nimmt er Postpferde. »Auch hab' ich's des Kerls wegen getan, der unterwegs keinen Kreuzer verzehrte, der nicht vorher in meinem Beutel lag, und der auf sieben Tage gemietet nur vier bedurfte.« Aber er will wohl bei seinem Einzug in Weimar nicht wieder wie ein wandernder Handwerksbursche behandelt werden. Am nächsten Tag kann er der Kalb aus dem Gasthof den Zettel schicken: »Endlich, gnädige Frau, hab' ich die Himmelstore aufgedrückt und stehe mitten in Weimar.«

Über die folgenden Tage kann es kein anschaulicheres Bild geben als Jean Pauls Briefe selbst. Am 12. Juni, Sonntags, um sieben Uhr morgens schreibt er an Otto über seine ersten Eindrücke:

»Gott sah gestern doch einen überglücklichen Sterblichen auf der Erde, und der war ich – ach, ich war es so sehr, daß ich wieder an die Nemesis denken mußte, und daß mich Herder mit dem deus averuncus tröstete. – Ich kann mit meinem Schreiben nicht so lange warten, bis ich Dir einen Brief schicke; ich will nur etwas sagen. Gestern ging ich um elf Uhr – weil ihr Einladungsbillett mich zweimal verfehlte – zur Ostheim (es ist die Schwester der Baireutherin und ich glaube fast meine auch). Ich hatte mir im Billett eine einsame Minute zur ersten ausbedungen, ein cœur-à-cœur (tête-à-tête). Sie hat zwei große Dinge, große Augen, wie ich noch keine sah, und eine große Seele. Sie spricht gerade so, wie Herder in den Briefen der Humanität schreibt. Sie ist stark, voll, auch das Gesicht – ich will Dir sie schon schildern. Drei Viertel der Zeit brachte sie mit Lachen hin – dessen Hälfte aber nur Nervenschwäche ist – und ein Viertel mit Ernst, wobei sie die großen, fast ganz zugesunkenen Augenlider himmlisch in die Höhe hebt, wie wenn Wolken 411 den Mond wechselweise verhüllen und entblößen. (Ich schere mich um keine Richtigkeit des Ausdrucks aus Mangel an Zeit, ich will Dir bloß viel schreiben.) ›Sie sind ein sonderbarer Mensch‹, das sagte sie mir dreißigmal. Ach, hier sind Weiber! Auch habe ich sie alle zum Freunde, der ganze Hof bis zum Herzog lieset mich. – Ich aß aus Ursachen nicht bei ihr; sie schrieb meine Ankunft dem Knebel (Kammerherrn bei der Herzogin). Um drei Uhr kam ich wieder, und der auch. Er ist ein Hofmann im Äußeren, aber soviel Wärme und Kenntnisse, so einfach. Alle meine männlichen Bekanntschaften hier – ich wollte, diese nicht allein – fingen sich mit den wärmsten Umarmungen an. Du findest hier nichts vom jämmerlich Gezierten in Hof, von der jämmerlichen Sorge um die Mode – ich wollt', ich hätte den grünen Talar behalten, oder bloß den blauen Stutzrock noch einmal wenden lassen. Er wollte mich zu Herder, und heute mittags zum Essen zu Goethe führen; aber ich blieb bei dem Vorsatz des cœur-à-cœur (wenn ich nämlich jemand zum erstenmal sehe). – (Heute Mittags aß ich allein bei der Ostheim.) Gegen fünf Uhr gingen wir in Knebels Garten: unterwegs fuhr uns Einsiedel entgegen, der mich geradezu beim Kopf nahm und der nur drei Worte sagen konnte, weil er die Herzogin in die Komödie begleiten mußte, nachher aber sogleich wiederkam. Nach einigen Minuten sagte Knebel: ›Wie sich das alles himmlisch fügt, dort kömmt Herder und seine Frau mit den zwei Kindern.‹ – Und wir gingen ihm entgegen, und unter dem freien Himmel lag ich endlich an seinem Mund und an seiner Brust, und ich konnte vor erstickender Freude kaum sprechen, und nur weinen, und Herder konnt' mich nicht satt umarmen. Und als ich mich umsah, waren die Augen Knebels auch naß . . . Mit Herder bin ich jetzt so gut bekannt wie mit Dir. Er wollte schon 412 längst an mich schreiben; und als er und seine Frau, die mich herzlich liebt – sie ist eine nur anders modifizierte Ostheim – durch Hof reiseten, wollten sie mich besuchen. Ich wollt', ich könnte so unverschämt sein, daß ich Dir alles sagen könnte. Er lobte fast alles an meinen Werken, sogar die ›Grönländischen Prozesse‹. – Er sieht nicht so edel aus, wie ich mir ihn dachte; spricht aber so, wie er in den ›Humanitätsbriefen‹ schreibt. Er sagte, so oft er den ›Hesperus‹ gelesen, so wär' er zwei Tage zu Geschäften untauglich gewesen. An der Abhandlung über die Phantasie gefällt ihm alles. Er drückte mir immerfort die Hand. Und ich sagte immer, da wir alle nebeneinander saßen, ›wenn nur mein Otto da wäre und es hörte‹. (Knebel und Herder wollen mir die berühmtesten Bücher zum Lesen, z. B. den Moniteur mit merkantilischer Gelegenheit schicken.) Herder liebt die Satire unendlich und hat sie, zumal die Ironie, mehr im Munde als den Ernst. Er fragte mich bei den meisten Stellen meiner Bücher um die Veranlassung dazu: er gab mir ein erdrückendes Lob, das Sprechen von Deinem Paul mag etwan, obwohl in Intervallen, fünf Stunden den ganzen Abend gedauert haben. ›Ich bekäme Sündenbezahlung,‹ sagten alle, ›da der Meister und die Horen zu 4,5 Ldor den Bogen abgehen.‹ ›Ich würde jetzt in Deutschland am meisten gelesen; in Leipzig hätten alle Buchhändler Kommissionen auf mich.‹ Wieland hat mich dreimal gelesen, sie bedauerten alle, daß er aus dem Zirkel fehlte. Herder erzählte, daß der alte Gleim den ganzen Tag und die ganze Nacht fortgelesen. Er will mich heute Briefe von Hamann an sich lesen lassen. – Er spricht von Kants System im höchsten Grade – verächtlich. – Von seinen eigenen Werken sprach Herder mit einer solchen Geringschätzung, die einem das Herz durchschnitt, daß man kaum das Herz hatte, 413 sie zu loben: er will nicht einmal die Ideen fortsetzen. ›Das Beste ist, was ich ausstreiche‹, sagt er, weil er nämlich nicht frei schreiben darf, denn er denkt von der christlichen Religion was ich und Du. – Abends aßen wir alle bei der Ostheim und tranken 2erlei Wein und Nigges (ein milderer Bischoff). Sie sind alle die eifrigsten Republikaner. Denke Dir den unter Wein, Ernst, Spott, Witz und Laune verschwelgten Abend und die Vormitternacht; ich machte so viel Satiren auf die Fürsten wie bei Herold, kurz, ich war so lustig wie bei Euch. Heute isset die ganze XXger Union bei Herder. Die Franzosen schicken einen Teil der italienischen Armee an den Rhein und bedecken so mit vier freundschaftlichen Flügeln von Armeen die österreichische Straußenbrut. – Beim Himmel! jetzt hab' ich Mut – ich getraue mir, mit dem 44ten Herrn zu sprechen und noch mehr mit dem Bürgermeister Oerthel, Köhler und deren Sippschaft. – Ich habe Dir nach nicht ⅓ erzählt. – Aber ein bitterster Tropfen schwimmt in meinem Heidelberger Freudenbecher: was Jean Paul gewann, das verliert die Menschheit in seinen Augen: ach, meine Ideale von größeren Menschen! – Ich will Dir's schon erklären. – Aber alle meine Bekanntschaften tun beinahe nichts als den Wert meines geliebten Bruders O. vergrößern, und bleib' ich ewig der Deine.«

Jean Paul ist in die Gesellschaft der Großen eingetreten und hat seinen Eintritt mit einer Ernüchterung aller seiner idealen Vorstellungen von großen Menschen bezahlt. Er glaubte seine Idealgestalten wie Götter über dem irdischen Gewimmel thronend, und sah sie nun als Menschen, denen man widerspricht und die sich selbst widersprechen. Und zugleich mußte er erfahren, wie auf dem Weimarer Parnaß Neid und Mißgunst so recht zu Hause sind. Vielleicht hatte 414 er an die Dreieinigkeit der drei Götter Goethe, Herder und Schiller geglaubt, und erfuhr nun von den stattgehabten Zerwürfnissen und überhaupt manches Menschliche-Allzumenschliche. Es läßt sich denken, daß in der angeregten Unterhaltung manches sarkastische Wort des verbitterten Herder gegen Goethe ausgestoßen wurde, und sicherlich wurde auch das Verhältnis zwischen Goethe und Schiller mit beißenden Anmerkungen versehen.

Wie mag sich der kleinstädtische, weltunerfahrene Dichter zwischen diesen im Hofleben und allen seinen Intrigen versierten Menschen, neben der gewandten und an den Verkehr mit den größten Geistern gewohnten Charlotte von Kalb (die Jean Paul nur bei ihrem Mädchennamen Ostheim nennt) ausgenommen haben? Eine kleine Nachschrift zu dem soeben mitgeteilten Brief besagt: »Man glaubt hier am Hofe, ich sei an einem gewesen, und Knebel schloß es aus den Partikularitäten, und ich konnt' ihm selber nicht recht sagen, wo ich sie aufgegabelt.« Der grimme Knebel hat sich sicherlich nicht über den Kleinstädter lustig gemacht. Es war die natürliche Kraft und Anmut Jean Pauls, die Wärme und Liebe auf alle Anwesenden anstrahlte. Wenn der Tag bis in die Nacht hinein in der ausgelassensten Stimmung verlief, so war es sicher in erster Linie Jean Pauls Verdienst. Erschütternd tritt Herders ehrwürdige Gestalt in dem Brief hervor. Mit welchen Gefühlen mochte der Verkannte sich an die Freundesbrust des jugendlichen Dichters geworfen haben, der ihn wie einen Gott verehrte, da sein Leben gerade mit allen seinen stolzen Zielen in Trümmer sank!

Wenige Tage darauf, am 18. Juni, fährt Jean Paul in seiner Schilderung fort:

»Du hast hoffentlich einen Brief aus Jena und einen aus Weimar vom Sonnabend. Das späte Datum des dritten sagt 415 Dir mein freudetrunkenes Leben an; mich schnellet gleichsam ein Blütengipfel in den andern hinein. Ich habe in Weimar zwanzig Jahre in wenigen Tagen verlebt – meine Menschenkenntnis ist wie ein Pilz mannshoch in die Höhe geschossen. Ich werde Dir von Meerwundern, von ganz unbegreiflichen, unerhörten Dingen (keinen unangenehmen) zu erzählen haben, aber nur Dir allein. Ich sehe keine Möglichkeit, Dir nur eine Duodezerzählung von meiner Universalhistorie zu schenken. Ich brauche fast so viele Tage als Seiten, um Dir nicht diesen Weg, sondern diese Flur meines Lebens zu malen. Ich bin ganz glücklich, Otto, ganz, nicht bloß über alle Erwartung, auch über alle Beschreibung, und nichts fehlet mir mehr in der weiten Welt als Du, aber auch nur Du. – Heute eß ich bei Goethe – gestern früh war ich mit der Ostheim zur Herzogin-Mutter nach Tiefurt geladen, und ich werde nächstens bei ihr essen. Die Herzogin ist Wielands Freundin, und ihr sanftes Tiefurt – ein Lautenzug unter den sonst schreienden englischen Anlagen – beider würdig. Was ich mit ihr gesprochen habe, davon mündlich!

Bei Herder habe ich zwei Abende gegessen und verlebt und war fast alle Tage an seiner Seite. Ostheim steht fast mit allen großen Deutschen in Briefwechsel und mit allen Weimarern in Verbindung, und ich könnte alles bei ihr sehen, wenn ich wollte, da sie es invitierte. Aber wir beide bleiben jeden Abend ganz allein zusammen. Sie ist ein Weib wie keines, mit einem allmächtigen Herzen, mit einem Felsen-Ich, eine Woldemarin – ihre Fehler kommen nur auf meine Zunge, nicht auf mein Papier. – Ich lege Dir ihren heutigen (inostensiblen) Brief an mich bei, da sie nach Jena ging, um die Krebs-Amputation einer Freundin durch ihre Nähe zu lindern. Er ist ein Rätsel, das ich Dir mündlich löse.«

416 Am nächsten Tage abends setzt er den Brief fort:

»Schon am zweiten Tage warf ich hier mein dummes Vorurteil für große Autores ab, als wären's andere Leute; hier weiß jeder, daß sie wie die Erde sind, die von weitem am Himmel als leuchtender Mond dahinzieht und die, wenn man die Ferse auf ihr hat, aus boue de Paris besteht und einigem Grün ohne Juwelennimbus. Ein Urteil, das ein Herder, Wieland, Goethe fällt, wird so bestritten wie jedes andere, das noch abgerechnet, daß die drei Turmspitzen unserer Literatur einander – meiden. Kurz, ich bin nicht mehr dumm. Auch werd' ich mich jetzt vor keinem großen Mann mehr ängstlich bücken, bloß vor dem Tugendhaftesten. Gleichwohl kam ich mit Scheu zu Goethe. Die Ostheim und jeder malte ihn ganz kalt für alle Menschen und Sachen auf der Erde – Ostheim sagte, er bewundert nichts mehr, nicht einmal sich – jedes Wort sei Eis, zumal gegen Fremde, die er selten vorlasse – er habe etwas steifes, reichsstädtisches Stolzes – bloß Kunstsachen wärmen noch seine Herzensnerven an (daher ich Knebel bat, mich vorher durch einen Mineralbrunnen zu petrifizieren und zu inkrustieren, damit ich mich ihm etwan im vorteilhaftesten Lichte einer Statue zeigen könnte) – (Ostheim rät mir überall Kälte und Selbstbewußtsein an). Ich ging, ohne Wärme, bloß aus Neugierde. Sein Haus (Pallast) frappiert, es ist das einzige in Weimar in italienischem Geschmack, mit solchen Treppen, ein Pantheon voll Bilder und Statuen, eine Kühle der Angst presset die Brust – endlich tritt der Gott her, kalt, einsilbig, ohne Akzent. Sagt Knebel z. B., die Franzosen ziehen in Rom ein. ›Hm!‹ sagt der Gott. Seine Gestalt ist markig und feurig, sein Auge ein Licht (aber ohne eine angenehme Farbe). Aber endlich schürete ihn nicht bloß der Champagner, sondern die Gespräche über die Kunst, Publikum etc. sofort 417 an, und – man war bei Goethe. Er spricht nicht so blühend und strömend wie Herder, aber scharfbestimmt und ruhig. Zuletzt las er uns – d. h. spielte er uns (sein Vorlesen ist nichts als ein tieferes Donnern vermischt mit dem leisen Regengelispel: es gibt nichts ähnliches) – ein ungedrucktes herrliches Gedicht vor, wodurch sein Herz durch die Eiskruste die Flammen trieb, so daß er dem enthusiastischen Jean Paul (mein Gesicht war es, aber meine Zunge nicht, wie ich denn nur von Weitem auf einzelne Werke anspielte, mehr der Unterredung und des Beleges wegen) die Hand drückte. Beim Abschied tat er's wieder und hieß mich wiederkommen. Er hält seine dichterische Laufbahn für beschlossen. Beim Himmel, wir wollen uns doch lieben. Ostheim sagt, er gibt nie ein Zeichen der Liebe. 1 000 000 Sachen hab' ich Dir von ihm zu sagen.

Auch frisset er entsetzlich. Er ist mit dem feinsten Geschmack bekleidet.

Ich kann hier, wenn ich will, an allen Tafeln essen. Ich kam noch zu keinem Menschen, ohne geladen zu sein. Als ich ankam am Tore, wurd' es ordentlich der Herzogin gemeldet, und am andern Tage wußt' es jeder. – Ich lebe fast bloß von Wein und englischem Bier. – Die Karaktere ›Joachime, Matthieu (der besonders) und Agnola‹ werden hier für wahre gehalten und gefielen gerade am meisten. Im Klub stritt man, ob Flachsenfingen ein Abriß von Wien oder Mannheim wäre wegen des Lokalen – Wieland war des höhnischen Dafürhaltens, Flachsenfingen liege in Deutschland sehr zerstreuet. –

Ich schicke Dir diese Zeichnungen des Heiligenscheins, den sie hier um meinen kahlen Scheitel führen, darum ohne alle Scham nach Hof, erstlich damit Du es weitererzählest (denn ich werde alles zusammen nur Dir erzählen, der Du mich 418 nie verkannt, und bloß zu sehr geachtet hast, aber (auch aus Ekel an der langen Geschichte) keinem weiter in Hof, wo mir so oft Unrecht widerfuhr, daß ich, wenn Du nicht da wärst, geradezu hier sitzen bliebe). Ich schreibe eilig und ohne Ordnung, vergib es mir, Bruder. Weibliche Bekanntschaften hab' ich wenig gemacht, wenn ich die Kanzelerin Koppenfels in Rohrbach – ein Landgut, auf das ich mit der Ostheim fuhr – ausnehme, die Jeschausen (Hofdame), die Fräulein Imhof (und die Mutter), die Frau von Stein, von Werther, 2 Fräulein von Seebach, von Beust, die Schauspielerin Schröder. Hier sind alle Mädgen schön.«

 
Sonntags. 19. Jun.

»Ich wollt', ich äße nicht beim Oberkonsistorialrat Bötticher (abends bin ich bei Herder, Bertuch hat eine prächtige Tochter. Gotter habe ich im Schauspiel gesehen), dessen Schreibfinger und Briefe durch das ganze gelehrte Deutschland langen und der alle französische und englische Journale um sich liegen hat, um die Auszüge für die Literaturzeitung daraus zu machen. Auch fertigt er die Übersicht über die Ernte der Literatur. Wenn man diesen gelehrten Wenzel (denn gelehrt ist er bis zum Übermaße) in den Händen hat, so kann man den halben Spielteller voll Bibliotheken erbeuten. Ich könnte z. B. durch ihn wie durch die Ostheim ganze Kästen Bücher aus der Göttinger Bibliothek bekommen. Er schließet einen Brief von mir an Wieland bei, der ein Kompliment an mich durch seinen Sekretär gestern im Lear abgeben ließ. – Bötticher drängt sich mit Kletten-Häkchen an jeden Fremden aus Eitelkeit. – Meine gute Ostheim hat 6 Bout. Wein und englisches Bier für mich zum Frühstück zu Oerthel geschickt – ach, Du weißt ja kein Wort, daß ich bei diesem logiere, prächtiger als in meinem Leben. 419 Am Dienstag zog ich in sein von Bäumen bewachtes und dem göttlichen Parke nahes Haus (er lebt nicht bei seiner Mutter und Schwester). 2 Zimmer, besser meubliert als eines im Modejournal, füllet mein Ich an und seines stößet an sie. Sogar fertige Couverts aus dem Industrie-Comptoir – 100 zu 10 gr. – wovon hier eines zur Probe umgeschlossen ist, liegen vor mir. In jedem Zimmer ein Licht – einen kehrenden, wichsenden, klopfenden Bedienten (an Stelle meines frère servant) – alles, alles, sogar der Nachtstuhl am Bette, bis auf die kleinste Aufmerksamkeit ist erschöpft, und ich und er leben wie Brüder, er lacht sich über mich und ich über ihn tot. Gestern Mittag aß ich bei seiner Mutter und Schwester, die den zwei Ohren zwei Himmel gibt, den des Spiels und des Gesangs; vorgestern war ich nachmittags bei ihnen zum erstenmal, im bunten Dunstkreise fast lauter schöne Mädgen. – Sogar in Paris soll nicht so viel Freiheit von gêne sein als hier: du führst niemand, du küssest keine Hand (du müßtest denn dabei nicht aufhören wollen), du machst bloß eine stumme Verbeugung, du sagst vor und nach dem Essen nichts. Das ist der Ton des Adels, der des Bürgers soll wie meine Halsbinden oft gesteift und gestärkt sein. Apropos, Matzdorff hat mich den 4ten Jun. zu Gevatter gebeten: ich führe also an jeder Hand eine Pauline.

Worüber man hier klagt, ist geschminkter Egoismus und ungeschminkter Unglaube – darum tut ihnen eine Seele, die beides nicht hat, so wohl wie ein warmer Tag.

Binde Fantaisie und Eremitage in Einen Park zusammen: Du hast keine Vorstellung von dem majestätischen einfachen hiesigen. Er ist ein Händelsches Alexanders(Ariadne)fest, und Tiefurt ein Adagio.« –

Wenige Tage später, am 23. Juni, berichtet er kurz: »Ich will meinen künftigen Athem durch folgendes 420 Gastwirtsprotokoll ersparen: Sonnabends Mittags aß ich im Gasthof, abends bei der Ostheim, zwischen Einsiedel, Knebel, Mde Herder, – Sonntags Mittags solo bei der Ostheim, abends bei Herder – Montags solo bei der Ostheim, abends auch – Dienstag bat mich Knebel, ich war aber schon bei Oerthel, abends bei der ewigteueren Ostheim – Mittwochs aß ich bei der Geheimbde Rätin v. Koppenfels in Rohrbach, abends bei Oerthel – Donnerstag Tiefurt bei der Herzogin, Ostheim, Ostheim, Ostheim – Freitag bei Goethe, abends bei Oerthel – Sonnabend bei dessen Mutter und Tochter – Sonntag bei Bötticher, abends bei Herder – Montag bei Oerthel, Knebel – Dienstag Oerthel, abends bei der Frau und mitessend Fräulein von Seebach, abends aß ich bei Herder – ach, ein schöner Abend, der nicht wiederkömmt und wo ich in die Augen des hier erkaltenden Herders Tränen trieb – Mittwoch aß ich bei dem Geheimbden Rat v. Koppenfels – Donnerstag (heute) bei Goethe . . .

Die Lust wirret die Tage in einen Flock, in dem alle Fäden sind, ausgenommen den der Ariadne.«

Wenige Tage darauf schrieb er aus Jena: »Ich trat gestern vor den felsigten Schiller, an dem wie an einer Klippe alle Fremde zurückspringen; er erwartete mich aber nach einem Brief von Goethe. Seine Gestalt ist verworren, hartkräftig, voll Ekstase, voll scharfer schneidender Kräfte, aber ohne Liebe. Er spricht beinahe so vortrefflich als er schreibt. Er war ungewöhnlich gefällig und setzte mich (durch seinen Antrag) auf der Stelle zu einem Kollaborator der Horen um – und wollte mir eine Naturalisazionsakte in Jena einbereden.« –

Jean Paul konnte also mit seiner Aufnahme durch Goethe wie durch Schiller zufrieden sein, ja es bestanden Aussichten, daß die Dioskuren ihn als Dritten in ihren Bund zuließen. 421 Schillers Aufforderung, an den Horen mitzuarbeiten, läßt darauf schließen. Sowohl Goethe wie Schiller fingen an, sich vereinsamt zu fühlen. Der Bruch mit Herder konnte auch an ihnen nicht wirkungslos vorübergehen. In Jean Paul schien ihnen ein Ersatz zu winken, den Verlust an Popularität in Deutschland wieder einzubringen. Vergegenwärtigen wir uns, was zwischen Goethe und Schiller über Jean Paul bisher hin und her geschrieben war.

Am 10. Juni 1795 hatte Goethe das von Jean Paul erhaltene Exemplar des »Hesperus« an Schiller geschickt mit den Worten: »Hierbei ein Tragelaph von der ersten Sorte.« Schiller hatte bereits am 12. Juni geantwortet: »Das ist ein prächtiger Patron, der Hesperus, den Sie mir neulich schickten. Er gehört ganz zum Tragelaphen-Geschlecht, ist aber dabei gar nicht ohne Imagination und Laune, und hat manchmal einen recht tollen Einfall, so daß er eine lustige Lektüre für die langen Nächte ist. Er gefällt mir noch besser als die Lebensläufe.« Goethe schrieb am 18. Juni zurück: »Es ist mir angenehm, daß Ihnen der neue Tragelaph nicht ganz zuwider ist; es ist wirklich schade für den Menschen, er scheint sehr isoliert zu leben und kann deswegen bei manchen guten Partieen seiner Individualität nicht zur Reinigung seines Geschmacks kommen. Es scheint leider, daß er selbst die beste Gesellschaft ist, mit der er umgeht. Sie erhalten noch zwei Bände dieses wunderlichen Werks.«

Inzwischen war der »Hesperus« auch in den andern Kreisen Weimars bekanntgeworden. Am 15. Dezember 1795 schreibt Goethe über das Aufsehen, das dieser Roman bei den Weimarern gemacht hat, an Schiller: »Übrigens sind gegenwärtig die Hundsposttage das Werk, worauf unser feineres Publikum seinen Überfluß von Beifall ergießt; ich wünschte, daß der arme Teufel in Hof bei diesen traurigen Wintertagen 422 etwas Angenehmes davon empfände.« Zwei Tage darauf antwortet Schiller: »Daß in Weimar jetzt die Hundsposttage grassieren, ist mir ordentlich psychologisch merkwürdig; denn man sollte sich nicht träumen lassen, daß derselbe Geschmack so ganz heterogene Massen vertragen könnte, als diese Produktion und Clara du Plessis (von Lafontaine) ist. Nicht leicht ist mir ein solches Beispiel von Charakterlosigkeit bei einer ganzen Sozietät vorgekommen.«

Im Juni 1796 kam Jean Paul dann selbst nach Weimar. Nachdem Goethe ihn durch seinen von Jean Paul geschilderten Besuch kennengelernt hatte, schrieb er dem Jenenser Freunde: »Fast hätte ich vergessen zu sagen, daß Richter hier ist. Er wird Sie mit Knebeln besuchen und Ihnen gewiß recht wohl gefallen.« Das war die Empfehlung, die Jean Paul in der Schilderung seines Besuches bei Schiller erwähnt. Am 22. Juni schreibt Goethe wiederum über Jean Paul: »Richter ist ein so kompliziertes Wesen, daß ich mir die Zeit nicht nehmen kann, Ihnen meine Meinung über ihn zu sagen; Sie müssen und werden ihn sehen, und wir werden uns gern über ihn unterhalten. Hier scheint es ihm übrigens wie seinen Schriften zu gehen; man schätzt ihn bald zu hoch, bald zu tief, und niemand weiß das wunderliche Wesen recht anzufassen.« Den Eindruck, den er von Jean Pauls Besuch empfangen hatte, faßte Schiller in die Worte: »Vom Hesperus habe ich Ihnen noch nichts geschrieben. Ich habe ihn ziemlich gefunden, wie ich ihn erwartete; fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist, voll guten Willens und herzlich geneigt, die Dinge außer sich zu sehen, nur nicht mit dem Organ, womit man sieht. Doch sprach ich ihn nur einmal und kann also wenig von ihm sagen.« Goethe gab dann über den seltsamen Gast das Schlußurteil: »Es ist mir doch lieb, daß Sie Richtern gesehen haben; seine 423 Wahrheitsliebe und sein Wunsch, etwas in sich aufzunehmen, haben mich auch für ihn eingenommen. Doch der gesellige Mensch ist eine Art von theoretischem Menschen, und wenn ich es recht bedenke, so zweifle ich, ob Richter im praktischen Sinne sich jemals uns nähern wird, ob er gleich im Theoretischen viele Anmutung zu uns zu haben scheint.« –

Einen Tag, bevor Goethe diese Äußerung niederschrieb, hatte Jean Paul Weimar verlassen. »Diese dreiwöchentliche Stelle in meiner Lebenslaufbahn ist eine Bergstraße, die eine neue Welt in mir anfängt«, heißt es in dem letzten Brief an den Hofer Freund. »Wenn ich nur die Hälfte meiner hiesigen Geschichte so lange behielte, bis ich sie in Dein Gedächtnis übergeschüttet hätte!«

Die Briefe an Otto geben zwar die äußeren Umrisse seiner Weimarer und Jenaer Tage, aber Jean Paul hatte selbst die Empfindung, daß das Eigentliche nur in langen Gesprächen gesagt werden dürfe. »Alles, was schönere und mehre Saiten und Nachklänge in Deiner und meiner Seele findet, sag' ich Dir mündlich: weil gerade das Schlechteste sich am kürzesten sagen läßt – also mündlich das Andere.«

Dieses in den Briefen Verschwiegene konnte sich nur um seine endgültige Entscheidung für Goethe oder für Herder drehen. Wir wissen, wie diese Entscheidung ausfallen mußte. Goethe selbst bemerkte bereits, daß es ihm nicht gelungen war, den Fremdling der Gegenseite abspenstig zu machen. Er hat es gewollt. Irgendeinem ihm fremden Dichter hätte er nicht mit dem Aufgebot seiner ganzen lebendigen Vortragskunst ein Gedicht von sich vorgelesen. Und auch Schiller hatte es entschieden darauf abgesehen, auf Jean Paul Eindruck zu machen. Der Eindruck, den Goethe und Schiller in Jean Paul erweckten, war nach seinen brieflichen Äußerungen in der Tat stark, aber er bekam das Vorzeichen, das 424 erst über den Wert und Unwert eines Eindrucks entscheidet, doch von der andern, Goethe abgekehrten Seite. Die erschütternde Gestalt Herders, der seine eigenen Werke verachtet, daß »es einem das Herz durchschnitt«, siegte über die Dioskuren, die selbstherrlich der Entwickelung ihren Weg vorschreiben zu können glaubten. Goethe bemerkte, daß die seltsame Erscheinung, die ihm wohl ein Euphorionerlebnis hätte verschaffen können, ihm entglitt. »So zweifle ich, ob Richter im praktischen Sinne sich uns jemals nähern wird, ob er gleich im Theoretischen viele Anmutung zu uns zu haben scheint.« Dieses abschließende Wort drückte den inneren Kampf in Jean Paul aus und seine Entscheidung.

Was war nun das Eigentliche, das Jean Paul von Goethe und Schiller abrücken ließ? Nichts anderes als die Kunstanschauung, die uns in jenem Brief Schillers auf Herders letzten Horenbeitrag begegnet ist. Die Poesie geht nicht aus dem Leben, aus der Zeit, aus dem Wirklichen hervor, hatte Schiller damals geschrieben. Der deutsche dichterische Geist könne durch die Berührung mit der Wirklichkeit nur beschmutzt werden. Es ist kaum denkbar, daß Herder dem jüngeren Freunde dieses Schreiben Schillers nicht gezeigt, daß er nicht zum mindesten ihm die Kunstanschauungen Schillers in diesem Sinne auseinandergesetzt hat. Er hatte noch mehr getan: ihm Briefe Hamanns zu lesen gegeben und ihm bei dieser Gelegenheit sicherlich seine tiefgründigen Einwürfe gegen das kantische System auseinandergesetzt, worin Hamann ihm so restlos beipflichtete, ja worin er ihm entschieden vorangegangen war. »Hier sende ich Hamanns Schriften wieder,« schreibt Jean Paul an Karoline Herder, »in denen wie auf den Alpen alle Zonen und Jahreszeiten nahe beieinander liegen.« Es war die Universalität des Geistes, mehr noch des Herzens, die ihn bei Hamann wie 425 bei Herder wieder von neuem aufs tiefste ergreifen mußte, neben der ihn die formale, lebenabgewandte Kunstauffassung Goethes und Schillers nur abstoßen konnte. Bei allen den Weimarer Freunden, von Herders bis zu Corona Schröter, von Charlotte bis zu Knebel, hatte er die gleiche Meinung, die gleiche Empörung über Goethes Kälte gefunden. Kein Wunder, daß diese Auffassung immer mehr von ihm Besitz ergriff.

Knebel hatte versprochen, ihm seine Übersetzung der Elegien des Properz nach Hof zu senden. Am 3. August schreibt Jean Paul ihm, daß er von dem Buche geträumt hätte. Es wäre noch nicht da. »Jetzt indes braucht man einen Tyrtäus mehr als einen Properz.« Das ging gegen die weltabgewandte Haltung Goethes, zum mindesten wurde dieser Satz von den Weimarer Freunden dahin gedeutet. Schon am 10. August antwortete Goethe mit einem Beitrag für die Horen: »Der Chinese in Rom«.

Einen Chinesen sah ich in Rom: die gesamten Gebäude
Alter und neuerer Zeit schienen ihm lästig und schwer.
Ach! so seufzt' er, die Armen! ich hoffe, sie sollen begreifen,
Wie erst Säulchen von Holz tragen des Daches Gezelt,
Daß an Latten und Pappen, Geschnitz und bunter Vergoldung
Sich des gebildeten Auges feinerer Sinn nur erfreut. –
Siehe, da glaubt' ich im Bilde so manchen Schwärmer zu schauen,
Der sein luftig Gespinst mit der soliden Natur
Ewigem Teppich vergleicht, den echten reinen Gesunden
Krank nennt, daß ja nur Er heiße, der Kranke, gesund.

Er schickt das Gedicht an Schiller mit den Worten: »Hier ein kleiner Beitrag; ich habe nichts dagegen, wenn Sie ihn brauchen können, daß mein Name darunter stehe. Eigentlich hat 426 eine arrogante Äußerung des Herrn Richter, in einem Briefe an Knebel, mich in diese Disposition gesetzt.« Die Überschrift macht das Ziel des Spottverses deutlich. Für die Eingeweihten konnte, besonders mit Goethes Unterschrift, kein Zweifel darüber herrschen, wer unter dem »Chinesen in Rom« zu verstehen war. Und vielleicht war das Bild nicht einmal so übel, denn wie in einer ihm völlig wesensfremden Welt war Jean Paul in Weimar herumgezogen, seine in entlegener Gegend gewachsenen Maßstäbe an das deutsche Kulturzentrum herantragend. Noch deutlicher wurde Goethe in einigen Xenien, die er dem »Chinesen« unmittelbar folgen ließ. In dieser Xenienreihe beschäftigt er sich zunächst mit dem Breslauer Gymnasialdirektor Manso, den er als Nachfolger Wielands dessen caput mortuum nennt. Drei Xenien aus dieser Reihe sind es, die in unsern Zusammenhang gehören:

Prosaische Reimer.
        Wieland, wie reich ist dein Geist! Das kann man nun erst empfinden,
Sieht man, wie fad und wie leer dein caput mortuum ist.
Jean Paul Richter.
Hieltest du deinen Reichtum nur halb so zu Rate, wie jener
Seine Armut, du wärst unsrer Bewunderung wert.
An seinen Lobredner.
Meinst du, er werde größer, wenn du die Schultern ihm leihest?
Er bleibt klein wie zuvor, du hast den Höcker davon.

Schiller antwortete umgehend: »Der Chinese soll warm in die Druckerei kommen; das ist die wahre Abfertigung für dieses Volk.« Man sieht den selbstherrlichen Hochmut, der aus diesen Worten herausklingt. Auch in Goethes Xenien 427 war wieder der Gegensatz zwischen Goethe und Jean Paul, wenn auch nicht in der Tiefe erfaßt, so doch angedeutet. Die leere Dürftigkeit eines bloßen Nachahmers war Goethe immerhin noch respektabler als die quellende Überfülle Jean Pauls. Es war die immer beibehaltene Einstellung der Dioskuren zu den andern Größen der Zeit, die sie unbedenklich abzufertigen bemüht waren oder mit dem ersten Besten zusammenwarfen. Im nächsten Jahr schreibt Schiller an Goethe: »Ich möchte wissen, ob diese Schmidt, diese Richters, diese Hölderlins absolut und unter allen Umständen so subjektivisch, so überspannt, so einseitig geblieben wären, ob es an etwas Primitivem liegt, oder ob nur der Mangel einer ästhetischen Nahrung und Einwirkung von außen und die Opposition der empirischen Welt, in der sie leben, gegen ihren idealischen Hang diese unglückliche Wirkung hervorgebracht hat.« Dieser Art waren die gehässigen Urteile, die die zünftigen Literaturgeschichtler über hundert Jahre lang immer wieder von Goethe und Schiller abgeschrieben haben, den deutschen Geist um seine tiefsten und eigentlichen Erlebnisse betrügend.

Mit den Weimarer Tagen hatte sich die große Welt für Jean Paul eröffnet. Von überall strömten ihm jetzt Beziehungen und Kundgebungen zu, zumal von den Menschen, die sich von Goethe und Schiller zurückgestoßen fühlten. Ein Brief Schlichtegrolls, des Herausgebers des bekannten Nekrologs, brachte dem Dichter des »Hesperus«, wie er schreibt, »zu den Vorfrühlingstagen die Schmetterlinge und Blumen mit«. Ende 1797 bat Schlichtegroll ihn gar zum Gevatter. Der Lyriker Kosegarten schrieb gleichfalls einen überschwenglichen Brief an Jean Paul, teilte ihm mit, daß er vor einiger Zeit eine Jean Paul preisende Elegie an Schiller für dessen Almanach gesandt, sie aber zurückerhalten hätte, obwohl Schiller 428 von ihm weit schwächere Stücke unbedenklich angenommen. »Nicht dem Werte des Gesangs sondern des Gegenstandes mußt er die Stelle Ihrer andern Gedichte versagen«, antwortete Jean Paul. Einsiedel schickt Dramen und bittet um Beurteilung. Unter den Verehrerinnen seines Genius fehlen nicht Sophie von Laroche und Lavater. Eine Prinzessin Hohenlohe will ihm durch Vermittelung des alten Freundes Spangenberg die Erziehung ihrer Kinder anvertrauen.

Mit doppelter Liebe hängen sich die alten Freunde an ihn. Amöne und sogar seine frühere Braut Karoline Herold wie Renate, die inzwischen Mutter geworden ist, muß er immer aufs neue seiner alten Liebe versichern. Emanuel besucht er mehrere Male in Baireuth und wird wie ein Fürst von ihm aufgenommen. Zwei Freudentage verlebt er in Arzberg bei Pfarrer Vogel, und gewiß wurde jener alten Prophezeiung Vogels gedacht, daß dieser ihm einmal mehr zu verdanken haben werde als er ihm. Dem alten Rektor Werner in Schwarzenbach, der gerade in den kümmerlichsten Verhältnissen lebt, schickt er eine Geldsumme, die dieser einst seiner darbenden Mutter geborgt, gerade im rechten Augenblick zurück. Für seine ganze alte Umwelt, an der er so schwer gelitten und der er doch so viel zu verdanken hat, wird er zum Freudenbringer. Selbst Friedrich von Oerthel, bei dessen Bruder er in Weimar gelebt hatte und von dessen Mutter und Schwester er so liebevoll aufgenommen wurde, gehört jetzt schon zu den alten Freunden. Im Spätsommer kommt Oerthel für einige Wochen nach Hof und verliert sein Herz an Amöne. Jean Paul steht ihm bei den inneren Kämpfen schlichtend und tröstend bei.

Noch immer lebt er mit seiner alten Mutter zusammen, aber wie anders ist jetzt sein Dasein in dem stillen und verhaßten Hof geworden!

429 Es liegt in der Natur der Dinge, daß feindliche Äußerungen sich wie Klingen in der Luft zu kreuzen pflegen. Jean Paul konnte nicht ahnen, daß seine Briefstelle über Properz und Tyrtäus den Unmut Goethes erregt hatte. Er wußte noch nichts von dem »Chinesen in Rom« und den Xenien, die nicht nur ihn heruntersetzten, sondern auch, in dem dritten mitgeteilten Xenien, jeden treffen sollten, der für ihn eintrat. Es war aber natürlich, daß auch er sich, nach Hof zurückgekehrt, mit dem Geist von Weimar auseinandersetzte. Er tat es in der bereits erwähnten »Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des ›Quintus Fixlein‹«. Wir werden sehen, von welcher eminenten Bedeutung die Weimarer Tage für sein weiteres Schaffen waren. Den Plan zum »Titan« trug er bereits im Kopf, als er nach Weimar kam. Herder und Charlotte von Kalb warfen ihm den alten Plan über den Haufen. Etwas ganz Neues, Großes war ihm aufgegangen. In der Kalb war ihm zum erstenmal das titanische Weib, seine Titanide, begegnet. In Goethe und Schiller hatte er titanische Menschen kennengelernt. Schon in seinen Beschreibungen, die er an Otto zu Papier brachte, ist das titanische Moment bei den Dioskuren scharf herausgearbeitet. Ja, schon die Bilder der beiden Großen, die er vor der Weimarer Reise in Baireuth zu Gesicht bekommen hatte, hatten ihm den starken Eindruck vermittelt, den die persönliche Berührung nur verdeutlichen konnte. »Schillers Portrait oder vielmehr seine Nase daran schlug wie ein Blitz in mich ein: es stellet einen Cherubim mit dem Keime des Abfalls vor und er scheint sich über alles zu erheben, über die Menschen, über das Unglück und über die – Moral. Ich konnte das erhabene Angesicht, dem es einerlei zu sein schien, welches Blut fließe, fremdes oder eigenes, gar nicht satt bekommen«, hatte er damals an Otto geschrieben. Und wenn er 430 den Ritter Gaspard im »Titan« beschreibt, tut er es fast mit den gleichen Worten: »Ein Cherub mit dem Keime des Abfalls, ein verschmähender gebietender Geist stand da, der nichts lieben konnte, nicht sein eigenes Herz, kaum ein höheres, einer von jenen Fürchterlichen, die sich über die Menschen, über das Unglück, über die Erde und über das – Gewissen erheben, und denen es gleich gilt, welches Menschenblut sie hingießen, ob fremdes oder ihres.«

Das Titanenerlebnis reifte aus. Schon im Juli konnte er in einem der ersten Briefe aus Hof an Charlotte schreiben: »Der ›Titan‹ hat seine Raupenhülse zerrissen.« Aber dieses Erlebnis konnte sich nur in großen Formen entladen. Im Vordergrund stand vorläufig jene Kunstanschauung Goethes und Schillers, die zu dem Zerwürfnis mit Herder geführt hatte. Wenn er im »Titan« den Erbprinz Luigi »mit der artistischen Kälte des Galerieinspektors« vor seinen Kunstwerken stehen läßt oder wenn er von dem Kunstrat Fraischdörfer spricht, »der sein Gesicht, wie die Draperie der Alten, in einfache edle große Falten geworfen hatte«, dann steht Goethe vor unsern Augen, wie ihn Charlotte von Kalb geschildert: »ganz kalt für alle Menschen und Sachen auf der Erde – er bewundert nichts mehr, nicht einmal sich – jedes Wort sei Eis – bloß Kunstsachen wärmen noch seine Herznerven an«. Oder das seltsam feierliche Haus am Frauenplan steht vor uns: »mit solchen Treppen, ein Pantheon voller Bilder und Statüen, eine Kühle der Angst presset die Brust«. Die formale Kunstbildung, die sich durch die Berührung mit der Wirklichkeit nur beschmutzt fühlen kann, – das war der Punkt, wo Jean Pauls Widerspruch einhakte. Wie ein Alpdruck lastete diese Auffassung auf ihm. Von ihrem Eindruck mußte er sich zuerst befreien, und er tat es durch die Berührung mit der ihm vertrauten Welt.

431 In der Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des ›Quintus Fixlein‹ bog er noch einmal in den Kreis ein, der ihn bis zur Weimarer Reise liebevoll umfangen hatte. Wie hatte er im »Siebenkäs« die ihm von Kindesbeinen an vertraute Landschaft mit Abschiedsschwelgereien durchsetzt! Der Weg von Hof nach Baireuth, auf dem ihm nun allmählich durch seine Pilgerfahrten von dem rauhen Gebirge nach der Baireuther Ebene jeder Baum und jedes Haus lieb geworden war, schloß für ihn Schicksal ein. Noch einmal glaubte er diesen Weg im Werke gehen zu müssen. Auf diesem Wege von dem steinigen, »grauhaarigen« Hof nach dem befreienden Baireuth, von wo die weite Welt sich ihm geöffnet hatte, läßt er die Entscheidung fallen. Hier muß zwischen sinnbildlichen Gestalten, sinnbildlich für sein bisheriges Schaffen und für das Neue, das ihm begegnet ist, die große Auseinandersetzung stattfinden. Schon einige Male hatte er in entscheidenden Wendungen auf einen solchen Weg als einen symbolischen Schauplatz den Tumult des Innern verlegt. Während der Vorrede zur »Unsichtbaren Loge« läßt er sich auf den Fichtelberg, den beherrschenden Gipfel der heimischen Landschaft, emportragen. In der Vorrede zu den »Biographischen Belustigungen« deutet er den Weg aus dem gebirgigen Winter in den Baireuther Frühling an. Inzwischen war ihm die Landschaft noch inniger ans Herz gewachsen als Schauplatz der Leiden seines Armenadvokaten. Hier waren die Freunde vor ihrer endgültigen Trennung den letzten gemeinsamen Weg gegangen. Auf der Höhe von Bindloch hatten sie den ewigen, durch immer neue Umarmungen hinausgezögerten, quälenden Abschied voneinander genommen. Auf diesem Weg läßt Jean Paul nun die Geschichte seiner Vorrede spielen.

Mit allen seinen Stationen ersteht er für uns. Mit dem 432 Dichter wandern wir durch Münchberg, das malerisch mit seinen Häusern aus dem Tal die Hügel hinanklettert. Durch das anmutige Gefrees, durch Bindloch, wo die Straße in jähem Fall zu Tal schießt. An dieser für Fuhrwerke gefährlichen Stelle erinnert eine rohe Skulptur in ländlichem Stil an die Braut, die von dem durchgehenden Wagen zu Tode gerädert wurde, als sie gerade in die Arme ihres Bräutigams fuhr. Wir sinken mit dem Wandernden »in das grünende Tempe von Berneck hinein«. Der Weg mit allen seinen Ortschaften, dem Auf und Nieder seines Ganges, begleitet uns, während der Dichter die Vorrede zu schreiben vorgibt.

Am frühen Morgen ist er von Hof aufgebrochen. Unter dem Schlagbaum sieht er von hinten eine davonfahrende Schöne und eilt ihr nach, um sie auf der nächsten Station womöglich einzuholen und ihr ins Gesicht zu sehen. Da der Wald sie seinem Anblick entzieht, nimmt er die Schreibtafel zur Hand und beginnt mit der Vorrede, die den blumenreichen und selbstherrlichen Stil zeitgemäßer Vorreden leicht travestiert. »Allein jetzt ging hinter mir die Sonne auf . . . Als mich die Straße immer höher über die Täler hob, wurd' ich zweifelhaft, wem ich treu bleiben sollte – ob der erhabenen Allee und Kolonnade von Bergen, die ich linker Hand, oder dem magischen vis-à-vis mit dem gebildeten Kopfe, das ich geradeaus vor mir hatte.« An Vorreden ist jedenfalls vorderhand nicht zu denken. An dem Rabenhügel von Münchberg geht es vorbei. Wieder wird ein Stück der Vorrede versucht, aber von den Hügeln steigt der Kunstrat Fraischdörfer aus Haarhaar, der unter dem Galgen botanisiert hat, und redet ihn an. Damit ist die Arbeit an der Vorrede für längere Zeit unterbrochen. Die Figur Fraischdörfers ist, wie bereits erwähnt, eine Vorwegnahme aus dem »Titan«. Es ist jener Kunstrat, der dort »sein Gesicht, wie die Draperie 433 der Alten, in einfache edle große Falten geworfen« hat. Also eine Personifikation der uns bekannten Goethe-Schillerschen Kunstanschauung, wie sie Herder und Jean Paul notwendig erscheinen mußte. Vielleicht ist bei dieser Gestalt im einzelnen sogar an August Wilhelm Schlegel gedacht, der sich damals innig an Goethe angeschlossen hatte und den Freunden wie eine Inkarnation jener Goethe-Schillerschen Kunstansichten erschien. Wie es sich auch um das persönliche Vorbild zum Kunstrat Fraischdörfer verhalten mag, in ihm wird jedenfalls die formalästhetische Auffassung von Kunst, wie sie in so entschiedenem Gegensatz zu den Anschauungen des Herder-Jean Paulschen Kreises stand, dargestellt. Die Unterhaltung zwischen dem wandernden Jean Paul und Fraischdörfer bringt nun die große Auseinandersetzung mit der wirklichkeitsfeindlichen Theorie Goethes und Schillers.

Der Wanderer stellt sich dem fragenden Kunstrat als »Quintus Fixlein« vor, dessen Biographie Jean Paul gerade geschrieben habe und von der er weiß, daß der Kunstrat sie nächstens in einem gelehrten Journal rezensieren werde. Das Gespräch geht also ganz natürlich auf Jean Pauls Werke über, die dem Kunstrat ein Dorn im Auge sind. In den Äußerungen Fraischdörfers entwickelt Jean Paul dann vor uns jene formalästhetischen Kunstanschauungen. Fraischdörfer ist zum Beispiel über die Häuser von Münchberg erbost. Sie müßten entweder alle auf der Höhe oder alle im Tal stehen. Das organische Ineinanderwachsen von Landschaft und Siedlung liegt ihm vollkommen fern. »Er fragte mich, ob Gebäude etwas anders als architektonische Kunstwerke wären, die mehr zum Beschauen als zum Bewohnen gehörten und in die man nur mißbrauchweise zöge, weil sie gerade wie Flöten und Kanonen hohl gebohrt wären.« »Er zeigte das Lächerliche, sich in einem Kunstwerk einzuquartieren, und 434 sagte, es sei so viel, als wollte man Heems Gefäße zu Käsenäpfen und Federtöpfen verbrauchen, oder den Laokoon zum Baßgeigenfutteral und die medizeische Venus zur Haubenschachtel aushöhlen.« Er gesteht frei, »es mach' ihm als Artisten kein Mißvergnügen, wenn eine ganze Stadt in Rauch aufginge«. Kurzum, »der formlose Former vor mir achtet am ganzen Universum nichts als daß es ihm sitzen kann – er würde wie Parrhasius und jener Italiener Menschen foltern, um nach den Studien und Vorrissen ihres Schmerzes einen Prometheus und eine Kreuzigung zu malen – der Tod eines Söhnchens ist ihm nicht unerwünscht, weil die Asche des Kleinen in der Rolle einer Elektra einem Polus weiter hilft als drei Komödienproben – das unzählige Landvolk ist doch von einigem Nutzen in ländlichen Geschichten . . . und der General Orlof hilft den Bataillen und Seemalern mit den nötigen Akademien aus, mit Schlachtfeldern und aufgesprengten Schiffen«.

Am deutlichsten kennzeichnet sich der Gegensatz an den ganz weimarisch gefaßten Worten Fraischdörfers: »es gäbe weiter keine schöne Form als die griechische, die man durch Verzicht auf die Materie am leichtesten erreiche«. Das ist allerdings ein Satz, wie er dem Briefwechsel Goethes und Schillers direkt entnommen sein könnte. Dieses Ausgehen auf die einfach-schöne Linie, dieses unbarmherzige Unterdrücken der Lebenswirklichkeit zugunsten eines ästhetischen Genießens weniger Menschen, das ist es, was den Dichter wie den Ethiker Jean Paul an den Weimarer Großen am meisten empört. Das volle, reiche Leben mit seinen Qualen und seinen Freuden findet er hier vergewaltigt, Wahrheit und Wirklichkeit unterdrückt um eines seelenlosen Schönheitsideals willen, das einmal unter ganz besonderen Verhältnissen bei einem harmonisch glücklichen Volke Ereignis wurde. Zu diesen 435 Anschauungen muß Jean Paul in einem unüberbrückbaren Gegensatz stehen, denn ihre Konsequenz ist nichts anders als die strikte Ablehnung des Humors im deutschen und englischen Sinne. »Vollends Humor,« sagt Fraischdörfer, »dieser sei ebenso verwerflich als ungenießbar, da er bei keinem Alten eigentlich anzutreffen sei.«

Der Humor ist aber für Jean Paul gerade das Höchste der Dichtung. In ihm findet er Leben und Wirklichkeit am meisten in ihrer Fülle und ihrem metaphysischen Widerspruch zum Ausdruck gebracht. Humor freilich in einem umfassenderen Sinne, als es der heutige Sprachgebrauch will. Faßte doch Jean Paul auch seine großen Romane noch als Humoristische Dichtung auf, wie er sich selbst zeitlebens in erster Linie als Humoristen bezeichnet wissen wollte. Humor bedeutet für ihn die Quelle alles Dichterischen. Er legt denn auch sofort dem Kunstrat seine Auffassung des Humoristischen dar: »daß die krumme Linie des Humors zwar schwerer zu rektifizieren sei, daß er aber nichts Regelloses und Willkürliches vornehme . . . daß er mit dem Tragischen die Form und die Kunstgriffe, obwohl nicht die Materie teile – daß der Humor (nämlich der ästhetische, der vom praktischen so verschieden und zertrennlich sei, wie jede Darstellung von ihrer dargestellten oder darstellenden Empfindung) nur die Frucht einer langen Vernunft-Kultur sei, und daß er mit dem Alter der Welt, sowie mit dem Alter eines Individuums wachsen müsse«. Hier wird der Gegensatz zwischen dem jünglinghaften Formensinn der Alten und dem durch ein Weltalter getrennten Formensinn der christlich nordischen Moderne aufgezeigt. Durch die unendlichen Seelenerlebnisse der neueren Zeit erst ist der Sinn frei geworden für die Tiefen des Lebens, und frei, sie in ihrem Widerspiel zu umfassen. Erst von der krummen Linie des Humors kann die 436 Formenfülle der modernen Seele umgriffen werden. Der Humor begnügt sich nicht mit farblosen Idealgestalten griechischer Prägung. Die ganzen Zwischenstufen von Gut und Böse finden in der humoristischen Darstellung ihren Ausdruck, während das griechische Schönheitsideal sich mit allgemeinen Idealcharakteren begnügen müsse. »Auch wird es einer engen Phantasie schwerer, sich in unvollkommene Charaktere zu denken als in vollkommene und sich für sie zu interessieren.« Gerade mit seinen unvollkommenen Menschen hatte Jean Paul Neuland erobert und erst allen diesen vom Leben niedergedrückten und verstümmelten Charakteren, von denen die Welt voll ist, dichterische Teilnahme gewonnen. Gerade hierin konnte er mit Recht seine größte Leistung sehen. Mit dem griechischen Maßstab gemessen, den er für einen modernen Dichter als viel zu eng empfand, mußte dieser Eroberungszug in neues Gebiet als barbarischer Rückschritt erscheinen. Auch hier, und hier gerade im entscheidenden Punkte wurde der Kampf um die deutsche Verwirklichung aufgenommen, um das Eingehen der modernen Vielfältigkeit in dichterische und künstlerische Gebilde. Wie stark bewußt Jean Paul diesen Gegensatz nach Weimar empfand, zeigt die Andeutung, daß er schon damals den Plan gefaßt, seinen und Herders Standpunkt gegenüber der gräzisierenden Zeitströmung theoretisch zu fundieren. »Ich werde einmal in einem kritischen Werkchen geschickt dartun, daß alle deutsche Kunstrichter (den neuesten ausgenommen) den Humor nicht bloß jämmerlich zergliedern, sondern auch (was ich nicht vermutet hätte, da das Vergnügen an der Schönheit durch die Unwissenheit in ihrer Anatomie so sehr gewinnt) noch erbärmlicher genießen.« Aus dem Plan dieses »Kritischen Werkchens« sollte sich Jahre darauf die »Vorschule der Ästhetik« entwickeln. Der neueste Kunstrichter war natürlich Herder, und die deutschen 437 Kunstrichter, die die Werke eines deutschen Humoristen nur so jämmerlich genießen können, unter denen waren natürlich Goethe und Schiller und ihr Anhang gemeint, die verständnislos Jean Pauls künstlerischer Erscheinung gegenüberstanden. Und als ob Jean Paul bereits das dritte jener Goetheschen Xenien, das sich gegen den Rezensenten des »Hesperus« in der Allgemeinen Literaturzeitung richtete, gelesen hätte, legt er Fraischdörfer die Worte in den Mund: »so begreife man nicht, wie der Rezensent der Literaturzeitung ihn noch dazu wegen der Wahl solcher zweideutiger Materien, wie z. B. Gottheit, Unsterblichkeit der Seele, Verachtung des Lebens usw. preisen könne«.

Mit einem flammenden Ausbruch stellt sich der Dichter zu seiner eigenen Welt, wenn er dem Kunstrat innerlich zuruft: »Du sollst weder meine Reißfeder noch mein Auge von dem Eisgebirge der Ewigkeit abwenden, an dem die Flammen der verhüllten Sonne spielen, noch vom Nebelstern der zweiten Welt, die so weit zurückliegt und nur die Parallaxe einer Sekunde hat, und von allem, was die fliegende Hitze des fliegenden Lebens mildert, und was den in der Puppe zusammengekrümmten Flügel öffnet und was uns wärmt und trägt!«

Während dieser Auseinandersetzungen haben die Wanderer Berneck erreicht. Der Reisewagen der schönen Fremden hält vor dem Wirtshaus, und gerade will die Dame einsteigen, als sie Jean Paul erkennt und mit Namen begrüßt. Nun bemerkt Fraischdörfer, daß er nicht mit dem »Quintus Fixlein« gewandert ist, dessen Lebensgeschichte er rezensieren will, sondern mit dem Verfasser dieser Lebensgeschichte selber, und verschwindet mit einem Fluch. Die schöne Unbekannte ist aber niemand anders als Paulline Oehrmann, die wir aus der Vorrede zum »Siebenkäs« bereits kennen. Wir 438 entsinnen uns, wie Jean Paul ihr unter dem Einschlafen ihres Vaters den Inhalt seiner Romane zu erzählen pflegte, um sie über ihr trauriges und an Eindrücken armes Leben hinwegzuschwingen. Freudig begrüßt sie den Freund, der zu ihr in den Wagen steigt.

Paulline hat sich inzwischen verlobt, und zwar gleichfalls mit einem Bekannten des Lesers: dem Gerichtshalter Weyermann, dem wir im »Siebenkäs« und in dem Appendix zu den »Biographischen Belustigungen«, der »Salathkirchweih zu Obersees«, bereits begegneten. In Paulline Oehrmann nun findet Jean Paul gewissermaßen zu seiner eigenen Welt zurück, die er gegen den gräzisierenden Kunstrat zu verteidigen hatte. Paulline ist einer jener »unvollkommenen Charaktere«, die nur der Griffel des Humoristen festzuhalten vermag, und eine jener vom Leben Niedergebeugten, die Jean Paul wieder aufrichten, deren Leid er ins Wort erlösen will.

Visavis der glücklichen Braut fährt er dem Kunstrat davon. »Hinter unsern grünen Bergen lag die Wüste der Kinder Israel und vor uns das gelobte Land der sanften Baireuther Ebene.« Seine Gedanken malen das harte Schicksal Paullinens aus, die nun von der unbarmherzigen Hand des Vaters in die des unbarmherzigen Mannes geht und auf deren Blütenträume sich bald der Mehltau der Ehe senken wird. »Du weißt nicht, daß dein schönes Herz etwas Besseres und Wärmeres braucht als Blut und dein Kopf höhere Träume, als die das Kopfkissen beschert – daß die duftenden Blumenblätter deiner Jugend sich nun zu geruchlosen Kelchblättern zusammenziehen, zum Honiggefäße für den Mann, der jetzt bald von dir weder ein weiches Herz noch einen lichten Kopf, sondern nur rohe Arbeitfinger, Läuferfüße, Schweißtropfen, wunde Arme und bloß eine ruhende paralytische Zunge 439 fordern wird . . . Die Sonne wird für dich ein herunterhängender Ballonofen und Stubenheizer der Welt, und der Mond eine Schusters-Nachtkugel auf dem Lichthalter einer Wolke – der Rhein trocknet in dir zur Schwemme und zum Schwenkkessel deines Weißzeugs ein und der Ozean zum Heringsteich . . . und ein Universalgenie stellest du dir um nicht viel, aber um etwas gescheuter vor als deinen Eheherrn.« – »Du bist zu etwas Besserem geschaffen, aber du wirst es nicht werden (wofür dein armer Weyermann nichts kann, dem es der Staat selber nicht besser macht). Und so wird der Tod deine von den Jahren entblätterte Seele voll eingedorrter Knospen antreffen, und er erst wird sie unter einen günstigeren Himmelsstrich verpflanzen.« Mit diesen wenigen Sätzen wird die Tragödie des Alltags vor uns entrollt. »O sei nicht so fröhlich, armes Opfer!« ruft er der unter eingebildetem Brautglück erblühten Paulline zu. Überwältigt von dem Leid der menschlichen Kreatur, nimmt er seine Schreibtafel vor und schreibt für Paulline jene Erzählung »Die Mondfinsternis« nieder, die einst aus dem Neujahrsglückwunsch für Renate Wirth Anfang Januar 1791 entstanden war. Wir wissen jetzt: es war das Schicksal Renates, das er in Paulline Oehrmann festhielt. An der Erinnerungssäule des Bindlocher Tales steigen die Fahrenden aus, und er liest Paulline unter dieser »Siegessäule der Marter« einer Braut die kleine Dichtung vor von den drei guten Menschen, die sich über die Erde hinaussehnten und auf dem sanften Mond vereinigt werden zu ewigem Beisammensein.

Erst durch Paullines rührende Gestalt wird die Abrechnung mit Weimar vollständig. Der kalten Formenkunst der beiden Dioskuren stellt Jean Paul den Reichtum an inneren Tragödien, die schweren Erschütterungen des Leids 440 gegenüber, die rings gestapelt sind. Welche unmeßbaren dichterischen Schätze barg allein das Alltagsschicksal einer Paulline Oehrmann! Wie viel harrte hier des lösenden Dichterworts! Durch Liebe die Welt zu begreifen und zu überwinden, das tritt als die innere Mission des Dichters hervor.

Für Jean Paul bedeutete diese Geschichte einer Vorrede einen Abschied. Der »Kardinalroman« erfüllte ihn schon. Ich bin »in den Webstuhl des ›Titan‹ eingekerkert«, schreibt er an Lübeck, den Verleger des »Quintus Fixlein«. Der Welt Goethes und Schillers wollte er ein riesengroßes Abbild seiner Welt entgegensetzen. Die stille Welt des »Siebenkäs« und der Idyllen hatte jetzt in den Hintergrund zu treten. Aber immer blieb sie um ihn, sollte ihn während des Wachsens des »Titans« begleiten und ihn dann wieder in ihre Arme schließen. Ihn, der über allen Kultur- und Geistesproblemen im tiefsten Grunde der »Armenadvokat« blieb. 441

 


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