Walther Harich
Jean Paul
Walther Harich

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Wanderjahre

Jean Paul war überzeugt, daß er nie wieder in die Gegend seiner Jugendjahre zurückkehren würde. Er nahm gründlich Abschied und besuchte sogar Frau von Plotho auf Zedtwitz. In Gera blieb er einen Tag. Es war der Erscheinungsort seiner »Teufelspapiere«. Merkwürdigerweise hatte ihm vor kurzem durch Spangenbergs Vermittelung wiederum ein Geraer Verleger den Vorschlag unterbreitet, dieses Buch, dessen erste Auflage längst zu Makulatur verarbeitet war, in zweiter Auflage herauszugeben. Mit dem Buchhändler Heinsius, der diesen kühnen Vorschlag gemacht hatte, besprach Jean Paul den Plan, den er bald in Leipzig in Angriff nehmen wollte.

Nach Leipzig kam er diesmal nicht mehr als unbekannter Student. Seine Erscheinung bildete für die Stadt der Buchhändler eine Sensation. Zunächst stieg er bei Beygang, dem Verleger des »Jubelsenior« ab, bezog aber bald seine Wohnung, die ihm Freund Oerthel, wiederum in der Petersstraße, besorgt hatte. Abends besuchte er eines der berühmten Gewandhauskonzerte. Zum erstenmal in seinem Leben glaubte er Musik zu hören, so überwältigend war der Eindruck. Am nächsten Tag nahm er an einer Opernaufführung teil. Zehn Weimarer Bühnen gäbe er für diese Oper, schrieb er begeistert an Otto.

Schon an dem ersten Abend bekam er einen Begriff davon, was ihn in Leipzig erwartete. »Wie dem Adam die Tiere« wurden ihm »die Leute präsentiert, aber bloß weil ich einen 475 Namen hatte.« »Noch um acht Uhr abends kam zu mir ein Mensch ohne Hut mit struppigem Haar, aphoristischer Stimme und Rede, frei und sonderbar: Thieriot, ein Violinist und Philolog, und schien ein Sonderling, weil er mich für einen hielt. Sein zweites Wort war: er bitte mich, das Logis zu verlassen, weil er mit mir unter einem Dache wohnen und öfter wiederkommen wolle, und fragte, wie ich an einen Ort ziehen könne, der mich nächstens langweilen würde.« Thieriot, der sich ein wenig stürmisch bei seinem Lieblingsdichter einführte, wurde im Laufe der Zeit beherrschter und ein wirklich guter Freund Jean Pauls. Aber er war nur eine der vielen Gestalten, die sich um den berühmten Mann drängten. Im Museum lernte er Schelling kennen, der ihm jedoch ebensowenig gefiel, wie die ganze »verfluchte philosophische Horde«. Leider scheint er sich mit dem jungen Genie, das bald darauf seinen ungeheuren Aufstieg als Philosoph der Romantik begann, nicht genügend eingelassen zu haben. Schellings Bekanntschaft mit den Brüdern Schlegel, die mehr und mehr das rote Tuch für ihn wurden, trug wohl erheblich zu seiner Abneigung bei.

Die ihm am meisten befreundete Familie war naturgemäß zunächst die seines Freundes Oerthel, der in Belgershain ein schönes Landhaus bewohnte. Beiden Ehegatten war er bereits von Hof aus nähergetreten. Oerthel hatte sich Jean Pauls keusche Haltung und seelische Hoheit, wie er sie namentlich im »Hesperus« ausgedrückt fand, so zu eigen gemacht, daß er die bittersten Skrupel empfand, als er eine körperliche Liebe zu seiner damaligen Braut bei sich feststellen mußte. Jean Paul hatte den Freund mit liebendem Zartsinn getröstet und auch in andern diskreten Angelegenheiten des jungen Paares beraten und gedeutet. Kein Wunder, daß sich die junge Frau ihm mit besonderer Liebe 476 erschloß. Außer Oerthels waren es noch zwei Häuser, zu denen der junge Student einst vergeblich den Zugang gesucht hatte und die sich ihm nun mühelos auftaten: das des alten Steuereinnehmers Weiße, der ihm die ersten literarischen Ratschläge bei den »Grönländischen Prozessen« erteilt hatte, und seines einstigen Lehrers, des Philosophen Platner. Von Weißes ehrwürdiger Gestalt war er zunächst begeistert, aber bald fühlte er den Unterschied ihrer Anschauungen. Lieb blieb ihm Weißes schöne Tochter, und auch im Hause Platners, dessen unausstehliche Eitelkeit er bald bemerkte, waren es auf die Dauer die Töchter, die ihn immer wieder dorthin zogen.

Kotzebue besuchte ihn und lud ihn zum Essen ein. »Wider mein Erwarten ist seine Rede schlaff, geistlos, ohne Umfassen, wie sein Auge; auf der andern Seite scheint er weniger boshaft zu sein, als fürchterlich schwach; das Gewissen findet in seinem Breiherzen keinen massiven Grund, um einzuhaken.« »Es übersteigt meine Federkraft, Dir ein räsonnierendes Verzeichnis meiner übrigen Bekannten zu geben. Eher die feinen, nicht überfüllten, etwas kostbaren und leckerhaften soupées möcht' ich Dir malen . . . Es ist seit der Neujahrsmesse, daß ich eine geräucherte Wurst kochen lasse (die nur in der Messe zu haben ist), um Abends, wenn ich einmal zu Hause soupierte, etwas zu haben. Noch liegt von der Wurst das volle Endchen und der Bindfaden auf dem Lager – nun schließe!« Dieses Schreiben stammte vom 21. Februar. Die Wurst hatte also anderthalb Monate überdauert.

Mit einer neuen Menschenklasse wurde Jean Paul in Leipzig bekannt: dem reichen Kaufmannsstande. Mit Adel und kleinem Bürgertum hatte er Feste gefeiert und gelebt, aber der reiche Handelsstand war ihm bisher fremd geblieben. Es gelang ihm nicht sonderlich, sich in seine Art 477 hineinzufinden. Was ihm noch in den ersten Tagen als Kunstverständnis entgegengetreten war, zeigte sich bald als Achtung vor dem Erfolg und dem Namen, der seinen merkantilen Wert hatte. Die Festessen der großen Buchhändler entbehrten für ihn des menschlich festlichen Grundes und der geistigen Haltung. Das machte sich bald störend bemerkbar und war wohl der eigentliche Grund, der ihn bald wieder das Ränzel schnüren ließ. Menschlich warm konnte der Vorkämpfer des Bürgertums nur bei dem freieren Verkehrston des aufgelockerten Adels oder in seinen kleinbürgerlichen Kreisen werden. Die geistige und menschliche Enge des Handelsstandes schnürte ihn ein, wie ihn der Hofer Geist eingeschnürt hatte. Die lauten Festlichkeiten, die ihm zu Ehren veranstaltet wurden, erschienen ihm bald leer und störend. Das Leipziger Leben blieb ohne Einfluß auf sein Schaffen. Wo er die Typen reicher Kaufleute in seinen Werken brauchte, behielten sie die Prägung der Kommerzienagenten Röper und Neupeter (»Flegeljahre«), wie sie ihm in dem Kammerrat von Oerthel auf Töpen entgegengetreten waren.

Einer der starken Anziehungspunkte von Leipzig für ihn war Emilie von Berlepsch gewesen, die sich in Leipzig niederzulassen versprochen hatte. In der zweiten Dezemberhälfte kam sie und sorgte dafür, daß Jean Pauls Winter reich an Aufregungen war. Gerade daß ihre Liebe zu ihm frei von Sinnlichkeit sei, hatte Jean Paul an dieser Freundin besonders gerühmt. Er sollte aber bald merken, daß sich die alternde Frau mit mehr als geistigen Armen an ihn klammerte. Schon in Baireuth hatte sie ihm den Vorschlag gemacht, ihre Freundin, ein Fräulein Heidegger aus der Schweiz, zu heiraten und zu dritt einen Haushalt zu bilden. Jetzt kam sie auf diesen unsinnigen Vorschlag zurück und in einer Form, der Jean Paul keinen Zweifel darüber ließ, daß 478 sie es selbst auf ihn abgesehen hatte. Jean Paul setzte ihren Vorschlägen einen »verhärteten peinlichen Widerstand« entgegen. »Sie bekam über meine Erklärungen Blutspeien, Ohnmachten, fürchterliche Zustände; ich erlebte Szenen, die noch keine Feder gemalt.« Mitte Januar arbeitete er an einer Leibgebersatire, als sein »Inneres auseinanderging«. Er eilte zu ihr und versprach, sie zu heiraten. »Sie will tun, was ich will; will mir das Landgut kaufen, wo ich will, am Neckar, am Rhein, in der Schweiz, im Voigtland.« Jean Paul verlebte Tage kühler Resignation. Sie heiraten, bedeutete den Schlußstrich unter seine Jugend, völligen Verzicht auf alles, was er noch selbst zu erleben hoffte, da er es hundertmal geschrieben: das Glück aufblühender Liebe, seliges Sichfinden mit einem Mädchen, das durch ihn zur Frau wird und an seiner Seite reift. Otto glaubte, zuraten zu müssen. Was er im Leben aufgäbe, würde ihm die Kunst ersetzen. Gerade das ungelebte Leben würde sich ins Werk umsetzen und ihn zu den höchsten Schöpfungen tragen. Jean Paul stand ernstlich am Scheidewege. Er fragte sich, ob ihm überhaupt das Glück junger Liebe zuteil werden könne, da es ihm so lange ausgeblieben. Otto wies ihn auf seine Ansichten über die Simultan- und Tutti-Liebe hin: ». . . und darum wird Dir Deine Verbindung ein dichterisches Jünglingstum, Deine Tutti-Liebe, Deine Sehnsucht nach einem unerlangten unbefriedigten Ehestande, ganz rein bleiben.« Otto kannte den Freund. Er sah voraus, daß die bürgerliche Ehe, die Jean Paul so heiß ersehnte, ihm nur Kämpfe und Enttäuschungen bringen würde. Aber Jean Paul hätte sich selbst die Lebenswurzel und damit auch die Quelle seiner Dichtung abgeschnitten, wenn er eingewilligt hätte. Es gelang ihm, Emilie zu beruhigen und zur allmählichen Resignation hinüberzuführen. Sie rang sich zur Freundschaft durch und steckte ihre 479 Ansprüche an seine Liebe zurück. Eine Reise nach Dresden sollte den neuen Freundschaftsbund besiegeln. »Ende Mai gehe ich mit der Berlepsch nach Dresden, Seifersdorf, Tharand und auf der Elbe nach Wörlitz. Sie wohnt im Sommer in Gohlis, und hält für mein dichterisches Seildrehen und Seiltanzen eine untere Stube offen und parat . . . Ich hatte zwei aus der glühendsten Hölle gehobne Tage, und nun schließt sich ihr zerschnittenes Herz sanft wieder zu und blutet weniger. Ich bin frei, frei, frei und selig!«

Unter diesen Stürmen konnte von großem Schaffen keine Rede sein, und schon aus den Leipziger Tagen hätte Jean Paul ersehen können, was ihn in einer Ehe mit Emilie für Aufregungen erwarteten. Was er in den Monaten des ausgehenden Winters schrieb, war nicht besser und nicht schlechter als alles, was er nach der bedeutenden »Geschichte der Vorrede« in Hof zu Papier gebracht hatte. Es war der mit dem Geraer Buchhändler Heinsius besprochene Plan einer Umarbeitung der »Teufelspapiere«, der ihn in Leipzig hauptsächlich beschäftigte. Allerdings waren es kaum einige Bogen des alten Buches, die er zu den »Palingenesieen« oder »Jean Pauls Fata und Werke vor und nach Nürnberg« verwandte. Er machte ein völlig neues Buch daraus. »Palingenesieen« war nicht nur für diese Arbeit die richtige Bezeichnung, sondern für das ganze Schaffen dieser Zeit. Ein neues Erlebnis, das ihn zu einem neuen Werke gezwungen hätte, lag nicht vor. Der »Titan« lag noch immer in weiter Ferne. Es konnte sich für Jean Paul jetzt nur darum handeln, sein errungenes Reich zu behaupten und auszubauen. Er war erschöpft. Mochte er selbst in dem neuen Buch von dem uns bekannten Stich des von Lavater entsandten Malers Pfenninger scherzhaft behaupten, daß er ihn zu alt darstelle, so zeigt sich doch schon das beständige Hervorkehren dieses Umstandes, wie Jean 480 Paul unter diesem Zu alt Erscheinen litt. Später setzte eine neue Periode der schöpferischen Kraft ein, augenblicklich stand er am Ende eines Abschnitts, von dem er sich noch immer nicht durch einen Willensentschluß trennen konnte.

Es lag nahe, die vergessenen »Teufelspapiere« mit den Personen des »Siebenkäs« zu verbinden. Der Armenadvokat hatte bekanntlich während seiner Ehe mit Lenette das Buch geschrieben. Aus dieser Verbindung ließ sich etwas Witziges machen, und sie lag zugleich ganz in der Richtung, die sein Schaffen seit den letzten Arbeiten genommen hatte. Siebenkäs will, dies ist der äußere Rahmen des neuen Buches, seine »Teufelspapiere« neu herausgeben. Da er als Vaduzer Inspektor aber keine Zeit dazu findet, beauftragt er seinen Freund Jean Paul mit dieser Arbeit. Jean Paul will die Arbeit auf seiner Reise von Leipzig nach Nürnberg erledigen, wie wir ihn schon öfter seine Arbeiten in den Rahmen einer Reise fassen sahen. Jean Paul unternimmt diese Reise, weil er sich mit seiner Frau Hermine gezankt habe. Es ist nur ein Mißverständnis, das zwischen den Ehegatten vorgefallen ist. Durch das ganze Buch hindurch zieht sich die Liebe des Ehemanns, der immer wieder auf die Post schickt, um einen lange sehnlichst erwarteten Brief Hermines zu erhalten, und bei allen Natureindrücken an das geliebte Weib denkt. Wie schon der »Jubelsenior« ist auch das neue Buch ein Hymnus auf die eheliche Liebe. In diesen Partien mag Jean Paul sich aus den Wirrungen mit Emilie herausgekämpft haben, denn eine bürgerliche Vollehe stand als leuchtendes Lebensziel ihm ständig vor Augen. Wie auf seiner Reise nach Weimar läßt er sich durch einen Boten sein Gepäck nachtragen. Wie dort soll der Bote sich selbst beköstigen, wird aber von seinem Mietherrn immer wieder freigehalten. Wie in Jena weigern sich auch auf dieser Reise die Gastwirte, dem unscheinbaren Fußgänger 481 gute Zimmer zu geben. Der Bote, der »Hornrichter Stuß«, hat die Erlaubnis erhalten, noch andere Aufträge nach Nürnberg zu übernehmen. Ein Refugié, Graf Baraillon, schickt durch ihn seiner verarmten Tochter, die sich in Nürnberg kümmerlich vom Westensticken nährt, ein Paket mit. In der Eile werden die Pässe verwechselt, Jean Paul schreitet als Graf Baraillon in Nürnberg ein, was ihn, wie er fürchtet, in Verwickelungen mit dem Nürnberger Magistrat bringt. Aber er wird nicht durch den Gerichtsboten einer hohen Obrigkeit vorgeführt, sondern seine Freunde haben sich nur einen Scherz mit ihm gemacht. Der Vertreter der Obrigkeit ist niemand anders als der Schulrat Stiefel, und als zweiter Jean Paul tritt der Armenadvokat selbst herein. In einer Laube des Harsdörfferschen Parks findet er sogar Hermine, die mit Natalie nach Nürnberg gekommen ist. Die schönste Versöhnung der Ehegatten wird gefeiert. In liebendem Verein des Paares klingt das Buch aus.

Diese Einkleidung, die er den »Teufelspapieren« gab, war durchaus neu. Im übrigen wurde der satirische Grundcharakter des Buches beibehalten. Die Objekte der Satire hatten sich zum Teil stark verändert. Auch hier wird noch gegen die Zustände im damaligen Deutschland polemisiert. Es finden sich die Scharen der Bettler wieder und die Übergriffe der kleinen Duodezdespoten. Auch der langweilige Gerichtsgang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wird zum Gegenstand des Spottes. Aber das Hauptziel ist jetzt doch die wirklichkeitsfeindliche Ästhetenrichtung der Weimarer Dioskuren und die Kantische Schule. Zum erstenmal nicht nur, sondern als erstem Denker überhaupt geht ihm der Zusammenhang Kants mit der französischen Revolution auf. Die Vernachlässigung des Ding an sich in der Kantischen Erkenntniskritik und die Vergewaltigung der Wirklichkeit durch 482 die Pariser Schreckensmänner, die Zerlegung der menschlichen Funktionen bei Kant in isolierte Kategorien und das Zerreißen der kulturellen Zusammenhänge gibt sich ihm als der nur andere Ausdruck der gleichen Einstellung. Was in der »Geschichte meiner Vorrede« nur angedeutet wurde, ist hier im einzelnen ausgeführt. Die Satiren sind zum Teil den »Teufelspapieren« entnommen, aber sie haben jetzt ein anderes Ziel bekommen. Überall sind sie in die jetzige Welt Jean Pauls eingespannt. So wird Habermann, dessen große »Tour um die Welt« hier in neuem Gewande auftritt, mit Leibgeber zu einer Person verschmolzen. Hier werden also Brücken von den »Teufelspapieren« bis zum »Titan« gespannt.

Wagenseils »Chronik von Nürnberg« hat offenbar den Dichter bei der neuen Einkleidung der Satiren beeinflußt. Aus der Berührung der jungen Romantiker Tieck und Wackenroder mit dem alten Nürnberg nahm bekanntlich die romantische Schule ihren Ausgang. Auch Jean Paul steht diesem alten Stadtwesen nicht verständnislos gegenüber, aber ihm gibt das alte Nürnberg doch in erster Linie Stoff zur Satire. Er zieht ein ungemein geistloses Meistersingerlied heran, um in die Worte auszubrechen: »Wo ist hier Schwulst oder nordischer Bilderschwall? Wo spricht hier der Dichter selber? Mit reiner Griechheit und mit völliger besonnener Herrschaft über sein Feuer stellet er bloß das Objektive dar.« Es ist die bekannte Art seiner Polemik gegen Goethe und Schiller. Zugleich wird hier ein Unterschied der geistigen Richtungen deutlich. Die junge Romantik, die sich liebevoll in das deutsche Mittelalter versenkte, wollte aus der Gegenwart in eine herrlich erscheinende Vergangenheit hineinflüchten, aus der sie die unserer Zeit entschwundenen organischen Bindungen wieder heraufbeschwören zu können meinte. Jean Paul aber drängt 483 aus den ständischen Bindungen des Mittelalters, das ja noch in seiner Heimat durchaus fühlbar und vorhanden war, hinaus zu neuen Zeitzielen. Er ist zu ungebrochen, um sich romantisch am Quell der Vergangenheit zu berauschen. Auch hier wie überall erstrebt er Leben und Wirklichkeit, nicht magischen Traum. Wo die alten Denkmäler deutscher Größe noch lebendig sind, erschließen sie auch ihm ihren Zauber. In den Harsdörfferschen Park verlegt er die Hochstunden seiner Handlung, und die Frühlingsfeier auf der Insel Schütt ist die bedeutendste und schönste Partie des Buches.

Der Schwerpunkt liegt aber durchaus auf den »Fata«, wie er die biographische Einkleidung bezeichnet, und nicht auf den »Werken«, wie die eingestreuten Satiren benannt sind. Nicht nur äußerlich betritt er mit den angeführten Personen den Boden seiner bisherigen Dichtung. Auch die Stimmung, die über vielen Partien des Buches liegt, ist die sehnsüchtig schwermütige seiner Romane und Idyllen. Rührend tritt die Figur des armen Fräuleins von Baraillon hervor, die er vor den Zudringlichkeiten eines Gecken, nach dem Muster der Rosa von Meyern aus dem »Siebenkäs«, rettet. An den »Siebenkäs« erinnert auch die Verknüpfung der fränkischen Gegend mit den Personen des Romans. So gegenwärtig stand ihm die vor kurzem verlassene Landschaft seiner Jugendjahre vor Augen, daß er von einer nicht niederzukämpfenden Sehnsucht nach den alten Stätten ergriffen wurde. An seinem fünfunddreißigsten Geburtstag beendete er die Arbeit an den »Palingenesieen«. Schon Anfang April 1798 eilte er nach Hof, um dort vierzehn Tage bei Otto zu verbringen. Noch einmal mußte er sich schwer von der Vaterstadt losreißen, um nun allerdings lange nicht mehr wieder dorthin zurückzukehren.

Nur wenige Wochen nach der Hofer Reise blieb er in 484 Leipzig. Während der Messe wurde er derart von lästigen Besuchern in Anspruch genommen, »als ständ er außer dem Tore mäße entweder zwei Schuhe oder acht«. Es kann ihm nur lieb gewesen sein, daß Emilie von Berlepsch ihn drängte, die ins Auge gefaßte Reise nach Dresden in der Pfingstwoche anzutreten.

Auch hier sollte sich zeigen, daß Jean Paul in seiner Welt zu feste Wurzeln geschlagen hatte, als daß neue und starke Eindrücke ihn noch zu ändern vermochten. Unter dem bunten Wechsel der Erscheinungen auf der Oberfläche hielt ihn während dieser ganzen Jahre die Welt des »Titan« gebannt. Hunderte von Menschen gingen an seinen Augen vorüber, ohne daß sie ihm ein wesentliches Erlebnis zu schenken vermocht hätten. Der Plauensche Grund, Tharand, keine der landschaftlichen Perlen in der Umgegend Dresdens machte besonderen Eindruck auf ihn. Am ehesten noch das unscheinbare Seifersdorfer Tal, weil es ihn am meisten an die Landschaft seiner Heimat erinnerte, die ihm nun für immer mit den Gestalten seiner Werke bevölkert war und von der er innerlich nicht mehr loskommen konnte. Und genau so ergebnislos war sein Besuch der berühmten Dresdener Galerie. Wie eine neue Welt, schrieb er an Otto, drängte sich der Saal mit den Abgüssen der Antike in ihn und suchte die alte, gewohnte Welt zu erdrücken. »So oft ich künftig über große oder schöne Gegenstände schreibe, werden diese Götter vor mich treten und mir die Gesetze der Schönheit geben. Jetzt kenne ich die Griechen und vergesse sie nie mehr.« Der Unterschied »zwischen der Schönheit eines Menschen und der Schönheit eines Gottes« war ihm an diesen Abgüssen offenbar geworden. Aber er wurzelte mit seinen Empfindungen zu stark auf der Erde, und die Schönheit des Menschen mußte ihm doch über die Schönheit eines Gottes gehen. Der 485 augenblickliche Eindruck war stark, aber er überwältigte ihn nicht. Die alte gewohnte Welt blieb ihm lebendiger und näher. Unter den Göttergestalten sah er den Faun. »Leider hat sogar der gemilderte Faun Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit.« Der Faun bleibt ihm als Bestandteil auch der griechischen Götterwelt im Gedächtnis haften. Die »affektlosen schönen« Formen sinken zurück vor der Wirklichkeit, die auch hier noch waltet.

»Ich habe die fürstliche heilige Familie nebst dem plattgedrückten Hoftroß in der katholischen Kirche an der Himmelfahrtstagfeier gesehen, wo zugleich das Kind einer Prinzessin hineingetragen wurde, das die Trompeten taub bliesen gegen künftige Bitten; ich habe dabei meine demokratischen Zähne zerknirscht, am meisten über das gekrümmte Schwarzenvolk in Dresden, das nicht schön, nicht edel, nicht lesbegierig, nicht kunstbegierig ist, sondern nur höflich.« Dennoch trat er auch hier gerade mit dem Adel in nähere Beziehungen. Der Geheime Rat von Broizem, der Minister von Wurm, Herr von Einsiedel aus Weimar, ein Freiherr von Manteuffel, der spätere preußische Präsident, luden ihn zu Tisch. Bei Manteuffel traf er mit Karoline Schlegel zusammen. Karoline teilte ihren Eindruck schleunigst dem Gatten mit, und es ist der Nachhall dieses Zusammentreffens, wenn Friedrich Schlegel bald darauf an Schleiermacher schreibt: »Friedrich Richter ist ein vollendeter Narr und hat gesagt, der ›Meister‹ sei gegen die Regeln des Romans. Auf die Anfrage, ob es denn eine Theorie desselben gebe und wo man sie habhaft werden möchte, antwortete die Bestie: ›Ich kenne eine, denn ich habe eine geschrieben.‹« Karoline hat wohl das Gespräch mit Jean Paul nur unvollkommen wiedergegeben. Jean Pauls Gedanken bewegten sich seit langem um die Niederschrift einer solchen Theorie des Romans, die er dann einige Jahre später in seiner »Vorschule der Ästhetik« wirklich geben sollte. 486 Damals kann er kaum behauptet haben, ein solches Buch bereits geschrieben zu haben. Aber, wie schon die Briefe an Otto zeigen, befand er sich mit den Brüdern Schlegel damals in offener Gegnerschaft. Galt es doch allgemein als sicher, daß er in seinem Kunstrat Fraischdörfer niemand andern als August Wilhelm Schlegel habe darstellen wollen. Eine Auffassung, deren Richtigkeit Jean Paul übrigens persönlich bei jeder Gelegenheit bestritt.

Der Zufall wollte es, daß fast zur gleichen Zeit der junge Referendar Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann in Dresden weilte. Auch auf ihn machten die Schätze der dortigen Galerie vorübergehenden Eindruck, den er, genau wie Jean Paul, durch die ihm näherliegende christlich-romantische Welt bald überwand.

Drei schöne Tage verlebte Jean Paul in Königsbrück bei der ihm bereits aus Leipzig bekannten Gräfin Münster. Vorübergehend verliebte er sich in die »ungemein schöne« Frau von Ledebur. Mit Emilie und den beiden genannten Damen besuchte er von hier aus das »himmlische« Seifersdorfer Tal, das ihn an die Landschaft seiner Romane erinnerte und ihm fast den einzig bleibenden Eindruck auf dieser Reise machte.

In Leipzig fand er seinen Bruder Samuel nicht mehr vor. Derselbe hatte das gesamte Bargeld Jean Pauls in Höhe von hundert Talern an sich genommen und war entflohen. Diesen Schlag überwand der getäuschte Bruder nur schwer, aber er brachte ihn doch wieder mehr zu sich selber und ließ ihn von den Zerstreuungen des Lebens mehr in sich zurückziehen. Die angenehmen Bilder der Dresdener Reise traten langsam vor seine Seele. Wieder genoß er in behaglicher Ruhe einige »Sabbathwochen«, wie sie ihm seit der Vollendung des »Hesperus« nicht mehr zuteil geworden waren. Er saß in dem »parat gehaltenen« Stübchen Emiliens in Gohlis vor 487 seinem Arbeitstisch und flog von dort »wie ein halbfreier Vogel aus in die Gärten und Milchinseln . . . und behielt einen sanften Herbstsonnenschein mit ruhigen Wünschen ohne Wolken in seiner Seele«. Zum erstenmal gelangen ihm in dieser Zeit größere Partien aus dem »Titan«, und schon nahm er sich vor, zur Ostermesse 1799 mit mehreren Bändchen des so lange dem Publikum versprochenen Romans zu erscheinen. Aber Leipzig war ihm doch zu unlieb geworden, als daß er es länger in dieser Stadt ausgehalten hätte. Schon Mitte Juli brach er zu einer neuen Reise auf.

Zunächst besuchte er den früheren Kapellmeister Friedrich Reichardt in seinem prachtvollen Landhaus auf dem Giebichenstein. Man sollte annehmen, daß sich Jean Paul gerade bei Reichardts besonders wohl fühlen mußte. Reichardts Haus wurde einige Jahre später nicht zum wenigsten durch seine schönen Frauen zum Mittelpunkt des romantischen Kreises. Schleiermacher, Steffens, die Brüder v. Raumer gingen hier aus und ein. Tieck selbst, als Schwager Reichardts, verbrachte oft Wochen und Monate in dem gastlichen Hause, das zu der naheliegenden Universität Halle die regsten Beziehungen unterhielt. Jean Paul aber gestand, daß ihn nur wenig mit Reichardt verknüpfe, daß sie wie »Weltpole« einander entfernt wären. Auch den Modedichter und Vielschreiber, den Verfasser unzähliger schlüpfriger Unterhaltungsgeschichten, Lafontaine, besuchte er, und ebenso den prachtvollen Niemeyer, der als Konsistorialrat und Professor der Theologie in Halle lebte und ein Jahr darauf Direktor der Franckeschen Stiftungen wurde.

Von Halle reiste Jean Paul nach Halberstadt zum »Dichtervater« Gleim, der ihm seit Jahren das regste Interesse entgegengebracht hatte. Gleim empfing ihn aufs herzlichste. »Setz ihn dir aus Feuer und Offenheit, Redlichkeit und Mut und 488 preußischem Vaterlandseifer und Sinn für jede erhöhte Regung zusammen, und gib ihm noch zum breitesten literarischen Spielraum einen ebenso breiten politischen.« Aber es gab doch auch Ungleichheiten der Anschauung, die Jean Paul störend empfand, während er sie im Gespräch mit dem ehrwürdigen Greise schonend umging. So wagte er nur einige leichte Bemerkungen, als Gleim die Leiden Ludwigs XVI. mit denen Christi verglich. Eine tiefe Niedergeschlagenheit war das eigentliche Ergebnis dieses Besuches, trotz der herzlichen Aufnahme durch den so viel älteren Freund. Er fühlte, wie allein er im Grunde stand und daß er »den Bestrebungen, ihn zu loben, zu lieben und zu erraten, nur mit zusehen« könne. Auf der Rückreise blieb er wiederum einige Tage auf dem Giebichenstein. Schon Ende Juli kehrte er nach Leipzig zurück. Hier ergriff ihn von neuem der Strudel der Geselligkeit. Hauptsächlich verkehrte er mit der Familie Weiße, so daß er mit Weißes schöner Tochter Dorothea geradezu als verlobt galt. Ein Graf Moltke brachte ihm Grüße von Baggesen und Jacobi. Zahlreiche Frauen zogen an ihm vorüber, deren Herzen er, lesend oder auf dem Klavier phantasierend, im Sturm eroberte. In diesen Wochen erschienen die »Palingenesieen«, aber zugleich erfuhr er von Schlegels heftigen Angriffen gegen ihn im Athenäum. »Schlegel hat mich in seinem Athenäum angegriffen, wie er es Klopstock, Fr. Jacobi, Lessing, Garve u. a. gemacht hat . . . Ich habe freilich durch seine kraftvolle Frau, mit der ich in Dresden ein ganzes Souper verstritt, mit meinen Brandkugeln seine losgebrannt.« Hieraus können wir entnehmen, wie die Dresdener Unterhaltung Karolinens mit der »Bestie« Jean Paul in Wirklichkeit verlaufen war.

Mehr und mehr sehnte er sich aus Leipzig fort. In einem Brief an Otto gestand er, daß er die letzte Reise 489 unternommen, um sich Halberstadt als künftigen Aufenthaltsort anzusehen. So herzlich ihn Gleim aufgenommen hatte, so wenig konnte er sich doch entschließen, in seine Nähe zu ziehen. Immer deutlicher wurde es ihm, daß Weimar sein eigentliches Ziel war. Schon Ende 1797 hatte er über Herder geschrieben: »Die Herder schrieb mir über die gemarterte Einsamkeit ihres Mannes. ›Er ist nun hier völlig auf sich selbst reduziert. Er betäubt manche unangenehme Gefühle durch ununterbrochene Arbeit. Lassen Sie nur von Ihrer Himmelsbahn manchmal ein Blättchen herüberfliegen zu den Mutlosen.‹« Die Gestalt des vom Schicksal gepeinigten Mannes blieb vor seinem Auge stehen. Mit Herder allein glaubte er leben zu können. Auch die Entfernung des dennoch immer geliebten Bruders trieb ihn von Leipzig fort. Fortgesetzte Lügen des Entlaufenen konnten sein Herz nicht völlig von ihm lösen. »Ach mein Bruder mit dem weichsten Herzen und dem besten Kopfe liegt unter der Erde neben dem Wasser«, klagte er, des ertrunkenen Heinrich gedenkend, und doch setzte er dem Treulosen eine feste Unterstützung aus und wollte ihn in Jena weiterstudieren lassen. Aber die verwaiste Wohnung wurde ihm unerträglich.

Mitte August machte er sich auf die Reise, um sich Weimar noch einmal anzusehen. Vielleicht glaubte er sogar, mit Goethe in ein erträgliches Verhältnis zu kommen. »Er urteilt über den ›Hesperus‹ günstig, wie ich einmal von Ahlefeld hörte und Dir nicht sagen wollte – ferner, er sähe doch, daß es mir mit dem Guten Ernst wäre – er bekäme aber Gehirnkrämpfe von dem Werfen aus einer Wissenschaft in die andere – ich zeige mein Wissen zu sehr; er wisse auch ein wenig, liefere aber nur das Resultat; – und wenn er über das Irdische in den Himmel gehoben sei, kommt auf einmal wieder ein Spaß!« – Am 22. August schrieb er an 490 Otto aus Jena, Schiller empfing ihn nicht, sondern schützte Krankheit vor. Aber Schütze nahm sich seiner an und machte ihn mit den zahlreichen Größen in Jena bekannt. »Am gelehrten Mittwochs-souper aßen Loder, Batsch, der jüngere Hufeland, Fichte, die andern weiß ich nicht. Fichte ist klein (ich dachte mir ihn lang) bescheiden und bestimmt, aber ohne genialische Auszeichnung.. – Schlegel, gegen den Fichte und alle sprachen – wie hier (in Weimar) – und welches Gebrüder Wieland die Dioskuren, nach der Heinsischen Übersetzung, nennt, nämlich die Götterbuben, oft sagt er Zwillingsbuben, weil sie ihn nur einen ästhetischen Ökonomen nennen – ist philologischer Redakteur der Literaturzeitung, und darum tritt aus diesem Wetterhäuschen kein anzeigendes Wettermännchen, das anzeigte, was ich gemacht oder neuerdings Herder, dessen Briefe über die Humanität und andere Schriften ziemlich liegen.« Schon hier wird also das Verschweigungssystem gegen Jean Paul und Herder sichtbar, das für ein Jahrhundert und länger zwei der größten Geister aus dem Bewußtsein des deutschen Volkes ausscheiden sollte.

Am nächsten Tag war er in Weimar und wurde zu Tisch gleich von der Herzogin Amalie mit Beschlag belegt. Der Abend vereinigte ihn dann endlich mit Herders. Bei der jungverehelichten Tochter der Berlepsch lernte er unter anderen Frau von Wolzogen, die Verfasserin der »Agnes von Lilien« kennen. »Ihr Äußeres ist in Dicke und Physiognomie der Abguß von meiner Kalb, die leider jetzt auf ihrem Landgute ihre höchste myopische Blindheit mit Ergeben trägt und zu meiner Freude den hiesigen Winter mitfeiert. Die Wolzogen ist klar, unbefangen, nicht-preziös, unschriftstellerisch, kurz man liebt sie.« Die Augenerkrankung der Kalb ist vielleicht nicht ohne Einfluß auf die Erblindung Lianens im »Titan« gewesen.

491 Diesmal wurde auch Wieland besucht, der bei Jean Pauls erster Weimarer Reise in der Schweiz gewesen war. Am Sonnabend ging es nach Osmannstädt, dem Landsitz Wielands, hinaus. »Wieland ist ein schlanker, aufgerichteter, mit einer roten Schärpe und einem Kopftuch umbundener, sich und andere mäßigender Nestor, viel von sich sprechend aber nicht stolz – ein wenig aristippisch und nachsichtig gegen sich wie gegen andre – voll Vater- und Gattenliebe – aber von den Musen betäubt, daß ihm einmal seine Frau den Tod eines Kindes 10 Tage soll verborgen haben – inzwischen nicht genialisch über diese Reichsstadtwelt erhoben, nicht tief eingreifend wie etwan Herder – vortrefflich im Urteil über die bürgerlichen, und weniger im Urteilen über die menschlichen Verhältnisse.

»Bei Wieland mußt ich wegen meines weitvergitterten Sommerornats in der häßlichen Kälte seinen Rock anziehen – den mir beim 2ten Dortsein der gute Patriarch sogleich selber brachte, heute fuhr ich mit ihm zurück – und seine rote Nabelgurt umschnüren und ging wie der Alte im Haus herum. Gott schenke jedem Dichter eine so anstellige, weich anfassende, feste, nachsehende und nachlaufende, biedere klare Frau. Da im Reichsanzeiger über die Ruhr von Erkältung gelesen wurde: brachte sie mir warme Strümpfe aus Angst.« Jean Paul fühlte sich in dem behaglichen Dichterheim sogleich wie zu Hause, wozu die verschiedenen Töchter nicht wenig beitrugen. »Schöne Herzen, aber mit den Gesichtern will's nicht fort.« Es waren dieselben Töchter, unter denen etwa fünf Jahre später der junge Heinrich von Kleist Tragödien aufrührte.

Man machte Jean Paul den Vorschlag, ganz nach Osmannstädt überzusiedeln, in das gegenüberliegende Haus zu ziehen und sich von Wielands »für Geld« beköstigen zu 492 lassen. »Allein das geht nicht, weil zwei Dichter nicht ewig zusammenpassen – weil ich keine Kette, und wäre sie aus Duft an der bloßen Mondglut geschmiedet, anhaben will – und weil ich gewiß weiß, daß ich in der Einsamkeit und der Gesellschaft darauf am Ende eine von seinen Töchtern heiraten würde, welches gegen meinen Plan ist.« Auch hier sträubte er sich wieder gegen ein Festlegen, so sehr es ihn nach Ehe und Ruhe verlangte.

Naturgemäß traf er auch diesmal in Weimar mit einer Menge Menschen zusammen, lernte Professor Meier, »den tiefen Maler und Kunstkenner«, kennen, den eigentlichen Berater Goethes in allen Kunstangelegenheiten. »Außen und als Mensch unbedeutend«, schreibt er über ihn. War mit Corona Schroeter und der schönen Amalie Imhof zusammen, noch mehrere Male bei der Herzoginmutter. »Ich komme eben wieder von einem Diner bei Herder und saß mehrere Stunden mit ihm allein in einer Laube. O lieber Otto, wie soll ich Dir diesen großen Geist auf der rechten Anhöhe zeigen, vor dem mein kleiner sich spanisch und türkisch beugt – diesen durchgötterten Menschen, der den Fuß auf dieser Welt und Kopf und Brust auf der andern hat – sein Wiegen der Arme, wenn ihn Musik und Gesang auflösen, und sein trunknes schwimmendes Auge – sein Erfassen aller Zweige des Baumes der Erkenntnis – wiewohl er nur Massen nicht Teile ergreift und statt des Baumes den Boden schüttelt, worauf dieser steht. Ich habe schon oft Abends mit Tränen Abschied genommen; und er liebt mich gewiß. – Er schreibt nächstens eine Metakritik Kants, der sich, wie er sagt, vor Hamann tief gebogen haben soll.« Es war Herder, der ihn den Gedanken, nach Weimar zu ziehen, endlich zum Beschluß erheben ließ. Immer deutlicher fühlte er, daß er an die Seite dieses Mannes gehörte.

493 Auch Goethe wurde besucht, »der mich mit ganz stärkerer Verbindlichkeit und Freundlichkeit aufnahm als das erstemal: ich war dafür freier, kühner und weniger voll Liebe und darum in mich gegründeter. Er fragte mich nach der Art meiner Arbeiten, weil es völlig seinen Kreis überschreite, – wie mir Fichte gefallen. Auf letzteres: ›es ist der größte neue Scholastiker – zum Poeten wird man geboren, aber zum Philosophen kann man sich machen, wenn man irgendeine Idee zur transzendenten fixen macht – die Neueren machen das Licht zum Gegenstand, den es doch nur zeigen soll.‹ – Er wird nach 4 Monaten den Faust vollenden; er sagt, ›er könne 6 Monate seine Arbeit voraussagen, weil er sich zu einer solchen Stimmung der Stimmung durch geistige und leibliche Diätetik vorbereite.‹ – Schiller säuft 6 Lot Kaffee auf eine Tasse und braucht Malaga und alles – nicht jeder ist in Kaffee so mäßig als ich.«

Goethe schrieb einige Tage später an Schiller über Richters Besuch. Nachdem er über die Schwierigkeit gesprochen, in die rechte Stimmung zum Dichten zu kommen, fährt er fort: »Denn da hat mir neulich Freund Richter ganz andere Lichter aufgesteckt, indem er mich versicherte (zwar freilich bescheidentlich und in seiner Art sich auszudrücken), daß es mit der Stimmung Narrenspossen seien, er brauche nur Kaffee zu trinken, um, so grade von heiler Haut, Sachen zu schreiben, worüber die Christenheit sich entzücke. Dieses und seine fernere Versicherung: daß alles körperlich sei, lassen Sie uns künftig zu Herzen nehmen, da wir denn das Duplum und Triplum von Produktionen wohl an das Tageslicht fördern werden. Übrigens wird dieser edle Freund sich künftigen Winter gleichfalls in Weimar niederlassen, und hat schon ein Quartier über unsrer kleinen Maticzek gemietet. Ich bin recht neugierig, wie ihm dieses theatralische Hausamalgan bekommen wird.«

494 Man sieht, wie Goethe Jean Pauls Äußerungen eine leichte boshafte Drehung gibt. Gerade über Schillers Gebrauch von Narkotiken beim Schaffen hatte sich Goethe offenbar ausgelassen. Ein Quartier aber hatte Jean Paul in der Tat bereits gemietet. »Mit Meublen und Betten, auf dem Markte«, für 50 rtl. Noch einmal kehrte er nach Leipzig zurück, aber nur, um seine Sachen zu holen. Wie auf der Hinreise nach Weimar machte er auch jetzt in Weißenfels einen kurzen Aufenthalt und besuchte die Eltern des Dichters Novalis, der selber in jener Zeit in Freiberg studierte. »Ich kam doch erst heute an,« schreibt Jean Paul aus Leipzig am 6. September an Otto, »weil die Hardenbergsche Familie in Weißenfels mich gestern bei den Mittags- und Abendessen behielt. Der Alte war nicht da, er ist Salinendirektor; aber das schadete seiner Frau und den 2 Töchtern nichts, wovon die eine der Gräfin Moltke ähnlich sieht und die andere etwas unbeschreiblich Poetisches im Leben und im Auge hat, das wie Hermann seines, mit gesenktem Kopfe, sinnend und verdeckt aufblickt und welches meine Werke oft naßgemacht. Alle Salzherren, – z. B. Salinendirektoren, Salzdirektoren (wie Reichard) Salzfaktoren und Salzrevisoren – haben ihr Schönes.«

In Leipzig erwarteten ihn wieder peinliche Nachrichten von seinen Brüdern. Nicht nur der entlaufene Samuel, auch Gottlieb hatte dumme Streiche gemacht, die Jean Paul eine Menge Geld kosteten. »Gräßlich wie ein böser Genius tritt mir jetzt dieses Wesen nach.« Das neue Ereignis in Hof, an dem Jean Paul regen Anteil nahm, war die Verlobung von Friederike Otto mit Wernlein, den er allerdings inzwischen mit andern Augen als den verklärten der Jugendfreundschaft anzusehen gelernt hatte. Das Wichtigste aber war, daß der »Titan« Fortschritte machte. Am 20. September abends war 495 der erste Teil des neuen Werkes vollendet, wenn auch in einer vorläufigen Fassung. Kaum zwei Wochen später hörte er mit der Arbeit wieder auf. »Der ›Titan‹ kommt mit vier Bänden erst zur Ostermesse 1800 heraus, weil die 2 Filial- und Supplementbände wieder eine, der titanischen entgegengesetzte Fixleinsche, und mich und den Leser erholende Historie enthalten.« Statt dessen meldete sich eine neue kleine Dichtung: »Jean Pauls Briefe samt einem kurzen Abriß meiner zukünftigen Avantüren«. »Die Idee ist neu. Ich beschreibe meine wahre künftige (mutmaßliche) Geschichte, Heirat, Haushalt, Alter, Tod als künftig, in Briefen an – Dich.« Es war die spätere »Konjekturalbiographie«, die in Weimar ausgearbeitet werden sollte.

Werfen wir noch einen kurzen Blick über die Stellung Jean Pauls im literarischen Leben dieser Zeit. Auf der einen Seite hatte er sich die Liebe und Verehrung weiter Kreise erworben. Thümmel, ein erfolgreicher Modeschriftsteller Wielandscher Richtung, besuchte ihn begeistert in Leipzig. Hartknoch, der Freund und Verleger Herders und Klingers, bei dem er einst seinen verunglückten Versuch mit den »Teufelspapieren« gemacht hatte, gestand ihm, daß er eigentlich der Lektüre des »Hesperus« die Rettung vor der Verbannung nach Sibirien verdanke. Dieses Werk hatte ihm die Kraft gegeben, sich gegen die Anschuldigungen der russischen Regierung wirkungsvoll zu verteidigen, nachdem er bereits die Flinte ins Korn geworfen. Jacobi, einer der tiefsten Geister jener Zeit, liebte ihn seit anderthalb Jahren und kannte keinen größeren Wunsch, als mit Jean Paul bekannt zu werden. Von überallher kamen Briefe und Bezeugungen der Verehrung. Aber diese vielseitigen Sympathien wurden aufgewogen durch die erklärte Feindschaft der Brüder Schlegel. Karolinens Bericht über ihr Zusammentreffen mit dem 496 Dichter in Dresden hatte die Empörung der Schlegel auf ihn gelenkt. Im »Athenäum« hatte Friedrich Schlegel endlich offen gegen Jean Paul Stellung genommen. Der strenge Künstler, schrieb er, hasse ihn »als das blutrote Himmelszeichen der vollendeten Unpoesie der Nation und des Zeitalters«. »Seine Frauen haben rote Augen und sind Exempel, Gliederfrauen zu psychologisch-moralischen Reflexionen über die Weiblichkeit oder die Schwärmerei.« Nur »an den grotesken Porzellanfiguren seines wie Reichstruppen zusammengetrommelten Bilderwitzes« könne man sich ergötzen. »Seine Madonna ist eine empfindsame Küstersfrau und Christus erscheint wie ein aufgeklärter Kandidat. Je moralischer seine poetischen Rembrandts sind, desto mittelmäßiger und gemeiner; je komischer, desto näher dem Besseren; je dithyrambischer und je kleinstädtischer, desto göttlicher; denn seine Ansicht des Kleinstädtischen ist vorzüglich gottesstädtisch.« Gerade mit dem letzten Satz hatte Schlegel ins Schwarze getroffen, nur daß er das Klein- und Gottesstädtische, gerade dieses »Göttliche« bei Jean Paul, nicht genügend bewertete. »Sein Schmuck besteht in bleiernen Arabesken im Nürnberger Stil.« Gewiß, aber diese mittelalterliche Fülle ist ja gerade ein Vorzug Jean Pauls. Das war deutsche Vielfalt gegenüber der gräzisierenden Linie, der Schlegel sich damals noch verschrieben hatte.

Die Schlegel waren geschickte Literaten, und es war mißlich, es mit ihnen verdorben zu haben. Jean Paul fühlte die Gefahr. Auch die »Jenaische Allgemeine Literaturzeitung«, die seinen »Hesperus« noch überschwenglich gelobt hatte, war ihm durch Friedrich Schlegel, der das philologische Ressort an ihr verwaltete, verlorengegangen. Der ängstliche Böttiger, der unter Wieland den »Merkur« leitete, wagte den »Jubelsenior«, die »Holzschnitte« und das »Kampanertal« nur mit 497 sauersüßer Miene anzuzeigen, und die Oerthelsche Entgegnung auf Schlegels Angriffe aufzunehmen, mußte ihm von Wieland erst ausdrücklich befohlen werden. »Wer will mir«, schrieb Jean Paul an Otto, »jetzt mit seinem Saulsspieße nachkommen, da ich jetzt nach Wielands Glauben selber das größte Publikum habe.« Aber er mochte wohl fühlen, daß die Gunst des Publikums veränderlich ist.

Auch auf philosophischem Gebiet war die feindliche Linie im Vorrücken. Fichte hatte die ganz im Fahrwasser Kants schwimmenden Einleitungen in seine Wissenschaftslehre sowie die ebenfalls kritizistische Schrift »Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung« veröffentlicht. Hamann, Herder, Jacobi wurden in den Hintergrund gedrängt. Jean Paul fühlte alles dieses genauer als irgend jemand, und er beschloß, etwas dagegen zu unternehmen. Am 13. Oktober 1798 schrieb er aus diesem Anlaß seinen ersten Brief an Friedrich Jacobi:

»Verehrtester Lehrer meines Innersten! – So oft dieses in der Philosophie einen Feind antrifft, so denk ich an Sie als an den königlichen Beschützer seines Glaubens und will mein Schreiben nicht länger verschieben. Und jetzt tu ich's genötigt, da ich in der neuesten Äußerung des Fichteschen Spinozismus drei Harmonieen ohne einen supramundanen Harmonisten finde, die der Sinnenwelt, die der moralischen und eine dritte prästabilierte, nach Art der drei Tonleitern, der enharmonischen, der diatonischen und chromatischen. – Sie können aus meinen Werken nur wenig erraten, wie viel mein Herz und mein innerer Tag den Ihrigen schuldig ist. Und wie mich die jetzige fuga pleni, der transzendente Fohismus, der gern jeden Welten- und Kometenkern in einen Nebel zertreiben will, traurig und beklommen macht: so erhebt mich wieder jedes aufgespürte Gerücht irgend eines 498 Werks, das Sie der Asthenie des Jahrhunderts entgegensetzen.

Jetzt in diesem Wolfsmonat der Literatur, wo eine ästhetische (Schlegelsche) Erhebung über die Erhebung alles Positive unter Termenschnee vergräbt, und wo man an der moralischen Welt wie am Monde nur die vergasete Seite sieht, indes die abgekehrte – nach Kant aber nur beim Monde – Luft und Auen hat, da ist Ihre Dichtkunst und Ihre Philosophie, – gleichsam Circenses et panis, – uns unentbehrlich, nämlich Ihre Fortsetzung derselben.

Da ich jetzt nach Weimar ziehe, so dacht ich oft an den Plan und Wunsch einer Monatsschrift gegen das jetzige philosophische Laternisieren alles (innern) Lebendigen – und zwar müßte diese Anbetung des Göttlichen durch 3 Weisen aus Morgenland geschehen, durch Sie, und Herder, dem ich noch nichts davon gesagt – und – da immer ein Mohr dabei ist – durch mich.

O Verehrtester! schon dieses Schreiben erfrischt mich; wie würde mich Ihr Anblick erquicken, da doch der Traum des Vorbilderns erblasset vor dem Wachen der Gegenwart! –

Verzeihen Sie mir den Ton, der von der Vertraulichkeit meines Herzens mit Ihren Schriften die seinige entlehnt! Ich wollte meinen Aufenthalt in Leipzig, gleichsam wie die Jahrszeit mit einem magischen Nachsommer beschließen. – Vergönnen Sie meinen innigsten Wünschen eine Antwort: so bitt' ich Sie daher, sie an Herder abgehen zu lassen, weil ich nach Weimar ziehe und wär' es nur eben dieses allseitigen Geistes wegen, für welchen der Äther das sensorium commune aller Wahrheiten und Wissenschaften ist. –

Wenn je meine Seele am Schlusse eines Briefes die herzlichsten Wünsche für ein fremdes Glück und Leben tat: so ist es an diesem!«

499 Leider wurde aus der von Jean Paul geplanten Zeitschrift nichts. Jacobi lehnte seine Mitarbeit ab, und so blieb die von Hamann, Herder, ihm und Jean Paul vertretene Richtung ohne ein eigenes Organ, das wenigstens der breiteren Öffentlichkeit das Bestehen einer gemeinsamen Front angezeigt hätte. Herder trug noch einige Zeit den Gedanken einer solchen Zeitschrift, die »Aurora« genannt werden sollte, weiter, zeigte sie sogar als künftig erscheinend an, aber schließlich wurde der ganze Gedanke leider fallen gelassen.

Ende Oktober fuhr Jean Paul »wieder in einen neuen Weltteil hinein«, wie er an Oerthel schrieb.

 

Auf dem Markte, beim Sattlermeister Kühnholdt hatte Jean Paul seine Wohnung bezogen. Im gleichen Hause wohnte, wie schon Goethe angedeutet, die Sängerin Maticzek. »Sie ist eine reine geradbrechte Person von Philine, und ohne Schönheit. Indes ist's für mich eine Gymnastik des Witzes. Sie lacht und singt mehr als sie spricht, und mit Recht. Sie erzählte mir, daß sie Goethen gefragt, wie sie mich zu empfangen habe und sie wolle mir trillernd entgegentanzen. ›Kind, mach's wie bei mir und sei natürlich‹, sagt er.«

In seiner Klause aber fühlte er sich auch auf die Dauer äußerst wohl. »Mein größtes Labsal außer Herder hier ist meine Hausfrau. Nie war ich so Stuben-glücklich. Ich will nur etwas von unserm Verhältnis anführen: ein an sich geräumiger Nachttopf wollte doch nicht zulangen, wenn ich gerade schrieb, weil er und das Tintenfaß wie natürlich in umgekehrtem Verhältnis voll und leer werden. Die Frau sah, daß ich oft die Treppe in der Kälte hinab mußte. Sie brachte mir also einen ganz neuen Bowlenmäßigen getragen, bei dem ich 8 Seiten schreiben kann.«

500 Über allerhand Herzenserlebnisse hatte er dem Freunde nach Hof wieder zu berichten. Weißes Tochter, mit der ihn die Fama bereits verlobt hatte, war er entgangen. »Für Dorothea ward ich kein Hermann. – Eine andere, heißere Verwickelung, die immer sinnlicher wurde, löste sich gerade durch den Abschied, ohne es zu sehr geworden zu sein.« Aber Weimar sollte ihm in dieser Beziehung keine Ruhe geben. »Der Teufel zieht mir die verdammtesten Wolfsgruben über den Lebensweg – besonders dadurch, daß entweder nur die andere Person liebt oder ich.«

Nach den verschiedensten Richtungen hin fühlte Jean Paul sich gezogen. Im Hinblick auf den »Titan« beobachtete er aufs schärfste den Hof und das Leben und Treiben an ihm. Niemals wird der Herzog selber von ihm erwähnt. Goethe wird in der berechtigten Annahme, daß beide zu verschieden waren, ein Zusammentreffen verhindert haben. Auch blieb Jean Pauls Freundschaft mit Herder dem Herzog natürlich nicht verborgen, und auch er hatte wohl keine Lust, mit einem Manne in Berührung zu kommen, dessen republikanische Gesinnung noch ausgesprochener war als die Herders. Jean Paul seinerseits wird sich von dem unbekümmerten Liebesleben des Herzogs abgestoßen gefühlt haben. Bekanntlich hatte die Herzogin ihrem Gemahl völlige Freiheit gegeben und sich selbst von ihm zurückgezogen. Alles Dinge, die Jean Paul verächtlich und zuwider waren. Für seinen »Kardinalroman« wuchs ihm also von allen Seiten Stoff zu, und dennoch hielt er ihn immer noch zurück. Durch den nahen Verkehr mit Herder blieb die Philosophie bei ihm im Vordergrund. Schon das »Kampanertal« war im Grunde eine philosophische Arbeit gewesen. In den »Palingenesieen« nahm die Polemik gegen Kant und seine Schule einen breiten Raum ein. In seiner neuesten Schrift »Jean Pauls 501 Briefe und bevorstehender Lebenslauf« sollte es nicht anders sein. Zu stark wirkte der an der Metakritik arbeitende Herder auf ihn ein. Alle diese von Philosophie erfüllten Arbeiten jener Periode stehen naturgemäß nicht in einer Linie mit Jean Pauls großen Dichtungen. Aber auch diese Arbeiten gehören zu seinem Bilde. Herder schätzte gerade das an ihm, daß er sein Herz voll in die Kämpfe der Zeit warf und ganz von der vornehmen Zurückhaltung Goethes dem werdenden Zeitgeist gegenüber abwich. »Ich gebe alle künstlich metrische Form hin gegen seine Tugend, seine lebendige Welt, sein fühlendes Herz«, sagte er von ihm. Er pries »seinen immer schaffenden Genius; er bringt wieder neues frisches Leben, Wahrheit, Tugend, Wirklichkeit in die verlebte und mißbrauchte Dichtkunst«. Das war die Warte, von der aus Jean Paul gesehen werden wollte.

Karoline hat später den engen Verkehr ihres Gatten mit Jean Paul geschildert. »Er kam,« schreibt sie, »wie von der gütigen Vorsehung gesandt, gerade zu der Zeit zu Herder, wo dieser von den Einen politischer und philosophischer Grundsätze wegen gänzlich verkannt, von Andern übermütig verlassen und beinahe vergessen ward. Die glücklichen Abendstunden, wo Richter bei uns war, seine immer heitre jugendliche Seele, sein Feuer, sein Humor, die Lebhaftigkeit, womit er sich über alles, was vorkam, mit Herder unterhielt, gab ihrem Zusammensein immer neues Leben. So sehr verschieden zuweilen ihre Ansichten über eine Sache waren, so waren sie doch in den Grundsätzen und den Empfindungen immer eines . . . Reichhaltige Unterredungen entstanden hierüber, so über Richters damalige Manier, unbeschadet Herders Hochachtung für ihn. Vielmehr hielt er seinen Genius, seinen reichen, überströmenden Dichtergeist weit und hoch über die gemütlosen, bloß in und für die Formen 502 dargestellten poetischen Produkte der damaligen Zeit, welche er: Brunnen ohne Wasser nannte.« Jean Paul selbst schrieb über seine Zusammenkünfte mit Herder an Otto: »Gewöhnlich komme ich Abends vor 7 Uhr nach dem Arbeiten zur Frau; dann gehen wir oder ich hinauf zu ihm, und bis zum Essen glüht Auge und Mund usw. bis halb elf Uhr.«

Unsichtbar wuchs unter der Oberfläche der »Titan« immer weiter. Mit glühendem Auge lauschte er an der Tafel der Herzoginmutter, wenn sie ihm von den oberitalienischen Landschaften, von Isola Bella, Neapel, Ischia und dem Epomeo erzählte. Damals ging ihm die Notwendigkeit auf, den Roman in dieser heroischen Landschaft beginnen zu lassen. Aber er ließ diese Eindrücke reifen. Zunächst flüchtete er wieder in eine kleinere Arbeit, die während der ersten ganz glücklichen Wochen in Weimar niedergeschrieben wurde. Die »Briefe«, die die Konjekturalbiographie einleiten, haben wieder großenteils die philosophische Polemik gegen Kant und seine Schule, gegen die Schlegelsche Ästhetik und die Schäden der Zeit zum Inhalt. Hier verbindet er die einzelnen Briefe oder Satiren, denn im Grunde war er zu dieser ihm seit Jugend gewohnten Form immer mehr zurückgekehrt, nicht mehr wie in den letzten Arbeiten durch eine Handlung. Aber auch sie greifen die Fäden der früheren Dichtungen wieder auf, sind an Personen in Kuhschnappel und an Viktor, den Helden des »Hesperus«, gerichtet und geben ihm Gelegenheit, die altbekannten Figuren wiederum in neuen Szenen an dem Auge des Lesers vorüberzuführen. Artistisch sind die Briefe ungemein reizvoll. Nie hat seine Satire schärfer getroffen, nie ist seine Beobachtung reicher gewesen als hier. Die von Herder empfangene Kampfstellung gegen die Gesellschaft findet vortrefflichen Ausdruck. Daneben aber gibt er auch tiefe psychologische Erkenntnisse über die Frauen, 503 und Beigaben wie die bekannte »Der Unglückliche in der Neujahrsnacht« – übrigens wie die benachbarte Erzählung für Kinder gedacht – erheben sich zu dichterischer Höhe.

Anziehender ist uns der zweite Teil des Buches: die Konjekturalbiographie. In sieben an Otto gerichteten Briefen erzählt er von seinem Leben, wie er es in stillen Stunden sich ausmalt von dem Augenblick an, da er die Geliebte seiner Seele gefunden, bis zum Tode. In rührenden Zügen malt er ein bescheidenes und doch so reiches Glück, wie er es bereits den Hofer Freundinnen oft vorfabuliert hatte. In dieser Bescheidung auf einen einfachen, schlichten Gang seines Daseins lag zugleich ein Protest gegen das laute Leben, das ihn seit Jahren umfangen hatte. Es war eine durch Willensakt erzwungene Rückkehr zur Idylle, die er hier gab, mit dem ganzen verführerischen Zauber seiner dichterischen Kraft. Er schwelgte im Ausmalen glücklicher Stimmungen und liebegebundener Ehe. Ein kleines Gütchen Mittelspitz sollte ihn und die Seinen aufnehmen. Vielleicht hat er damals selbst an den Ankauf eines solchen Gütchens gedacht, das infolge seiner Einnahmen durchaus im Bereich der Möglichkeit lag.

Aber es war ein Traum neben dem Leben, den er hier gestaltete. Die Umgebung, die er sich selbst gewählt hatte, sollte ihn noch lange nicht zur Ruhe kommen lassen. Wie sollte er auch in Weimar leben können, ohne in alle Intriguen dieser seltsamen Stadt verwickelt zu werden. Schon die Freundschaft mit Herder mußte ihn in solche verwickeln. Leider fanden sich zu den in Weimar vereinsamten Freunden nur Geister zweiten und niederen Ranges als Bundesgenossen. Der einzige mochte noch Wieland sein, der gleichfalls von dem Feuer der Metakritik ergriffen wurde. Aber Gleim und der alte Weiße waren doch bereits eine 504 bedenkliche Bundesgenossenschaft. Knebel hatte sich mit der Sängerin Luise von Rudorf verheiratet und das aufgeregte Weimar mit dem stilleren Ilmenau vertauscht. Er lavierte vorsichtig zwischen den Parteien, war sowohl Herders wie Goethes vertrauter Freund. Die Kluft zwischen Jean Paul und Goethe vertiefte sich wieder. Bei Frau von Wolzogen stritt er sich bis in die tiefe Nacht mit Schiller herum, ein andermal, bei Charlotte von Kalb, sogar mit Schiller und Goethe gleichzeitig. Weil er »Champagner und einen Vulkan« im Kopfe hatte, war er kühner als je und sagte Goethe unangenehme Dinge, worauf dieser eine Viertelstunde empfindlich den Teller drehte. Später speiste er noch einmal mit Goethe bei Schütz in Weimar. Aber er konnte sich nicht wundern, daß die beiden Heroen »frostig« gegen ihn wurden. Auch seinen Verkehr mit Kotzebue mochten sie ihm übelnehmen. Jean Paul milderte sein Urteil über diesen literarischen Abenteurer in manchen Punkten, empfing mehrfach seinen Besuch und ließ sich sogar dessen Stücke zur Begutachtung geben.

Seine Berührung mit dem eigentlichen Hof war nur flüchtig. Wenn er bei seinem ersten Aufenthalt den freien Ton in Weimar gelobt hatte, so wurde er jetzt bald eines Besseren belehrt. Bei den Konzerten zum Beispiel hatten bürgerliche Personen nur zur Galerie Zutritt. Man ließ ihm sagen, daß er den Zutritt zum Saale erhalten würde, wenn er einen Degen anlegte. Er aber weigerte sich und nahm an den Konzerten nur von der Galerie aus teil. Ein solches Benehmen war nicht geeignet, ihn dem Herzog selber angenehm zu machen. Der Herzogin wie dem Erbprinzen hatte er sich einmal vorstellen lassen, schrieb jedoch einige Tage später an Otto: »Mit der Herzogin und Ihm bin ich ganz außer Verhältnis.« Nur bei dem Besuch der Königin Luise in 505 Weimar kam er wieder mit der Herzogin in Berührung. Die Lobsprüche der anwesenden Fürstin von Thurn und Taxis und des Prinzen Georg von Mecklenburg veranlaßten die Herzogin, daß sie ihn im Park zurückrufen ließ, »viel zu gnädig« mit ihm sprach und ihn nach dem »Titan« fragte. »Du hast keine Vorstellung,« schrieb er an Otto, »wie hier um ein Eckchen Regenschirm vom Thronhimmel geschoben und gestoßen wird; ich sehe im Regen der Gruppe zu und bleibe Philosoph.« Jean Paul hat sich, wie überhaupt niemals, so auch in Weimar nicht um die Hochgestellten bemüht. Bereits im 18. Jahr, schrieb er an Otto, sei er Republikaner gewesen, und noch jetzt finde er einen Mut und eine Denkart gegen die Fürsten in sich, die er eben bei den großen Männern in Weimar nicht so bemerkt. »Überhaupt steige ich ja in die Nester der höheren Stände nur der Weiber wegen hinauf, die da, wie bei den Raubvögeln, größer sind als die Männchen.« Eine wichtige Stelle, die sein Verhalten den hochgestellten Frauen gegenüber von Grund aus erleuchtet.

Im März 1799 brachte er acht Tage, die ihm zu Festtagen wurden, in Gotha zu. Bereits im Sommer des vorigen Jahres hatte er, Schlichtegrolls wegen, Gotha aufsuchen wollen. Diesmal zog ihn der genialische Erbprinz August dorthin. An diesem Hofe öffnete ihm sein Verhältnis zu Goethe die Bahn. Goethe hatte sich mehrfach mißachtend über den Gothaer Hof ausgesprochen, insbesondere über den Erbprinzen. An der herzoglichen Tafel zog denn Jean Paul seinerseits auf Weimar los, wie er schreibt, und fand völlige Billigung seiner Ansichten auch bei dem Herzog Ernst Ludwig. Eine zweite Reise nach Gotha, die ihn auch über Erfurt, Eisenach und auf die Wartburg führte, bereicherte wiederum seinen Bekanntenkreis.

506 Zum »Titan« floß ihm unaufhörlich Stoff zu und immer deutlicher formte sich ihm die Tendenz des Ganzen. An Friedrich Jacobi, mit dem ihn jetzt ein fortgesetzter Briefwechsel verband und mit dem er sich duzte, schrieb er über den Kardinalroman: »Mein ›Titan‹ ist und wird gegen die allgemeine Zuchtlosigkeit des Säkulums gewaffnet, gegen dieses Umherbilden ohne ein punctum saliens – gegen jede genialische Plethora, d. i. Parzialität – gegen die ästhetische (artistische) und philosophische Trennung des Ichs von der Beschauung, als müsse nicht diese auf jenes wirken, es voraussetzen, nur durch dasselbe gelten und darin früher und später wohnen als in der Abstraktion. Beinahe jede Superfötation und jedes hors d'œuvre der menschlichen Natur soll im »Titan« Spielraum für die eigenen Fehler finden.« Hier ist es ausgedrückt: Weimar mit seiner Superfötation des Gehirnlichen, aber auch Kant mit seiner Trennung des Ichs von der Beschauung sollten im »Titan« gegeißelt werden. Roquairol lebte damals schon in ihm, allen voran aber griff Charlotte von Kalb immer wieder als Titanide in die Handlung seines Innern ein.

Seltsam wie in Jean Pauls Dasein die verschiedenen Welten sich durchdrangen. In seiner behaglich stillen Stube am Markt träumte er von den Seligkeiten einer schlichten bürgerlichen Liebe, und wenige Schritte nur hatte er hinaus zu tun, um mitten im Wirbel der großen Welt zu stehen. Und es zog ihn hinaus in diese große Welt. Noch ehe das Jahr 1799 begann, nahte ihm, nun von seiten der Kalb, die Versuchung, die er in der Berlepsch gerade noch überwunden hatte. Am 28. Dezember 1798 schrieb er an Otto: »Durch meinen bisherigen Nachsommer wehen jetzt die Leidenschaften. Jene Frau – künftig heiße sie die Titanide, weil ich dem Zufall nicht traue – die von Weimar zuerst 507 nach Hof an mich schrieb, die ich dir bei meinem ersten Hiersein als eine Titanide malte, mit der ich, wie du weißt, einmal eine Szene hatte, wo ich (wie in Leipzig) im Pulvermagazin Tabak rauchte, diese ist seit einigen Wochen vom Lande zurück und will mich heiraten und sich scheiden.« Kurz nach einem Souper sagte sie es ihm in unverblümter Klarheit. »Meine moralischen Einwürfe gegen die Scheidung wurden durch die 10jährige Entfernung des Mannes widerlegt, und durch den früheren Vorsatz für Schiller – von den drei Kindern bliebe nur eines, das schönste, klügste Mädgen – alle Güter sind die ihrigen – und als ich auf kameralistische Indemnisation des Mannes und der Kinder (präliminarisch) drang, war alles ihre Meinung.« Er setzte diesen Plänen ein festes Nein entgegen, aber Charlotte drang mit »Größe, Glut und Beredsamkeit« dagegen. »So bestand ich eisern darauf, daß sie keinen Schritt für, wie ich keinen gegen die Sache tun solle. Denn sie glaubt, ihre Schwester und deren Mann, der Präsident, und ihre Verwandten würden alles tun, ach im März wäre alles vorbei, nämlich die Hochzeit.« »Ich habe endlich Festigkeit des Herzens gelernt – ich bin ganz schuldlos – ich sehe die hohe genialische Liebe, die ich dir hier nicht mit diesem schwarzen Wasser malen kann – aber es passet nicht zu meinen Träumen.« Das war das Entscheidende: »Es passet nicht zu meinen Träumen.« Bei Dorothea Weiße wie bei den Töchtern Wielands hatte er mit sich ringen müssen. Bei den Titaniden stand das Nein! von vornherein bei ihm fest. Der kommenden, der erträumten Liebe sparte er sich auf. »O Emilie, du sprachst mir die Liebe ab, und nur dieser opfer ich Stand und Reichtum schon zum 2ten mal!« Anfang Januar 1799 konnte er berichten: »Zweitens hab' ich jetzt mit der Titanide ein Elysium ohne Schwaden, alles ist leicht und recht und 508 gelöset.« »Sogar ihren Mann liebt sie jetzt mehr; und ich mauere hoff' ich einige aus dem Altar ihrer Ehe, Liebe gefallne Steine wieder ein.«

Aber auch abgesehen von den Titanidenerlebnissen nahm er fortwährend Neues in sich auf. Nicht Goethe und Schiller, sondern Herder führte ihn zu den Griechen, und er studierte sie als eine einmalige Erscheinung, nicht als ewig gültige Norm. Die Eindrücke, die er in der Dresdener Galerie gehabt, kehrten stärker zurück. »Ich lese den Homer und die Tragiker mit einer namenlosen Wonne. Sophokles ist (Shakespeare ausgenommen) ein Siebengestirn (auch er hat nur 7 Stücke) und die Neuern sind Nebelsternlein.« Wenn er im »Titan« Herder als den sanften griechischen Baumeister Dian auftreten läßt, so wurde jetzt der Grund dazu gelegt.

Zu den modernen »Nebelsternlein« gehörte für ihn auch Schiller. »Der 2te Teil des Wallensteins ist mit großer Pracht (über 400 rtl. neue Kleider, weil alles echt war) abgespielt, er ist vortrefflich, passabel und langweilig und falsch. Die schönste Sprache – kräftige poetische Stellen – einige gute Szenen – keine Charaktere – keine fortströmende Handlung – oft ein dramatisierter Zopf oder Essig – 3faches Interesse – und kein Schluß.« Schiller benutzte die Lorbeeren des Wallenstein, um sich der Titanide wieder zu nähern. Er »sagte schon dreimal zu ihr: wir müssen miteinander nach Paris. (Hier ist alles revolutionär-kühn und Gattinnen gelten nichts. Wieland nimmt im Frühling, um aufzuleben, seine erste Geliebte, die La Roche ins Haus, und die Titanide stellte seiner Frau den Nutzen vor«.) Immer deutlicher schälte sich Jean Paul das Bild der Zeit heraus, das er in seinem Kopfe trug. Er fühlte, daß die Welt einer Erneuerung dringend bedurfte. Aber vergeblich sah er sich nach den neuen Kräften um. Weder von der französischen Revolution noch 509 von den anerkannten geistigen Führern der Nation waren sie zu erwarten. Mitten im Hochstand der deutschen »klassischen« Zeit fühlte er, daß die alte Welt im Niederbrechen war. Schon vom Giebichenstein aus hatte er an Otto über die Furcht vor Revolutionen als einem deutlichen Symptom des Kommenden geschrieben: Reichardt »erzählt mir, daß in Berlin das alte Unwesen durch die Souffleurs der alten Regierung wieder angehe. Die unnötige Furcht der Revolution tut gerade so viel Schlimmes als vorher Gutes: ein ganzes Spionen-Departement ist öffentlich errichtet auf dem alten Pariser Fuß, das unter allen Verkleidungen Hör- und Sehröhre ansetzt und den Staat zu einem Schallgewölbe macht. Wer dem Abbé Sieyes nur nachsieht, der wird angegeben; so wie auf eine niedrige Weise Stände und der König unter dem Huldigungsschwur bloß auf den Franzosen sahen.« Solche Ausschnitte illustrieren aufs beste die Stimmung, die über der Zeit lag. Im Anfang hatte Jean Paul wie Herder und viele andere von der Pariser Revolution das Kommen des Neuen erwartet. Jetzt, in Weimar, schrieb er die bedeutungsschweren Worte nieder: »So viel ist gewiß, eine geistigere und größere Revolution als die politische, und nur ebenso mörderisch wie diese, schlägt im Herz der Welt. Daher ist das Amt eines Schriftstellers, der ein anderes Herz hat, jetzt so nötig und braucht so viel Behutsamkeit. Ich nehme in meine Brust keine Veränderungen auf, aber desto mehr in mein Gehirn.« Auch diese Revolution, die unbemerkt im Herzen der Welt schlägt, wollte er in den »Titan« aufnehmen, der sich ihm immer mehr zur großen Abrechnung mit der Zeit auswuchs.

Inzwischen mochte er alles, was ihn politisch bewegte, doch noch einmal in eine Gestalt zusammenfassen. In den Junitagen 1799 schrieb er eine seiner schönsten Arbeiten nieder: den 510 Aufsatz »Über Charlotte Corday«. Auch hier war Abrechnung mit der Zeit, auch hier stand ein Titanidenerlebnis im Mittelpunkt. Aber in Charlotte Corday hatte das Titanidentum eine Größe erreicht, zu der er sich in seiner Darstellung nicht mehr kritisch zu stellen brauchte. Nicht als Sinnbild einer niedergehenden Zeit erschien sie ihm, sondern als Vertreterin überzeitlichen Heldentums überhaupt. Hier konnte er sich rückhaltlos in seiner Darstellung hingeben. Zum ersten und letztenmal in seinem Leben gab er ein streng umrissenes geschichtliches Bild ohne Abschweifungen und Ausweichungen. Er erzählt die Geschichte des heldenmütigen Mädchens mit einer Ruhe und Konzentration, die man Jean Paul am wenigsten zutrauen möchte. Zeigt das allmähliche Anwachsen ihres Entschlusses, den Bluthund Marat, den Vernichter republikanischer Freiheit, zu töten, schildert die Tat selbst, immer auf den tiefsten Grund ihres Wesens tauchend und ihre Heldenseele heraushebend, und schließlich ihren letzten Gang zum Schafott.

»Es ist bekannt, daß die Heldin darauf einen ganzen Monat lang ihren Vorsatz schweigend in der Brust bewahrte. Aber wie leicht und klein mußten ihr in dieser Zeit die Spiele und Plagen des Lebens erscheinen, wie frei ihr Herz, wie rein jede Tugend, wie klar jede Ansicht! Sie stand jetzt auf dem höchsten Gebirge und sah die Wetterwolken nur aus der Tiefe, nicht aus der Höhe kommen, und sich von ihnen kaum verhüllt und benetzt, indes die andern, die tiefen Menschen auf dem Boden, ängstlich nach dem Gewölke aufblickten und auf dessen Schlag harrten. – Der edle Krieger, der handelnde Republikaner, der gottbegeisterte Mensch, sie haben diese hohe Stellung, die so sehr für alles häusliche Einnisten in bequeme, warme Freuden entschädigt und erkältet.« Mit wenigen Strichen ist die Höhenlage dieses Entschlusses 511 umrissen. Eine Darstellung, halb voll gegenständlicher Ruhe, halb voll Pathos, trägt das Ganze. »Darauf begab sie sich zu Marat mit der doppelten Gewißheit, jetzo sterbe er unter ihren Händen, und zugleich sie selber unter den Händen des Volkes.« Alles ist klar und groß in dieser Seele, die sich für das Volk zum Opfer bringt. Der Pöbel will sie auf dem Wege ins Gefängnis umbringen, sie fällt in Ohnmacht. »Als sie wieder zu sich kam, war sie in Verwunderung, daß der Pöbel sie noch leben lassen und daß dieser, den sie für eine Zusammensetzung von Kannibalen gehalten, dem Gesetz gehorcht hatte.« Hier liegt die ganze Kritik an ihrer Tat. Sie wollte das Volk, die Republik, von der Schreckensherrschaft befreien, und sie sah nicht, daß sie nur einen einzelnen mordete, der ihr zufällig der Inbegriff alles Entsetzlichen erschien. Sie hatte das Doppelgesicht aller Dinge nicht erkannt. Auch ihre Tat traf nicht die Wurzel, nur einen Zweig. Aber ihr Heldentum bleibt bestehen.

Eines andern Helden noch gedenkt er bei ihrer Gestalt, der ihr nachzuleben und nachzusterben wußte, des Deutschen Adam Lux, der sich in Paris in die Strudel der Revolution stürzte und in ihnen unterging. »Er hatte aber in seiner Katos-Brust mehr mitgebracht, als er finden konnte im damaligen Pariser Blutsumpf: eine ganze römische und griechische Vergangenheit und Rousseaus eingesognen Geist und die Hoffnung einer steigenden, siegenden Menschheit.« Aber diese Ideale werden von der Wirklichkeit »ausgeplündert«. Es bleibt ihm nichts, als gegen das Schreckensregiment zu protestieren und selbst den Tod zu suchen. »Und kein Deutscher vergesse ihn! – Aber wie wird alles im Rauschen der fortziehenden Zeit übertäubt und vergessen! Welche hohen Gestalten stiegen nicht aus dem unreinen Strome und glänzten und sanken, wie Wasserpflanzen in die Höhe gehen, um zu blühen, und dann, mit Früchten beladen, untersinken.«

In der kleinen Schrift ist Jean Pauls ganze Abrechnung mit der Revolution enthalten, sein Freiheitshymnus und sein Klagegesang über die Entartung der Freiheit, in der sinnbildlichen Handlung des politischen Mordes eingefangen. Für Charlotte Corday nimmt der Dichter das höchste Recht in Anspruch. Sie »bekämpfte und durchbohrte nicht als Bürgerin einen Staatsbürger, sondern als Kriegerin in einem Bürgerkriege einen Staatsfeind, folglich nicht als Einzelne einen Einzelnen, sondern als gesundes Partei-Mitglied ein abtrünniges, krebshaftes Glied.« Darin, aber nur darin liegt ihre Rechtfertigung. Wie Jean Paul sonst über den politischen Mord dachte, zeigt eine Anmerkung, die er einer späteren Auflage der kleinen Schrift beigab. In eigentümlicher Weise wurde die »Charlotte Corday« mit der Tat des gleichfalls in Wunsiedel geborenen Studenten Sand verknüpft, der ein begeisterter Verehrer Jean Pauls und insbesondere seiner Schrift »Über Charlotte Corday« war. Jean Paul schüttelte aber die Bluttat Sands, der bekanntlich Kotzebue ermordete, von sich ab. »Der Unseligst-Verblendete raubte ein doppeltes Leben – das fremde und seine, denn jeder Mörder ist Selbstmörder – nicht für Handlungen, sondern für Meinungen, und stellte so sich selber zu etwas Schrecklichern als zu einem Inquisitionstribunal auf; denn er war zugleich Richter . . . Ankläger, Zeuge und Scharfrichter und strafte am Leben sein Opfer im Winkel, ohne Defensor und Verhör, ohne Aufschub, ohne die Fristen, welche dem größten Übeltäter die Menschlichkeit gern bewilligt zur Abrechnung mit den Seinigen und sich, und unter dem Mitgefühl eigner Schuldlosigkeit und fremder Sündengewalt.«

Die eigentliche Schilderung Charlotte Cordays ist in ein 513 Gespräch zwischen dem regierenden Grafen von —ß, seinem Ministerpräsidenten und Jean Paul eingekleidet. Reiner und größer hätte wohl die bloße Schilderung der heldischen Mörderin allein gewirkt, aber Jean Paul legte Gewicht darauf, jede solche Schöpfung in eine, in seine ganze Welt einzufügen. Und dieses »Halbgespräch am 17. Juli«, wie er es nennt, enthält des Bedeutenden genug, um sich selbst zu rechtfertigen. Von der Rechtmäßigkeit, für große Zwecke sein eigenes Leben gegen ein fremdes einzusetzen, wird hier gesprochen, und Jean Paul nimmt für große Ziele dieses Recht in Anspruch. Denn: »Wir wollen wirklich etwas; wir wollen die Stadt Gottes nicht bloß bewohnen, sondern auch vergrößern.« Und nun spricht er von jener Erscheinung, die damals zuerst die Augen der Welt auf sich lenkte: von Napoleon Bonaparte, in dem er die Revolution sich anheben fühlte, die »geistiger und größer als die politische und nur ebenso mörderisch«, im Herzen der Welt bereits unhörbar schlug. Was er mit jener Briefstelle meinte, wird hier offenbar, wo er von ästhetischen und sittlichen Genies spricht, die beide allein die Welt ändern und der fortlaufenden Verflachung wehren. »Alle Größen und Berge in der Geschichte, an denen nachher Jahrhunderte sich lagerten und ernährten, hob das vulkanische, anfangs verwüstende Feuer solcher Übermenschen, z. B. Bonaparte Frankreich durch Vernichtung des nur durch Schwächen vernichtenden Direktoriums, kühn auf einmal aus dem Wasser. Allerdings häufen sich auch leere Korallen endlich zu Riffs und Inseln zusammen; aber diese kosten ebenso viel Jahrhunderte, als sie dauern und beglücken.« Der Feuerreformator aber muß »die zeugenden Jahrhunderte des trägen Werdens zum Vorteile der genießenden durch eine Kraft ersetzen, welche jedesmal fällend und bauend zugleich ist«. Auch in späteren Jahren, als 514 Napoleon Deutschland überrannt hatte und geknechtet hielt, bewahrte sich Jean Paul etwas von dem Sinn für die große Sendung des Eroberers. Gewiß stand der Dichter zu seinem Volk, und niemand konnte den Befreiungskrieg mit glühenderer Seele verfolgen als er. Aber er behielt doch immer, im Gegensatz zur Romantik, den Sinn für das Neue und Heilsame, das Napoleon Europa wie Deutschland gegeben hatte. Wir werden bei seinen politischen Schriften noch darauf zu sprechen kommen.

Von der ersten Jugend an war Jean Paul im Zweifel gewesen, ob ihn das Schicksal zum Dichter oder zum Philosophen bestimmt habe. In der Tat verfügte er über eine ungemeine philosophische Bildung. Ganz entschieden waren die starken philosophischen Interessen dem Dichter Jean Paul hinderlich. Immer wieder mengten sich philosophische Gedankengänge in seine Pläne, und wenn man verfolgt, was alles er in seinen »Titan« hineingeheimnissen wollte, kann man wohl einen Schrecken bekommen über die Gefahren, denen diese größte Dichtung Jean Pauls ausgesetzt war. Gott sei Dank kam er bald auf den Gedanken, alles Philosophische und Satirische in besondere Supplementbände zu tun, so daß der eigentliche Roman von dem Beiwerk nicht belastet wird. Es war ein Glück, daß sich diese Form ihm allmählich herausschälte. Dem Plan nach sollte sogar seine große Auseinandersetzung mit Fichte, in dem er mehr und mehr die äußerste Zuspitzung des kantischen Denkens sah, in den »Titan« einbezogen werden.

Ins Jahr 1799 fiel der bekannte Atheismusstreit, der Fichte seine Jenaer Professur kostete. Trotz aller Gegnerschaft konnte Jean Paul in diesem Streit, der um die Freiheit der deutschen Wissenschaft ging, natürlich nur Fichtes Partei ergreifen. »Er schmerzt mich, da er edel ist«, schreibt er am 515 4. Juni an Jacobi, »und hülflos und da der bleiche Minister Voigt nicht wert ist, sein Diener zu sein, geschweige sein Mäzen.« Und nun kommt diese scharfe Anklage gegen Goethe, die von allen immer wieder erhoben wird, deren Schicksal ganz oder zum Teil jemals in Goethes Händen lag. »Goethe – über den ich Dir ein Oktavbändchen zufertigen möchte – ist Gott gleich, der nach Pope eine Welt und einen Sperling mit gleichem Gemüte fallen sieht, um so mehr, da er keines von beiden schafft; aber seine Apathie gegen fremde Leiden nimmt er schmeichelnd für eine gegen die seinigen.«

Es ist natürlich fraglos, daß Goethe in dem Atheismusstreit ebenfalls Fichtes Partei ergriffen hat, obwohl es zweifellos erscheint, daß er manches unterlassen hat, was Fichtes hartes Schicksal hätte mildern können. Vielleicht hätte der Vorfall alle Parteien noch einmal zu vereinigen vermocht. Aber zwischen Jean Paul, Herder und Jacobi auf der einen Seite und Goethe, Schiller, Fichte und Kant auf der andern Seite stand Herders Metakritik, deren gegen Kant gerichtete Tendenz sich in dem kleinen Weimar natürlich herumgesprochen hatte. Es war auch kein Geheimnis, daß Jean Paul mit seinem enormen philosophischen Wissen Herder bei der Metakritik mit allen Kräften unterstützte. So wenig Goethe sich sonst um Philosophie oder um Kant bekümmern mochte, seit der Metakritik schien ihm in Kant ein heiliges Palladium angegriffen zu sein, und er belegte alle, die Herder in seinem Tun unterstützten, mit dem großen Bann. Es waren in der Tat Weltanschauungen, die sich hier gegeneinander absetzten.

Der Zufall wollte, daß der alte Streitpunkt zwischen Herder und dem Herzog, nämlich die Erziehung der Herderschen Söhne, von neuem akut wurde. Bekanntlich hatten Herders Ansprüche zu dem endgültigen Bruch zwischen ihm und Goethe geführt. Durch Jean Pauls Vermittelung sollten nun 516 Herders Söhne ohne des Herzogs Beihilfe in guten Positionen untergebracht werden. Ein Grund mehr, um zwischen Jean Paul und Goethe eisige Feindschaft eintreten zu lassen. Jean Paul schrieb in dieser Angelegenheit an seinen Baireuther Freund Emanuel am 11. August 1799: »Der Herzog erhielt ihn (Herder) nur hier unter dem Versprechen der Vorsorge für seine Kinder. Ein Sohn, Adalbert, studierte Ökonomie im Holsteinschen – und dann im Preußischen. (Ich erzähl' alles nur kurz.) Darauf kam er auf ein herzogliches Gut in Oberweimar; wo er einem Schleicher und Tropfen, dem Ökonomen des dasigen Viehstandes, subordiniert war, indes er als 2ter Ökonom alles Andere und Weitläuftige zu regieren hatte. Schon dieses Leben unter einer rohen Unterordnung und die Einschränkung seiner Talente und die Verkennung derselben – da der Schleicher erschlich – quälte einen Abkömmling so zarter Eltern und diese am meisten. Jetzt – vergeben Sie mir die Sprünge! – soll er (das will der Herzog, um vielleicht seiner Zusage der Unterstützung leichter loszuwerden) die junge Pächterswitwe heiraten, die leichtsinnig ist und die ihren Mann beerbet hätte, wäre sie schwanger nachgeblieben; was aber ausblieb. Sohn und Eltern verachten die Verbindung; der Herzog macht diese zur Bedingung der Zusage und – Herder nimmt den Sohn zurück. Herder schrieb nach Sachsen um Verwalterstellen für ihn, die er aber jetzt gerade am Ende der ökonomischen Geschäfte schwerer finden wird. Nun hat er unter den Hoffnungen auf die sächsischen Antworten noch eine andre Hoffnung nötig, die auf Ihre Antwort bauet. Den Sohn ins Haus zu nehmen, säh einer Absetzung gleich – da der Herzog nie die andre Ursache erraten lassen würde – und überhaupt, mein Emanuel, die Bitte ist diese: können Sie ihn nicht auf einige Monate (bis er in Sachsen angestellt ist als Ökonomieverwalter, oder was noch 517 besser wäre, im Baireuthischen und durch Sie) nach Baireuth oder zu sich nehmen und ihn als Gesellschafter und Schüler Ihrer Güterzerschlagungen erwählen? Ach ich nahm heute von den Eltern . . . einen scharfen Höllenstein vom nackten Herzen weg, da ich ihnen in Ihre menschenfreundliche Seele hinein die günstige Aufnahme der Bitte vereidete. Sie konnten noch mit keiner Handlung 4 Menschen (mich eingerechnet) auf einmal schöner beglücken als mit dieser. Der metallene Thron ruht wie immer auf roten Herzen und hier liegt gerade das großschlagende meines Herders unter den scharfen Zacken.«

Dieser Brief wirft ein seltsames Licht auf den Herzog und die Art, wie er sich seiner übernommenen Verpflichtungen entledigen wollte. Wir haben um so weniger Anlaß, an den Tatsachen zu zweifeln, da sie durchaus in den Rahmen der Zeit passen, in der Fürsten mit ihren Untertanen beliebig schalten zu können glaubten. Zum Glück ging Emanuel auf den Vorschlag sofort ein und nahm Herders Sohn zu sich. Ein Stein fiel den Eltern von der Seele, aber das Verhältnis der beteiligten Personen zueinander besserte dieser Ausgang der Sache naturgemäß nicht.

Unterdessen hatte sich Jean Paul intensiv mit Fichtes Schriften beschäftigt. Der Briefwechsel mit Jacobi zeigt, wie tief dieses Studium ging. In Fichte sah er den fundamentalen Gegensatz zu seinen eigenen Anschauungen, und zwar bis zu dem Grade, daß, wenn er einen Gegensatz zu der eigenen Person in seinem Werk darzustellen hatte, er ihn gar nicht anders denn als Fichteaner darstellen zu können glaubte. Die ganze Weimarer Zeit über beschäftigte er sich mit dem »Titan«. Schon zwischen Siebenkäs und Leibgeber hatte es Gegensätze der Weltanschauung gegeben. Während der Armenadvokat Jean Pauls eigene Weltanschauung vertritt, 518 war der schweifende Leibgeber Atheist und Leugner der Unsterblichkeit. Dieser Gegensatz mußte sich jetzt unter den vielen philosophischen Eindrücken vertiefen. Leibgeber sollte ja in der Gestalt des Schoppe im »Titan« zu neuem Leben erstehen. Nichts lag näher, als ihn zum Fichteaner zu machen. Die kühne Vermessenheit, mit der Fichte das Ich zum Mittelpunkt der Welt macht, mochte diesem in sich selbst ruhenden schroffen Charakter am besten anstehen. Auch Schoppe alias Leibgeber gehörte ja in seiner »Einkräftigkeit« zu jener titanischen Welt, die in dem Roman gegeißelt werden sollte. Und auch Fichte, dessen Persönlichkeit Jean Paul nur anerkennen konnte, war ein Titan im Jean Paulschen Sinne. In seiner stolzen, folgerichtigen »Einkräftigkeit«, wie Jean Paul es nannte, mußte auch er ad absurdum geführt werden, an seiner Einsamkeit zerschellen. Aber in ihm war ein Idealcharakter darzustellen, wie er in Fichte vor Jean Paul vielleicht erst während des Atheismusstreites aufwuchs. Alles, was ihm an Fichte verehrungswürdig erschien, das sollte in Leibgeber oder Schoppe zur Gestalt werden. Dazu aber war es nötig, erst einmal alles abzustoßen, was ihm an Fichte unausstehlich erschien. Diesem Zweck diente die Schrift »Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana«, die später dem »Komischen Anhang zum Titan« beigegeben wurde, zunächst aber, Ostern 1800, als selbständiges Buch erschien.

Man kann vom wissenschaftlichen, d. h. kantischen Standpunkt aus die Gedankengänge Jean Pauls wie Herders in dessen Metakritik als naiv und unbeträchtlich abtun. Aber dieser Standpunkt, die kritische Scheidung in Erkennen, Fühlen und Wollen wurde ja gerade als rationalistisch abgelehnt. Wenn Kants erkenntnistheoretische Begriffsetzung für ein Jahrhundert siegte, so waren damit die Einwände seiner Hauptgegner noch nicht widerlegt, vor allem nicht Hamanns 519 Metakritik, der den kantischen Kritizismus als durchaus künstlichen Bau aus dem Wesen der Sprache heraus erklärt. Man konnte sich wohl ein Jahrhundert hindurch an Hamann vorbeidrücken, aber heute gewinnt mit einem neuen Lebensgefühl Hamanns Lehre wieder an Boden. Nur in Gemeinschaft mit Hamanns Metakritik ist Herders Metakritik und Jean Pauls »Clavis Fichtiana« zu beurteilen. Das Werk Hamanns war, auch wenn es erst später erschien – lange nach Hamanns 1788 erfolgtem Tode –, Herder wie Jean Paul jedenfalls im Manuskript bekannt. Ihre Gedanken basieren auf Hamann und setzen ein Gedankengefüge voraus, das den Lesern und Beurteilern der »Clavis Fichtiana« unbekannt war.

Dennoch kann man sagen, daß Jean Pauls Angriff auf Fichte das Wesentliche in Fichtes Lehre nicht trifft. Jean Paul verwechselt den Fichteschen Ichbegriff mit dem Solipsismus. Natürlich konnte Fichte nicht meinen, daß das einzelne, individuelle Ich zuerst die Welt mit ihrem ganzen Inhalt erschafft. Auch die individuellen Inhalte werden durch Fichte dem Ich ja noch entzogen. Es ist ein durchaus überindividuelles, rein erkenntnistheoretisches Ich, das Fichte setzt. Und gegen dieses Ich setzte Jean Paul vergeblich den gesunden Menschenverstand ein. »Seit dem 13. Jahr trieb ich Philosophie,« schrieb Jean Paul in dieser Zeit an Jacobi, »warf sie im 25. weit weg von mir aus Skepsis und holte sie wieder zur Satire – und später näherte mich ihr, aber blöde, das Herz.« Mit diesen Worten wird Jean Pauls Verhältnis zur Philosophie, auch soweit es sich in der Schrift gegen Fichte ausdrückt, am besten gekennzeichnet. Das gerade ist das Wichtigste an der »Clavis Fichtiana«, daß wir aus ihr erkennen, wie das Herz des Dichters doch über den Kopf des Philosophen die Oberhand gewonnen hat. Das Herz ist allzu 520 beteiligt, nicht an seinem Denken, aber an einem dichterischen Verhältnis zur Welt, als daß Philosophie für Jean Paul noch eine mögliche Betätigung hätte sein können. In der »Clavis Fichtiana« schrieb er sich aber endlich frei zu reiner dichterischer Arbeit. Ohne daß seine philosophischen Gedanken in dieses Gefäß geronnen wären, hätte der »Titan« in seinen wichtigsten und entscheidenden Partien nicht zu dieser Zeit entstehen können.

Aber es war, als hätten sich alle Frauen der Welt gegen den »Titan« verschworen. Die von Charlotte von Kalb her drohenden Gewitter hatten sich verzogen. Die Titanide hatte sich zur Freundschaft durchgerungen. Charlotte nahm sogar Jean Pauls Jugendfreundin Amöne, die sie eine Zeitlang von dem Dichter geliebt glaubte, zu sich ins Haus. Es waren unvergeßliche Wochen für Amöne, aber sie trugen nicht dazu bei, sie dem Jugendfreunde, der ihr trotz aller Freundschaftsversicherungen dennoch entglitten war, wieder zu nähern. Ganz neue Sterne tauchten auf, die Jean Pauls Ruhe ernstlich bedrohen sollten. Der erste war Josephine von Sydow, die sich im März 1799 zuerst mit einem anonymen Schreiben näherte. Josephine hatte, wie alle diese Frauen, wechselvolle Schicksale hinter sich. Im Süden Frankreichs geboren, war sie in ihrem sechzehnten Lebensjahr mit einem Herrn von Montbart in Berlin verheiratet worden. Bereits nach einem Jahr hatte sie ihren Mann verlassen, um sich der Schriftstellerei zu widmen. Ein junger Offizier der Blücherhusaren, Herr von Sydow, war ihr nächstes Erlebnis. Sie folgte dem neuen Gatten nach der Garnison Belgard in Pommern, wo er eine Schwadron kommandierte. Aber auch hier zog sie sich bald von ihrem Gatten auf ihr bei Belgard gelegenes Landgut zurück, mit literarischen Arbeiten beschäftigt. In dieser Zeit machte ihr Seelsorger sie auf den »Hesperus« 521 aufmerksam, und wie gewöhnlich weckte auch bei ihr die Lektüre des Buches den glühenden Wunsch, sich dem Verfasser zu nähern. Einer jener Briefwechsel begann, der wie ein seelischer Austausch zwischen Liebenden erscheint. Sie schickt ihm ihr Bild, er ist hingerissen. Die Leidenschaft ihrer Briefe steigert sich. Aber schon Ende Mai lernt er am Hofe von Hildburghausen Caroline von Feuchtersleben kennen, in der er das langgesuchte Ideal gefunden zu haben glaubt.

Noch vor kurzem hatte er sich in der Konjekturalbiographie seine Ehe mit einem schlichten bürgerlichen Mädchen ausgemalt. Vielleicht war es ein kurzer Besuch in Hof, vielleicht die Anwesenheit Amönes in Weimar und Kalbsrieth, dem Gute Charlottens, die ihm das Schimärische solcher Träume gezeigt hatte. Er mochte wohl die Empfindung haben, aus der kleinbürgerlichen Welt trotz aller seiner Wünsche hinausgewachsen zu sein. Einer Verbindung mit Caroline von Feuchtersleben trat er jedenfalls fast sofort in Gedanken näher, wozu die Verbindung mit dem Hildburghausener Hofe, der ihn auf das liebevollste aufnahm, beigetragen haben mag. Ende Mai schrieb er an Otto aus Hildburghausen: »Hier sitz' ich nun seit einer Woche, und recht weich. Es ist und war so. Ich korrespondierte schon mehrmals mit einer Caroline von Feuchtersleben, die hier ist, und dieser versprach ich zu kommen. (Denke nur nicht, daß jetzt etwas wichtiges kommt, nämlich eine Braut!) Sie ist ein edles, tieffühlendes, männlichfestes, vom Schicksal verwundetes, ziemlich schönes Mädgen, das mir seine silhouettierte Gestalt und Taille mit einer schwarzen Blumenkette schickte (letztere sollte um mich herum), woraus ich sogleich schloß, sie müsse am Hofe gewesen sein welches sie auch war als Vicaria einer Hofdame. Fatal ist's – und im Grunde gar nicht –, daß sie im Sprechen zu spielend und leicht ist, wie im Schreiben zu ernst. Sie lebt 522 bei ihrer Mutter, Schwester und dem Bruder, und ich sitze meistens dort, wenn ich nicht am Hofe bin, welches außer den Mahlen häufig der Fall ist. Hier fängt es an, allmählich wichtig zu werden. Erstlich denke Dir, male Dir die himmlische Herzogin mit schönen kindlichen Augen – das ganze Gesicht voll Liebe und Reiz der Jugend – mit einer Nachtigallen-Stimmritze – und einem Mutterherz – dann denke Dir die noch schönere Schwester, die Fürstin von Thurn und Taxis, welche beide mit mir an einem Tage mit den gesunden frohen Kindern ankamen. (Erlasse mir die Männer!) Mit der von Solms wollte ich in einem Kohlenbergwerk hausen, dürft ich ihren Galan da vorstellen. Diese Wesen lieben und lesen mich recht herzlich und wollen nur, daß ich noch 8 Tage bleibe, um die erhaben-schöne 4te Schwester, die Königin von Preußen, zu sehen; Gott wird es aber verhüten. Ich bin auf Mittag und Abends für immer gebeten. Der Herzog, ein wenig borniert aber gutmütig, machte anfangs nicht viel Fait von mir; aber jetzt ist er mir recht gut, und er merkte an, daß ich mir zuwenig Spargel genommen und gab mir außer diesem noch die ersten Hirschkolben zu essen, die nicht sonderlich sind. Gestern habe ich vor dem Hofe – phantasiert. Du erschrickst; aber ich habe seit anderthalb Jahren phantasiert vor Gleim, Weiße, Herder, vor der Herzoginmutter passimque. – Auch hier habe ich eine anständige Brüder- und Schwestergemeinde; und kann der Zinzendorf sein. – Nein, es wäre Undank, wenn ich nicht die Liebe meiner Deutschen für den reichsten Lohn meiner Federfechterei hielte.

Ich studiere an diesem Höfgen doch die Kurialien mehr ein für meine Biographieen: Wenn alles aus den Vorzimmern in den Speisesaal zieht: so schreitet das kurze Kammerjunker- und sonstige Volk (und ich mithin mit) wie die Schule vor 523 der Bahre voraus und die fürstlichen gepaarten Personen schleifen nach. Wieland aber (das erzählt er mir selber mit Spaß über seine Unwissenheit) gedachte anfangs höflich zu sein und ging nicht voran, sondern fügte sich zum Nachtrab und kam so zugleich mit den Fürstenpaaren an. Übrigens was ich mir durch den Hof am Gasthofs-Essen und Trinken erspare, das trägt der Bader wieder fort, weil ich den verdammten Kinn-Igel öfter scheren lassen muß.«

Es war das erstemal, daß Jean Paul längere Zeit an einem Hof verbrachte, und dieser Aufenthalt hat entschieden seine Reize für ihn gehabt, wie aus seiner langen Schilderung der Etikette ersichtlich ist. Aber allmählich trat doch der Hof hinter Caroline von Feuchtersleben zurück. Als er im Juli auf der Reise nach Gotha die Wartburg kennenlernte, dachte er an sie: »Wenn ich eine Stunde bei Ihnen hätte, wie sie für uns gehört, eine Stunde, wo die Seele verklärt und zerfließend sich der ähnlichen zeigt und öffnet, und wo einmal um uns nichts wäre als eine untergehende Sonne oder ein aufgehender Mond – als ich auf der Wartburg stand und über die aufgerollte Karte von Wäldern und Bergen hinsah und als ich mit der Menge durch einen herunterwachsenden Hain nach Hause ging, worein die Abendsonne vergoldete Bäume und Zweige pflanzte und als mein Herz in Jugendkraft die Welt aufnahm: so drang doch ein Seufzer in die glückliche Brust und er fragte mich, warum bist du allein? – Neben Dir hätt er mich nicht gefragt . . . Gute Seele, weißt denn Du, wie ich Dich liebe?« Das war freilich für Jean Paul noch keine eigentliche Liebeserklärung. Zur gleichen Zeit schrieb er an Otto: »Ach die Gegend von Eisenach, die Wartburg usw. drückte mit ihren Reizen mein Herz. Welche jugendliche feurige Himmel liegen in meiner Brust. Wie werd' ich lieben! Wie werd' ich glühen! Wie kann ich 524 leiden! – – Das alles fuhr mit seinen Händen durch mich. Erinnere mich an die Tochter des Direktor Tschirpe; denn ich kenne deine Abneigung vor langen schriftlichen Erzählungen. – Ferner fand und gewann ich eine geistreiche, von Wieland unter dem Namen Psyche besungne Frau – v. Bechtolsheim – und eine Holländerin v. Banhuisen, ein Mädchen mit welschen Augen und Augenbrauen; mit beiden fuhr ich Nachts um 12 Uhr durch die glühenden Sternbilder der Johanniswürmgen von der Ruhl zurück.« So sind seine Briefe von immer neuen Entzückungen über immer neue weibliche Wesen erfüllt. Mit Josephine von Sydow will er sich im Winter in Berlin treffen. »Ach Josephine, welchen Mai verheißet uns der Winter!« Aber aus allen Gestalten schält sich doch immer deutlicher Caroline von Feuchtersleben heraus. Der Hof schien ein Interesse daran zu nehmen, die schöne ehemalige Hofdame dem berühmten Gast zu verbinden. Vielleicht um etwaige Bedenken der adelsstolzen Familie von vornherein zu zerstreuen, wird Jean Paul zum Legationsrat ernannt. Er ist selig. In allen Briefen kommt seine Freude über den erworbenen Rang zum Durchbruch. Er will den »Titan«, dessen erster Band zur Drucklegung bereitliegt, den vier Schwestern auf dem Thron widmen. »Aber beleidigt sie der »Titan« nicht? Und ist nicht schon diese Frage ein Kerker des Schwungs?« Aber er entscheidet sich doch dafür, das Buch den fürstlichen Schwestern zu dedizieren. »Sogar der furchtsame Herder und Böttiger sind für das Dedizieren; die Satiren gehen noch dazu die Fürstinnen nichts an – (nur Fürsten).« Wieder der Unterschied, den er zwischen den hochgestellten Frauen und ihren Männern macht.

Im Oktober sollte die Entscheidung fallen. Schon vorher hatte er den Gedanken gefaßt, sich mit Caroline zu verloben. Herders begleiteten ihn bis Ilmenau. Der Hof war gerade 525 im Begriff, nach dem Jagdschloß Seidingstadt überzusiedeln. Ein paar Minuten vor dem Einsteigen konnte er noch die Herzogin sprechen. Dann sucht er Caroline auf. Zum erstenmal einem Mädchen gegenüber hat er das Gefühl, nicht so rein zu sein, wie er möchte. »Bei ihrer moralischen Zartheit fühlt man, daß man leider in Weimar lange gewesen. Sie würde, wenn ich mit ihr verbunden wäre, mein ganzes Wesen bis auf den kleinsten Flecken ausreinigen.« Er geht unangemeldet zu ihr. Sie wurde von der Magd aus dem Garten geholt. »Sie kam fast sprachlos und schrieb es dem – Laufen zu, welches glaublich genug ist.« Dann wird er zur Herzogin geholt. Einige Tage darauf ist er zum Tee zum Minister Koppenfels eingeladen. Eine »dicke hohle Frau v. Beulwitz« führt der Teufel dazwischen. Sie gehen alle eine Treppe höher zu Frau von Beck, Carolinens Schwester. »Bei dieser Beck war nun der geheizte Ofen im größern Zimmer – dann das, worin die Gesellschaft war; aber die zwei Türen waren offen für den Durchzug der Feuerung. Ich meines Orts begab mich oft ins größere, dunklere, wärmere Zimmer; und C. kam nach. Hier gingen wir auf und ab, und häufig vor der hellen bevölkerten Öffnung vorbei; aber immer seltener; blieben länger am Ofen – sie sagte mir ihr Herz und sank mit ihrem Kopf an meines, und ich gab ihrem Auge den ersten Kuß.« – »Ihre Farbe ist weiß und blaßrot, die Stirn poetisch und weiblich-rund, die Augenbrauen stark (zu sehr fast), die Augen schwarz, die Nase das Gegenteil einer kleinlichen und kurzen, die Lippen originell beschnitten, das Kinn kräftig erhoben; kurz alles deutet auf Bestimmtheit; trotz der Schönheit.« So beschreibt er sie dem Freunde.

Das Zusammentreffen nach dem ersten Kuß pflegt für das Verhältnis zweier Menschen ausschlaggebend zu sein. 526 Es fiel zwischen den beiden Liebenden höchst unglücklich aus. »Sie war den ganzen Abend schneidend-anspielend, hart und außer sich, wie ich's nie sah.« Irgend etwas rebellierte in Caroline gegen die Verbindung. Vielleicht ihr adliges Blut gegen das durch und durch bürgerliche Gehaben des Bräutigams. Die Aussöhnung folgte auf dem Fuße, aber ein peinliches Gefühl mag in Jean Paul zurückgeblieben sein. Der von allen Frauen Vergötterte fühlte sich durch dieses erste Zurückweichen verletzt. Wenige Tage später reiste er nach Weimar zurück. Carolines Nichte Auguste, die er bei Herders unterbrachte, da sie zur höheren Ausbildung nach Weimar sollte, begleitete ihn.

Eine der seltsamsten Bräutigamszeiten beginnt. Während Caroline der Mutter und den Verwandten gegenüber ihre Liebe in schweren Kämpfen durchsetzt und schließlich die Einwilligung der Mutter erreicht, führt Jean Paul in Weimar sein altes Leben fort. Charlotte von Kalb freilich, durch die Verlobung um den letzten Rest ihrer Hoffnung gebracht, zieht sich von dem Angebeteten zurück und überläßt Schiller ihre Weimarer Wohnung. Ein seltsames Verhängnis waltet über dieser Feuerseele, die die größten Geister der Zeit geliebt hat und von ihnen allen um eines alltäglicheren Glückes willen zurückgestoßen wurde. Auch Emilie von Berlepsch tritt noch einmal hervor. Diese Frau ist kaum weniger unglücklich als Charlotte gewesen. In Schottland hat sie noch einmal ihr immer wiederkehrendes Erlebnis gehabt, von einem jüngeren Manne zurückgestoßen zu werden. In aufwallendem Mitgefühl will Jean Paul sie nach seiner Verheiratung in sein Haus nehmen, ihren alten Traum verwirklichend, da sie ihn mit ihrer Schweizer Freundin verheiraten und zu dem Paare ziehen wollte. Aber bald werden Jean Pauls Briefe über diesen Punkt ausweichend. Caroline 527 hat ihn gebeten, ihm seinen Briefwechsel mit den zahlreichen Freundinnen nicht mehr mitzuteilen. »Liebe sie alle, schreibe an alle,« ruft sie ihm zu, »sei ein warmer Freund aller guten weiblichen Seelen, aber – sage mir nichts mehr davon.« Jean Paul wird zum erstenmal gewahr, daß eine Braut oder Frau andere Ansprüche an ihn zu stellen berechtigt ist als eine Freundin. Er läßt Emilie von Berlepsch fallen, zieht in einem Brief eine unzarte Parallele zwischen ihren letzten Erlebnissen in Schottland und den Leipziger Auftritten.

Nur eine, Josephine von Sydow, fühlt sich durch die Verlobung nicht berührt. Diese Südfranzösin scheidet mit der Klarheit ihrer Rasse die Liebe des Freundes und die des Bräutigams. Zur Frühjahrsmesse 1800 will Jean Paul nach Leipzig und von dort nach Berlin fahren, um Josephine endlich kennenzulernen. Die beiden malen sich ihr Zusammentreffen in glühenden Farben aus.

Unterdessen hat Caroline den Hauptwiderstand ihrer Familie besiegt. Die Mutter wenigstens hat zu der Verlobung ihre Einwilligung gegeben. Aber sie lehnt es ab, den Bräutigam in Hildburghausen zu empfangen. Wenn das Paar einige Jahre verheiratet ist, will sie einmal zum Besuch hinfahren. Nicht mehr. Jean Paul kann also nicht aus der Hand der Mutter die Braut entgegennehmen. Ein Umstand, der ihn schmerzlich berührt. Hildburghausen ist ihm seit dieser Zeit verschlossen. Wir können die Wirkung dieser Widerstände auf den Dichter nicht hoch genug anschlagen. Die ganze Welt überbietet sich in Liebesbezeugungen zu ihm. Er hat die Erlaubnis erhalten, »den vier schönen und guten Schwestern auf dem Thron« den »Titan« zu widmen, ja die Königin Luise von Preußen hat ihn ausdrücklich auffordern lassen, nach Berlin zu kommen. Fürsten und Prinzessinnen 528 bemühen sich um seine Freundschaft, die schönsten und reichsten Frauen liegen ihm zu Füßen. Nur die eine adelsstolze Familie von Feuchtersleben verschließt sich ihm, da er Caroline ehelichen will. Es kann gar nicht anders sein, als daß ihn dieses Verhältnis im höchsten Grade verstimmen muß.

Jean Paul fühlt selbst, daß ihm eine baldige Verheiratung notwendig ist. Seine Nerven sind bis zum Reißen gespannt. Unter den unerhörten Anspannungen des Schaffens hat seine Gesundheit empfindlich gelitten. Er hat sich an Stimulantien gewöhnt. Der übermäßige Kaffeegenuß ist vom Biertrinken abgelöst worden. Er äußert selbst, daß er in einem Jahr tot sein wird, wenn er länger das schwere englische Bier trinkt, wie es in Weimar allein zu haben ist. Durch Otto und durch Emanuel läßt er sich von Baireuth das Bier aus dem Dorf St. Johannis bei Baireuth kommen, das er besser verträgt. Die jugendliche Geschmeidigkeit des Jünglingskörpers ist dahin. Er setzt den Bauch des an den Schreibtisch gefesselten geistigen Arbeiters an. Sein Gesicht wird rund, sein Körper ungefüge. Diese Wandlung geht im Lauf weniger Jahre vor sich. Man deutet dieses Fettwerden gewöhnlich falsch, faßt es als bürgerliche Behäbigkeit auf. Nichts falscher als das! Es ist die beginnende Auflösung eines dem Schaffen zum Opfer gebrachten Körpers. Das Herz, von den Erregungen des Schreibens mitgenommen, kann den immer mehr anschwellenden Körper nicht mehr durchpumpen, arbeitet immer mühevoller gegen die sich ansetzenden Massen an. Nicht Alltagsbehäbigkeit bestimmt diesen Prozeß, sondern das Aufsaugen des Bluts und der Kräfte durch das Gehirn.

Dabei scheint die Arbeit der letzten Jahre ergebnislos. Für die Leserwelt ist er immer noch der Verfasser des 529 »Hesperus«. Selbst der unendlich reifere und größere »Siebenkäs« hat sich neben dem den Instinkten der Zeit entgegenkommenden »Hesperus« nicht durchsetzen können. Die dazwischenliegenden Arbeiten sollten das Interesse für den »Titan« wachhalten, aber sie hatten das Publikum ermüdet. Jean Paul befand sich seit der ersten Rückkehr aus Weimar in einer Krisis, die ihm seine Verlobung mit Caroline erst recht deutlich machte.

Dazu kamen Bedenken, vor allem von den Herders, ob es ratsam sei, allein auf schriftstellerische Einnahmen hin einen Familienstand zu gründen. Gleim versuchte, dem Dichter in Berlin eine Präbende zu erwirken, aber vergeblich. Wenigstens übersandte er aus eigenen Mitteln dem Bräutigam die Summe von 500 Talern als Beihilfe für die Ausstattung, auch hier wieder sich als echter »Dichtervater« bewährend. Vielleicht aber lenkte diese Gabe erst Jean Pauls Aufmerksamkeit auf das Unsichere seiner Lage.

Caroline hatte währenddessen ihr ganzes Selbst aufgegeben und sich mit allen Gedanken und Träumen in den Dienst des Geliebten gestellt. Sie war es auch, die eine Zusammenkunft in Ilmenau ins Werk setzte, um Jean Paul endlich wieder von Angesicht zu sehen. Am 2. Mai fand diese Zusammenkunft nach halbjähriger Trennung statt. Caroline war von ihrer Schwester, Frau von Beck, begleitet, Jean Paul kam in Gesellschaft des Herderschen Ehepaares. Dieses Zusammensein führte zur Auflösung des Verlöbnisses.

Ein zwingender Grund lag für Jean Paul kaum vor, das Leben der ihn anbetenden Verlobten auf immer zu zerstören. Im allgemeinen wird es der Ärger über die adelsstolze Arroganz der Familie gewesen sein, der ihn das Verlöbnis aufheben ließ. Wie sehr Jean Paul selbst unter der Trennung gelitten hat, zeigt sein vierzehntägiges Schweigen gegen Otto, 530 dem er erst am 16. Mai die Entlobung ankündigte. Herders waren aufs äußerste vor den Kopf gestoßen. Noch im August erging sich Herder in einem Brief an Caroline von Feuchtersleben in heftigen Anklagen gegen den Ungetreuen. Das Zusammentreffen in Ilmenau habe ihn in der Überzeugung bestärkt, daß Jean Paul einer wahren Liebe nicht fähig sei. Möge er sein Dichterleben fortsetzen und die Liebe schildern, möge er, wozu ihn die Musen beriefen, »aller Frauen Mann sein«, schreibt er an die völlig Gebrochene. Herders, die einzigen Augenzeugen, treten in dem Zerwürfnis jedenfalls auf die Seite der Verlassenen. Es war Jean Pauls Schicksal, sich nach den Freuden einer harmonischen Ehe zu sehnen, ohne ihrer teilhaftig werden zu können. Die Musen hatten ihn dazu berufen, »der Mann aller Frauen« zu sein. Er mußte der Welt das Leben des großen Liebenden vorleben, ohne daß ihm das Schicksal die Möglichkeit gab, die Erfüllungen der Liebe auszukosten.

Nur schwer konnte Caroline sich an den Gedanken ihres unwiderbringlichen Verlustes gewöhnen. Immer wieder versuchte sie, Jean Paul durch Briefe umzustimmen. Sie war nach Würzburg zu ihrem Onkel gefahren, der das Haupthindernis ihrer Verlobung gewesen war. Sie wußte diesen schwierigen Verwandten umzustimmen, als Jean Paul in Berlin schon anderen Sonnen nachging. Rührend sind ihre Briefe an Herders, in denen sie ihre Bundesgenossen weiß. Für Jean Paul stand sein Nein unerbittlich fest. Neue Bekannte traten in seinen Kreis und entrückten ihn dem peinlichen Erlebnis.

Wichtig war es, daß er noch in den letzten Wochen seines Weimarer Aufenthalts Fühlung zu der jungen romantischen Schule in Jena gewann. Bekanntlich waren die Romantiker schon vor dem Atheismusstreit von Fichte abgerückt und 531 sahen in dem glänzenderen Schelling den Philosophen ihrer Schule. Auch zu Schelling fand Jean Paul kein Verhältnis, obwohl er dessen erste Bücher mit Eifer las. Vor allem trug aber das sich immer mehr lockernde Verhältnis der Schlegels zu Goethe dazu bei, sie Jean Paul anzunähern. Und er erlebte die Freude, daß Friedrich Schlegel seinen geliebten Friedrich Jacobi für den tiefsten Geist der Gegenwart erklärte. »Herr von Hardenberg – ein Fichtianer, es ist der Novalis im Athenäum – war entzückt« über Jacobis offenen Brief an Fichte, wie Jean Paul dem Dichterphilosophen bereits im Januar 1800 schreiben konnte. Novalis »erzählte mir vor einem Jahr in Leipzig, wie es mit Friedrich Schlegel, dessen Freund er ist, gegangen sei. Er habe (verzeihe mir einige unheilige Worte) alle deine Werke auf einmal studiert, verschlungen, gepriesen, gesagt, er werde in seinem Leben keine solche Zeile machen können; darauf sich immer tiefer hineingearbeitet und endlich sei ihm Licht über den Woldemarschen Egoismus aufgegangen usw. Der Spitzbube ist dir gut, wie mir, ob er mich gleich zu skalpieren versucht«. Anderthalb Tage blieb Jean Paul mit dem jüngeren Schlegel auf seinem Zimmer, um sich mit ihm zu unterhalten, als dieser im Mai ausdrücklich Jean Pauls wegen nach Weimar herübergekommen war. Jean Paul faßte seine Eindrücke über Friedrich Schlegel in einem Brief an Otto zusammen: »Wir haben uns leicht verständigt. Er liebte mich und meine Werke von jeher – im neuesten Athenäum nahm er schon viele Invektiven zurück – und jetzt mehr und ich ihn; er ist kindlich, sanft und genialisch-auffassend; aber er ist in der Philosophie und Gelehrsamkeit 10mal seichter als ich gedacht; er konnte mir auf meine Anti-Fichtianismen so wenig antworten, daß ich glaube, er kennt nicht einmal das ganze System.« – Einige Jahre sollte 532 Jean Paul mit den jungen Romantikern Hand in Hand gehen. Es war die Zeit, in der die junge Bewegung wirklich schöpferisch war. Als sie sich zu einem historisierenden Katholizismus verknöcherte und den Geist der Heiligen Allianz gebar, kehrte er ihr den Rücken. Aber das Bündnis mit ihr sollte doch einen hellen Schimmer auf seinen Berliner Aufenthalt werfen. Schiller berichtete dem ins Bad gefahrenen Goethe unterm 5. Mai: »Noch habe ich vernommen, daß zwischen Friedrich Schlegel, der kürzlich hier war, und Jean Paul eine große Freundschaft sich anknüpft.« Man sieht, der Nachrichtendienst in Weimar arbeitete rasch und umfassend.

Höchst amüsant muß es für den Dichter des »Hesperus« gewesen sein, als ihn dieser Tage der durch ihn dort verherrlichte Mundharmonikaspieler Franz Koch besuchte. Er »dankte mir für seine Empfehlung im Hesperus (wegen des Glücks in allen Städten); ich werde mit in den Anschlagzettel gesetzt . . . Er klagt, daß noch ein Pseudoharmoniker auch auf den ›Hesperus‹ reise«.

Wenige Wochen nach dem unglücklichen Zusammentreffen in Ilmenau reiste Jean Paul, wie er es sich seit langem vorgenommen, über Leipzig nach Berlin. In den letzten Tagen des Mai traf er in der preußischen Hauptstadt ein und stieg bei Kommerzienrat Matzdorff, seinem alten Verleger, der auch den »Titan« wieder zum Verlag erhalten hat, ab. Ein neuer Kulturkreis umfing ihn. »Berlin warf mir ein oder ein paar Universa an den Kopf.« »Das edle Brandenburger Tor mit seinen Säulen und seinem Triumphwagen öffnet groß die Kolossenreihe der Paläste. Nur die Einwohner, sogar die Einwohnerinnen sind einfach gekleidet. In keiner deutschen Stadt ist die Achtung für das Gesetz, worin alle Freiheit besteht, sogar beim König, größer als 533 hier.« Mit diesen wenigen Worten ist der Geist der preußischen Hauptstadt am besten gekennzeichnet. Es war noch immer das Berlin Friedrichs des Großen, das Berlin der Aufklärung, das er betrat. In dem erst kurze Zeit zu Preußen gehörenden Fürstentum Baireuth hatte sich der Preußengeist noch nicht durchsetzen können. In Weimar war keine Spur von ihm vorhanden. In Berlin aber fand er alles auf diese preußische Sachlichkeit und prunklose Tüchtigkeit gestellt. Dabei eine Reihe hervorragender Köpfe. Im Theater führte Iffland ihm zu Ehren den Wallenstein auf, mit der Unzelmann, Fleck und sich selbst in der Titelrolle. In der von Fasch begründeten Singakademie wohnte er einem Konzert bei. Matzdorff versammelte seinem Gaste zu Ehren »ein Pack Gelehrter«, darunter den wie ein Fossil der Vorzeit in die Gegenwart ragenden »langweiligen« Nicolai, das Haupt der alten Berliner Aufklärung. Besondere Freude bereitete ihm das Zusammentreffen mit dem alten Freunde Ahlefeldt, der noch immer als Regierungsassessor in Berlin wohnte. Die gelehrte Welt nahm ihn mit offenen Armen auf. Der Dichter aber versparte sich die gelehrten Köpfe für seinen bald geplanten längeren Aufenthalt auf. Berlin bot des Interessanten so viel, daß er beschloß, den nächsten Winter dort zuzubringen. Besondere Bedeutung maß er aber seinem Verkehr mit dem Hofe bei. Gehörte doch die von den Berlinern schwärmerisch verehrte Königin Luise zu den vier »Klugen und schönen Schwestern auf dem Thron«, denen der »Titan« gewidmet war. Unmittelbar nach seiner Ankunft übersandte er der Königin den soeben erschienenen ersten Band des Romans. Am folgenden Tage bereits wurde er nach Sanssouci eingeladen. »Ich habe das große Sanssouci und die schöne Königin gesehen und bei ihr gegessen. Warum hat sie zwei Throne, da ihr zum Herrschen an dem Throne 534 der Schönheit genug sein konnte?« schreibt er an Otto, und in einem späteren Briefe: »Ich sprach und aß in Sanssouci mit der gekrönten Aphrodite, deren Sprache und Umgang ebenso reizend ist als ihre edle Musengestalt. Sie stieg mit mir überall auf der heiligen Stätte herum, wo der Geist des Erbauers sich und Europa beherrscht hatte. Geheiligt und gerührt stand ich in diesem Tempel des aufgeflogenen Adlers.« Auch bei dem Minister von Alvensleben war er mehrfach zu Tisch gebeten. Einmal blieb er hier länger als es vorgesehen war, und kam auf diese Weise zu spät zu einem ihm zu Ehren von dem Konsistorialrat Zöllner veranstalteten Essen in dem Splittgerberschen Garten. Die Gäste hatten mit dem Essen bereits begonnen. Nur an der unteren Tafel war zufällig ein Platz freigeblieben. Hierher setzte er sich aufs Geratewohl und geriet durch diesen Zufall neben seine spätere Gattin, Karoline Mayer, die Tochter eines in Berliner Juristen und Gelehrtenkreisen hochgeachteten Obertribunalrats. »Zöllner lud 40 Menschen in der Yorksloge zusammen meinetwegen – Viel Haare erbeutete ich (eine ganze Uhrkette von drei Schwestern Haaren) und viele gab mein eigener Scheitel her, so daß ich eben so wohl von dem leben wollte – wenn ich's verhandelte – was auf meiner Hirnschale wächset als was unter ihr.« Die drei Schwestern, die ihm diese sinnige Kette schenkten, waren eben die Töchter Mayers.

Als sich Jean Paul neben Karoline setzte, ahnte er nicht, welchen glühenden Wunsch er dem jungen Mädchen erfüllte, die ihn bereits heimlich liebte. Auch sie hatte bereits schwere Erlebnisse hinter sich. Die Ehe ihrer Eltern war unglücklich gewesen. Bei der Scheidung war die seltsame Vereinbarung getroffen worden, daß die vier Töchter abwechselnd eine Woche bei der Mutter, einer geborenen von Germershausen, und eine bei dem Vater verbringen sollten. Die eigentliche 535 Erziehungsgewalt lag in den Händen des Vaters, der den Mädchen eine fast männliche gelehrte Erziehung geben ließ. Durch das eigentümliche Verhältnis der Eltern waren die Kinder über ihre Jahre hinaus gereift. Minna, die älteste, war mit dem in Dessau lebenden Hofrat Karl Spazier, dem Begründer und Herausgeber der vielgenannten Zeitschrift »Die elegante Welt«, verheiratet. Ernestine, die zweite Schwester, verlobte sich während Jean Pauls Berliner Aufenthalt mit dem in Leipzig wohnenden Dichter August Mahlmann. Karolines erste Liebe hatte einer dem Hause gegenüberwohnenden Schauspielerin gegolten, der sie den ganzen Enthusiasmus ihrer vierzehn Jahre geschenkt hatte. Das strenge Gebot des Vaters hatte diesem Verkehr aus irgendeinem Grunde ein Ende gesetzt. »Zum ersten Mal«, schrieb Karoline in ihrem ersten Brief an Jean Paul, »hatte ich hier Glück und Schmerz gekostet . . . alles war lau, war kalt; unbefriedigt und ermüdet verschloß ich mich in mich selbst.« Dann hatte sie einem jungen Menschen ihre Liebe geschenkt, der sich mit einer andern verheiratete. Sie rettete sich in die Liebe zu der Erkorenen des Geliebten. In stumpfer Resignation hatte sie sich dann mit einem Vetter verlobt. »Ein guter, einfacher Mensch glaubt sein Glück in der Vereinigung mit mir zu finden«, schrieb sie in dem erwähnten ersten Brief an Jean Paul. In dieser Zeit machten die Bücher Jean Pauls auf sie einen umstürzenden Eindruck. Mit demütiger Liebe, die ihr das ganze Leben hindurch geblieben ist, neigte sie sich vor seinem Geist, der alles Edle und Große in ihr weckte. Als Jean Paul sie nach dem Festmahl in der Yorksloge bei ihrem Vater besuchte, küßte sie ihm die Hand und gleich darauf schrieb sie ihm: »Ich möchte Sie anbeten, vor Ihnen knieen, wie man vor Gott sich beugt.«

Diese Liebe teilte Karoline aber mit vielen Mädchen und 536 Frauen, die in den Bannkreis Jean Pauls gerieten, und auch eine so hingebende und sich selbst aufopfernde Liebe, wie sie Karoline Mayer ihm entgegenbrachte, war für ihn nichts Ungewöhnliches. Sie war ihm zunächst nur eine Verehrerin unter vielen, sehr vielen andern, und nichts spricht dafür, daß er sie besonders beachtet hat. Im Gegenteil, andere Erlebnisse nahmen ihn völlig gefangen. In Frau Bernard, geb. Gad, fand er eine alte Bekannte aus Franzensbad wieder, wo er mit Emilie von Berlepsch während des Todes seiner Mutter geweilt hatte. Ein kurzer Briefwechsel hatte sich damals mit der klugen und geistvollen Jüdin angesponnen. Auch jetzt ließ ihn ihr Zauber nicht ganz unberührt. »Im Tiergarten bei Bernard blieb ich eine Nacht und rauchte meine Pfeife und ging rein von dannen, und Gott sei Dank, aber nicht mir.« Hier scheint er zum erstenmal mit der körperlichen Liebe gespielt zu haben, die ihm bis dahin immer noch fremd geblieben war. Kurz vorher hatte er an Otto über das weibliche Geschlecht einige Sätze geschrieben, die zu seinen bisherigen Anschauungen im Widerspruch stehen. »In der höchsten Liebe sind die besten Mädchen wie die guten. Anders: jetzt weiß ich's gewiß: aus Liebe sind sie alle, alle sinnlich, und es kommt nur auf die Schlechtigkeit, gehaltene Stufenfolge und das besonnene Feuer des Mannes an, jede, die ihn heftig liebt, zum letzten Punkt zu führen, weil diesen die Natur mit ebenso vielem Recht begehrt wie den Kuß, und weil der Punkt nicht an und für sich, sondern nur unter Bedingungen (wie Essen und Trinken und Küssen) unmoralisch ist, indes die Lüge usw. es unter jeder ist . . . Liebe aus Sinnlichkeit hat die Bessere nicht, aber wohl Sinnlichkeit aus Liebe . . . Diese Kenntnis muß ich Dir sagen, macht einen eigentlich nicht sonderlich moralisch bei diesem Geschlecht, weil man dabei auf keine Subsidien zu rechnen hat als auf 537 seine eigne. – Ich habe entscheidende Erfahrungen, und bin bloß über die Art verlegen, wie ich öffentlich die Mädgen hierüber warnen soll.« Eine ungeheuer bezeichnende Briefstelle für Jean Paul, der sich auch bei seiner neuen Erkenntnis sogleich als Prophet und Retter der weiblichen Reinheit und zu ihrem Schutz verpflichtet fühlte.

Die Bernard, geborene Gad, war nicht die einzige, die seiner eigenen Männlichkeit nachstellte. In dieser Zeit lernte er eine der reizendsten Frauengestalten jener an berückenden Frauen nicht gerade armen Zeit kennen. Es war die junge Helmine von Klencke, damals mit einem Baron von Hastfer verheiratet und in Scheidung liegend, später mit dem bekannten Orientalisten von Chézy verheiratet. Als Helmina von Chézy ist sie später auch literarisch, hauptsächlich als Verfasserin des von Carl Maria von Weber komponierten Operntextes »Euryanthe«, bekannt geworden. Überdies war Helmine eine Enkelin der bekannten Anna Karschin, der »märkischen Sappho«, wie sie scherzweise genannt wurde. Helmine war eine der ältesten Verehrerinnen Jean Pauls, obwohl sie an Jahren die jüngste war. Sie stand erst im siebzehnten Lebensjahre, als sie mit dem Dichter persönlich bekannt wurde. Schon mit vierzehn Jahren, also wenige Jahre nach Erscheinen, hatte sie die »Unsichtbare Loge« gelesen und den entscheidenden Eindruck ihres Lebens von dem Buche empfangen. Nach der Lektüre des »Hesperus« hatte sie an Jean Paul einen Brief geschrieben, in dem sie ihn den ethisch-religiösen Erlöser des Romans nannte. Es muß auffallen, wie dieses junge Mädchen Jean Paul bereits mit den wertenden Augen Herders betrachtete. Die Zeit, heißt es in ihrem Briefe, hätte vor lauter Anbetung der Form und lauter Sinnlichkeit die Empfänglichkeit für das geistig Schöne verloren, er aber weise in seinen Werken als Magnetnadel 538 und Polarstern zu Gott. Dieser Brief war durch Ahlefeldt vermittelt worden. Jean Paul hatte zwar nicht geantwortet, wünschte nun aber die Schreiberin kennenzulernen. »Wir waren alle beseligt«, schreibt Helmine. »Jean Pauls Erscheinung hatte nichts Auffallendes; seine einfache Kleidung paßte zu seinem Gesicht und seinem Wesen. Auf seiner Stirn thronte Licht, auf seinen Lippen Anmut und Milde. Seine hellblauen Lippen [Augen?] leuchteten in sanfter Glut. Vielleicht würde seine Erscheinung einem Unkundigen nichts von seinem Genius verraten haben. Ernst, Anstand, viel natürliche Anmut blickten daraus hervor, durch ihre Anspruchslosigkeit selbst war sie gewinnend.« In diesem zauberhaften Wesen, mit dem er befreundet blieb, sah Jean Paul lange Zeit seine Liane.

Auch die berühmte Rahel lernte er gleich bei seinem ersten Berliner Aufenthalt kennen, und obwohl sie ihn nach seinen Schriften ursprünglich nicht leiden konnte, erlag auch sie dem Zauber seiner Persönlichkeit. »Seine Stirn ist von Gedanken wie von Kugeln durchschossen«, schreibt sie. Aber die Frauen umspielten ihn in ganzen Scharen. Auf der Insel Pichelswerder gab es ein großes Fest. »Ich wurde angebetet von den Mädgen, die ich früher angebetet hätte. Himmel! welche Einfachheit, Offenheit, Bildung und Schönheit! Auf der herrlichen Insel Pichelswerder (2½ Meilen von Berlin) fand ich so viele schöne Freundinnen auf einmal, daß es einen ärgerte, weil jeder Anteil den andern aufhob.« In diesem Durcheinander von Gestalten nahte sich ihm die letzte jener Titaniden, mit der ihn ein Verhältnis voll geistiger Erotik verknüpfen sollte. Die Gräfin Henriette von Schlabrendorf, eine Freundin der Rahel, war es, die seine letzte Junggesellenzeit verschönte. Auch bei ihr ließ es Jean Paul nicht zum physischen Genuß der Liebe kommen. Er mochte wohl 539 fühlen, daß er, sobald er einmal nachgab, einem schrankenlosen Libertinismus in der Liebe verfallen würde. Aber mit der Gräfin kam es doch zu schwülen Situationen, wie sie Jean Paul noch nicht erlebt hatte. Sie begleitete ihn mehrmals nach Gotha. »Wir sind jetzt bei dem Hände-Anfassen mit eingemischtem leichten Drücken«, berichtet er an Otto. Aber einige Tage darauf wird es hitziger. Sie sitzen auf dem Sofa nebeneinander und legen »in Sekunden Wochen« zurück. Er spielt mit ihrem Brillantkollier, sie öffnet die ihren Busen verhüllenden Spitzen. »Ihr Globulus hatte die Farbe und die Weichheit der Wolken-Flocken.« Sie drückt den Wunsch aus, an ihm zu schlafen. »Ich hatte in meinem schlafenden Kopfe fast das ganze schlagende Herz droben.« »Denke Dir mich unter dem Bilde eines Hasens, den der Jäger in immer näheren Kreisen umschleicht.« An eine eheliche Verbindung mit Henriette denkt er nicht, wohl aber bringen ihn die schwülen Situationen auf andere Gedanken: »Das Schicksal wird mich doch nicht in Goethes Pferdefuß-Stapfen jagen wollen, oft überleg' ich's freilich, aber es ist nicht daran zu denken; sogar in einer solchen Un-Ehe sänn ich wieder auf Ehe.«

»Es ist freilich komisch zu denken, daß meine Treppe zum Ehebette (nach Dir) unendlich=lang sein soll. Ich sorg' indes, in Berlin spring' ich hinein; aber es muß bloß ein sanftes Mädgen darin liegen, das mir etwas kochen kann und das mit mir weint und lacht. Mehr begehr' ich gar nicht.« Und an Gleim schrieb er das gleiche: »Mein Herz will die häusliche Stille meiner Eltern, die nur die Ehe gibt. Es will keine Heroine – denn ich bin kein Heros – sondern nur ein liebendes sorgendes Mädchen; denn ich kenne jetzt die Dornen an jenen Pracht- und Fackeldisteln, die man genialische Weiber nennt.« Wie das Ende eines Lebensabschnittes klingt 540 dieses Wort: »Denn ich bin kein Heros.« Aus der Welt der Heroen und Titaniden, in die er sich seit den ersten Studentenjahren hineingesehnt hatte, sehnt er sich jetzt wieder hinaus. Der erste Band des »Titan« ist erschienen. Jetzt noch eine stille Stelle, wo er das Werk zu Ende bringen kann, dann wird er wieder in die Welt seiner Kindheit und zu seiner Jugendlandschaft zurückkehren. Immer deutlicher neigt sich sein Weg diesem Ziele zu.

Neben allen diesen neuen Eindrücken ging der Verkehr mit Josephine von Sydow, die ihn eigentlich nach Berlin gezogen hatte, weiter. Von allen seinen Freundinnen war sie die uneigennützigste. »Meine Sydow hat meine verehrte Achtung mitgenommen«, schrieb er gleich in den ersten Berliner Tagen über die Freundin. »Welches Weib! Südliche Naivetät (bis zum Komischen), südliches Feuer, Festigkeit, Weichheit und ein treues, deutsches Auge.« Caroline von Feuchtersleben hatte wohl angenommen, daß Josephine an ihre Stelle treten würde, aber auch hier zog sich Jean Paul im gegebenen Augenblick zurück. Es war ihm um das Hineintauchen in die Titanenwelt zu tun, nicht um das Beharren in ihr.

Auf der Rückreise von Berlin besuchte er in Dessau Spaziers, also die älteste der Mayerschen Schwestern. Carl Spazier stand im Begriff nach Leipzig überzusiedeln, um dort seine »Elegante Welt« zu begründen und zu leiten. Jean Paul schloß mit Spazier, von dem er damals noch nicht glaubte, daß er bald zu ihm in verwandtschaftliche Beziehungen treten würde, eine herzliche Freundschaft, die leider der schon nach einigen Jahren erfolgte Tod Spaziers abbrach.

Noch einer persönlichen Berührung sei erwähnt. Durch Minnas Heirat und Weggang aus Berlin war der Kreis der Mayerschen Schwestern zerrissen worden. An Minnas Stelle trat gerade zur Zeit der Anwesenheit Jean Pauls 541 eine andere Minna, die Tochter des von Glogau nach Berlin versetzten Obertribunalrats Dörffer. Sie war die Braut und Cousine des jungen Ernst Theodor Willhelm Hoffmann, der im Frühjahr 1800 sein Assessorexamen bestanden hatte und kurz vor dem Auftreten Jean Pauls in Berlin nach Posen in sein neues Amt gereist war. Wiederum wie einige Jahre vorher in Dresden gingen die beiden innerlich zueinander gehörenden Dichter dicht aneinander vorüber. Von Posen aus entlobte sich Hoffmann bekanntlich mit seiner Cousine, und in dem Freundeskreis der Mayerschen Mädchen wurde sein Name fortan nur mit Abscheu genannt. In diesem seltsamen Zusammentreffen lag der eigentliche Grund, weshalb es zwischen Jean Paul und Hoffmann nicht zu einer herzlichen Freundschaft gekommen ist, zu der eigentlich alle Vorbedingungen gegeben waren.

Weimar war ihm verhaßt geworden. Herders empfingen ihn nicht mit der alten Wärme. Das Ereignis von Ilmenau spielte immer noch in seine Weimarer Beziehungen hinein. Noch immer konnte sich Caroline nicht mit ihrem Verlust abfinden. Die Gräfin Schlabrendorf war nur wie ein Nachklang einer Periode, die er sehnlichst zu überwinden wünschte. Dieser Drang, sich aus den Gefahren erotischer Verstrickungen herauszuziehen, kommt in einer kleinen Arbeit zum Durchbruch, die er vielleicht bereits in Berlin entworfen hatte, jedenfalls in der Zwischenzeit in Weimar nun ausführte. Es war »Das heimliche Klaglied jetziger Männer«. An einem Einzelfall zeigt er auf, wie ein einziger Fehltritt das Lebensglück einer ganzen Familie zerstören kann. Der Gang der Handlung ist der, daß ein Konsistorialrat Perefixe eine Liebesnacht mit der durchreisenden Ninette gefeiert hat. Perefixe heiratet seine Braut Josephine, Ninette den Berggeschworenen Traupel. Ninettes Tochter, die entzückende zarte Cara, 542 ist also das Kind des Konsistorialrats, der in seiner Ehe einen braven und tüchtigen Sohn Wolfgang zeugt. Ninette versucht ihre Tochter Cara zu ihrem leichtsinnigen Ebenbilde heranzuziehen, aber unberührt geht das junge Mädchen durch alle Gefahren hindurch, bis es der Konsistorialrat endlich durchsetzt, daß Cara als Pflegetochter in sein Haus kommt. Wolfgang, ihr Bruder, den sie für ihren bloßen Pflegebruder hält, kommt aus dem Kriege nach Hause. Die beiden jungen Menschen verlieben sich ineinander. Perefixe muß seiner Gattin seinen lange zurückliegenden Fehltritt mit Ninette offenbaren und den Sohn mit in das Geheimnis hineinziehen. Die beiden Liebenden werden durch ihre verwandtschaftliche Blutverknüpfung grausam getrennt.

Der kleinen Geschichte, obwohl auch sie viel von dem Zauber Jean Paulscher Poesie enthält und in ihrer Menschengestaltung meisterhaft ist, fehlt doch die psychologische Vertiefung. Wenn Cara von ihrem brüderlichen Verhältnis zu Wolfgang erführe, würde sicher ihre Liebe zur reinen brüderlichen sich gewandelt haben und ein schmerzhafter Schnitt wäre nicht nötig gewesen. Man merkt dem kleinen Werk an, daß Jean Paul sich zu einer moralisierenden Tendenz zwang. Der »Anti-Titan« ragt in diese kleine Arbeit zerstörend hinein. Die glück- und menschentumfressende Sinnengier der Zeit, wie sie dem Dichter nicht nur in Weimar, sondern jetzt auch in Berlin entgegengetreten war, wollte er treffen, aber er überspannte das Einmalige eines solchen seltsamen Zusammentreffens zu einem allgemeinen Klaglied.

Auch das Gelegenheitsmäßige des »Heimlichen Klaglieds der jetzigen Männer« zeigt, daß Jean Paul sich in Weimar nicht mehr zu Hause fühlte. Wahrscheinlich meint er mit der Kleinstadt »Krähwinkel«, in der er die Geschichte spielen läßt, keinen andern Ort als Weimar selber. Kotzebue hat später 543 diese außerordentlich glückliche Bezeichnung für eine kleine Stadt mit vielen skandalösen Aufregungen, deutlich auf Weimar zielend, von Jean Paul übernommen. Schon mit diesem Namen kehrte Jean Paul der Stadt den Rücken zu. Anfang Oktober siedelte er nach Berlin über, wo er bei Ahlefeldt in der Friedrichstraße abstieg. Sofort ergriff ihn wieder das Großstadtleben, so daß er erst nach Wochen dem Freunde in Hof von seinem Leben Nachricht geben konnte. Diesmal trat er auch zu den Gelehrtenkreisen der Residenz in Beziehungen. Und hier war es vornehmlich die Berliner Romantik, die ihn fesselte. Friedrich Schlegel bahnte ihm hier die Beziehungen. Tieck und sein Schwager Bernhardi nahmen ihn freundschaftlich auf. Zu Buri, dem großen Maler, war er schon in Weimar in enge Beziehungen getreten. Buri hatte ihn dort, wie Goethen, gemalt. Auch der Maler Genelli zog ihn an, und ebenso waren es Schleiermacher und Fichte, an denen er in Berlin nicht gut vorbei konnte, obwohl er zu diesen erst spät ein inneres Verhältnis gewann. Seinem Zusammentreffen mit Fichte, den er eben erst in seiner »Clavis Fichtiana« so hart angegriffen hatte, sahen die Berliner Gelehrtenkreise mit besonderer Spannung entgegen. Er traf den Philosophen, den er bereits in Jena flüchtig kennengelernt hatte, spät in der Nacht auf einer Gesellschaft. Im Augenblick waren die beiden Antipoden in eine stundenlange Unterhaltung verstrickt, die damit endete, daß Fichte seinen bisherigen Widersacher zu besuchen versprach. Auch im weiteren Verlauf ihrer Bekanntschaft blieben Jean Pauls Gefühle dem großen Philosophen gegenüber ein Gemisch von Abneigung und Bewunderung. Er findet Fichte »einseitig bis zur Magerkeit des Sinns«, spricht aber von seiner »Granit-Stirn und Nase, so knochig und felsern, wie die wenigen Gesichter, die alles ändern, nur nicht sich«. »Gleichwohl bleibt sein Gesicht herrlich 544 und, wie das Rückenmark, eine Fortsetzung oder Ankündigung des Gehirns.« Unter seinen neuen Bekannten fehlten natürlich auch nicht der »berühmte Herz und dessen große gelehrte Frau«. Die berühmte Henriette aber machte auf ihn, obwohl er viel in ihrem Hause verkehrte, keinen sonderlichen Eindruck, und in einem Brief an Jacobi stellt er sie tief unter Charlotte von Kalb.

In Berlin prallte die junge Romantik noch mit der alten Aufklärung zusammen. Noch immer saß Nicolai mit seiner Allgemeinen deutschen Bibliothek in Berlin, als schon der Sturm und Drang über die Lande gebraust war, als die ersten Romantiker sich bereits von Goethe lösten. Der Rationalismus war das Schicksal des jungen Königreiches Preußen gewesen. Dieses östliche deutsche Kolonialland, das erst durch harte Arbeit dem deutschen Kulturkreis gewonnen war, war ja in seiner Art eine Schöpfung dieser Ratio selber. Die Bevölkerung war hier künstlich und durch Willensakt angesiedelt worden. Rationalismus war die naturgemäße Weltanschauung dieses Landstrichs, der kein Blühen und Wachsen von der Tiefe heraus kannte. Erst allmählich hatte ein künstlich hierher verpflanztes Volkstum in diesem kargen Boden Wurzeln geschlagen und wuchs nun auch seinerseits in das deutsche Bildungsleben hinein. Herder war die erste Stimme gewesen, die aus dem Osten laut die schlafengegangenen Mächte und Kräfte des deutschen Mittelalters aufrief. Er lebte das Schicksal der jungen Romantiker im voraus, die in ihrem Drang nach dem Westen plötzlich auf die Zeugen und Reste des herrlichen deutschen Mittelalters stießen und hier die Heimat ihres Geistes witterten. Überwindung des Rationalismus wurde jetzt zum Feldgeschrei der jungen Generation, und selbst Kant und Fichte, die von dem mittleren und südlichen Deutschland aus noch als letzte und grandioseste 545 Ausläufer dieses Rationalismus erscheinen mochten, wirkten hier, in ihrer Heimat, gerade umgekehrt als Überwindung dieser Aufklärung. Darin liegt auch der tiefere Grund, weshalb es jetzt und gerade in Berlin für Jean Paul möglich wurde, zu Fichte in ein neues Verhältnis zu kommen. Tiefer als die Romantiker freilich im allgemeinen sah er die rationalistische Einstellung des Kritizismus, aber er mußte auch erkennen, daß er mit Fichte, das heißt der äußersten Zuspitzung des kantischen Denkens, ein gut Stück Weges gemeinsam gehen konnte. Er schwenkte sichtbar in die romantische Front ein, so sehr, daß eine spätere literaturgeschichtliche Betrachtungsweise ihn geradezu als zur romantischen Schule gehörig ansehen konnte.

Und in der Tat war ja der »Titan« wirklich ein romantischer Roman. Zwar bekämpfte er die überwiegend ästhetische Einstellung auch der Romantik, aber in Jean Paul lebte ja selber ein Zug zu dieser titanischen Lebensauffassung. Er wollte einen »Anti-Titan« schreiben, aber er hatte sich doch seit Jahren unter Titanen bewegt und mit Titaniden Schicksale gehabt. Er wollte von vornherein allen diesen seinen Erlebnissen ein negatives Vorzeichen geben, aber diese Erlebnisse selbst waren dennoch tatsächlich vorhanden gewesen und nicht aus seinem Leben wegzudenken. Wenn im »Titan« die »Einkräftigkeit« Roquairols, wie er es nennt, zur äußersten Spitze und ad absurdum getrieben wurde, so war auch bei ihm diese »Einkräftigkeit« vorhanden, ja im gewissen Sinne hat er sie niemals ganz überwinden können.

So klingen seit seiner Berührung mit der Berliner Romantik auch in seinen Schriften mehr und mehr romantische Töne an. Er lernte, die Aufklärung, in der die Wurzeln seiner Bildung ruhten, mit den Augen der jungen Romantiker sehen, und seine Satire galt jetzt nicht mehr Fichte und den 546 übrigen Kantianern, sondern Nicolai und dem Rationalismus. Auch von hierher flossen Gedankenströme in den »Titan« hinein, an dessen zweitem Band er arbeitete. Ganz deutlich trat die neue Einstellung aber an einer Arbeit hervor, die sich in dem Berliner Winter aus den Titanplänen ablöste und Eigendasein gewann: in »Des Luftschiffers Gianozzo Seebuch«.

Schon im »Kampanertal« hatte sich Jean Paul am Schluß der Gespräche in einer Montgolfiere über die Erdfläche in kühnem Fluge erhoben. Es berührt eigentümlich, wie er schon dort in kurzen Hinweisen alles vorwegnahm, was auch in unserer die Luft beherrschenden Zeit über die Seligkeit des Fluges je geschrieben worden ist. Als er den herrlich-phantastischen Schluß des »Kampanertals« schrieb, mag ihm der Gedanke gekommen sein, diese Flugseligkeit in größeren Partien darzustellen. Aber er beschränkte sich nicht auf die Darstellung eines für damalige Zeiten imaginären Fliegens. Er ergriff zugleich den faustischen Zug einer titanischen Zeit in seiner letzten und äußersten Zuspitzung. Erst in Berlin konnte er die dazu nötigen Eindrücke gewinnen, erst dort erhielt er Fühlung mit dem wogenden Rhythmus einer aufblühenden Großstadt, die von allen Seiten her Abenteurerexistenzen in sich einschlang. Einen starken Hang zum phantastischen Umfassen der Welt in ihren äußersten Polen hatte er immer in sich verspürt. Wir entsinnen uns, was er über Habermanns große Tour in seinen »Teufelspapieren« schrieb: »So ein Vergnügen, womit ich Habermanns Reise machte, indem ich das rechte Bein am arktischen Pole und das linke am antarktischen hatte, gibt's schwerlich mehr.« In den »Palingenesieen« hatte er dann Habermann mit Leibgeber-Schoppe zu einer Person zusammengezogen, und wenn er jetzt in seinem »ungestümen, durchreißenden« Gianozzo den 547 Abenteurertypus, der auch in ihm lebendig war, gestalten wollte, so lag es nahe, daß er wiederum Leibgebern eine neue Gestalt lieh, eben die des kühnen Luftseglers. Manches spricht dafür, daß er Leibgeber im »Titan« sich von Zeit zu Zeit in die Lüfte schwingen lassen wollte, um von der riesigen Luftperspektive aus auf das kleine Menschengewimmel unten herniederzuschauen. Ein Einfall, der so recht in die Titanendichtung und zu dem fliegenden Wesen des immer wieder sich jedem Zufassen entziehenden Leibgebers gepaßt haben würde. Aber er mochte wohl fürchten, die Dichtung allzusehr zu überladen, und so arbeitete er den Gianozzo gesondert aus, um ihn als Ganzes dem satirischen Anhang zum »Titan« einzuverleiben.

Als eigene Aufzeichnungen des kühnen Luftfahrers gibt sich dieses »Seebuch«. Die Vorrede gibt die geistige Haltung des Ganzen an: »Der ungestüme, durchreißende Gianozzo, satt seines prosaischen Jahrhunderts ohne Theokratie und eines Lebens ins Deutsche übersetzt – so recht erbittert von der allgemeinen freundlichen Auswechslung gegenseitiger Lüge und Tücke – recht feind dem schwankenden Halblob aller Parteien und dem schlaffen Bündnisknüpfen . . . – anbetend jede derbe Kraft und die Hände ausstreckend nach dem Äther der Freiheit – dieser Mensch, den die Sättigung an der tiefen Kerker- und Gassenluft aufgejagt in die Bergluft . . .«; dieser Mensch vereinigt allerdings in sich den ganzen Trotz eines Titanen gegen ein erschlafftes Zeitalter. Mit seiner Gondel hängt er freizügig in der Luft, an keine Schranke gebunden, überall hineinfahrend unter diese »statistischen kleinstädtischen Achtzehnjahrhunderter ohne Geister und Religion«. Hier sind zum erstenmal Töne der jungen romantischen Bewegung angeschlagen. »Zeitalter ohne Theokratie und ohne Religion« – das ist wie von Novalis oder 548 dem jungen Friedrich Schlegel gesagt. In vierzehn »Fahrten« schildert Gianozzo dem Freunde Graul – »dieser Name ist viel besser als dein letzter, Leibgeber« – seine Abenteuer. Diese Abenteuer selbst könnten nun allerdings wieder den Satiren der »Teufelspapiere« entnommen sein, wenn die Richtung der Satire sich nicht inzwischen in der angedeuteten Weise verändert hätte. Sie ist gegen die preußische Aufklärung hingewendet. »Himmel!« schreibt er von den Bewohnern der guten Stadt Mülanz, »es waren aufgeklärte Achtzehnjahrhunderter – sie standen ganz für Friedrich II., für die gemäßigte Freiheit und gute Erholungslektüre und einen gemäßigten Deismus – und eine gemäßigte Philosophie – sie erklärten sich sehr gegen Geistererscheinungen, Schwärmerei und Extreme – sie lasen ihren Dichter sehr gern als ein Stilistikum zum Vorteil der Geschäfte und zur Abspannung vom Soliden – . . . sie hatten die große Sphinx, die uns das Rätsel des Lebens aufgibt, totgemacht und führten den ausgestopften Balg bei sich und mußten es für ein Wunder halten, daß ein anderer eines annimmt.« Das ist alles dem Ausdrucksschatz der Romantik entnommen oder nimmt ihn vielmehr vorweg. Denn in dieser Klarheit war die Einstellung der Romantiker zu der Zeit damals noch nie gefaßt worden. Erst von jetzt ab wird diese Sprache zum notwendigen Requisit der romantischen Satire, sich bis zu E. T. A. Hoffmann steigernd.

Aber in diesen satirischen Ausfällen liegt nicht der Schwerpunkt der Arbeit. Es ist das grandiose Naturgefühl, das in die Luftperspektive emporgerissen wird, die Überschau der Erdrindenerscheinung Leben von der Höhe eines wahrhaft titanischen Daseins aus, das diese Nebenarbeit zum Dichtwerk erhebt. Kaum ist etwas Großartigeres geschrieben worden als die Beschreibung einer solchen Fahrt. 549 »Viertehalbtausend Fuß tief rannte die weite Erde – ich glaubte festzuschweben – unter mir dahin, und ihr breiter Teller lief mir entgegen, worauf sich Berge und Holzungen und Klöster, Marktschiffe und Türme und künstliche Ruinen und wahre von Römern und Raubadel, Straßen, Jägerhäuser, Pulvertürme, Rathäuser, Gebeinhäuser so wild und eng durcheinander herwarfen, daß ein vernünftiger Mann oben denken mußte, das seien nur umhergerollte Baumaterialien, die man erst zu einem schönen Park auseinanderziehe.« Und dann die Schilderung des überflogenen Lebens: Überall und zu gleicher Zeit spielen »Theater mit aufgezogenen Vorhängen«. Hier wird einer Landes verwiesen, dort desertiert einer, hier wird in brennendfarbigen Wiesen gemähet, dort knien Weiber am Wege vor Kapellen. Ein Schieferdecker besteigt den Stadtturm, ein Pfarrsohn guckt aus dem Schalloch; ein lachender trabender Wahnsinniger muß eingefangen werden. Tausend solche Bilder des Lebens gleiten vorüber. Oben aber schweigt alles und ist groß und tot und droht fast. »Gott weiß, welcher gewaltige böse oder gute Geist hier in dieser stillen Höhe dem Treiben grimmig-grinsend oder weinend-lächelnd zusieht und die Tatzen ausstreckt oder die Arme, und ich frage eben nichts nach ihm . . .« Hier ist Steigerung des Lebens, nicht aus findiger Technikergeschicklichkeit, sondern aus titanischem Drang, der sich über die Erde schwingt.

Von grausiger Wucht eine Begegnung auf der Höhe des Brockens: Eine weiße flatternde Erscheinung springt den Berg hinauf. Die Augen sind geschlossen, das Haar schwarz, die Augenbrauen borstig, die Nase gebogen groß, die Arme haarig, die Bärenbrust unbedeckt und der ganze Nachtwandler – im Hemde. Die Erscheinung faßt das Hemd mit beiden Händen an und beginnt zu tanzen. Endlich rennt sie, die 550 Arme emporgehoben, davon. Es ist Freund Graul oder Leibgeber, der auf dem verhexten Berg, aus dem Brockenwirtshaus nachts kommend, dieses schauerliche Menuett tanzt. Und in der gleichen grausigen Wildheit das Ende Gianozzos: Sein Luftschiff gerät in ein Gewitter. Über dem Rheinfall von Schaffhausen wird es vor den Augen Leibgebers vom Blitz zerrissen.

Es gibt keinen Eindruck vom Flugzeug herab, der in Jean Pauls Schilderungen nicht schon vorweggenommen wäre. Der Blick von oben her in eine tobende Schlacht und Gianozzos Eingreifen in den Kampf mit rasenden Steinwürfen – oder wie er hoch über einer Festung schwebt, in sie von oben hineinsehend und sie bedrohend – das sind Lufterlebnisse, mit einer Eindringlichkeit dargestellt, die kein Tagebuch eines Kampffliegers aus dem Weltkriege überbieten kann. Natürlich spielen auch Gestalten seiner Romane wieder in die Handlung hinein. In der romantischen Felsenlandschaft begegnet ihm Theresa, die auf den Geliebten wartet, den er von seiner Höhe auf weißem Roß durch die Berge schon heransprengen sieht. Das ist wie Linda, die Titanide aus dem »Titan«. Oder er senkt sich in dem Garten von Lilar nieder, sieht Dian, der sich im Flötental abkühlt. Er überfliegt die Baireuther Fantaisie und das Seifersdorfer Tal, alle geliebten Gegenden mit seinem Blick umspannend. Wirkliches Flugerlebnis ist in der Dichtung.

Der Geist, der so mit Räumen zu spielen verstand, mußte auch die großen Gliederungen der Zeit zu überschauen versuchen. Es war kaum anders möglich, als daß der Umschwung des Jahrhunderts stärksten Eindruck auf Jean Paul machte. Wir kennen die Aufzeichnung Schillers aus der Neujahrsnacht 1800, in der er das kommende Jahrhundert prophetisch zu durchdringen versuchte. Auch er wittert einen 551 völligen Umschwung der Zeit und ein drohendes Näherkommen feindlicher Gewalten. Jean Paul verbrachte die Neujahrsnacht in Tiefurt bei der Herzogin Amalie, und zur Feier des kommenden Jahrhunderts wurde ein Drama von Kotzebue von Liebhabern auf der Tiefurter Bühne gespielt. (Sehr zum Ärger Goethes und Schillers!) Auch dieser Neujahrsnacht hatte Jean Paul eine kleine Gelegenheitsarbeit gewidmet: die »Huldigungspredigt vor und unter dem Regierungsantritt der Sonne, gehalten am Neujahr 1800 vom Frühprediger dahier«. Aber nicht in dieser belanglosen Gelegenheitsarbeit konnten seine Gedanken zur Jahrhundertwende sich erschöpfen. Erst im Laufe des nächsten Jahres schrieb er die kleine Dichtung nieder, die Schillers prophetischen Aufzeichnungen an die Seite zu setzen ist: »Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht«.

Wieder versetzt er sich in seinen Gedanken nach dem erträumten Gütchen Mittelspitz und denkt Hermine an seine Seite: seine erträumte Gattin, wie er sie uns in den »Palingenesieen« vorführte. Hermine ist ausgegangen, und er bleibt, von Migräne und Übermüdung geplagt, allein in seinem Arbeitszimmer, und nun erscheinen ihm die wunderbaren Gestalten, die zu ihm von dem kommenden Jahrhundert sprechen. Ein langer, bleicher, in einen schwarzen Mantel gehüllter Jüngling, ein Mädchen, der Liane aus dem »Titan« ähnlich, und, auf dem Kanapee Platz nehmend, eine unheimliche Schwedenmaske mit einem Sprachrohr in der Hand. Noch andere Gestalten, die sich im Hintergrund verlieren oder nur zeitweilig sichtbar werden. »Mein Name ist Pfeifenberger«, fängt der Schwedenkopf an, der in erster Linie das Gespräch führt. Es sind seltsame Voraussagen des Kommenden, die in dieser Traumdichtung Wort werden. Die Völker und die Weiber und die Neger und die Liebe werden frei 552 werden, prophezeit Pfeifenberger. Sprachgelehrte werden in allen Bibliotheken nach einer Edda und nach einer Bibel forschen, und ein künftiger Schiller wird das Neue Testament lesen, um sich in die Charaktere eines Christen und Theisten täuschend zu setzen und dann beide auf das Theater. Seltsame Streiflichter werden über die kommenden Jahrhunderte geworfen. Gespenstische Worte glimmen auf, verblüffend durch Treffsicherheit, abirrend ins Phantastische. Alle Völker der Erde, die Russen wie die Kamtschadalen, werden in den Kulturkreis hineinwachsen und eigene Literaturen hervorbringen. Wie ein Alpdruck gleitet das Gespräch fort. Am großartigsten ist die Vision des Letzten Menschen, der auf einem Berg unter dem Äquator das Ende der Erde erwartet. Eine Uhr mit sieben umeinander wirbelnden Zeigern führt der Jüngling als Zeitmesser bei sich. Diese Uhr vermittelt den unheimlichen Eindruck, den das Fliegen der Zeit in der stillen nächtlichen Stube macht. »In die hinter fünf, sechs Jahrtausenden liegende Vergangenheit zurückzuschauen, gibt uns mutige Jugendgefühle . . .; hingegen vorauszublicken weit über unsern letzten Tag hinweg, und unzählige Jahrtausende herziehn zu sehen, die unsern bemooseten Spiel- und Begräbnisplatz immer höher überschneien und aufs neue Städte und Gärten und auf diese wieder neuere und so ungemessen fort aufschichten, dieses ewige immer tiefere Eingraben und Verbauen verfinstert und belastet uns das freie Herz.« Und diese Stimmung eines vagen Blicks in die kommenden Jahrtausende, dieses Belastetwerden von immer neuen Kulturen und neuen Schichten, die sich über uns ansammeln, ist hier getroffen und reißt uns in ihre Abgründigkeit und Endlosigkeit hinein.

Endlich verschwinden die Gestalten. Das neue Jahrhundert holt zum Schlage aus. Elf Schläge durchzittern die Luft, nur 553 der zwölfte Schlag bleibt aus. In diesem jähen Abreißen des Schlagens, diesem plötzlichen Stillestehen der Zeit vor dem dunkel drohenden neuen Jahrhundert, ist eine so unheimlich grausige Stimmung eingefangen, daß alles dahinter zurückbleibt, was E. T. A. Hoffmann je an Spukhaftem gedichtet hat. Sanft wird das Grausige aufgelöst. Hermine, die Gattin, kommt nach Hause, und siehe, es ist erst elf Uhr. Nun erst weicht der Spuk völlig aus dem Raum.

Die »wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht« wurde wie der Gianozzo bereits in Berlin, in der Wohnung Ahlefeldts, geschrieben. Die kleine Dichtung ist eine der erschütterndsten Gaben Jean Pauls. Inzwischen war der Dichter in ein neues Stadium seines Lebens eingetreten. Er hatte sich mit Karoline Mayer verlobt.

In seiner Konjekturalbiographie hatte Jean Paul prophezeit: »Meine Schwiegereltern sind gewiß die Leute nicht, die mich hindern, am dritten Pfingsttage mit Ring und Kranz vor den Altar zu dringen.« Eine Brautzeit von mehreren Monaten hatte der Dichter sich immer vorbehalten, um diese köstliche Zeit nach Herzen auszukosten. Was ihn zu dem endgültigen Schritte bewogen hatte, ist nicht zu ermitteln. Noch wenige Wochen vor der Verlobung führt er die »drei herrlichen Töchter des Geheimrats Mayer« nur unter einer Menge anderer Bekannten an. Zudem wußte er, daß Karoline noch immer mit ihrem Vetter verlobt war. Diese Verlobung gab endlich den Ausschlag. Karoline schüttete zuerst ihrem Vater ihr Herz aus, der ihren Entschluß, die Verlobung mit dem ihr gleichgültigen Mann zu lösen, segnete. Darauf fragte sie Jean Paul selber, ob sie ihrer Pflicht oder ihrem Gewissen folgen solle. Dieser schrieb ihr am 30. Oktober: »So unparteiisch und kalt, als hätte ich Sie nie gesehen, will ich Ihnen die Antwort meines Gewissens geben. Sie ist: Sie 554 dürfen sich trennen, und Ihr Herr Vater hat Recht.« Etwa zehn Tage später bewarb sich Jean Paul schriftlich bei ihrem Vater um ihre Hand. Umgehend erhielt er die Einwilligung.

Schon die nächsten Wochen zeigten der Braut, daß ihre Ehe nicht dornenlos sein würde. Nach seiner Art ließ sich Jean Paul durch seine Verlobung nicht abhalten, seinen umfangreichen Verkehr mit den verschiedensten Frauen und Mädchen fortzusetzen. Die Hofkreise luden ihn auch weiter ohne seine Braut zu Gast, und er folgte diesen Einladungen. Von der Königin Luise kam den Liebenden übrigens der erste Hausrat: ein silbernes Tee- und Kaffeeservice. Karoline wird unter den ersten kleinen Vernachlässigungen ihres Bräutigams schweigend gelitten haben. Sie lernte es allmählich, sich in das gewöhnliche Schicksal der Frau eines berühmten Mannes zu finden. Wie die Verlobung auf Jean Paul selber wirkte, davon geben seine Arbeiten während dieser Zeit die beste Auskunft. Seit dem ersten Aufenthalt in Weimar war seine Produktion reißend bergab gegangen. Ein neuer Schwung beseelte jetzt den »Gianozzo« und die »wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht«. Die »Wanderjahre« liefen ihrem Ende zu. Jean Paul drängte dem heimatlichen Boden entgegen. Was er in der »Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein« versprochen hatte, als er sich mit dem Geist von Weimar auseinandersetzte, das konnte er jetzt Tat werden lassen. Über vier Jahre hatte er sich bei den Titanen aufgehalten. Noch war das meiste des Kardinalromans, der die Ernte dieser Zeit enthalten sollte, zu Papier zu bringen. Dann erst konnte die Entscheidung über die endgültige Künstlerphysiognomie Jean Pauls fallen.

Wie schon bei seiner Verlobung mit Caroline von Feuchtersleben beschlich ihn auch jetzt die Sorge um die Zukunft. Sein Ruhm hatte den Zenith erklommen, aber wohl mochte 555 er sich die Frage vorlegen, ob seine Beliebtheit bei der Lesewelt anhalten würde. Schon damals hatte Gleim ihm geraten, sich um eine Präbende bei dem Berliner Hof zu bewerben. Jetzt glaubte Jean Paul es an der Zeit, eine solche Bewerbung einzureichen. In der Eingabe an den König fand sich folgender Satz: »Da mir mein Ziel, den gesunkenen Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit wieder zu erheben, und die in dieser egoistischen revolutionären Zeit erkaltete Menschenliebe zu erwärmen, da mir dieses Ziel lieber sein muß als jeder andre Lohn und Zweck: so opferte ich dem höheren Ziel jedes andere, Zeit und Gesundheit, auf und zog gern die längere Anstrengung dem reicheren Gewinste vor.« Fast scheint es so, als wenn Jean Paul wirklich zeitweilig diesem Streben nachging. Erzählungen wie »Das heimliche Klaglied jetziger Männer« scheinen völlig im Dienst dieser Tendenz zu stehen. Aber wie konnte seine reiche Künstlerpersönlichkeit auf diese moralistische Formel gebracht werden! Mit Absicht hatte er sich wohl, dem bigotten Preußenkönig zuliebe, zweideutig ausgedrückt. Wohl kündete sein Dichten von Gott, Menschenliebe und Unsterblichkeit, aber der reaktionäre Ton, der in den Worten seines Gesuches liegt, paßte unmöglich zu seinem Schaffen. Noch waren ja die revolutionären Partien seines »Hesperus« in aller Gedächtnis, und niemand, der ihn überhaupt mit einiger Aufmerksamkeit las, konnte an den Satiren vorbei, die sich in erster Linie – wenn auch nicht so sehr bei seinen letzten Arbeiten – gegen die Territorialdynastien richteten und die Qualen des deutschen Volkes unter der Willkürherrschaft seiner Despoten an die Wand warfen. Aber man muß in Jean Pauls Worten doch mehr als eine bloße Zweideutigkeit sehen. Sie enthalten in Wirklichkeit das Programm, das sich ein Jahrzehnt später die Romantik zu eigen machte und das sich zu 556 dem Geist der Heiligen Allianz auswuchs. Was ursprünglich die lodernde Flamme begeisterten Menschentums war, das schlug später jedes freie Menschentum in Bande. Die Verbindung von Gott und Unsterblichkeit mit dem preußischen Staatsgedanken wirkte sich in unheilvoller Weise aus, und gerade die Romantiker wie die Brüder Schlegel oder Zacharias Werner waren es, die durch diese Ideenverbindung das lebendige Volksbewußtsein unterhöhlten. Jean Pauls Gesuch an den König ist ein eigentümlich frühzeitiger Beweis für die reaktionäre Richtung, die in der Romantik unsichtbar verborgen war. Jean Paul hatte diesen Gegensatz zu seinem eigenen Denken ganz richtig erkannt, und nur sein näherer Verkehr mit Novalis, Schlegel und Fichte und der persönliche Glanz, der von den jungen Romantikern ausging, hatte ihn das Trennende übersehen lassen. In seinem Gesuch begegnete er sich, wenn auch nur im Wort, mit den Gedankengängen eines Friedrich Wilhelm III. und eines Metternich. Ein großzügiger Staatsmann hätte die Gelegenheit ergriffen, seiner Regierung einen der beliebtesten und größten Namen des damaligen Deutschland zu verbinden. Friedrich Wilhelm III. besaß diesen Blick nicht. Zu vieles in Jean Pauls Werken mochte ihn stören. Ein Kotzebue war ihm bald darauf willkommen. Das Gesuch eines Jean Paul lehnte er mit ein paar höflichen und nichts versprechenden Worten ab. Die Königin war gegen diese Entscheidung ihres Gemahls offenbar machtlos.

Auf Jean Pauls Freundinnen wirkte seine Verlobung verschieden. Die Gräfin Schlabrendorf, die allen Ernstes ihre Heirat mit dem Dichter geplant hatte, erkrankte bei der Nachricht. Vorübergehend tröstete sie sich durch eine Verlobung mit Ahlefeldt, die indessen bald aufgehoben wurde. Herzliche Freundschaftsbezeugungen kamen von Julie von Krüdener, 557 die sich gerade in Berlin aufhielt und den Verkehr mit Jean Paul sofort aufnahm. Am tiefsten war Caroline von Feuchtersleben getroffen. Als Jean Paul sie später nach der Hochzeit anfragte, ob sie nicht mit ihm und seiner Frau zusammenkommen wollte, schrieb Caroline an ihre glücklichere Rivalin die ergreifenden Worte: »Haben Sie Mut genug, eine Unglückliche zu sehen, so kommen Sie.« Josephine von Sydow trat langsam aus Jean Pauls Gesichtskreis. Emilie von Berlepsch verheiratete sich fast gleichzeitig mit einem Domänenrat und mehrfachen Rittergutsbesitzer. Helmine von Klencke, die spätere Chézy, hatte sich keine Hoffnungen auf Jean Paul gemacht. Ihre Scheidung mit dem Baron Hastfer wurde in jener Zeit gerade ausgesprochen. Sie freute sich der wiedergewonnenen Freiheit und wünschte dem jungen Paar aus vollem Herzen Glück.

Jean Paul hatte von Anfang an nicht die Absicht, sich in Berlin für längere Zeit niederzulassen. »Hätte Berlin Berge und bitteres Bier, so trät ich nicht aus seinen magischen Kreisen.« So aber verließ er mit seiner jungen Frau unmittelbar nach der Hochzeit am 27. Mai 1801 die Stadt. Die Reise ging über Dessau zunächst nach Weimar, wo das Paar Jean Pauls alte Junggesellenwohnung bei der Frau Kühnholdt auf dem Marktplatz bezog. »Gott sei gelobt, nun bin ich zufrieden!« rief Herder aus, als er Karoline erblickte. »Ja, Sie sind es, was er haben muß!« Die Herderin schrieb an Gleim: »Er ist ein Liebling der Vorsehung; sie hat ihm die Hälfte seines Herzens, das Weib, das ganz für ihn geboren scheint, zugeführt. Sie ist gesund an Leib und Seele, ist munter, häuslich, liebenswürdig und ohne alle Schminke.« Herders waren durch diese Heirat wieder vollkommen ausgesöhnt. Auch die Herzogin Amalie empfing das Paar. Dort lernte Karoline auch den alten ehrwürdigen Wieland kennen. 558 Wieland äußert sich folgendermaßen: »Sie hat ohne schön zu sein, eine seelvolle ansprechende aber anspruchslose Physiognomie, eine niedliche Figur, scheint eine ganz unverdorbne Blume, und man wird ihr auf den ersten Anblick gut. Herder und seine Frau haben sie wie ihr eignes Kind liebgewonnen und ebendasselbe ist auch mir begegnet.« Am 16. Juni ging die Reise weiter über Gotha, wo bei Schlichtegrolls Aufenthalt genommen wurde, nach dem neuen Wohnsitz Meiningen. Im Hause der Geheimrätin Zink in der Unteren Marktgasse wurde Wohnung genommen. In einigen Tagen schon arbeitete Jean Paul an dem »Titan« weiter. 559

 


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