Hans von Hammerstein
Wald
Hans von Hammerstein

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Eines Sonntags nach dem Kirchgang schlenderte ich in die Felder hinaus. Es war ein reiner, blauer Tag schon gegen die Neige des goldenen Sommers, und in der warmen Sonnenluft, die über die Stoppeln zog, atmete schon ein ahnender Hauch herbstlicher Frische mit. Ich kam an den Saum des Föhrengehölzes und zur Stelle, wo mir das erste große Glück von Marthas Lippen geworden. Ich ließ mich wie damals auf den kleinen Wall nieder, der den am Feldrand gezogenen Graben überhöht; doch leider war Martha nicht neben mir, nur mein braunweißer Setter, der sich auf Befehl auch setzte und aufmerksam ins Land hinaus schnopperte. Wie damals blühten die Immortellen im duftenden Kraut des Thymians, im ausgedörrten Moos und Heidegras, wie damals schwirrten und schnarrten die buntgeflügelten Heuschrecken, und feines Fliegengesumme stand in der Luft. Ich versank tief in Träumerei, und auf einmal sah 286 ich sie den Feldweg leicht heranschreiten, Martha, die erträumte, in ländlicher Festtracht wie damals und das Gebetbüchlein mit dem gefalteten Taschentuch in der Hand. Sie lächelte. Was war der ganze Sonntagshimmel gegen dieses glückliche und beglückende Lächeln! Die dunklen Blicke strahlten reiner und sonniger als der feierliche Tag, in den Wangengrübchen, den schmal ausgezogenen Lippen lag eine Güte, die alles umfing und alles verzieh. Ja, sie breitete die Arme mir entgegen, sie, die ganze, die plötzlich in süßester Gestalt einherwandelnde Heimat, um mich, den sündigen Wanderer, ans tiefe, goldene Herz zu ziehen, ich . . . tunkte vornüber und erwachte, denn ich war eingenickt. Und mein aufjauchzendes, mein ungeheueres Glücksgefühl stand in der Leere.

Nein, nicht in der Leere. Denn es war die waldweite, goldumflossene Heimat, die mich umfing. Aber ihre in dem geliebten Mädchen greifbare Verkörperung war weg, war Traum gewesen.

Dennoch, der Hund spähte stirnrunzelnd und leis knurrend den Feldweg hinab, und da kam auch wer, eine andere Gestaltung der Heimat, hoch in hagerer Wildheit, der alte Tauchen. Sein struppiger Hirschmann, in rasender Empörung bellend, schoß auf uns zu, als gälte es, 287 uns vom kleinen Wall herunterzurammen, daß wir uns überkugelnd im Graben wälzen sollten, aber, wie der Zorn meistens sanfter tut als schimpft, wenige Schritte vor uns wurde abgestoppt, und mein Setter verstellte schon sich hochstelzend in Breitseite den Weg und schielte in verachtungsvoller Tapferkeit auf den wutbebenden kleinen Angreifer herab. Stirnfaltig, Haare und Schwänze gesträubt, Vorderpfoten gehoben, knurrend und zähnezeigend starrten sie einander in die grimmen Augen, umkreisten sich, des Anfalls gewärtig und bis zum Äußersten entschlossen. Dann, noch immer knurrend, ja vor Erregung schnarchend, erfolgte die gegenseitige Vorstellung, an dem nahen Grenzstein wurden die hundeüblichen Visitkarten gewechselt, berochen und – heftig mit den Hinterbeinen scharrend – Streusand drüber! Das feindselige Geknurr sänftigte sich zu einem kurzen Gejaul, einem selbstbewußten Bellen, jetzt noch ein mißtrauisches Beschnuppern, ein vorsichtiges Wedeln, der junge Setter nahm auffordernde Spielpose, bald jagte man einander kreisum, daß es stob, und fangste mich, haste mich, war man im wahrsten Sinne des Wortes frère et cochon, was alsbald zu Mißverständnis und neuen Zerwürfnissen führte. 288

So sind nicht die Hunde – nein, die Menschen. Und sie sollen sich nicht einbilden, daß sie um vieles besser sind und edler als die Vierfüßler, weil sie reden und sich zivilisiert verstellen können.

Die Besitzer aber hatten abmahnend in den Hader eingegriffen, und auf meine Einladung nahm der Tauchen mit einem »'tschuldigen schon!« an meiner Seite Platz. Allein auch er schien heute auf Grimm eingestellt. Heftig aus der kurzen Pfeife paffend, zeigte er sich wortkarg und für jagdliche Dinge auffallend uninteressiert. Als ich jedoch auf die forstlichen Fragen überging, riß ich damit unversehens einen Damm von Hemmungen ein, und eine offenbar schon lang aufgestaute Flut des Unmuts brach los. So grimm und wild hatte ich den Alten noch nie gesehen. Sein fort wiederholtes »'tschuldigen schon« galt nur mehr der Eröffnung wütender Angriffe auf Projektemacherei und unsolide Wirtschaftsführung, also vor allem auf Onkel Artur, in ehrerbietiger Nichtnennung jedoch auch auf den Vater und in schonungsloser Unverhülltheit auf den Waldmüller – »Gott verzeih mir's – das Rabenvieh.« Und das mache er nicht mehr mit, nein, das mache er nicht mehr mit, wie der schöne Wald hergenommen werde, 289 und den Fischwald, ich solle nur sehen, den Fischwald habe der Lump und Maulwurf schon ganz untergraben und demnächst werde er fallen. Aber dann, beim heiligen Florian, werde in drei Teufels Namen was geschehen – werde was geschehen –, so wahr er Gottlieb heiße! Paff, paff, paff . . . Die Pfeife gab nur mehr bläulich ersterbende Wölkchen und rasselte wie eine verschleimte Greisenlunge, doch grimmen Geierblicks fuhr der Alte fort: Ob ich das riesige Sägewerk gesehen habe, das der Müller bei Martinsberg baue und wo unser Holz hinein solle? Nun erinnerte ich mich erst, in dem seichten Tal, das einen empfängt, wenn man von der Höll' heraufkommt, und dessen sanft umhegte Stille ich so liebte, bei meiner Ankunft neue Gebäude bemerkt zu haben. Doch es war schon so dämmerig gewesen, daß ich Einzelheiten kaum mehr hatte unterscheiden können. Das also war der Moloch, dem der Fischwald vorgeworfen werden sollte! Ich klopfte dem Tauchen auf die Schulter und sagte, ich sei schließlich auch noch da und würde schon nach dem Rechten sehen. Worauf er, nachdem er Feuer geschlagen hatte, den glimmenden Schwamm im Pfeifenkopf ansaugend und mit dem Zeigefinger nachdrückend, erwiderte, da solle 290 ich einmal in der Landtafel nachschauen, was für eine Hypothek schon auf dem Gut liege und – ein bräunlicher Spucker zischte im Bogen aus seinem Mundwinkel davon – wer als Gläubiger eingetragen sei. Er selbst – Tauchen – könne ja die Landtafel nicht einsehen, weil sie sich in Wien befinde und das Grundbuch beim Bezirksgericht nichts zeige, da es Herrschaftsbesitz nicht enthalte. Wieder zorniges paff, paff, und wir sahen, während die Hunde unbeachtet im Spiel über die Stoppeln hetzten, schweigend nebeneinander ins Land hinaus. Und die Kleine, die Martha . . ., begann er unvermittelt und sog langsamer an seinem Nikotinsumpf, ohne mich anzublicken. Nun, was mit der Martha sei? – dehnte ich, um mein Ohrenspitzen zu verbergen, möglichst unaufmerksam hin. Na, rauchte er mit Wasserdämpfen, man höre so allerlei. Um sein breites Nasenbein zogen sich Falten auf, in denen etwas Hämisches lag, das anfing, mich heftig zu beunruhigen. Also, was man höre? fragte ich, kaum mehr imstande, meine Spannung zu unterdrücken. Na halt, der Müller, der aus allem was herauszuschlagen verstehe, wolle gewiß auch mit dem Mädel Geld verdienen; denn hübsch sei sie ja, das müsse ihr der Neid lassen, und vom Vater hätte sie's ja nicht. – Wieso . . . 291 verdienen? Nun, man höre, zum Theater wolle er sie schicken. Und Verehrer habe sie, versteht sich, schon einen Haufen. Und die Tante, bei der sie lebe, eine Stiefschwester des Müllers, genieße nicht den besten Ruf. Und so weiter, und am Ende, hoffe der Rabenvater, werde er mit ihr doch einen reichen Burschen als Schwiegersohn einfangen. – Das war nun alles offenkundiger Tratsch, wahllos zusammengehört, wie Mißgunst und dörfische Sensationslust ihn ohne jede Folgerichtigkeit um irgendeinen kleinen und vermutlich harmlosen Kern der Wahrheit herumtuschelten, und begreiflicher, zum Teil berechtigter Haß gab ihn hier schadenfroh weiter. Ich ärgerte mich gewaltig und mußte mich hüten, es zu zeigen, versetzte aber doch mit einigem Unwillen, der Pfarrer spreche ganz anders und recht beifällig von dem Mädchen. Ach, der Pfarrer! war die Antwort, der solle auch lieber zusehen, wer ihm den Kohl und die Gurken stehle und ob der Mesner seine rote Nase von dem Wein habe, den er sich selber kaufe. Und wenn ein Frauenzimmer ein Kreuzel umhängen habe und recht niederträchtig – mit welchem Ausdruck die Mundart »bescheiden« oder »untertänig« sagen will – knickse und »Küß d' Hand, Hochwürden!« sage, glaube er auch schon, 292 das sei eine Fromme, während sie in Wirklichkeit alle paar Wochen einen anderen Burschen zum Fenster hereinlasse. Nach einer Pause fragte ich den moralischen Pessimisten, woher denn die Martha ihre Hübschheit habe, wenn nicht vom Vater, der, objektiv betrachtet, ein ganz ansehnlicher Mann, nur jetzt schon recht verfettet war. Ha, nicht weit her! lautete, während die Pfeife ausgeklopft und ihres braunen Sudes entleert wurde, die Auskunft. Ihre Mutter sei noch schöner gewesen – das beleidigte mich! –, die Tochter eines kaiserlichen Försters, und niemals hätte sie dieser Lump und Windhund, übrigens selbst ein Försterssohn, aber ein mißratener und vom Haus verjagter, niemals hätte er die erschlichen, wenn er es nicht überhaupt verstünde, wie ein Fuchs um den Hühnerstall zu schnüren und sich dann doch einmal nächtens einen Schlupf unten herzuscharren. Na, das arme Weib sei bestraft genug worden und habe die Schande auch nicht überlebt. Frage: wie der kaiserliche Förster geheißen habe? Antwort: der Name sei ihm entfallen, das ganze Waldviertel sitze voller kaiserlicher Förster, da das Fideikommiß des Herrscherhauses Zehntausende Joch an Waldbesitz hier umfasse. Das stimmte allerdings, aber ich saß mit meinen 293 Familienforschungen wieder einmal auf dem Sande.

Die Sonne stand fast im Mittag. Ich erhob mich, der Alte begleitete mich noch ein Stück Weges, dann trennten wir uns, jeder seinem Hund pfeifend, die ungleiche, aber innige Freundschaft geschlossen und vermutlich schon ein kleines Privatjagen heimlich miteinander verabredet hatten.

Das waren verdammte Flöhe, die mir der verwetterte Waldgeist ins Ohr gesetzt hatte. Sie störten mir arg im Gemüte herum, während ich weiterging. So gefährlich sollte es mit dem Fischwald, vielleicht schon mit dem ganzen Besitz stehen? Und die Martha? Etwas war doch hängengeblieben von der Schmutzlauge des Geschwätzes, das nun durch den Tauchen mit oder ohne Absicht an mich weitergeleitet worden. Alles trieb auf einmal zur Eile, zur Entscheidung. Ich hatte mir vorgenommen, erst nach Vollendung der Studien, die mir ein gewisses Recht und mehr Sicherheit im Auftreten geben sollte, vom Vater Aufschluß über den Stand der Dinge zu verlangen. Aus der Mutter war nichts Rechtes herauszukriegen oder sie wurde selbst im unklaren gelassen. Also kein Zeitverlust mehr und frisch an die Arbeit! Auf Ostern 294 konnte ich fertig sein, und so lange würde doch hoffentlich das erschütterte Gebäude noch halten. Und die Martha? Es mußte volle Klarheit geschaffen werden, wie es um sie und wie sie zu mir stand. Aber wie sie erreichen? Es war mir nicht mehr gelungen, als zu erfahren, daß die zweifelhafte Tante in einer Villenvorstadt wohne, wo sonst wohlhabende und ordentliche Leute hausten, und dabei mochte es sich günstig treffen, daß mein dermaliges Stadtquartier nicht weit davon im Nachbarbezirk war.

Früher, als es in meinem Plan gelegen, machte ich diesmal den Ferien ein Ende. Vor dem Abschied drang die gute Mutter noch einmal in mich mit der Mahnung, mir die Mimi nicht gar zu lang mehr nur anzuschauen, weil sonst ein geschickterer Fischer das wirklich sehr hübsche und vermögende Mädchen mir vor der Nase wegschnappen könnte. Die Verwandtschaft sei ja nicht so nah, daß sie ein Hindernis bilde, und ein bißchen verwandt sei übrigens gar keines, sondern nur eine Gewähr dafür, daß man sich um so besser verstehen werde.

Und abermals viel und mit großer Sorge gesegnet fuhr ich dem milderen Unterland und der dumpf in der Ferne brauenden und brandenden Stadt entgegen. Vor dem romantischen 295 Höllenschlund aber in meiner geliebten Talmulde stand wahrhaftig vollendet und die friedliche Eingeschränktheit des schönen Platzes greulich verunstaltend das neue Sägewerk und reckte einen häßlichen dünnen Kamin aus schwarzem Eisenblech hoch zu den Wipfeln empor. Ich ballte die Faust in der Tasche. So hatten Onkel Arturs berühmte Zivilisation und industrieller Fortschritt sich also gleich einem fressenden Pilz schon am Rande unseres arkadischen Hochlands festgesetzt! Und dennoch: forstlich, wirtschaftlich gedacht, eine sehr vorteilhafte Neuerung. Selbst die Bahn, wenn sie käme . . .

Saß und fraß auch mir schon der giftige Pilz am Rande der Seele? Ach, daß die wirtschaftlichen Gedanken für das Schöne immer das Zerstörende sein müssen!

Das Vorstadtqartier, wohin ich im Frühsommer geflüchtet war, besaß alle Eignung, mir das städtische Leben erträglicher zu gestalten. Es bestand aus einigen altmodisch und recht behaglich eingerichteten Zimmern zu ebener Erde in einem altmodischen, darum mir sympathischen Hause, das einem ungarischen Herrn gehörte, der mit seiner Familie nur im Winter für etliche Wochen die übrigen Räume des einstöckigen Gebäudes bewohnte. Ich war also für die meiste 296 Zeit Alleinherrscher und wurde vom alten Portier und seiner Frau bedient. Ein vernünftiger Freund, der mit dem Besitzer verwandt war und Verständnis für meine Bedürfnisse zeigte, hatte mir dieses Asyl verschafft, dessen ruhige Lage in einer verkehrslosen Gasse sogar noch durch ein hofseitiges Gärtchen vor meinen Fenstern wenigstens den Schein der Ländlichkeit erhielt. Vom Bett aus sah ich, wenn ich erwachte, das gilbende Laub eines Platanenwipfels und dahinter ein Stück Himmel. So entbehrte ich nicht ganz seines Anblicks und des Spiels der Wolken und Winde, die mir nun einmal notwendig sind, um recht leben zu können.

Ein einziges Einrichtungsstück brachte ich mit: das Bild aus Venedig. Ich hing es über den Schreibtisch an den Platz eines Herrscherporträts, das ich vom Diener entfernen ließ. Und das Rokokodämchen im goldgepreßten Lederrahmen stand darunter zwischen Photographien der Eltern und des heimatlichen Hauses.

Sogleich wurde, wenn auch mit einiger Überwindung, das Studium wieder aufgenommen, das ein junger angehender Rechtsanwalt, übrigens ein offener Kopf und angenehmer Gesellschafter, leitete. An den Rasttagen, die wir uns gönnten, machten wir miteinander Ausflüge in 297 den Wiener Wald und fanden uns in geistigen Interessen, die uns beiden im Grunde näher lagen als die dürren Paragraphen. Die täglichen Stunden der Erholung aber verbrachte ich vorerst in Bemühungen, Martha auf die Spur zu kommen. Das Haus der Tante war mit Hilfe des Adreßbuches bald festgestellt. Es war ein Gebäude in schlechtem, mit Zieraten überladenem Villenstil hinter einem Gärtchen, das ein hohes Eisengitter von der Straße abschloß. Das Haus schien zur Gänze von den Eigentümern bewohnt. Die Fensterpromenaden auf dem gegenüberliegenden Trottoir, die ich gelegentlich in der Dämmerung unternahm, und die Lauerposten, die ich in der Umgebung wie ein erfahrener Geheimpolizist bezog, erbrachten jedoch zunächst gar nichts, so daß ich schon der Annahme zuneigte, die Besitzerin weile vielleicht noch irgendwo auf dem Lande und Martha etwa gar noch in Frankreich. Doch eines Abends in einer der belebtesten Straßen der Innenstadt kam sie mir in Begleitung einer dicklichen, pompös gekleideten Dame entgegen. Hatte sie mich schon eräugt oder nicht, sie zog plötzlich die Begleiterin seitab zu einem Schauladen und vertiefte sich mit ihr in die Betrachtung dort ausgestellter Modesachen. Doch die 298 Auslage hatte innen Spiegel, in die ich, sehr langsam vorbeischreitend, spähte. Trotzdem gelang es mir nicht, ihren Blick aufzufangen, der irgendwelchen Gegenständen im Vordergrund der Auslage wohl absichtsvoll zugewandt blieb, aber ich hatte doch die Möglichkeit, festzustellen, daß ich mich nicht täuschte, obwohl Martha sonderbar genug gekleidet war. Denn wie um ihre Erscheinung von der städtischen Welt abzuschließen, trug sie ein Gewand von geradezu klösterlicher Schlichtheit, das, schwarz von Farbe, mit einem schmalen weißen Halsstreifchen und einem zugeknöpften Schulterkragen versehen, sie der Oblatin eines Ordens oder doch dem Zögling eines Institutes ähnlich machte. Dazu bedeckte ein steifes englisches Hütchen ihr dunkles Haar. Vergebene Mühe! Solch aszetischer Verschluß war nur geeignet, für den Kennerblick ihre Schönheit um so augenfälliger und reizvoller hervorzuheben. Es war nicht gut möglich, im abendlichen Gedränge nun förmlich vor dem Laden auf und ab zu patrouillieren, aber in zögerndem Weitergehen kehrte ich mich noch einmal und erhaschte richtig ihren mir vorsichtig nachschielenden und blitzschnell wieder abgewandten Blick als Beweis, daß auch ich erkannt war. Unterm Arm trug sie Notenhefte. Das ließ 299 weitere Schlüsse zu. Offenbar besuchte sie die Musikakademie zur Ausbildung. Also mußte sie auf dem Weg von ihrer Wohnung dahin und zurück an gewissen Stunden des Tages zu treffen sein.

Doch bevor ich derlei scharfsinnige Versuche, ihrer habhaft zu werden, fortsetzte, ereignete sich etwas anderes. Tante Amaliens Familie war in die Stadt zurückgekehrt, weil der gesellschaftliche Umtrieb sich allmählich wieder in Bewegung setzte. Und wer war bewegender als sie an diesem Ringelspiel, dessen Figuren und Gesichter zur Begleitung abgeleierter Weisen immer wiederkehren? Mein Aufenthalt war nicht mehr zu verheimlichen, überdies hatte ihn die Mutter aus guten Gründen der Tante längst verraten. So entschloß ich mich, dem Unvermeidlichen zuvorzukommen, und machte eines Nachmittags meinen Besuch. Zuerst fand ich nur Mimi und stellte mit Besorgnis fest, daß sie rein gar nichts mehr lächerlich zu finden schien. Schon im Sommer, eh' ich mich verkrochen hatte, war mir zuzeiten an ihr eine Nachdenksamkeit und ein milder Ernst aufgefallen, der auf eine wunderliche, vielleicht bedenkliche Veränderung ihres Wesens deutete. Nun hatte ich inzwischen selbst nichts gerade 300 Belustigendes erlebt, und es wollte mir daher in keiner Weise gelingen, ihre sonst so leicht lösbare Heiterkeit herauszufordern. Nur das eine oder andere Mal lachte sie kurz und in sonderlicher Härte auf und glich so einem Hündlein, das einen verdorbenen Magen oder sonst einen Gemütskummer hat und alle Scherzversuche mit eilig-formellem Wedeln abtut. Nicht lang, so rauschte die Tante herein und mir ihr ein Schwall abreißender, von einem zum anderen Gegenstand hüpfender, wieder anknüpfender und sich in Nebensachen verlierender Redereien über geselligen Sommer und gesellschaftlichen Winter, über Programme, Projekte, alte und entsetzlich aufregende neue Menschen. Und da geschah etwas in diesem Hause bisher Unerhörtes und von mir nie für möglich Gehaltenes: Mimi, nachdem sie ein paarmal kurz und hart lachend ungeduldig zugehört hatte, fuhr plötzlich aufs höchste gereizt auf und erklärte – schier wie der Tauchen in bezug auf die liederliche Forstwirtschaft –, das mache sie nicht mehr mit, nein und auf gar keinen Fall mehr mit. Sie habe das fade Karussell satt, satt bis über die Ohren die ganzen Menschen, alte und neue, und diesen ganzen verwünschten hohlen, eitlen Betrieb. Und sie wolle Ruh' haben und werde sportshalber in die 301 Schweiz verreisen, sobald die unerträgliche Hatz hier wieder im Gange sei. Die Mutter, gleich mir erst sprachlos vor Bestürzung, schlug dann die Hände zusammen und mit klagenden Beteuerungen los, sie sei doch so bemüht, der Geselligkeit in ihrem Hause und Kreise überhaupt ein Niveau, ein geistiges Niveau, zu geben . . . Weiter kam sie nicht. Mimi, eine kampftolle Walküre, wenn auch nicht der Gestalt nach, raste hart zwischen Lachen und Weinen – und mir wurde es jetzt erst klar, daß ihr Lustigmachen wohl oft nur eine Art der Bekämpfung und Bemäntelung tiefster innerer Unlustgefühle sei –, Mimi tobte sich in wahren Orgien zerfleischenden Spottes über alles aus, was der Mutter hoch und teuer war. Geistiges Niveau? hohnlachte sie. Alles Lack und Holler, weit schlimmer noch, verwerflicher und verworfener als die immerhin aufrichtige, unverstellte Vergnügungssucht, weil geistig aufgeputzter Gesellschaftsbetrieb erst recht nur Maske der Eitelkeit, Gefallsucht und Streberei, und zwar der verwerflichsten, nämlich der geistigen, sei, und wenn gescheite Leute sich was Gescheites zu sagen hätten, brauchten sie keinen geistigen Salon dazu. So fort in allerliebster Wut, ich hätte sie umarmen mögen, und mit gewaltigem 302 Beifall stimmte ich den vortrefflichen Meinungen zu, die ich nie aus diesem lachfrohen Munde erwartet hätte. Die Tante mit einer etwas überraschenden Ergebung bemühte ihren Geist nicht weiter und strich die Flagge. Ja, nach einer gemeinsamen Atempause meinte sie, über uns beide mit dem Lorgnon in sichtlicher Zufriedenheit her und hin musternd, es sei ja schön, daß wir uns auch geistig so verwandt zeigten, und gegen Wintersport in der Schweiz sei unter gewissen Voraussetzungen gar nichts einzuwenden. Natürlich, fuhr Mimi noch einmal los, weil die Mutter annehme, daß man sich auf modische Plätze begeben wolle, wo die Geselligkeit sich bei Tag im Schnee, bei Nacht auf dem Tanzparkett fortsetze. Aber da täusche sie sich: Sie, Mimi, werde die Einsamkeit und daher auch gar nicht die Schweiz, sondern den Winter heimischer Berge an Orten aufsuchen, wo noch keine Schifährte eines Städters zu erspüren sei. Nein, auch gegen solche Orte habe sie wirklich gar nichts – unter gewissen Voraussetzungen –, wiederholte die Tante mit Betonung und sah uns dabei hinter den blinkenden goldgefaßten Gläsern fast triumphierend an. Zu allgemeiner Beschwichtigung wurde Tee gebracht, und ich erklärte, daß ich mich an irgendwelchen wie 303 immer gearteten Veranstaltungen dieser Saison leider nicht beteiligen könne, weil ich ausschließlich dem Studium leben müsse und meine Prüfungstermine schon festgesetzt seien. Die Tante machte Einwürfe, wenigstens zu ihrer demnächst stattfindenden Wohltätigkeitsakademie müsse ich erscheinen, ein geradezu fabelhaftes Programm sei gesichert. Ich verharrte in Abwehr, doch Mimi war es auf einmal, die mir geradezu in den Rücken fiel. Diesmal müsse ich noch kommen, bat sie, ihretwegen, denn es liege noch zu wenig Schnee im Gebirg, sie könne das entsetzliche Fest also nicht schwänzen, brauche mich aber notwendig dabei, um sich mit mir über die zu erwartenden Darbietungen lustig zu machen. Diese Begründung leuchtete ein. Solch kameradschaftlicher Verpflichtung durfte ich mich nicht entziehen und sagte zu, wogegen Mimi versprach, nach dem Fest wieder zu verbreiten, daß ich abgereist und unbekannten Aufenthaltes sei. Zum Wintersport in den Bergen, lachte die Tante mit einer Bedeutung, die unsererseits nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Meine Forschungen nach Martha blieben trotz aller angewandten Jägerlisten erfolglos. Sie schien wie ein kluges Wild, das, durch einen Verdacht gewarnt, sich nun an den Orten, wo 304 man es vermutet, nicht mehr zeigt. Vielleicht spähte sie am Fenster, wenn ich um die Villa strich, und wartete, bis ich abgezogen war, vielleicht ging sie Umwege zur Akademie. Ich mußte auf andere Versuche, sie zu treffen, bedacht sein.

Der festliche Abend kam. Gewohnheitsmäßig verspätet betrat ich den in einen Vortragssaal mit Bühne verwandelten großen Salon in Tante Amaliens Haus. Alle Gäste hatten bereits ihre Plätze eingenommen. Doch Mimi, die nahe der Tür in einer der mittleren Reihen saß, winkte mich an ihre Seite, wo ein Sitz freigehalten war. Der Raum verdunkelte sich bis auf die Bühne, das Rauschen der Stimmen verebbte, und die Rampe bestieg mit vornehm lässiger Bewegung und gelangweilter Miene Rudi als Conférencier. Er trug nun statt des Kneifers ein Einglas und war mit erlesener Eleganz gekleidet.

Ein mächtiges Beifallklatschen erhob sich in den vordersten Sitzreihen. Rudis Dank war ein halb verächtliches Kopfnicken. Er setzte sich an einen bereitgestellten Tisch, schlug die Beine übereinander, stützte den Kopf in die Hand und vertiefte sich vorerst in die Betrachtung der Spitze seines tadellosen Lackschuhes. Das dauerte 305 ziemlich lang. Irgend jemand in meiner Nachbarschaft mußte sich räuspern. Ein Blitz von Rudis Einglas fuhr herüber. Er musterte streng die dunkle Runde und bekam einen leidenden Ausdruck. Sogleich erhob sich vorn ein empörtes Zischen. Rudi seufzte, trommelte mit den Fingern auf dem Tisch, sah zur Decke auf und begann endlich zu reden, aber so leise, daß selbst die in den ersten Reihen die Köpfe vorstrecken mußten, um ihn zu verstehen. Als er dieses nach einer Weile, während er beharrlich zum Himmel gesprochen hatte, wie zufällig zu bemerken geruhte, nahm er eine andere, noch lümmelhaftere Stellung ein und erhob zugleich seine Stimme. Nun verstand ich, daß er eine Art Prolog sprach, eine literarische Einleitung zu den künstlerischen Genüssen, die uns bevorstanden, und über diese selbst. Erst erging er sich im Stil Oskar Wildes in Paradoxen über den Begriff der Wohltätigkeit überhaupt. Manche Bemerkung wurde belacht, nach andern blieb es still, was bei ihm ein gewisses Staunen hervorzurufen schien. Wie seine Rede immer komplizierter und blumenreicher wurde, zog er, scheinbar ganz in Gedanken verloren, die Orchidee, die er im Knopfloch stecken hatte, heraus, zerpflückte sie langsam mit müder 306 Bewegung seiner funkelnd beringten Hand und sagte fast tonlos Dinge dazu, die ungeheuer dunkel waren. Plötzlich warf er dann den abgerupften Blumenstengel von sich, als wolle er sagen: »Davon versteht ihr ja doch nichts«, rückte sich zusammen, nahm die Vortragsordnung zur Hand und ging die einzelnen Nummern durch, zu jeder eine erläuternde Bemerkung fügend. Neben musikalischen Darbietungen modernster, doch bisher unbekannter und, wie aus seinen Worten zu schließen war, gänzlich verkannter Größen, für die die Zeit noch nicht reif war, versprach er uns Gesänge von Tenoren und Bässen, der Hofoper würdig, einen philosophischen Tanz des Fräulein X., den Vortrag von Gedichten des Fräulein O. durch die Verfasserin selber, die Lesung einer Novelle der Hausfrau – allgemeiner Beifall – durch Herrn Professor B., und schließlich – er zog die Augenbrauen empor und ließ sich den Scherben in den Schoß fallen – Liedervorträge einer jungen, vielversprechenden Künstlerin, die er, er selber, sozusagen entdeckt und für die Öffentlichkeit gewonnen habe und deren Erscheinen und Gesang wirken werde wie ein Märchen, das – hier brach er ab, sagte, er wolle nichts weiter verraten, erhob sich und trat beifallumtost mit demselben 307 ablehnenden Kopfnicken in den Zuschauerraum herab, wo er neben der Hausfrau Platz nahm.

Die ersten Nummern des Programms, das ich keines Blickes würdigte, waren musikalische Darbietungen, die ich mit Mimi verplauderte. Beim Vortrag der Gedichte des Fräulein O. durch sie selber flüsterte ich Mimi ins rosige Ohr, ich fände, die Dichterin gleiche als Erscheinung einer geträumten Kuh aus den sieben mageren Jahren der Literatur, womit ich einen Erstickungsanfall hervorrief, der die Haustochter in Lebensgefahr brachte und viel besorgtes Kopfwenden in den Reihen vor uns verursachte. Unsere in gewisse Jahre vorgerückte Sappho ließ sich nicht stören und brachte ein brünstiges Liebesgedicht, dessen Leidenschaftlichkeit sie selbst hinzureißen schien. Voller Mitleid bemerkte ich, daß mich die Aussichtslosigkeit dieses Minnewerbens tief bewege. Auch Mimi war sichtlich erschüttert, sie zerbiß ihr Spitzentaschentuch und helle Tränen preßten sich zwischen ihren zusammengekniffenen goldigen Seidenwimpern hervor.

Auf die Frage aber, ob der poetische Ausbruch dieser Gefühle etwa dem Rudi gelte, den die Künstlerin eben mit Blicken und Versen anschmachtete, prustete die Ärmste los, und mit sprunghafter Ansteckung ging durch die nähere 308 Nachbarschaft ein Kichern, das bald zu lautem Schluchzen, Schnauben und Husten anschwoll. Glücklicherweise lief die Deklamation gerade in den pathetischen Endschrei aus, und ich vermochte die Lage durch ein stürmisches Beifallklatschen, in das die Mitbetroffenen lebhaft einstimmten, zu retten. Die Dichterin wenigstens in ihrer Entgeisterung schien die entstandene Bewegung für Ergriffenheit genommen zu haben, denn sie dankte mit tiefer Verbeugung und süßem Lächeln immer wieder nach allen Seiten. Anders die Lorgnette der Tante, die gleichzeitig mit Rudis Glas Entrüstung blitzend nach hinten fuhr und uns veranlaßte, noch vor Aufflammen der Saalbeleuchtung schleunigst den Ausgang zu gewinnen, denn die Pause begann.

Ich bat Mimi, mir einen Kognak zu verschaffen, und wir zogen uns, nachdem ein Diener das Gewünschte gebracht hatte, vor dem aus den Türen hereinbrechenden Strom der Gäste in einen der Nebenräume zurück. Als uns das Glockenzeichen zum Wiederbeginn der Vorstellung rief, stießen wir auf Rudi, der uns den Weg vertrat und in breitem Stolz mit wichtiger Miene mir verhieß, daß ich jetzt aber was erleben würde, erleben, sagte er! Ich bat Mimi um das Programm, das sie zerknittert in 309 der Hand hielt, aber auch sie fand lachend, ich solle überrascht werden, und schlüpfte in den Saal voraus.

Neugierig gemacht, folgte ich, obwohl ich zuerst vorhatte, mir einen Teil der weiteren Vorträge zu ersparen und die Zeit lieber bei einer Flasche Wein mit einigen Freunden zu verbringen. Nun folgte abermals Musik, dann ein vielbelachter Spaßmacher, ein Tenor mit dem unvermeidlichen Prolog aus »Bajazzo«, Rudi las nachlässig eine Novelle, die keinen ersichtlichen Anfang und keinen merkbaren Ausgang, aber das Niveau hatte, das jene der Hausfrau vermissen ließ, und jetzt – der Vorhang ging zu, der Vorhang ging auf, und an einem Flügel, auf dem ein wildlockiger junger Mann träumerisch präludierte, stand Martha.

Ein Seitenblick aus Mimis Augen traf mich. »Nicht wahr? Ein süßes Geschöpf!« flüsterte sie, meine verzückte Erstarrung wahrnehmend. »Und höre nur, wie sie singt! . . .«

Ja, da stand Martha. Jetzt sah sie flüchtig auf und scheu in den verfinsterten Zuschauerraum hinein. Ihre Blicke schienen noch größer und dunkler.

Sie trug ein dunkles Gesellschaftskleid von vornehmer Einfachheit, das Hals und Arme 310 freigab, und ein paar rote Rosen an der Brust. In ihrer beherrschten Schüchternheit war sie eine Erscheinung von solchem Reiz, daß aller Augen wie gebannt an ihr hafteten und der ganze Saal den Atem anzuhalten schien.

Nun begann sie zu singen. Ein Schumannsches Lied: »Übern Garten durch die Lüfte . . .« Sie hätte mir kein lieberes bringen können und sang es mit lieblicher, nicht sehr kräftiger Stimme, die mählich an Sicherheit gewann und durch Schulung nichts von ihrer Reinheit und Natürlichkeit verloren hatte.

». . . alte Wunder, wieder scheinen mit dem Mondesglanz herein . . .«
—   —   —   —   —   —   —   —   —   —   —   —   —   —  
». . . und die Nachtigallen schlagen: Sie ist deine, sie ist dein!«

Ich atmete tief auf, der Saal erbrauste.

»Ist sie nicht wie eine Nachtigall?« hauchte Mimi.

»Ja, aus Eichendorffs Mondscheingärten«, murmelte ich bewegungslos.

Und sie sang, als wäre es auf mich abgesehen.

»Es war, als hätte der Himmel . . .«

». . . und meine Seele spannte
weit ihre Flügel aus,
flog durch die stillen Lande,
als flöge sie nach Haus . . .« 311

Mimi raste mit dem ganzen Saal. Ich wandte mich ab ins Dunkle.

Und sie sang noch einmal:

»Es zogen zwei muntre Gesellen
zum erstenmal von Haus . . .«

»Der erste, der fand ein Liebchen . . .

dem zweiten sangen und logen
die tausend Stimmen im Grund . . .«

Und jetzt das wundervolle, das unbeschreibliche, das so ganz der Inbegriff deutscher Dichtung und Melodie ist:

»– – und seh ich so kecke Gesellen
die Tränen im Auge mir schwellen,
Gott führ uns liebreich zu Dir . . .«

Die Leute klatschten und tobten. Blumenstürze prasselten auf die Bühne. Martha aber war verschwunden und ließ sich nicht mehr hervorholen. Ich saß wie zu Stein geworden. Und tief in mir sang, wehte und rauschte es zur verklungenen Weise: »Es war, als säh auf einmal der ganze Wald mich an . . .«

Da erhob sich in der vordersten Reihe eine umfangreiche, gleißende und funkelnde Dame und bestieg, von anderen Damen ermuntert und einigen Herren unterstützt, mühsam die Rampe. Rudi mit ihr. Halb verlegen, halb siegesstolz lachend wandte sie sich zurück. Von Schmuck 312 behängt und in hoffärtiger Haltung schillerte sie im hellen Bühnenlicht wie ein Pfau. Sie schritt in die Kulisse, und im Verein mit Rudi und dem Klavierlöwen gelang es ihr, die widerstrebende Martha endlich hervorzuziehen. Blaß und unglücklich stand das arme Kind zwischen den Peinigern, mehr wie eine Verurteilte auf dem Pranger als eine Gefeierte auf den Brettern des Beifalls. Ein Diener stürzte herein mit ungeheuren Blumenkörben, von denen ihr Rudi einen mit tiefer Verbeugung überreichte.

Und als ich die vielen Köpfe da vor mir lärmend der Rampe zuwogen sah und das aufschäumende Geklatsch hörte, stand mir plötzlich das Traumbild vor der Seele, aus dem mich wenige Wochen zuvor am Waldsaum das Herannahen des alten Tauchen aufgeschreckt hatte.

Die Zuhörer waren nicht mehr zu beruhigen. Das Gestampf, Gepolter und Rufen wollte kein Ende nehmen. Wie sehr sie widerstrebte, sie mußte zugeben und sang ein heiteres französisches Volksliedchen. Daß ich nicht auffuhr und schrie! Denn jetzt, mit schelmischem Ausdruck und graziöser Neigung des Köpfchens, glich sie aufs Haar – nur die Tracht fehlte – meinem Rokokodämchen im goldgepreßten Rahmen. Fast erschrocken sah mich meine Nachbarin 313 an. Martha verschwand, und kein Tosen brachte sie mehr hervor. Im allgemeinen Aufbruch drückte ich mich auf den Gang hinaus und bemerkte noch eben, wie am Ende desselben Martha in einer Tür verschwand, die, wie ich wußte, zu einem kleinen Salon führte, der bei solchen Gelegenheiten als Putzraum für mitwirkende Damen diente. Mit einigen weiten Schritten war ich dort, öffnete und trat ein. Erschrocken wandte sie sich um. Ich zog die Tür zu.

»Sie? – wie – kommen Sie – hierher?« stammelte sie blaß und schier wankend vor Erregung.

»Wie mancher andere«, erwiderte ich fröhlich, »und das, ohne zu wissen, daß du hier bist und daß du singst!« Ich ergriff ihre zitternde Hand. Jetzt stieg eine dunkle Röte in ihre Wangen. Sie wollte mir die Hand entziehen, ich hielt sie fest und drückte einen Kuß auf die schmalen Finger.

»Bitte – verlassen Sie mich!«

»Martha! Hast du denn ganz vergessen? . . .«

Sie schwieg.

»Warum fliehst du mich? Warum warst du nie mehr daheim?«

»Sie werden mich dort wohl kaum vermißt haben.« 314

»Darüber wüßte ich anderes zu sagen. Warum hast du mir nie Gelegenheit dazu gegeben? Ist es ganz in dir ausgelöscht, wie es einst zwischen uns war?«

»Ach – eine Kinderfreundschaft . . .«

»So lange, finde ich, ist das nicht her, und was mich angeht, dieses Kind bin ich dir geblieben und will es bleiben.«

Sie hatte ihre Hand aus meiner gelöst und stand, sich aufstützend, mit dem Rücken gegen ein Spiegeltischchen, das Antlitz gesenkt und den Lichtern abgewendet.

»Was für einen Zweck hat es für Sie noch, an mich zu denken?«

»Wenn ich nicht an dich denken dürfte und alles, was wir erlebt haben, müßte ich die Heimat fliehen und meinen, deinen Wald; denn dort ist jeder Schritt und Tritt Gedanke an dich. Und ohne unsern Wald mag ich, wie du weißt, nicht leben.«

»Für mich aber hat es keinen Zweck mehr, da oben zu sein. – Ich mag das alles nicht mitansehen. – Und seit der Vater die Mühle verlassen hat, hab' ich dort keine Heimat mehr.«

»Eine andere wartet auf dich!«

»Das neue Haus etwa?«

»Nein – ein sehr altes!« 315

»Spotten Sie nicht – auch noch.«

Statt aller Antwort drückte ich ihr rasch einen Kuß auf die Lippen. Da brach sie in Tränen aus. Ich wollte sie an mich ziehen. Sie wehrte ab.

»Es muß doch alles vergessen sein«, sagte sie, entschlossen die Augen und Wangen mit dem Tüchlein trocknend. »Unsere Wege gehen auseinander.«

»Sie führen gewisser zusammen, als du ahnst.«

»Sie müssen auseinandergehen. Bitte, verlassen Sie mich jetzt.«

Ein Geräusch wurde im Gange laut.

»Gut«, flüsterte ich, »wir können dort drinnen weiterreden.«

Da sagte sie wörtlich: »In der Gesellschaft hab' ich nichts zu suchen.«

Ein Klopfen an der Türe ließ mir keine Zeit, erstaunt zu sein. »Fräulein Martha!« rief Mimis Stimme. »Kommen Sie bald? Man erwartet Sie.«

In höchster Bestürzung sah sie mich an.

Ich aber lachte und stemmte mich rücklings gegen die Türe.

»Gleich – sofort – komme ich«, hastete sie verzweifelt. »Nur noch einen Augenblick . . .« 316

Mimi versuchte mit einem »Darf ich eintreten und Ihnen vielleicht helfen?« die Tür aufzudrücken, was ihr nicht gelang. Martha und ich verständigten uns mit Blicken. Sie sollte hinausschlüpfen, ich würde dann folgen. Ich ließ sie einen Spalt öffnen. Mit den Worten: »Ach! ich möchte eigentlich bitten, daß ich nach Hause fahren darf, mir ist nicht wohl«, wollte sie sich durchklemmen, aber Mimi, weitaus behender und auch energischer, wand sich herein. Da stand ich . . .

»Du Ungeheuer, was tust du hier?«

»Ich mußte doch Fräulein Martha begrüßen! Wir sind doch beide aus Herrenschlag und von Kindheit an befreundet, sind – miteinander in die Schule gegangen«, log ich.

»Das ist freilich ein Grund«, erwiderte Mimi, »wenn auch kein hinreichender, um in Damengarderoben einzudringen. Fräulein Martha«, setzte sie rasch hinzu und faßte ihre beiden Hände, »Sie dürfen noch nicht fort! Die Tante, die Mutter, alles erwartet Sie drinnen mit Ungeduld! Welch ein Erfolg! Ich beglückwünsche Sie von ganzem Herzen!«

Martha stand und sah zu Boden.

»Bitte, kommen Sie«, bat Mimi eindringlicher, zog sie an sich und küßte sie auf beide 317 Wangen. »Ich begreife ja«, fuhr sie fort, »daß Ihnen die vielen Menschen unangenehm sind. Mir auch. Aber wissen Sie, was wir tun? Da gerade gegenüber ist mein Salönchen, der äußerste Raum in der ganzen Reihe der heute benützten Zimmer, aber es ist noch kein Mensch drin, alle umschwirren sie noch wie die Wespen und Hummeln das Büfett. Kommen Sie! Wir schlüpfen geschwind über den Gang und lassen uns dort alle drei nieder. Ich hole was zu essen und zu trinken, und wir unterhalten uns ungestört.«

Endlich ließ sich Martha bewegen, wir taten, wie uns geheißen, und schon saßen wir in dem netten, kleinen Raum allein, da Mimi weggelaufen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Wie ein Brautpaar!« lachte ich, ihre Hand streichelnd.

»Mein Gott! Wenn wer hereinkommt!« erschrak sie, doch nun auch schon erheitert.

»Martha«, begann ich, »diese Fremdheit mache ich nicht mit. Für mich bleibst du . . .«

»Aber wir dürfen uns doch vor den anderen nicht Du sagen!« wollte sie sich neuerlich entsetzen. »Das war schon damals . . .«

»Richtig und dem Zustand angemessen«, fiel ich ein und wollte sie küssen. Sie warf den 318 Kopf zurück, aber sie lächelte. Da trat Mimi ein und hinter ihr ein Diener mit einem Tablett.

Sehr vergnügt tafelten wir zu dritt. Ab und zu spähte Mimi durch den Türspalt, um rechtzeitig eine Störung abwenden zu können. Weiß Gott, was sie angegeben hatte, um uns die Tanten vom Hals zu halten, deren Stimmen wir nebst anderen laut im Nebenraum vernahmen. Eine Weile gelang das. Endlich aber streckte Rudi den Kopf herein und zog seine übrige literarische Person mit einem »Sie scheinen ja wieder ganz wohl zu sein, Fräulein Martha!« nach. Er setzte sich zu uns. Martha warf mir und ich Mimi einen warnenden Blick zu. Sie verstand sofort, und es war nur mehr von Literatur und Gesang die Rede, vor allem fiel kein Wort mehr von Herrenschlag und alter Freundschaft. Doch das Idyll inmitten der großen Welt war zerstört. Und ich fand es, als Rudi einmal vom Diener hinausgeholt wurde, klüger, mich zurückzuziehen, ehe auch noch ein Einbruch der Tanten erfolgte. Da auch Mimi, um meinen Rückzug zu decken, vor die Tür trat, flüsterte ich Martha rasch die Frage zu, wo wir uns treffen könnten. Als sie zögerte, nannte ich einen kleinen öffentlichen Garten in 319 der Nähe unserer Wohnungen. Sie nickte und raunte, »morgen etwa um halb fünf Uhr Nachmittag, wenn ich vom Konservatorium komme. Aber du«, fügte sie leise hinzu, »nimm dich vor diesem Herrn Rudi in acht! Hast du ihm einmal was erzählt?«

»Niemals!« erwiderte ich. »Doch er hat eine feine Spürnase.«

»Er spricht nicht schön von dir«, flüsterte sie.

Mimi trat ein. »Sie werden nicht mehr lange aufzuhalten sein«, meinte sie, mit dem Finger auf den Lippen. Ich erhob mich, küßte Martha und ihr die Hand und verschwand. Mimi schob sich mir auf den Gang nach. »Du Lump«, drohte sie mir lachend, »da glaubt man Überraschungen für dich zu haben und findet dich bei«, sie knickste spöttisch mit frommem Augenaufschlag, »alten Schulfreundschaften. Ich möchte wissen, wo ihr miteinander in die Schule gegangen seid? Das war jedenfalls eine sehr hübsche und angenehme Schule und wohl schon eine höhere und sicher keine Klosterschule!«

Ich hielt ihr den Mund zu. »Du kennst doch alle berühmten Leute!« himmelte sie, mit einer Lorgnettengeste ihre Mutter nachäffend. Ich mußte lachen, und sie verschwand kichernd in der Tür. 320

Ich beschloß, zu Fuß nach Hause zu gehen. Der Weg führte mich durch die innere Stadt. Es war eine laue Nacht. Ganz fern und verschwommen blickten einzelne verlorene Sterne vom trüben Himmel zu den Lichtern der Gasse herab. Grell im Kranz gefärbter Glühlampen strahlten die Aufschriften der Vergnügungsstätten. Gruppen lebenslustiger, gutgekleideter Leute kamen mir mit lautem Geplauder und Lachen entgegen. Ab und zu der Sporentritt eines Offiziers, das geschäftige Hufklappen eines weich vorbeirollenden Fiakers. Alles hastig und halb schattenhaft. Und dann die knisternden Schrittchen streifender Kokotten, ihre blassen Gesichter, ihre künstlich geweiteten Blicke aus untermalten Lidern in falschem Glanze starrend und eine Nase voll Parfüm, wenn sie vorüber waren.

Daheim saß ich noch lange untätig und schlaflos vor meinem Schreibtisch. Der Diener fand mich am Morgen vor der heruntergebrannten Lampe im Sessel eingeschlummert.

Der folgende Nachmittag wurde mir lang genug, bis die alte Spieluhr auf dem Spiegeltischchen halb vier schlug. Dann ging ich in den kleinen Garten, der von zwei im Winkel sich treffenden Straßen und einem Häuserblock umschlossen war. In der Mitte war ein kleiner 321 Platz um die Bronzebüste eines verschollenen Dichters. Der trübe, schmutzige Stadtnebel lag in den Gassen. Alle Steine waren feucht und dunkel. Von den kahlen Baumzweigen und welken Büschen tropfte es ab und zu.

Bei einer Stunde spazierte ich die Wege des Gärtchens in allen Wendungen ab, saß auf einer Bank vor dem bescheidenen Denkmal und stach mit dem Stock im welken Laub herum, stand auf, ging bis zum Straßenrand und spähte in die Richtung, woher ich Martha erwartete.

Endlich kam sie. Ich sah sie schon von weitem, und wie meine Freude herzklopfend höher und höher stieg, je gewisser der Zweifel an ihrer Gestalt schwand, und dennoch ein vorsichtiges Bangen blieb, bis ich sie klar und sicher vor mir hatte, wurde es mir erst deutlich, welch ein Abgrund von Enttäuschung ihr Ausbleiben mir gewesen wäre. Sie kam mit ihrem leichten, melodischen Schritt, der mir im Wald schon immer ein solches Leuchten ins Gemüt gebracht hatte, ein Lächeln auf den Lippen und ein wenig Befangenheit im Blick. Ich hatte ein paar Rosen mitgenommen, die sie mit freundlichem Dank entgegennahm. Sie habe nur fünf Minuten Zeit, behauptete sie, aber es wurde doch leicht ein Viertelstündchen, während wir plaudernd 322 auf der Bank saßen. Wir sprachen nichts von Bedeutung. Ein lächelndes Herumreden um Dinge, für die uns Zeit und Ort zu beengt schienen.

Beim Abschied küßte ich ihre schmale weiße Hand, von der sie den Handschuh gezogen hatte, um die Blumen zu ordnen. Ich hielt sie fest und brachte mein Gesicht näher an ihres. Sie bog sich zurück, und ihr Blick ging schnell in die Runde. Und da niemand auf den Wegen war und Nebel und Gesträuch den Blick von der Straße hinderten, ließ sie es geschehen, daß unsere Lippen sich leicht und flüchtig berührten.

Ich begleitete sie noch bis zum Ausgang des Gartens und sah ihr nach, wie sie die stille Gasse hinunterschritt und ihre liebe Gestalt langsam im Dunst verschwand.

Wir trafen uns nun öfter und schließlich jeden Tag in dem kleinen Garten. Auch begleitete ich sie manchmal ein Stück Weges zur Stadt, wo sie Unterricht im Gesang nahm.

Wenn ich sie an meiner Seite hatte, war mir wohl und still, als wär' ich in der Heimat. Ich erzählte ihr von meinen Fahrten und immer wieder vom Wald. Sie lauschte ganz hingegeben, redete dann auch unbefangen von dem unangenehmen Wesen im Haus ihrer 323 Tante, die allerlei Eitelkeiten mit dem schönen Mädchen trieb, sie in Gesellschaften, zu Schneiderinnen und Putzmacherinnen schleppte und ihr Verehrer auf den Hals hetzte. Es war ein anwiderndes Bild, das sie in ihrer rührenden Harmlosigkeit vor mir entwarf, aber sie gewann an Vertrauen und Heiterkeit, indem sie sich alle Last vom Herzen sprach. Und kam sie einmal recht bekümmert, so freute ich mich, zu sehen, wie sie im Plaudern fröhlicher wurde und ihr Gesicht sich hob und belebte, gleich dem einer Blume, die halb verdorrt war und in Tau und Sonne wieder gesundet.

Für einen Nachmittag, den sie frei hatte, verabredeten wir einen Ausflug nach Schönbrunn.

Wie glücklich war ich, als an diesem Morgen mein erster Blick durchs Fenster stahlblauem Himmel begegnete und sanftem Goldlicht, das die letzten falben Blätter der alten Platanen mit feuchtem Schimmer umwob. Ich stand früher auf als sonst, ging ein wenig im Garten herum und freute mich zum erstenmal in der Stadt recht meines Daseins.

 


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