Hans von Hammerstein
Wald
Hans von Hammerstein

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Im grünen, grünen Walde
zur schönen Sommerzeit,
auf blumenbunter Halde,
in tiefer Einsamkeit
spaziert es sich gar gut allein
im Schatten und im Sonnenschein,
doch besser noch zu zweit!
Ei ja!
im grünen, grünen Walde
zur schönen Sommerzeit.

So sang ich, als ich wieder waldwärts fuhr, und mir schien, ich sei noch nie so froh und hoffnungsvoll der Heimat zugeeilt.

Mein Schlußzeugnis war so übel nicht ausgefallen. In Deutsch hatte ich sogar den Rudi eingeholt. Die Eltern konnten zufrieden sein, und ich hatte ein gutes Recht, nach Westen, Osten, Norden und Süden zu faulenzen wie ein Gott und die jungen Glieder in die Luft zu strecken, bis sie knackten.

Der höchste Sommer und der tiefste Winter sind die Glanzzeiten des Waldviertels. Wenn unten im Donautal die Schwüle brütet, daß man sich am liebsten als ein schlapper Fetzen auf einen Zaun in den Schatten hängen möchte, ist 100 es droben gerade schön und angenehm, um den ganzen Tag im Freien zu schweifen, der Forst kühl und dunkel, die blühende Heide voll Bienengesumme, und während man unten schon die Ernte eingeheimst hat, wallt hier auf den Feldern noch die schwere, reifende Saat. Und wenn man so an einer Halde im Kraut liegt, hinten der Specht hämmert, rundum die Heuschrecken geigen und über den waldblauen Weiten der stille goldene Tag unendlich träumt und schillert, ist das ein Glück, das alle Wünsche schweigen heißt.

Diesmal indes glaubte ich mir noch mehr als ein himmlisches Nichtstun schuldig zu sein. Ich wollte endlich was erleben, ein Geheimnis, ein Abenteuer. Denn der Umgang mit dem gehauten Rudi hatte mich gelehrt, daß ich in der Hinsicht noch ein kümmerlicher Neuling sei. Nicht, um später damit prahlen zu können, sollte, mußte das sein; in mir selbst war eine Art Ehrgefühl wach geworden, das solches verlangte. Ich nahm mir demnach vor, meiner hinterwäldlerischen Bedenklichkeit und Schwerfälligkeit ein paar kavaliermäßige Sporen zu stecken.

Daheim fand ich alles schön sommerlich und behaglich, wie ich's gewohnt war und mir ausgemalt hatte. Das alte Haus mit den dicken 101 Mauern kühl und dämmerig bei ausgespannten Fensterläden, was die verdunkelten Bilder an den Wänden doppelt altertümlich und sagenreich blicken ließ, den kleinen Garten still und heiß träumend mit großen, glutfarbenen Blumen, die Meierei voll erntefreudiger Bewegung. Der Vater war wieder sehr beschäftigt, saß stundenlang hemdärmelig, von Tabaksqualm umwölkt in seinem Zimmer und schrieb oder rechnete, oder er lief in den Ort, um Sitzungen des Vorschußvereins und des Gemeinderates beizuwohnen, wo er nun zu seinem Grimm mit dem Waldmüller an einem Tisch tagen mußte. Die liberale Partei hatte ihn gewählt, und der Vater mußte zugeben, daß sich der Güterschlächter im Rat als ein kluger und gemäßigter Mann bewähre. Die Mutter war mit der ihr eigenen stillen Geschäftigkeit überall und nirgends zu finden, werkte bald im Haus, bald im Meierhof, wo sich ihre Souveränität noch über das Geflügel erstreckte und ihr im Kuhstall eine beschließende, in Feldangelegenheiten eine beratende Stimme zustand, während im Dorf bald der neugegründete Kindergarten, bald irgendein anderer Zweig der Wohltätigkeit ihre allzeit gefällige Hilfsbereitschaft in Anspruch nahm. So blieb ich, wie übrigens immer schon, seit ich laufen konnte und 102 man mir den gesunden Instinkt eines Landkindes zutraute, mir zumeist allein überlassen, was mir gewohnt und recht war, denn Langeweile hab' ich nie gekannt. Auch auf meinen Pirschgängen im weiten Revier, das außer den Gründen des Gutes noch die Gebiete mehrerer Gemeindejagden umfaßte, nahm ich den alten Tauchen oder einen der Heger nur so lange mit, bis ich in den jeweiligen Wechseln und Auszugplätzen des Wildes Bescheid wußte. Die Jagd um der Beute willen ist nicht mein Geschmack. Sie ist mir nur ein Weg zur Natur, ein Weg, der weiter und tiefer in ihre Wunder dringt als bürgerliche Spazierwege, weil er auch durch Tageszeiten und Witterungen führt, die dem bloß des Genusses oder der Bewegung halber Lustwandelnden oft nicht gelegen sind. Doch nur dem Einsamen öffnet die Natur ihr Innerstes. Jäger aber von Beruf oder Leidenschaft haben nur Aug' und Ohr für sie, insofern sie dem Zweck des Weidwerkes dient. Da wird man denn leicht zum Sklaven eines solchen Menschen, der einen hier oder dort nicht weilen läßt, weil es da einem Wild den Austritt hindern könnte, und diesen oder jenen Weg, der einen gerade anzieht, des ungünstigen Windes halber verbietet. In der Jagd wie anderweitig in Arbeit oder 103 Vergnügen ist stets die Freiheit meine oberste Göttin.

Einer meiner ersten Pirschgänge war, versteht sich, in die Gegend der Mühle. Zwar schoß ich einen guten Rehbock beim Waldweiher, sonst aber war mir das Glück nicht hold dabei, und als mir auch die nächsten Gänge immer nur den höchst gleichgültigen Anblick eines Müllerknechtes oder einer alten Magd brachten, begann ich schon zu zweifeln, ob Martha überhaupt im Lande sei. Jemanden zu fragen, scheute ich mich, so sehnlich mein Herz auch Aufschluß begehrte. Ich hoffte weiter und ließ mich den Weg zu keiner Zeit des Tages verdrießen.

Eines Abends, als ich wieder umsonst unter den Fenstern der Mühle hingestrichen war und schon recht ärgerlich waldeinwärts gegen Westen zog, kam ich an den Rand eines Waldschlages und ließ mich dort, mißmutig die kurze Pfeife in Brand setzend, auf einem Baumstrunk nieder. Die Luft war so leicht und klar, daß sich jeder Wipfel nadelscharf gegen den gelblichen Westhimmel abzeichnete. Nur ein süßes Pirolflöten zog durch die Stille, und das feine Gesinge der Mücken war um meine Ohren. Wie ich so lauschte und spähte, sah ich über der Lichtung im Waldsaum drüben etwas sehr Weißes 104 aufleuchten. Bald unterschied ich eine weibliche Gestalt in der hier ungewohnten Mädchentracht der Alpengegenden, dem farbigen, geblümten Kleid, das die Weiße des Hemdes um Brust, Nacken und Arme frei läßt. Die schlanke Gestalt kam langsam den Fußpfad herab, der durchs Brombeergestrüpp des Schlages führt, und bewegte sich so leicht und leise, daß kein knackendes Zweiglein ihr Nahen verriet. Kaum wagte ich der Freude, die in mir aufbrauste, Raum zu geben. Nun aber war kein Zweifel mehr: Martha! Sie trug einen mächtigen Strauß sommerlicher Waldblumen, vornehmlich der langen, roten Weidenröslein, im Arm, blieb, ein Liedchen summend, hier und da stehen und sah nach den Beeren oder bückte sich anmutig nach Blumen. Immer deutlicher wurden ihre Züge. Das Abendlicht, das über den Wipfelsaum floß, umspielte ihren dunklen Scheitel und machte seine Wellen seidig glänzen. Als ich aufstand, um ihr entgegenzugehen, blieb sie stehen und sah mich forschend an. Mit einem Gruß trat ich auf sie zu. Sie erwiderte lächelnd und tat verwundert, mich schon hier zu sehen. Daß ich schon bald eine Woche vergeblich nach ihr gesucht habe, versetzte ich fast leidenschaftlich. Sie blickte mich ein wenig überrascht an, und wieder war das leicht 105 spöttische Zucken um ihre Mundwinkel. Ich stand nun nah bei ihr und hielt noch ihre Hand, die sie mir zögernd gereicht hatte, als meine sich schon ein paar Augenblicke lang ihr bot, und die mir schlanker und schmäler schien, als sie gewesen. Ich fühlte, daß wir uns beide gestreckt hatten seit dem Frühling. Auch ihr Gesicht war schmäler und herber und hatte, gleich Hals und Armen, einen Hauch von Bräunung, der sich auf den Wangen zart rötete. Und welch eine frische und dunkle Klarheit in den wundervollen Augen, deren Blick mir schärfer und noch größer schien.

Ich wollte schüchtern werden, aber meines Vorsatzes eingedenk, gab ich mir die Sporen und sagte, wie sehr ich hoffe, daß wir uns nun oft sehen würden, erinnerte sie auch gleich an ihr Versprechen, sich von mir zu den Heidesteinen führen zu lassen. Sie sei inzwischen selbst schon einige Male dort gewesen, meinte sie wieder etwas spöttisch. Es sei ein schöner Ort. Und als wir nun von den vielen verborgenen Reizen der Gegend sprachen, wurde unser Reden fließender und wärmer. Sie sagte, der Vater sei viel auf Reisen, käme fast nur über den Sonntag heim. Doch werde ihr keineswegs die Zeit lang. Im Wald gäbe es immer was Neues zu sehen. Und so viele Rehe seien da, und gar nicht scheu, ob ich 106 es wohl auf sie mit der greulichen Flinte da abgesehen hätte? Ich erwiderte, zu viele dürften es eben auch nicht werden, sonst schimpften die Bauern, und ein starker Bock könne sich kein vornehmeres Ende wünschen als durch eine weidmännische Kugel. Sie schüttelte nur den Kopf und sagte, daß sie nun heim müsse. Wo wir uns dann wieder treffen könnten, drängte ich. Wir würden einander schon begegnen, lachte sie, nickte grüßend und setzte nun mit rascheren Schritten ihren Weg fort.

Ich sah ihr nach, bis der Wald das letzte Aufleuchten ihrer Gestalt verschlungen hatte. Dann ging ich plan- und achtlos umher, und einige Rehe flüchteten grob schmälend vor mir in die Dickungen.

*

Die nächsten Tage ließ sie sich schwer finden.

Einmal traf ich sie an der Mühle, wo wir kaum mehr als einen Gruß wechselten. Dann auch wieder im Wald, und es ergab sich doch, daß unsere Wege sich gewisser kreuzten. Schließlich war es eine freundliche Natürlichkeit. Wir standen oder saßen dort und da beieinander, und es geschah wohl auch, daß ich sie ein Stück begleitete. Zu reden hatten wir genug, denn unsere 107 Sinne waren gleicherweise der Natur und ihrem wechselvollen Leben zugewandt. Und wenn wir unsere Beobachtungen tauschten, wurde ihr Plaudern besonders lebhaft, ihr Blick größer und heller und von einem tiefen Schein der Freude durchleuchtet. So blickt ein schönes Tier, das gefangen war und wieder in Freiheit gesetzt wird, ein Waldvogel, wenn er sein innigstes Lied singt. Während meine Augen mehr auf die bedeutenderen Vorgänge in Wald, Heide und Himmel und den Zauber der Ferne gerichtet waren, umfaßte ihre Aufmerksamkeit mit Liebe das Kleine, das Heimliche, die alltäglichen Wunder, die sich ohne Aufsehen im Gebiet eines Grasschöpfchens, in der Nachbarschaft eines Felsstückes, um das Wurzelwerk eines alten Baumriesen oder in den Schattenfalten des Gesträuches abspielen. Wir hatten viel voneinander zu lernen, und wenn ich die lateinischen und deutschen Namen einer Blume und manches von der Lebensweise der Tiere aus Büchern kannte, so wußte sie von jedem Kräutlein die sinnvolle Bezeichnung, die ihm der Volksmund gab, und die Bedeutung, den Aberglauben oder eine kleine Sage, die sich damit verband. Und wie ich, die Tierwelt mehr als Jäger betrachtend, der Gelegenheit und Mittel sicher war, die sie in meine 108 Gewalt brachten, und den Wald als angehender Forstmann und Besitzer vom Baum bis zum Grashalm zu bewerten verstand, so zeigte sie sich erstaunlich bewandert in allem, was mit der ewigen Erneuerung des Naturlebens zusammenhängt, wußte die Plätze der Vogelnester und die Gefahren, die den Gelegen und der jungen Brut drohen, und vieles von dem geheimnisvollen Hin- und Wiederweben, das sich im Pflanzenreich vom Keim bis zur Frucht vollzieht.

Wir wurden gute Freunde, daß aber in mir etwas mit jedem Tage heißer und wirrer aufblühte und tausend wunschvolle Ranken dehnte, die das schöne Mädchen ganz umfassen und haben wollten, schien sie nicht zu fühlen. Ihr Geplauder blieb immer harmlos und kühl wie das eines in sich vergnügten Waldbächleins, und wenn ich einmal halb unbewußt und plump genug einen Brocken hineinwarf, der Bedeutung haben und sie erregen wollte, ging der Fluß ihres Gespräches mit einem blanken Auflachen gleich wieder glatt darüber hinweg.

Alles, was ich endlich erreichte, war, daß sie mir eines Abends, als wir uns wieder zufällig getroffen hatten und nun ein paar hundert Schritte seitwärts der Mühle im Wald voneinander Abschied nahmen, ein richtiges Stelldichein für 109 den nächsten Nachmittag einräumte. Zwar machte sie es durch manch ein Vielleicht fraglich, mir jedoch war das schon ein Glück, groß genug, um bei allen Göttern des Wetters und der Gelegenheit dafür zu bangen.

Die prächtige Witterung hielt aus, dafür kutschierte der Teufel, als ich mich nächsten Tags kurz nach der Mahlzeit ins Revier aufmachen wollte, einen guten Nachbar mit Familie heran. Als der Wagen in den Hof rollte und ich ans Gangfenster geeilt den Besuch erkannt hatte, brach mein Zorn in helle Flammen aus, und fast wollten mir die Tränen kommen. Gerade heute, schimpfte ich vor den Eltern, hätte ich den starken Bock in Pühret sicher gehabt, gestern sei er mir nur durch plötzlich umschlagenden Wind entgangen, so gewiß wie die Sonne im Osten zöge er auf jener Waldwiese aus, und nun käme mir diese langweilige Sippe verquer. Die Mutter meinte, wenn der Bock so sicher sei, könne ich ihn auch morgen holen, aber da parierte ich schnell mit dem Einwand, daß die Reviergrenze bekanntlich der Wiese entlang gehe und die Bauern von jenseits ihm gerade so gierig auflauerten wie ich. Das begriff der Vater, der die Lage wohl kannte und früher, als er noch mehr dem Wild wie den Projekten nachjagte, jenen 110 Grenzbock häufig genug den Bauern vor der Nase weggeholt hatte, und: »Rasch!« flüsterte er mir zu, »mach, daß du fortkommst. Wir werden mit Bedauern entschuldigen, daß du des weiten Weges halber schon vor einer Stunde aufgebrochen bist.« Mit einem Freudensatz schoß ich zur einen Tür hinaus, während vor der andern schon vom Gang her der Lärm der Begrüßung laut wurde. Auf meinem Zimmer rüstete ich mich mit Büchse und Rucksack und machte, nachdem ich durch die Hinterpforte entwichen war, einen Umweg, um außer Sicht des Hauses zu kommen.

Eine geraume Weile stellte Martha meine Geduld auf die Probe. Endlich kam sie, einen Singsang auf den Lippen und lässig wie jemand, der ohne Ziel lustwandelt, unter den Bäumen auf die Lichtung hervor. Ich erzählte ihr freimütig von dem Hindernis, das mich beinahe ausbleiben gemacht hätte, und der List, die ich angewandt. Nun müsse ich mir eigentlich auch den Grenzbock holen, fügte ich hinzu, und es würde mir eine Freude sein, wenn sie mich auf der Pirsch begleite. Das möge ich nur allein tun, sagte sie mit wegwerfendem Lächeln, sie habe durchaus keine Lust, zuzuschauen, wie ich ihre schönen Rehe morde. Daß ich nur den bösen 111 Bauern aus Schirmansreit zuvorkommen wolle, ließ sie nicht gelten und machte trotzig Miene, sich sogleich zu entfernen. So ließ ich die Beute des Mädchens halber, ein wenig nachdenklich und mißmutig ob der neuen Ausflucht, die ich daheim würde vorbringen müssen, wenn ich ohne Erfolg zurückkam. Bald aber hatte ich die kleinen Sorgen über der beglückenden Gegenwart vergessen, und wie zum Lohn für meinen Verzicht zeigte sich Martha heute von besonderer Anmut und Herzlichkeit im Umgang. Ich hingegen hatte einen lehrhaften Tag, weil ich am Morgen mit dem Vorsatz, das kluge Mädchen in die höheren Naturwissenschaften einzuführen, meine Schulbücher ein wenig durchblättert hatte; denn es war mir nicht entgangen, daß mir meine Kenntnisse hier ein Gewicht verschaffen konnten, das sich mit Vorteil nützen ließ. Schon das letztemal hatte sie meinem Vortrag voll Hingabe gelauscht und dann gesagt, ich sei doch ein recht gelehrtes Haus, und sie schäme sich fast ihres ungebildeten Geredes vor mir. Worauf ich ihr, glaub' ich, mit einem bedeutsamen Blick erwiderte, ihre Lippen verfügten von Natur aus über eine Weisheit, die mir tausendmal mehr wert sei als alle in Büchern enthaltene, und wer die Macht besäße, deren sie sich nicht bewußt sei, könne 112 der Gelehrtheit leicht entbehren. Was sie zwar belachte, aber nicht ganz zu verstehen schien. Diesmal, während wir auf einem gestürzten Baumstamm vom Spazieren ausruhten, sagte sie, das einzige, was sie daheim vermisse, seien Bücher zum Zeitvertreib an Regentagen. Sie habe in den vergangenen Schuljahren gern und viel gelesen, der Vater aber besitze nebst einem Kalender mit Bauernregeln, Futtertabellen und sonstigen wirtschaftlichen Bemerkungen nichts als ein paar Gesetzbücher, die er seinem Advokaten ausgeführt habe. Sie bäte mich also recht sehr, ihr mit nächstem ein oder die andere kurzweilige und lehrreiche Geschichte mitzubringen, sie wolle der Bücher gewiß gut achthaben und sie zeitig zurückstellen. Dem zu willfahren versprach ich um so freudiger, als sich mir damit eine Gelegenheit voll entzückender Aussichten und die Möglichkeit eröffnete, das geliebte Wesen durch den Zauber der Dichtung, der über mich selbst so viel Macht hatte, inniger an mich zu binden.

Den Abend wollte ich lange nicht einschlafen, so sehr besaß mich die Überlegung, welch ein Buch geeignet und wert sei, in diese lieben Hände zu kommen. Es war fast Mitternacht geworden, ehe ich zu Bett kam. Ich hatte meinen ganzen beträchtlichen Bücherschatz aus allen erreichbaren 113 Kasten und Laden hervorgestöbert und immer wieder wägend und zweifelnd durchwühlt. Endlich verlöschte ich die Kerze, Erleuchtung und Entschlußkraft von der Morgenstunde hoffend. Die brachte sie denn auch. Als ich, noch im Hemd stehend, beim frühen Sonnenstrahl aufs neue die herumgeworfenen Bücher musterte, griff ich einen zerlesenen Band, der mir plötzlich die schönsten Traumstunden der Kindheit lebendig machte. Es war eine Jugendausgabe des »hürnen Siegfrid« mit altertümlichem Druck und feinen, schlichten Zeichnungen im Text. Wohl zwei dutzendmal hatte ich das Büchlein gelesen. Nicht nur war es das erste Druckwerk, das ich selbständig und damals noch mühsam genug in der Stille für mich buchstabierte, immer und immer wieder nahm ich's später mit geweckterem Sinn und tieferem Verständnis zur Hand, so daß es recht die Bibel meiner Kindertage und der Quell wurde, an dem sich meine Phantasie nährte und bildete. Teuer und unanfechtbar war mir jede Zeile darin, jedes Bild bedeutungsvoll und in allen seinen Gestalten und Strichen wunderbar belebt von der jungen Traumkraft meiner Seele. Nie mehr konnte ich Siegfried, Kriemhild, den Schmied, den Zwerg, den Drachen von diesen Darstellungen trennen, und wenn ich 114 später andere dazu sah, ließ ich sie nicht gelten. Die Nachdichtungen aus den alten Heldenliedern, die der Verfasser an manchen Stellen balladenartig eingeflochten hatte, kannte ich zumeist auswendig, so die Lieder von König Otnit. Und so sehr war ich in dieser volkstümlichen Gestaltung der Sage befangen, daß ich mich späterhin mit Richard Wagners Auffassung und Musik durchaus nicht befreunden konnte und sie als etwas Fremdartiges und für mein Gefühl Phrasenhaftes heftig anfocht.

Das liebe Buch brachte ich Martha, die heute, da ihr Vater unvermutet zurückgekehrt war, nur wenige Augenblicke für mich übrig hatte. Dafür fand ich sie das nächstemal zu meiner Genugtuung ganz verlesen darin auf einer Felsbank im Wald sitzen. Kaum, daß sie mich kommen hörte, und als sie nun zu mir aufsah, waren ihre großen Augen ganz traumverloren und schienen sich in der wirklichen Umgebung erst gar nicht zurechtzufinden.

Die Aventüre, wie Siegfried vom Zwergkönig in die Geheimnisse des germanischen Weltenbaues eingeführt wird, machte ihrem Verständnis Schwierigkeiten. So war es auch mir einst gegangen, bis mir gerade dieses Kapitel das liebste wurde, das ich am öftesten wieder las. 115 Ich setzte mich nun zu ihr, las ihr vor und erklärte ihr den Text und das Bild, das die drei thronenden Götter darstellt, die auf nächtlichem Hintergrund die nebelhaften Schreckbilder des Untergangs umziehen, eindrucksvoll besonders davon Hel auf dem Wolf, der mit qualmendem Rachen nach der Sonne schnappt.

Der mächtige Heimatwald war für solche Lesung die rechte Umgebung, und als nun die Sonne unterging und das Dämmergrauen gestaltenreich zwischen den Stämmen hervorwuchs, wurden wir beide ganz still und gingen schweigend Hand in Hand der Mühle zu.

Lange genug hielt uns das Volksbuch gefesselt, das auch mich wieder ganz in seinen ewig jungen Zauber bannte. Ihm ließ ich andere folgen, ähnliche, meist Sagen und Märchen, die meine frühen Geistesfreuden gebildet hatten. Das gemeinsame Lesen belebte unsere Unterhaltung und machte uns vertraulich. Und wenn wir dann ruhten oder miteinander durch Wald und Heide zogen, gab es, wie das junger Blut schon einmal will, allerlei Neckereien zwischen uns. Wir warfen uns mit Tannenzapfen, und wenn wir einem bunten Schmetterling nachliefen, so suchten wir ihn wohl eines dem andern wegzuschnappen und jagten uns schließlich 116 selber durch Gesträuch und Bäume hin. Das Mädchen sprang behend und zierlich wie ein Reh, und ihr Lachen, wobei sie zwei Zahnreihen von wundervoller Gleichmäßigkeit und Weiße enthüllte, hatte eine unwiderstehlich mitreißende Fröhlichkeit und einen lockenden Reiz, so daß ich absichtlich manche Tölpelhaftigkeit beging, nur um sie triumphieren zu lassen und zum Lachen zu bringen.

Einmal hatten wir uns müde getollt und lagen nun heiß atmend am Saum der Lichtung, auf der wir uns zumeist trafen.

Zu Kurzweil und Streichen aufgelegt wie ein junger Vorstehhund, der gerade schon beißen kann und in erwachender Jagdlust das Hofgeflügel über alle Beete hetzt, gab ich nicht nach, Martha zu ärgern, indem ich sie fortwährend unvermutet mit einem langen, grannenreichen Waldhalm am Hals und im Gesicht stichelte. Sie begann ein wenig zu zürnen. Und das war gar zu hübsch. Wie eine kleine Fürstin sah sie dann aus. Die Lippen trotzig zusammengepreßt und zu einem feinen Halbmond herabgebogen, die zarten Nasenflügel bebend, die Augen kleine Gewitter, und zwischen den bös gesenkten Seidenbogen der blauschwarzen Brauen ein Schatten senkrecht zur engelklaren Stirn hinauf. Je 117 heftiger sie abwehrte, desto mehr lachte ich, und als sie mit einem raschen Griff nach meiner Hand haschend ihr Gesicht ganz nah an meines brachte, küßte ich sie so schnell und hart auf den Mund, daß mir die Zähne knirschten. Wie von einer Otter gestochen fuhr sie zurück, und auf Ja und Nein hatte ich einen Schlag im Gesicht, der beträchtlich am Nasenbein und Kiefer schmerzte. Und ehe ich nur wieder klar sehen konnte, war sie aufgesprungen und lief, so schnell sie konnte, über die Lichtung hin den Weg nach der Mühle zu. Ich sprang ihr nach und dachte, sie scherze nur. Doch sie rannte immer eiliger und ganz zielbewußt, und bald war sie zwischen den Bäumen des jenseitigen Waldsaumes. Ich rief, sie erwiderte nicht, ich schalt, bat und flehte, umsonst. Schon war ihr buntes Kleid zwischen den Stämmen verschwunden. Noch ein Stück lief ich vor und erhob noch einmal meine Stimme, die vor Bestürzung zitterte. Nur der einsame Verhall an den hohen, finsteren Baumwänden gab mir abgebrochene Antwort. »Ha–ha!« äffte es von drüben her aus dem Wald heraus wie ein Spottgeist. Verzweifelt und den Tränen nahe stand ich da. Ganz still war es auf dem sonnenheißen Schlag. Ein großer Segelfalter gaukelte vor mir über die Brombeerranken. In der 118 starrenden Lautlosigkeit war das feine, seidige Schwingen seiner Flügel vernehmbar.

Fast ließ ich meine Büchse liegen, so verworren schossen mir die Gedanken im Hirn durcheinander. Ich holte sie, zweifelte wieder ein paar Augenblicke und ging dann rasch den Weg zur Mühle hinab. Vielleicht hatte Martha sich nur dort hinter den Bäumen versteckt, um mich plötzlich laut lachend anzuspringen. Aber es blieb still, überall ganz still, auch auf erneuten Ruf. Um die Mühle war sie nicht. Der Waldweiher lag einsam, mit dem halbversunkenen Boot im Schilf. Ratlos setzte ich mich ins Moos und ließ reuevolle Vorwürfe mein Herz bestürmen.

Das wurde noch schlimmer, als ich das Mädchen auch am nächsten Tag nirgends auf den gewohnten Plätzen fand. Der ganze Wald war mir wie ausgestorben. Am andern Morgen war es gar trüb und regnerisch. Trotzdem zog ich stundenlang im Forst herum. Martha ließ sich nicht blicken. Mit dem starken Grenzbock kam ich zusammen. Auf achtzig Schritte stand er mir breit vor der Büchse. Ich bezwang mich und schoß nicht, als könnt' ich durch dieses Opfer das zürnende Mädchen versöhnen.

Wieder verging mir eine bange, halb 119 schlaflose Nacht. Dann sah ich die Morgensonne hoffnungsvoll durch zerfließendes Gewölk in meine Stube langen. Am frühen Nachmittag schon war ich draußen im Wald. Die gleiche Enttäuschung. Nichts von Martha. Nun erwog ich, wie es anzustellen wäre, daß ich ihr ein Brieflein zukommen ließe, und ging indessen eine Richtung nach Süden dem Rand der Hochebene zu, durch eine Gegend, wo ich mit Martha noch nie gewesen.

Der Wald ist da sehr dunkel und voll Gestrüpp, der Boden senkt und hebt sich lebhafter in Mulden und Wellungen, die oft Felsstücke tragen.

An einem dieser Hügelchen schimmerte in den hereinfallenden Sonnenstrahlen ein lichter Raum, wo Beerensträucher etliche Steintrümmer umbuschen. Man sagt, es habe da voreinst ein Turm gestanden zum Auslug ins Unterland. Dort am Gesträuch kniete eine Gestalt in unscheinbarer Kleidung. Ich blieb stehen und setzte den Feldstecher an die Augen. Kein Zweifel; es war Martha, die Beeren in ein Körbchen sammelte. So leise und vorsichtig hab' ich noch kein Wild angepirscht. Das feuchte Moos begünstigte meine lautlose Annäherung. Schon eine Weile stand ich hinter ihr. Sie merkte nichts 120 und pflückte emsig fort. Sie trug ein schlichtes braunes Kleid, das sie schon recht ausgewachsen hatte, denn es lag ihr knapp an und stand mit nachlässig geöffneten Schließen weit an den weißen Armen zurück. Und sie war barfuß. Doch gerade so schien sie mir besonders reizend, und ihre Gestalt noch einmal so süß und rührend in der schlichten Armut.

»Martha!« sagte ich halblaut.

Sie fuhr herum, stieß einen gellenden Schrei aus, sank ins Moos und schlug die Hände vors Gesicht. Das Körbchen war umgefallen und leerte alle seine schwarzen Beeren über den Hang aus.

Ich setzte mich zu ihr, streichelte ihr über Hände und Haar und sprach gute Worte. Hoch und teuer schwur ich, nie mehr keck sein zu wollen. Sie wurde stiller, und ich sah ihren dunklen Blick zwischen den Fingerspalten zu mir herüberfunkeln. Sanft zog ich ihr die Hände nieder. Da lachte sie.

»Wie du mich erschreckt hast«, sagte sie seufzend und begann, die entrollten Beeren einzusammeln. Ich half ihr dabei.

Bald waren wir ganz vergnügt am Plaudern. Von allem, was vorgefallen, erwähnten wir kein Wort, als wär' es nicht gewesen. 121

»Daß du mich in dem schlechten alten Schulkleid siehst«, schmollte sie. »Ich hab' es gestern genommen, weil es geregnet hat, und heute behalten, weil dem Himmel nicht zu trauen ist. Sieh nur, wie der Wald dunstet, und wie schwül es ist.«

Es war, wie sie sagte. Der Forst atmete heiße Feuchtigkeit. Die Sonne stach. Kleine, grüngoldene Fliegen standen schwirrend in ihren Strahlenbahnen. Aber ganz rein und dunkelblau sah ein Stück Himmel auf uns herab.

»Und Schuh' und Strümpf' hab' ich auch keine an«, sagte sie und suchte verlegen das kurze Röcklein über die allerliebsten Füße zu ziehen. »Weißt du, auf der Straße trag' ich immer Schuhe, obwohl ich's gewohnt bin, ohne zu laufen, und als Kind hab' ich nur immer Sonntags welche anziehen dürfen. Aber in den Wald geh' ich lieber barfüßig. Ich spüre den Boden so gern, das Moos, die Kräuter, die kleinen Zweige. Und man geht so leise und so leicht und frei. Und es ist mir, als könnt' ich so den ganzen Wald stärker fühlen, als würde das ganze Wachsen und Sprossen und Atmen der Erde in mich hineindringen und mich durchströmen.«

Ihre Lippen waren voll Leben, als sie das 122 sagte, und ihre Augen ganz groß und erfüllt von innerem Leuchten.

»Warum ziehst du da immer Schuhe an, wenn wir zusammenkommen?« sagte ich. »Nur das erstemal dort auf dem Schlag hattest du keine, und auch damals zu Ostern nicht.«

»Du – du bist doch ein Herr!« lächelte sie, am Röckchen zupfend. »Und siehst immer nur fein angezogene Damen.«

»Aber dich seh' ich lieber«, versetzte ich mit einem heißen Blick auf sie. »Und am liebsten so.«

Ich legte ihr die Hand auf die Schulter. Aber sie drängte mich sanft zurück. Und der harten Strafe eingedenk, die mir der Kuß eingetragen, wagte ich es nicht mehr, sie zu berühren, so sehr mein Blut wallte und mir die Arme strecken wollte, um alle die süße Jugend im Bettelkleid hineinzuschließen.

Überm Plaudern bemerkten wir kaum, daß langsam ein schwerer Schatten über den Wald hinrückte wie eine Riesenhand. Erst ein Ziehen in den Wipfeln machte uns aufblicken. Da stand eine ungeheuer hohe Wolke im Blau mit blendendweißen Säumen und grauschwarzer, bauchiger Wand vornübergeneigt, als wolle sie umfallen. Und schon bogen sich die alten Wipfel 123 tiefer und warfen die breiten Arme aufgewühlt gen Nordost unter der Last der ersten Sturmwelle, die sich dumpf brausend über den Forst hinwälzte.

Die Gräser um uns nickten, ein paar welke Blätter rasselten im Gestrüpp auf.

»Da kommt ein Wetter«, sagte Martha aufspringend. »Komm, wir gehen hinaus zum Waldsaum, da sehen wir es heraufziehen.«

Sie lief mir voraus gegen Süden, wo dort, wenn man einige hundert Schritte geht, über die abfallenden Bergrücken ein Blick ins Unterland sich auftut.

Der Wald schäumte und stöhnte schon im Sturm. Als wir hinaustraten, sahen wir das Gewölk mit schleppenden Säumen tief über die waldigen Kämme heranqualmen. Das Donautal war schon ganz versunken in grauem Braus. Auf einer abgeholzten Kuppe vor uns reckte sich ein gerundetes Felsgebilde hart und beinbleich gegen die Wald und Wolkenschwärze, die sturmzerwühlt ineinander verschwamm. Jetzt stieß ein Leuchten grellsäumig durch die Dunstballen vor. Der Sturm sank, daß die Bäume sich eratmend aufrichteten. Hohl rollte der Donner heran und mit tönendem Aufpoltern über uns hin. 124

Das Mädchen stand neben mir und sah furchtlos mit weit offenen Augen ins heranfliegende Gewitter. Fast freudig und voll erwartendem Begehren war ihr dunkelleuchtender Blick. Schwarze Löckchen tanzten auf ihrer glatten Stirnwölbung. Der Wind zerrte ihr das Röckchen um die nackten Füße.

»Du«, sagte sie fast flüsternd, »einmal hat mich hier schon ein Wetter erwischt. Das war viel grausiger. Ganz dunkelblau und still ist es von der Donau heraufgezogen. Der Wald war so schwül, als ob die Bäume zerspringen wollten. Da hab' ich auf einmal dort auf dem Felsen ein riesiges Weib stehen sehen. Ganz nackt und mit fliegenden Haaren hat sie sich in der Luft gestreckt und gedehnt, grausig, aber doch so schön. Und da ist ein feuerroter Blitz heruntergefahren und hat sie ganz mit Flammen umgeben. Und sie ist mit einem wilden Auflachen hinunter in den Sturm gesprungen.«

Große Tropfen schlugen uns in die Gesichter. Fast ununterbrochen zuckte das Leuchten über die Wolkensäume, der Donner zerriß die Lüfte mit grellem Geknatter und schlug schwer in die verstörten Wälder.

Ich zog Martha unter die Bäume zurück. Tiefer im Forst wußte ich eine Holzhütte. Es 125 war so finster, daß ich angestrengt schauen mußte, bis ich das leichte Bauwerk aus zusammengeflickten Baumrinden fand. Wir setzten uns hinein auf eine Schütte Waldstreu und ließen das Wetter über uns herpoltern. Martha schmiegte sich an mich. Ich hatte den Arm um sie gelegt und fühlte in meiner hohlen Hand ihren ruhigen, starken Herzschlag. Wir sprachen nichts und saßen unbewegt. Als es stiller und lichter geworden, traten wir hervor. Die Wipfel schüttelten prasselnde Tropfenschauer in den abschwellenden Windstößen. Die Vögel sangen überlaut, daß es schallte. Blutrot brach die Abendsonne durch einen Wolkenriß, und im kühlfrischen Wald war ein Funkeln und Strahlen wie in einem Märchensaal. Wir gingen heim, redeten wenig und hatten uns an den Händen gefaßt. Bächlein rannen über die glitschigen Pfade, starker Duft quoll aus Moos und Erde. Als wir nahe der Mühle Abschied nahmen, blickten schon ein paar Sterne wunderklar zwischen dem langsam ziehenden Gewölk hervor. Ich sah noch einmal zurück. Da hatte auch Martha sich umgewandt und winkte mir freundlich zu.

Es kam ein Sonntag. Nach dem Gottesdienst, den ich nicht ganz zu Ende hörte, ging ich in 126 die Felder. Da wußte ich einen Pfad, den Martha kommen würde, wenn sie aus der Kirche zurückkehrte. Im Himmel, der feiertäglich rein und tief war, reisten schneeweiße Wolken. Ein herber Ostwind lief mit Klang über die hohen Saaten, die sich knisternd bauschten wie schwere gelbe Seide und voll Mohnblut und Zyanenblau waren.

Nicht lange, so kam Martha in der schmalen Goldgasse zwischen den hohen Kornwellen leichten, fröhlichen Schrittes gegangen. Sie trug eine ländliche Festtracht. Der Rock aus blumiger, hellgrüner Seide stand wie eine Glocke um ihre Füße, an denen sie weiße Strümpfe und zierliche Schuhe mit blanken Schnallen hatte. Durch die Verschnürung des schwarzen gestickten Mieders sah das weiße Hemd hervor, das um die gebauschten Ärmelenden und am Ausschnitt mit schwarzem Samtband durchzogen war. Der braune Sommerhauch um ihren Hals grenzte fein gegen einen Kranz hellweißer, zarter Haut. Die schweren Zöpfe trug sie in einer Doppelkrone um den Scheitel geflochten. Ihr großer, dunkler Blick war so frisch und blank wie Himmel und Wasser, wenn sie ein rechter Sturm gefegt hat. In der Linken hielt sie mit dem Gebetbüchlein das gefaltete Taschentuch. 127 Sie lachte mir meinen Gruß zurück. Ich schob meinen Arm in den ihren. So gingen wir zum Waldrand, wo wir uns niederließen.

Da war es still und warm zwischen den Föhren und der leis webenden Saat. Die Heuschrecken schrillten weit in die sommerliche Sonntagsrunde und hüpften mit ihren roten und blauen Flügeln schwirrend um uns übers trockene Heidemoos. An den Baumwurzeln blühten in Häuschen die weißen und blaßroten Immortellen auf silberhaarigen Stielen aus niederen Kränzen von wolligen Blättchen. Ich pflückte einige und gab sie Martha, die sie ans Mieder steckte. Dann schob ich ihr wieder den Arm unter und faltete meine Rechte mit ihrer Linken. Sie lehnte sich leicht an mich, so daß ich den Duft ihres Haares atmete. Und es ging eine Frische von ihr aus, wie von dem sonnigen, sturmverjüngten Land umher.

»Hast du dich gestern gefürchtet dort in der Hütte beim Gewitter?« fragte ich, mit ihren Fingern spielend.

»O nein!« lachte sie. »Was glaubst du! – Es war so heimlich«, fügte sie, ein Blättchen aufhebend, hinzu. »Es hat mir fast leid getan, daß das Gewitter so schnell vorüber war.«

Ich drückte ihre Hand. Sie wandte sich und 128 sah mir voll ins Gesicht. Unsere Lippen waren so nah, daß es kein Ausweichen mehr gab, sie zogen sich an und ruhten aufeinander. War das kühl und tauig! Dann senkte sie ihr Gesicht an meine Schulter. Ich atmete tief, hob es nach einer Weile mit beiden Händen sanft empor und küßte sie wieder.

Sie sprang auf und strich das Röckchen glatt. »Nun muß ich heim«, sagte sie, »der Vater kommt gleich aus dem Dorf.«

»Bleib noch etwas«, flehte ich, »der Vater sitzt noch gut zwei Stunden im Wirtshaus.«

»Nein, nein«, schüttelte sie sich lustig. »Ich muß auch nach dem Essen sehen.«

Ich hatte mich erhoben. »Leb wohl!« sagte sie. Wir küßten und umschlangen uns eng mit den Armen. Dann lief sie den Weg waldeinwärts.

»Martha!« rief ich.

Sie blieb stehen. »Ja? – Was denn?«

Ich war mit einigen Schritten bei ihr und schloß sie noch einmal an mich. Sie lachte. Als ich sie losließ, gab sie mir noch einen Kuß und einen leichten Schlag auf die Backe und sprang fort.

Ich taumelte heim durchs hohe Feld wie betrunken in meiner Seligkeit. Die Glocken 129 läuteten. Der Wind lief klingend über die flüsternde Saat.

Das war der schönste Tag meines Lebens. Ich hab' noch viel Glück erlebt, tieferes, volleres, Wonne und Rausch. Aber so klar, quellfrisch und schattenlos ist es mir nie mehr durch die Seele geströmt. Ganz eins war ich mit dem blanken Sommersonntag der wundervollen, vielgeliebten Waldheimat.

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