Hans von Hammerstein
Wald
Hans von Hammerstein

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Soweit wäre in diesem Sommer alles in Ordnung hingegangen. Ich nahm meine Pirschgänge mit oder ohne den alten Tauchen wieder auf, ich sah und erfuhr nichts von Martha, 186 erblickte zuweilen vor der Waldmühle nicht den Müller, der viel unterwegs war, sondern einen verstaubten Mühlburschen, dem er die Führung des Werkes anvertraut hatte; ich saß daheim in meiner köstlichen Stube, stöberte in Büchern, folgte dem Onkel Christian Günter auf geistigen Pfaden und verehrte, wenn es ganz sicher auf den Gängen war oder schon die trauliche Lampe brannte, vor geöffnetem Tabernakel seine, meine liebliche Geliebte.

Doch eines Abends, als man wieder nach Tisch beisammensaß, wurde die Frage meiner Berufswahl aufgeworfen. Denn es werde doch allmählich Zeit, mich zu entscheiden. Ich fände, versetzte ich ruhig, daß mir ein Beruf doch gar nicht zur Wahl stehe; mein Beruf sei Herrenschlag, Wald, Haus und Wirtschaft, und, fügte ich weise und schriftgelehrt hinzu, da man nach Goethe erwerben solle, was man von den Vätern ererbt habe, könne es sich nur darum handeln, meiner fachlichen Ausbildung in Hinsicht auf dieses Ziel die allgemeine Richtung zu geben. Dagegen hatte niemand etwas einzuwenden. Doch Onkel Artur, insistent wie er sein konnte, forderte von mir zu hören, wie ich mir das Erwerben meines Erbtums vorstelle. Er ließ mir aber gar keine Zeit zu einer überlegten Antwort, 187 sondern begann mit den Händen auf dem Rücken vor dem Ofen stehend ein Kollegium über moderne Wirtschaft. Jede Privatwirtschaft, auch Land- und Forstwirtschaft, sei, meinte er, heutzutage in den ungeheuren Gang der Weltwirtschaft unlösbar eingeschaltet, ob man wolle oder nicht. Darum erfordere das Wirtschaften in zeitgemäßer Weise nicht nur gründliche Kenntnisse in Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik überhaupt, sondern auch in denen der Gesetze des Handels und Verkehrs. Im Erwerb liege die Betonung neuzeitlicher Wirtschaftsmethoden. Es müsse also auch Land- und Forstwirtschaft großzügig auf Erwerb umgestellt, mit anderen Worten industrialisiert werden. Es ginge nicht mehr an, den normalen Ertrag nach überholten konservativen Grundsätzen zu ernten. Solch veralteter Gutsbetrieb würde früher oder später, wie er sich ausdrückte, von den Riesenrädern der heutigen Weltwirtschaft zermalmt werden; es gälte, sich in diese einzufügen, was nur mit Tempo und Herausholung aller, aber auch aller Möglichkeiten, an Gütern zu verdienen, geschehen könne. Also: Bau von Sägewerken, Förderbahnen, Anschaffung von Traktoren, Ausbeutung etwa vorhandener Bodenschätze und so weiter und so weiter. Gewiß enthielt sein 188 Vortrag manches Richtige, doch die allzu kaufmännischen Grundsätze, die der Glücksritter in der Theorie stets mit Leidenschaft vertrat, für seine eigene Lebensweise aber nur auf Kosten anderer anzuwenden pflegte, forderte meinen Widerspruch heraus. Ich entriß ihm daher, als ihm der gedankliche Atem auszugehen anfing, das Wort und hielt es, mehrfache Rückeroberungsversuche abwehrend, fest, indem ich ausführte, Herrenschlag sei überwiegend Forstbesitz, der Landwirtschaft, die nur eben zur Versorgung von Haus und Hof hinreiche, komme wenig Bedeutung zu, ein Wald aber, der sein vom lieben Gott bestimmtes Wachstum habe, müsse seiner Natur gemäß also doch im wahrsten Sinne des Wortes konservativ bewirtschaftet werden. Die Ausbeutung – ich haßte nichts mehr als diesen von Onkel Artur so oft benützten Ausdruck – führe beim Wald zu Kahlschlag und Raubbau, zur Vernichtung der Substanz, was wohl einer modernen Händlerseele, nie aber einem verantwortungsbewußten Besitzer anstehen möge. Wilhelm Heinrich Riehl, übrigens einer meiner Lieblingsschriftsteller, sage, fuhr ich fort, der Wald sei ein lebenswichtiges Gut für die gesamte Menschheit, und jenes Volk habe die stärkste Lebenskraft und damit die größte Zukunft, 189 dessen Raum über die meisten Wälder verfüge. Andernorts aber hätte ich gelesen, jeder Eigentümer an Grund und Boden sei, wenn er seinen Beruf richtig auffasse, vor Gott, seiner Familie und seinem Volke mehr ein Treuhänder als ein Besitzer, gar erst ein Waldbesitzer, denn der Wald lebe länger als der Mensch. Eine ideale Auffassung, die mir Ehre mache, erwiderte der geschäftskundige Mann mit überlegenem Lächeln, dennoch sei, was in Büchern schön hingeschrieben und angenehm zu lesen stehe, nicht immer brauchbar für den erbarmungslosen Kampf ums Dasein, einen solchen zu führen werde aber jeder, auch der Großgrundbesitzer, heutzutage gezwungen, da die Welt in der Entwicklung zum industriellen Betriebe dank unerhörter technischer Erfindungen unaufhaltsam fortschreite und nicht bei gemütvollen Redensarten stehenbleibe. Ich aber, noch heftiger gereizt und, wie es bei Verallgemeinerungen in Debatten die Regel ist, den Widerspruch ins Maßlose steigernd, versetzte, die Welt, die er meine, sei auf dem besten Wege, mit ihrer Ausbeutungsgier Wald, Land, Staat und Volk zu ruinieren, wie sie schon mit der Industrie weite Gebiete der Natur rücksichtslos zerstört habe. Nun griffen auch die Eltern in den Worthader ein, die Mutter auf meiner, der 190 Vater auf des Schwagers Seite, und es kam nichts weiter dabei heraus, als was stets bei derartigen Redekriegen mit vielen Knalleffekten zutage zu treten pflegt, nämlich gehemmte und sehr persönliche Gefühle, die als moralische oder ökonomische Sentenzen maskiert sich Luft machen. Wie denn die menschliche Rede nur zum geringsten Teile eine Funktion des Gehirns, weit mehr jedoch eine solche des Gemütes und der Triebe bis hinab in die Gegend des Magens ist und weniger der vernünftigen Klärung einer Sachlage als dem Ausgleich innerer Wallungen und Spannungen dient. Auch Leute, die für groß und weise gelten, insonderheit Politiker, gelangen häufig nur deshalb zu Ruf und Ruhm, weil sie gleichsam Redeventile sind, durch die der hochgespannte Gefühlsdampf des Publikums phrasenreich und geräuschvoll entweicht.

Ich weiß nicht mehr genau, wie wir im Ablauf des damaligen Wechsels von Worten, Ein- und Ausfällen zu diesem Punkte kamen, aber mich ritt jedenfalls der Teufel, da ich aus Rache für Onkel Arturs geringschätzige Bewertung von Bücherweisheiten betonte, daß ich überdies ein Mensch mit geistigen Bedürfnissen sei und daher als Gutsbesitzer mein Dasein weder in wirtschaftlichen Spekulationen noch mit den üblichen 191 Vergnügungen hinzubringen, sondern meine Mußestunden mit unablässiger Ausbildung in den Wissenschaften vom Wahren und Schönen auszufüllen gedächte. Jetzt, wie ein Wetter, nachdem es lange den Horizont umleuchtet und umrollt hat, brach es über meinem Haupte donnerschlagend zugleich aus des Vaters und des Oheims Munde los, und sprunghaft, ohne sichtliche Logik, überhagelten mich Ausdrücke wie »unproduktives Ästhetentum«, »abwegige Schwärmerei«, »sentimentaler Müßiggang«, als wäre ich ein Onkel Christian Günter redivivus, dessen Name dann auch richtig fiel, und ob ich, wie jener, den Besitz noch einmal auf den Hund bringen wolle. Aufs empfindlichste getroffen, schleuderte ich dem unternehmungslustigen Oheim hin, solches würde ich mich viel eher von seinen Projekten versehen, wodurch ich wiederum ein Ventil von des Vaters schlechtem Gewissen aufriß, dem nun zur unverlangten Selbstverteidigung eine Flut von Vorwürfen entquoll, die sich zum Teil auch gegen die arme Mutter und ihre angeblich verfehlte Art, mich erzogen zu haben, richteten. Nur langsam in allmählich ermüdetem Grollen verzog das familiäre Unwetter, in dem wolkenhaft Christian Günters Haupt von Blitzen umrissen 192 aufgetaucht war, und man begab sich für diesen Abend verstimmt zu Bett. Die Nachwirkungen dieser Entladung aber waren keineswegs reinigend und klärend, sondern überaus verhängnisvoll, wie mein Bericht zu entwickeln noch Gelegenheit haben wird.

Mich selbst befiel, da ich so unvermutet auf einen scharfen Gegensatz zu meinen eigentlichen und innersten Neigungen gestoßen war, eine Art seelischer Lähmung, ein Zustand dumpfer Gleichgültigkeit, in dem ich den weiteren Besprechungen über die Gestaltung meiner nächsten Zukunft fast wie ein Unbeteiligter beiwohnte. Onkel Artur plädierte für das Studium der Rechtswissenschaft mit Einschluß der Nationalökonomie, das jedem Beruf dienlich sei, jedem Fachwissen die solide Grundlage gebe und überdies, meinte er, gewissen heutzutage denkbaren Situationen gewachsen mache. Zwar, stichelte ich hin, nehme die Juristerei nur die untergeordneten Kräfte des Geistes in Anspruch, was abermals Empörung erregte, doch, da auch die Mutter den Plan vernünftig fand, ließ ich es geschehen, daß er zum Beschluß erhoben wurde. Auch wußte ich, daß mir bei diesem Studium wenigstens in den ersten Semestern viel Zeit zu anderweitiger Beschäftigung bleiben würde, und weil 193 außerdem beschlossen wurde, mich zum Besuch ausländischer Hochschulen auf Wanderschaft zu schicken, willigte ich um so lieber ein und dachte mir, ihr habt gut reden und planen, ich treibe doch, was ich will, und werde, was ich muß. Und dabei fühlte ich mich irgendwie in heimlichem Trotz mit dem Geist Christian Günters verbündet und von ihm geleitet.

Seit acht Jahren, also eigentlich seit meiner Kindheit, hatte ich keinen Herbst mehr in der Heimat verbracht. Zwar die Erinnerung war mir stets sehr lebendig geblieben, zumal diese Zeit mir fast die liebste im Jahre ist. Bei unseren Bauern heißt der Frühling in der bildhafteren Ausdrucksweise des Volksmundes »der Auswärts«, weil das Tagewerk, wenn der Schnee vergangen ist, Mensch und Tier, Roß, Pflug und Wagen aus dem dumpfen Hof hinaus ins Freie führt. So nenne ich sinngemäß den Herbst »Einwärts«, und nirgends, will mir scheinen, zeichnet dieses Wort die Stimmung der Landschaft treffender als in meinem Waldviertel. Wie dort der Frühling aus dem Winter spät, so tritt der Herbst früh und schier unvermittelt aus der vollen Pracht eines hohen, heißen Sommers hervor. Über Nacht sengt ein plötzlicher Frost das Laub an oder eine 194 Regenzeit verhängt, aus den schwarzen Wäldern dampfend, Nähe und Ferne. Dann eines Morgens steht das dichte Grau des Nebels bis an die Fenster, die Bäume sind nur verschwommene Schatten, man geht aus und verirrt sich wunderlich in der nächsten Umgebung, bis am späten Vormittag ein unfühlbarer Hauch die zähe Dunstschichte in rauchartig ziehende Bewegung bringt, es lichtet, es blinkt und blaut schon hier und dort auf, und mit einem Male in gleichsam geläutertem Sonnengolde ist die ganze vielstufige Farbenpracht der Gegend wie ein neugeborenes Wunder aufgeschlagen. Dann ist es köstlich, irgendwo auf einem erwärmten Felsblock träumend zu liegen oder mit der Schonzeitbüchse, den zottigen Hund voran, waldlängs durch Heide und Moor zu streifen; ein Stück Raubzeug wird gestreckt, ein Häslein übungshalber mit der Kugel umgelegt, der Anblick zu Ketten gescharter Spielhühner erfreut das weidliche Gemüt, und im feuchten Waldgrund wird mit Erregung die frische Fährte eines vom kaiserlichen Forst herübergewechselten Hirsches erspürt. Die kleinen Mooshügel im Waldschatten schimmern im tauenden Reif, Birken stehn wie Märchenbäume, die goldene Blätter gewollt, zwischen den finstern, hexenhaften Kiefern, 195 draußen im Stoppelfeld wälzt ein Bauer mit dem Pflug dunkle Furchen auf, und im duftenden Erdrauch flattern, hüpfen, picken Schwärme schwarzglänzender Krähen ihm nach. Altweibersommer in silbernen Fäden schwimmt durchs laue Blau, haftet wehend an gelben Büschen, liegt als ein schillerndes Seidengewebe über Wiesen und bläuliche Krautäcker gebettet. An anderen Tagen steigt der Nebel kaum über die Wipfel der höchsten Fichten und umwölbt als ein weiches, niederes Dach die eingeschränkte Runde. Es ist so reglos, als wären alle Winde gestorben. Das heisere Geschwätz der Krammetsvögel, dieser herbstlichen Lerchen, schwirrt um die Ebereschen am Straßenrand, deren korallenrote Beerenbüschel als einzige Farbflecke ins Grau hinausleuchten. Sanfter engt zur frühen Tagesneige der Dunst den Sichtkreis auf das Nähere und Nahe ein, die Dämmerung entspinnt ihm hüllende Schleier, und über dem abgeernteten Land liegt eine unsägliche Milde der Einkehr und Erfüllung. Doch dann im Hause erhellt die Lampe mit der Stube die innere Welt, die am langen Abend in stiller Beglückung von der Seele Besitz ergreift. Und gar wenn der glasierte Bauch des Ofens mit leuchtenden Ritzen das erste Feuer erknacken 196 läßt und wärmend im Raum ein winterlich-anheimelndes Rüchlein verbreitet, ist das Behagen grenzenlos.

Dieses Behagen füllte nun das ganze alte Haus. Denn Onkel Artur, der unseren Winter fürchtete und ihn kannibalisch nannte, hatte es verlassen und sich ins wirtlichere Unterland verzogen, und auch seine Bauleute und Agenten waren schleunigst wie ein Schwarm Zugvögel hinweggestoben. Alles atmete auf. Die Mutter, seit langer Zeit bedrückt und schweigsam, war wieder heiter und plauderte froh, selbst der Vater, befreit und zugänglich, schien an mir gutmachen zu wollen, was er im Bann des aufstachelnden Schwagers gesündigt hatte, stapfte mir zur Seite durch Hof, Feld und Wald, vermied es zwar ängstlich, von Projekten und Neuerungen zu reden, erklärte mir aber manches in der Wirtschaft und bedauerte es schließlich selbst, daß diesem friedlichen Beisammensein durch meine Abreise ein Ende gesetzt werden sollte. Doch der Entschluß war nun einmal gefaßt, Institutionen und Pandekten wollten belegt sein, ich schnürte mein Studentenbündel, in dem das Bild im goldgepreßten Lederfutteral nicht fehlte, und eines Morgens, da zum erstenmal der steife Nordwind die 197 schneeverkündenden Wolkenwölfe über seufzende Wipfel hetzte, fuhr ich, mit guten Lehren, Segenssprüchen und Reisegeld genugsam versehen, zu Tal, ins wilde Leben und ins Deutsche Reich hinaus, um dort an einer kleinen Universität den Studien zu obliegen.

Von meinen nun folgenden Wanderjahren sei nur das berichtet, was auf den Gang meiner durchaus nicht absonderlichen Entwicklung und Geschichte merkbaren Einfluß genommen hat. Und um es andeutend vorwegzunehmen: Das heimlich mitgenommene Bild übte einen solchen in manchmal wunderlicher oder wunderbarer Weise, wie man es ansehen und glauben mag, aus. Es galt mir als eine Art Talisman der Heimat, und Dinge, denen wir Sinn und Bedeutung zumessen, scheinen imstande, sich mit der Zeit eines Eigenlebens zu bemächtigen, das symbolhaft unsere Schicksale begleitet und zuweilen schier gespenstig in sie eingreift. Ich will es dahingestellt sein lassen, was davon der Einbildung, was der Wirklichkeit zukommt. Am Ende ist es gleichgültig, ob inneres oder äußeres Geschehen unser Leben bestimmt und welche Gestalt der dunkle Drang annimmt, der uns des rechten Weges zum Ziele in mancherlei Irrsalen mehr oder weniger bewußt sein läßt. 198

Ich jedenfalls wurde mir vorerst nur meiner goldenen Freiheit bewußt, und dieses Gefühl ist das Schönste am Studentenleben und eines, das spätere, immer gewisser in die ehernen Geleise der Notwendigkeit zwingende Zeiten und Zustände nie mehr zurückbringen. Des Morgens früh oder spät, frisch oder bekatert aufzuwachen, nur um zu überlegen, mit welch neuen Streichen der Tag sich und den Genossen zum Vergnügen, der philisterhaften Umwelt aber zum Verdruß gefeiert werden könne, solche Souveränität der Selbstbestimmung grenzt an das Göttliche. Ein Dasein, wie es nur ein unter der schrankenlosen Herrschaft jugendlicher Launen und Einfälle nicht ohne Gewinn und heimliche Zustimmung stehendes Studierstädtlein bieten konnte, ward also in vollen Zügen genossen. Zu unserer Ehre sei es festgehalten: Rausch und Begeisterung entquollen nicht nur den Getränken. Natur, Kameradschaft, nie versiegender Witz, stete Bereitschaft und Fähigkeit zur Freude und zu gefühlsseliger Schwärmerei, alles verband sich zu einer wahren Kunst der Heiterkeit, und jene fröhliche Wissenschaft, die schon die Scholaren und fahrenden Sänger des Mittelalters gepriesen hatten, beschäftigte uns mehr als die trockene, die in den Hörsälen 199 monoton gelesen wurde. Manch tiefere Freundschaft knüpfte sich ernsthaft aus gleicher Art des Geistes, und mit einem oder dem andern Paar schöner Augen wurde das leichte Ballspiel amouröser Blicke getauscht.

In meiner kleinen Bude auf dem Schreibtisch, den ich bei Tag so vernachlässigte wie bei Nacht das Bett, stand das Bild im goldgepreßten Lederrahmen. Anfangs wurde es noch oft betrachtet, später vernahm es zuweilen reumütige Vorsätze zur Besserung, schließlich hier und da einen Seufzer, der einen scheuen Blick im Vorübertaumeln spät nachts oder spät am Tage bei hastigem Verlassen des Zimmers begleitete. Einmal aber, als ich nach einer langen, erfrischenden Wanderung endlich ausgeschlafen den Vormittag der Arbeit und Korrespondenz widmen wollte, nahm ich es von seiner Stelle und trat ans Fenster, um in tiefster Seele zu erschrecken. Das liebliche Gesichtchen schien blaß, als hätte es das Lotterleben meiner Nächte mitgemacht, alle Frische und Fröhlichkeit samt den Grübchen aus den Wangen verschwunden, ein Ausdruck tiefer Melancholie in den dunklen Augen, um die bleichen Lippen zu liegen. Hatte das Licht, vor dem es ein Jahrhundert lang oder länger verschlossen gewesen, die zarte Malerei 200 angegriffen? Verzweifelt erwog ich eine Restaurierung, wollte schon beim Kunsthistoriker der Universität, in dessen Vorlesungen ich öfter zu sehen war als in den juristischen, mir Rat holen; doch die Besorgnis, daß der Versuch einer Auffrischung der Farben den Schaden vielleicht nur vergrößern würde, hielt mich ab. So verschloß ich das Bild im Ledertäschchen und sorgsam in einer Lade. Die nächsten Tage aber ging ich nachdenklich einher, saß stumm und stur in der lärmenden Tafelrunde, drückte mich unter allerlei Vorwänden von den Unternehmungen meiner lustigen Brüder, die es nicht gelten lassen wollten und mich mit der Behauptung hänselten, mich habe eine ernstliche Verliebtheit befallen. Doch Albrecht, mein bester Freund, ein vierschrötiger Junker aus dem Land der roten Erde, legte mir die schwere Hand auf die Schulter und raunte mir ins Ohr: »Mir scheint, dir hängt dieser fortgesetzte Lebenswandel (so bezeichneten wir scherzhaft die liederliche Vertauschung von Tag und Nacht, die wir seit Monaten trieben) schon ebenso zum Halse 'raus wie mir. Ein anständiger Mensch kann es ohne Wald nicht lange aushalten. Komm mit mir nach Haus. Der Vater schrieb, sie hätten auf dem neuen Schnee Rotwild und Säue 201 eingespürt. Er wird sich freuen, wenn ich einen Schützen mitbringe.« Das ließ ich mir in meinem Zustande physischen und moralischen Katzenjammers nicht zweimal sagen, und da auch die Weihnachtsferien bald begannen, trennten wir uns jäh und verstohlen von Hörsaal, Kneipe und ein oder dem andern Paar schöner Augen und saßen des andern Morgens, da die vernebelte Stadt noch im trüben Licht der Lampen dämmerte, sehr vergnügt in der Vizinalbahn, die eifrig pfauchend und läutend mit uns nordwärts entrollte.

Albrecht war ein stiller, kluger Mensch, bodenständig im wahrsten Sinn des Wortes, denn mit seinen stämmigen Beinen stand er wohlgegründet und wie verwurzelt auf der heimatlichen Erde, und sein naturfrohes Wesen verbreitete Kraft und Behagen. Durch seinen derben, wie aus zähem Holz geschnittenen Kopf aber ging zuweilen gleich dem Wind im Wipfel einsamer Eichen allerlei Wunderliches, und er hielt ihn, ob auch wortkarg und scheinbar nicht leicht beweglichen Geistes, ein feiner Beobachter mit wachsamen Sinnen, jedem Lüftlein, jeder Witterung offen. Sicherer als ich und ohne jedes Schwanken ging er seinen Weg auf das Ziel los, sich zu einem tüchtigen Verwalter seines 202 einstigen Erbes, eines bedeutenden Majorates, heranzubilden und dabei, indem er durch Reisen und Studien seinen Gesichtskreis erweiterte, mehr allgemeine Kenntnisse zu sammeln, als sie bei Landjunkern sonst zu finden sind. Was er mir so an Charakter, Fleiß und Erfahrung wie auch an Jahren voraus hatte, konnte ich hinwieder durch regeren Geist, größere Gewandtheit und umfassendere Bildung in aller Wissenschaft vom Schönen ausgleichen, und unsere Freundschaft wurde eine wahrhaft fruchtbare, wo jeder Teil zu geben und zu nehmen hatte, und Anregung immer aus neuen Quellen kam. Und während ich mit einem für meinen Geschmack zu liberalen und unternehmungslustigen Vater in Fehde lag, fand bei ihm das Umgekehrte statt, indem sein Erzeuger das Urbild des harten, verknöcherten Junkers war, der nur gelten ließ, was das Gewicht des Hergebrachten für sich hatte, und in jeder Neuerung, mochte sie auch der Nachbar mit großem Vorteil anwenden, eine Ketzerei witterte. Der Alte, der in seinem Leben nur ein einziges Mal, nämlich während des deutsch-französischen Krieges, über die engen Grenzen seiner Heimat hinausgekommen war, schoß im Zeitalter des Repetiergewehres noch hartnäckig mit Vorderladerflinten, und 203 wenn er auf Rebhühner jagte, mußte sein Jüngster hinter jedem Schuß herspringen, um die Pfropfen zu apportieren, die der Sparsamkeit halber wieder zur neuen Ladung verwendet wurden. Mich hielt der Vater von der Gutswirtschaft sorglich fern, mein Freund Albrecht indes mußte, wenn er daheim weilte, in der Verwaltung und Aufsicht mitarbeiten, wofür ihm der alte Freiherr sogar den Fortbezug seines Taschengeldes als Lohn bewilligte. Doch mußte er dabei alles dem heiligen Herkommen gemäß behandeln, und daß er sich anfangs einige Vorschläge zur Verbesserung des Verfahrens und Abkürzung von Umständlichkeiten erlaubt hatte, war ihm übel genug vermerkt worden. Albrecht nahm diese kleinen Ärgerlichkeiten mit der ihm eigenen unerschütterlichen, humorvollen Ruhe und war klugerweise weit davon entfernt, den alten Herrn durch Widerspruch zu reizen, während er im stillen schon Zug für Zug den Plan einer gründlichen Änderung erwog und ausbaute.

Nicht weit von dort hauste als königlicher Forstmeister in einem ehemaligen Kloster inmitten der herrlichsten Buchen- und Eichenwälder Albrechts Oheim, ein seltsamer Waldphilosoph, alt, grimm und zauberkundig wie 204 Regin im Eddaliede. Stets im langen graugrünen Rock mit grünen Aufschlägen, den norddeutschen Jägerhut mit Schweinsbart auf dem weißborstigen Haupt, hatte er in einem langen Waldleben so sehr Berufsgestalt angenommen, daß er, kurznackig, breitnasig und mit vereinsamten gelben Hauern im Munde, die er zuweilen fletschte, einem Keiler glich. Dazu hieß er mit Taufnamen Eberhard, und seine Seele, den Menschen abgewendet, wenn nicht geradezu feindlich, und stets mißtrauisch gesinnt, wob ausschließlich um Bäume, Hirsche, Säue und anderes Getier und Gewächs. Trotzdem besaß er eine Gattin, und in wunderlichstem Widerspruch zu ihm war sie, einer bekannten pietistischen Familie entstammend, eine überzarte, stets wirklich oder eingebildet kränkelnde Dame ätherischen Gemütes. Daß sie an ihm litt, wäre ihr aufs Wort zu glauben gewesen, doch davon sprach sie nicht, hinwiederum war es offenbar, wie sehr ihm das aller Rauheit und selbst dem Jagdbetriebe abholde, nur von geistigen und geistlichen Interessen empfindsam erfüllte Wesen der Ehehälfte widers Haar ging. Darüber indes verlor auch er kein Wort, höchstens daß er sich mit kurzem, mißbilligendem Grunzen entfernte, wenn etwa die Rede vom Wild und 205 Wald abirrend auf ein Buch oder eine Frage der Kunst geriet. Man sagte von den beiden, sie hätten sich geheiratet, um aneinander den Himmel zu verdienen, und wirklich schien die Gemeinsamkeit dieses Daseins ein Fegefeuer, das nur still, weil im Gehege wohlerzogener Umgangsformen, darum vielleicht nicht weniger peinvoll loderte und dessen nie aussetzende, wenn auch unvorsätzlich gegenseitig bereitete Qualen nur dank großer Gottergebenheit nicht zur offenen Hölle mit Heulen und Zähneknirschen ausarteten.

Albrecht pflegte mich auf die Eigenart von Häusern und Familien der Nachbarschaft, die wir besuchten, stets mit knappen Geschichtsabrissen und Gebrauchsanweisungen vorzubereiten. »Lobe, wenn dir dein Leben lieb ist, seine Hirsche!« murmelte er mir noch zu, als uns Eberhard an der Schwelle des von Geweihen starrenden Treppenhauses, von mehreren Hunden umkläfft, mit zweifelhaftem Knurren empfing. Dann, im Gespräch uns hinaufgeleitend, musterte er mich vorsichtig-scheel vom Kopf zum Fuß und schnupperte, wie um Witterung von mir aufzufangen. Es bedurfte nicht mehr des Rippenstoßes, den Albrecht mir versetzte, daß ich vor dem Gehörn eines gewaltigen Kronenzehners in Verzückung stehenblieb und andachtsvoll 206 erklärte, so was an Stärke, Auslage und vorbildlicher Regelmäßigkeit hätte ich noch nie erblickt – ein Ausstellungsstück! fügte ich fachkundig schätzend hinzu, nachdem ich rechtzeitig die an der Hirnschale hängende Preismedaille entdeckt hatte. Der Eindruck war wider Erwarten enttäuschend gering, und der alte Grimbart blieb unvertraut wie ein starker Rehbock trotz tage- und abendlanger Gespräche von Wild und Hund in einem geradezu klassisch von mir beherrschten Jägerlatein. Schon der englische Jagdanzug, den ich trug, mißfiel ihm, wie Albrecht mir später hinterbrachte, und er behielt sich vor, dem windigen Österreicher erst mal gründlich auf den Zahn zu fühlen. Auch geriet ich bald in eine sehr labile Situation zwischen dem Ehepaar, da es die Hausfrau mit anders gerichteter, doch ebenso feiner Witterung rasch heraus hatte, daß mein Herz in seiner Tiefe der schönen Geistigkeit gehöre. So war ich gedrungen, zwischen ihm und ihr, zwischen biderber Rauhhaarigkeit und feinfühlerigem Seelentum, zwischen Erde und Himmel eine wahrhafte Seiltänzerei zu üben, und daß sie mir leidlich gelang, stärkte nur den Verdacht des Forstgewaltigen, während die Hausfrau dem polternden Theater, das ich ihm zuliebe aufführte, bald 207 hinter die Kulissen sah und die Unterhaltung mit mir immer deutlicher für ihre dünnluftige, sternselige Sphäre beanspruchte. Albrecht, in Wilhelm-Busch-artiger Schadenfreude schmunzelnd, sah und hörte zu und ließ schweigsam erkennen, daß er nicht daran denke, mir beizustehen. Mich rettete endlich das Erscheinen der Tochter, des einzigen Kindes der ungleichen Teile, einer eckigschlanken Lichtgestalt, wie dahinschwebend aus einer Bildtafel der Präraffaeliten. Mit dem großen, sonnenhaften Paar heller Augen, das immer etwas erstaunt blickte, den sehr blonden Löckchen über der Kinderstirn und goldigen Zopfspiralen beiderseits der blaugeäderten Schläfen, mit dem durchscheinenden Lilienhals in herben Schultern glich sie so sehr einem jener über Blumen wandelnden Genien des Quattrocento, daß ich sie bei mir sofort Primavera taufte und auch hinfort nur so nennen will. Wahrlich, sie schien der Himmel, den diese heldenmütige Ehe schon auf Erden erzeugt und verdient hatte, und frischheiteren Natursinnes als Erbteil von Vaterseite, als menschliches Gebild aber wie eine leibgewordene geistliche Verzückung der Mutter und jedenfalls rein und innig erfreulich anzusehen, ging der Engel, ein ewig lächelnder Ausgleich in unbeirrbarer 208 Sanftmut, unberührbarer Harmlosigkeit zwischen den elterlichen Spannungen, sie mit der milden Macht des Wunders entwaffnend, einher. Selbst die blutlechzenden Saurüden des Jagdherrn, vor denen meine Waden ständig bangten, wedelten mit frommem Aufschlag ihrer roten Triefaugen, wenn sie kam, und die edle Frau, die duldnerisch strickend auf der Chaiselongue lag, die nichts ärger quälte als der Geruch feuchtwarmen Hundefells samt hündischem Flohgekratz, geifernder Atemlosigkeit und rücksichtslosem Schlittenfahren auf Perserteppichen, sie litt die gräßliche Meute um sich in Primaveras holder Gegenwart, die auch unsaubere Geister gebannt und Höllenstank in himmlischen Duft verwandelt hätte.

So hatte ich trotz schwieriger psychologischer Anforderungen, die Rede und Benehmen stellten, nichts dagegen, einige Tage zu bleiben und mit einer sicher hingesetzten Kugel, die bei einem Abschußtrieb auf Kahlwild ein flüchtiges Galttier im Feuer warf, hatte ich endlich auch das weidliche Herz des Alten getroffen und mir geneigt. Die lauernde Zurückhaltung wich sogar einem ausgesprochenen Wohlwollen, und meine südlichere Beweglichkeit brachte, ohne daß ich es darauf absah, Leben und Wärme in die 209 hohen Hallen und kalten Gänge der nur dem heiligen Hubert und Eustach geweihten Abtei, der man alles fromme Bildwerk gegen Jagdtrophäen und den Chorgesang gegen Hundegebell vertauscht hatte, bis auf den Abend, wo der Hausvater vor versammelter Sippe und Gesind den Segen sprach, und Sonntag, wo in der riesigen öden Kirche der Gottesdienst gehalten wurde. Mit Eberhard, dem rauhen, jagten wir in Tat und Rede, und daß ich Mengen seines rötlich-saueren Aarweines vertrug, schloß ihm weiter das Gemüt auf, so daß er es stumm litt, wenn ich mich willig von seiner Gattin in literarische Gespräche ziehen ließ. Mit Primavera aber verband mich bald ein fast schwesterlich-herzliches Verstehen, das jedoch durchaus klar und himmlisch blieb und keine Spur irdisch-begehrlicher Färbung annahm, wenn sich auch unsere Besuche in der alten Abtei immer häufiger und ausgedehnter wiederholten. Ich dachte mir oft, es würde den Eltern eine Freude sein, wenn ich ihnen solch eine Tochter heimbrächte, ich vernahm sogar in der Vorstellung das eifrige Zureden meiner Mutter. Doch es blieb ein Denken, eine Angelegenheit der Vernunft, die nicht tiefer hinab in Blut und Herz fallen wollte. 210

Im Verlauf dieser Wochen getraute ich mich auch einmal wieder, das Bild im goldgepreßten Lederfutteral aufzuschlagen. Siehe! Es schien gleich mir gesundet, es lächelte wieder in zartem Schmelz und rosiger Frische mit dem Amor in den reizenden Wangengrübchen, kein Hauch einer Farbe und Feinheit fehlte. Es lachte mich an und vielleicht aus, die schmale Hand schwenkte den gefiederten Kiel, die süßen Lippen sprachen mit lockendem Spott: »Wie gefällt's dir im frostigen Kloster? Erhebt dich der Umgang mit Engelsbildern zu himmlischer Schwärmerei? Vergißt du unter deutschen Eichen, wie daheim die Fichten wehen? Ach nein! Ich bin in meiner Heimlichkeit so sicher, daß du dem dunklen Bann des Waldes und meiner Augen nicht entrinnen kannst.« – Ach ja! Es schoß mir glühend auf aus der Tiefe des Blutes und überwallte mir siedend das Herz, und du gab's keinen Gedanken und keine Vernunft mehr, nur stürmend-erinnernde Sehnsucht über alle Ungewißheit der Ferne und in das rätselhaft anziehende Dunkel einer Bestimmung hin.

An dem Abend blieb ich lange wach und schritt in leiser Unrast hin und her. Auf dem Schreibtisch brannte das Licht, stand lächelnd und lockend das Bild. Ein Briefbogen lag 211 davor, die eingetauchte Feder daneben, ich hatte der Mutter schreiben und mit blumigen, hellen Worten ihr ein präraffaelitisches Engelsbild von Primavera zeichnen wollen. Am Morgen fanden sich auf dem Blatt hingekritzelt die Zeilen:

»An einer Mühle vorüber
kam ich auf stillem Gang.
Ein Mädchen lehnte am Zaune,
blaß, dunkel und schlank.

Das vergeß ich nimmer,
wie sie aufblickte und sann:
es war, als säh auf einmal
der ganze Wald mich an.«

Dieses Blatt ward dem Brief nicht beigelegt, als er geschrieben war, und er enthielt nur eine lustige Schilderung der Abtei, seiner menschlichen und tierischen Bewohner und der Spannungen zwischen ihnen, auch kein Engelsbild, nur einige freundliche Zeilen über Primavera, die sanftheitere, und für den Vater einen ausführlichen Forst- und Jagdbericht. Das Blättchen aber wurde hinter das Bild ins Futteral gefaltet und alles mitsammen in einer kleinen Reisetasche versperrt, die ich auf den Fahrten nie von der Hand ließ.

Zum Abschluß des Semesters kehrten wir in das Universitätsstädtlein zurück und verblieben dort auch das Sommersemester. Einen Teil der 212 Ferien verwanderten wir, Albrecht und ich, und als wir am Ende unserer Fahrten überlegten, wohin im Herbst studienhalber sich zu wenden sei, schlug Albrecht vor, wir sollten pro forma an einer größeren Universität, wo das Schwänzen nicht bemerkt werde, die Rechte, beim grimmen Eberhard aber Forstwesen und Philosophie der Einsamkeit belegen. Er habe bereits mit ihm verhandelt und sein Einverständnis ohne weiteres gewonnen. Ich stimmte freudig zu, doch reiste ich vorerst nach Hause, um mich wieder einmal blicken zu lassen und selbst nach dem Richtigen zu sehen.

Äußerlich fand ich alles beim alten, damit nicht durchaus beim guten. An Kenntnis und Erfahrung reicher, machte ich Onkel Artur gelegentlich mit meinen Einwürfen weidlich schwitzen, und der Vater hörte mir aufmerksamer, zuweilen mit offenkundiger Billigung zu, wenn er sich auch sonst fast ängstlich allen Erörterungen von Wirtschaftsfragen vor mir versperrte. Doch zeigte er sich sehr einverstanden mit der Forstpraxis beim wilden Eberhard, an den er mir, wie auch die Mutter an ihr dortiges Gegenstück und die englische Primavera, herzliche Grüße und Dank für die freundliche Aufnahme, die ich bei den guten Leuten gefunden, 213 auftrug. Auch trat man beiderseits in Briefwechsel.

Saß ich mit der Mutter allein, so ließen wir dem Ausdruck unserer Sorgen freien Lauf. Zumal war es das unglückselige Bahnprojekt, das uns nicht bloß mit Bedenken, sondern auch mit Abscheu erfüllte. Nun besaß es seinen begeistertsten Anhänger und Betreiber im Waldmüller, der sich übrigens zu einer Gemeindegröße entwickelt hatte und nicht mehr die entlegene Mühle, sondern ein grelles neues Haus am Dorfausgang, wo die Straße ins Unterland führt, bewohnte, das er sich von einem städtischen Baumeister hatte errichten lassen. Hastig wie ein Pilz gewachsen stand es da und protzte, stockhoch die ärmlichen Hütten überragend, mit schablonenhaften Stuckverzierungen, breitgrinsenden Fenstern und himbeerfarbenem Ziegeldach, der erste Vorposten beglückender Zivilisation, der im öden Waldlande Fuß gefaßt hatte, und ein Vorgeschmack aller Geschmacksschändung, die im Gefolge der entworfenen Bahn heraufdringen sollte. Dort lebte er als ein vermöglicher Mann, der sich was vergönnen darf, und ließ sich bei seinen noch immer häufigen Geschäftsfahrten von einem Paar glänzender, wohlgenährter Rappen ziehen. Im 214 Schloß war er oft zu sehen, und nur, daß er bisher noch nie als Gast an unserem Tisch gesessen, war dem in diesem Punkt unerbittlichen Widerstand der Mutter zu danken. Mit Martha traf ich nie mehr zusammen. Doch hörte ich, sie sei dann und wann auf Besuch dagewesen und, wie die Mutter einmal gesprächsweise bemerkte, eine Schönheit und ganz städtisch in Kleidung und Benehmen geworden. Der Müller habe gewiß vor, sich mit ihr einen reichen Schwiegersohn als Geschäftsfreund einzufangen.

Martha eine Städterin! – Mir war, als versänke das wundervolle Sommermärchen in die düstere Tiefe des Waldsees, aus der es nur der Silberhauch einer Mondnacht einmal wieder zu flüchtiger, geisterblasser Erscheinung heben könne.

Den herbstlichen Zugvögeln entgegen fuhr ich dann wieder nordwärts zu Albrecht, und wir meldeten uns bald beim Alten im Kloster, der jedem von uns eine der ehemaligen Mönchszellen als Quartier anwies. Und nun taten wir in den herrlichen weiten Staatsforsten unter seiner Anleitung Dienst als Praktikanten, deren es außer uns noch einige andere dort gab. Eberhard nahm die Sache sehr genau und duldete bei uns keine Nachlässigkeit. Mit dem ersten 215 Tagesgrauen mußten wir auf den Beinen sein, und der Jagd durfte nur als Belohnung für die vollbrachte Arbeit gehuldigt werden. Bald standen wir wie alle Forstbeamten und Knechte tief in der Furcht des Herrn und mußten uns manch ein zähnefletschendes Anfahren des bärbeißigen Chefs gefallen lassen. Doch jede seiner Grobheiten war im Grunde gerecht und lehrreich, und auch die trockene Theorie, die er uns stundenweise vorsetzte, war kurzweilig anzuhören, weil in urwüchsiger Sprache vorgetragen und von uralter Spruchweisheit, tiefgründiger Erfahrung und Beobachtung und derben Späßen durchflochten, wie Adern von Erz und Kristall ein Gestein durchziehen. Wenn er uns solcherart in Eifer geratend die Gesetze der Natur, den Aufbau der Erde, die Geschichte des Waldes erklärte, schien plötzlich die tierähnliche Gestalt Verleibung eines höheren Wesens zu sein, und Ehrfurcht ergriff uns vor dem Geheimen, in dem er wahrlich zauberkundig waltete, und vor der Sendung, die er am Walde und an uns erfüllte.

Primavera, der Lilienengel, schwebte durch Hallen und Höfe, und es war immer, als ob ein Lichtschein von ihr ausgehe und ihr Wandeln begleite. In heiter entwaffnender 216 Sanftmut half sie der edlen Frau und Dulderin Last und Versuchung tragen, die ihr mit Gottes Zulaß der Teufel als gräßliche Meute geifernder, kratzender, jaulender, stinkender Hunde samt den kotigen Schmierstiefeln und der Tabakspfeife des Eheherrn in den Salon, als Gespräche von Wild und Hund bei Aarwein und Steinhäger, bis Mitternacht ausgedehnt, und zuweilen gar als einen Schwarm sitz- und trinkfester Jagdgäste schickte, darunter nervenzerstörende, wie den schnarrenden Landrat, schwierige, wie den immerhin hochfürstlich-durchlauchtigen, doch mit Sprach- und Gedankenhemmungen behafteten Prinzen Karl Friedrich, apanagierter Ast, verabscheuungswürdige, wie den drahtbeinigen, geschnürten und immer noch in Liebesnot girrenden Rittmeister und Don Juan a. D., oder seelenwüste, wie den landsknechtisch fluchenden und bramarbasierenden Vetter Jost, mit Spitznamen – wer weiß, warum? – Affensteiß genannt. Denn Spitznamen sind dort landesüblich und so im Schwange, daß sie sogar in der geheiligten Kemenate vor Damenohren, wenn auch anrüchig, nicht unterdrückt und gerufen werden, weil der Träger bei allzu häufiger Gleichheit der Vor- und Familiennamen sonst oft nicht wüßte, daß er gemeint ist. Und Eberhard 217 hieß Tiraß, was ihm jedoch erst Albrecht aufgebracht hatte.

Doch Primavera leuchtete Reinheit, die alle menschlichen Gebrechen sühnte, und es war ganz in der Hausordnung, daß sie mich zuweilen auch ohne Albrechts Gesellschaft, wenn dieser zum Beispiel bei seinem Vater daheim beansprucht war, auf Gängen im Wald begleitete. Auch ritten wir gelegentlich miteinander aus, und wenn sie dann in entzückend spröder Anmut mir zur Seite im Damensattel schaukelte, ward ich manchmal nachdenklich, weil mir die Mutter durch den Kopf ging und sonst allerlei, aber das blieb doch eben im Kopf, in der kühlen, klaren Sphäre der Gedanken und der Vernunft, und das Herz füllte sich zwar bis zum Rande mit Bewunderung, mit Anbetung, mit verehrender Hingabe, indes war nirgends, nicht an der Oberfläche, nicht in der Tiefe, nicht in geheimen Falten ein Funke zu verspüren. Wir standen zueinander wie zwei positiv oder zwei negativ geladene Körper, waren in allem eines Sinnes, lasen uns Fragen und Antworten stumm von den Augen und Lippen ab, doch kein knisterndes Blitzchen sprang über.

Als wir – es war schon wieder Sommer geworden – eines Morgens zusammen ritten und 218 auf einer Anhöhe hielten, wo Kahlschlag einen von uns sehr geliebten Ausblick übers waldweite Land freigab, da eröffnete mir die Blume Gottes, daß sie beschlossen habe, den Schleier zu nehmen, und schon in wenigen Monaten in einen Frauenorden eintreten werde, der wegen seiner brutalen Aszese und mittelalterlichen Abgesperrtheit schaurig berühmt war. Mir schwanden die Sinne, ich mußte den Sattelknauf packen. Vor meinem Geist ließ der angekündigte Weggang des Engels ein grauenvolles Bild auftauchen: Trotz aller vornehmen Umgangsformen jegliche Beherrschung überwältigt und die Hölle mit Heulen und Zähneknirschen ausgebrochen in der Abtei; die edle Frau von blutlechzenden Rüden zerfleischt, doch nicht an ihren Wunden allein, sondern mehr an hündischem Höllenstank und träufelndem Geifer auf der Chaiselongue in langsamen Qualen dahinsterbend; Eberhard aber inmitten der gräßlichen Meute mit gelben Hauern im Wahnsinn lachend und mit einem rostigen Hirschfänger Harakiri begehend, opfervoll bis übers Ende, damit doch die Hunde noch was von ihm hätten. – »Sie dürfen nicht!« schrie ich auf. »Wollen Sie Ihre armen, alten, schuldlosen Eltern zerstören?« 219

Doch in kreisrunder, sonnenhafter Heiterkeit strahlte, staunte, lachte – so muß ein Seraph lachen – sie mich an und sagte, der Vater sei durch diese Mitteilung zum erstenmal, seit sie ihn kenne, gleichermaßen zufrieden wie ein Keiler in der Suhle und sanft wie ein Lamm geworden, es sei ihm sichtlich ein Stein vom Herzen gefallen, weil er das Töchterlein, den Augapfel, sein behütetes Reh im Zwinger, nie einem Mann abgetreten, nie das Mißtrauen gegen einen Schwiegersohn überwunden hätte; die Mutter wandle seither ständig wie in Visionen und in überseliger Opferverzückung, und beide seien zum erstenmal in ihrer Ehe, denn Flitterwochen waren von vornherein vertragsmäßig ausgeschlossen gewesen, miteinander wie die Turteltauben und küßten sich wiederholt unter den Türen. Mir war allerdings selbst in letzter Zeit eine ungemeine Verbreitung wehmütiger Zuvorkommenheit und mildlächelnden Pauschalverzeihens im Hause aufgefallen. Ich hatte das Primaveras besonders läuternder Strahlung zugerechnet und nicht weiter darüber nachgedacht. Was blieb nun mir übrig? Ein betrübtes Nachsehen, wie sich die ehernen Pforten hinter dem himmlischen Wesen für immer schlossen? Und dann noch heilig 220 entschwebend vielleicht ein Erinnern wie Chorgesang von steilen Bogenfenstern hernieder zu sündenschwüler Tiefe? Ja, in einer Art Gralsstimmung ritt ich der Gottgeweihten zur Seite waldlängs hinab und schwieg. Schwieg und tat die Frage nicht, weil ich nicht erlösen und so nicht erlöst sein wollte.

Fast ein Jahr waren wir in Eberhards Waldschule gesessen. Nun kam der Abschied, und der von Eberhard, dem Grimmen und Weisen, von Wald, Wild und Hund und vom rötlich-saueren Aarwein dauerte sieben Tage und Nächte, und der von der edlen Frau und verklärten Dulderin und von Primavera, dem Engel, dauerte in Geistessphären sieben Tage und verlängerte Abende, deren Rest um Hahnenschrei und Morgengrauen wieder in Aarwein, Steinhäger und Tabaksqualm endete.

»Beata primavera, ora pro nobis!« sprach ich unterm Klostertor, als Albrecht schon im Wagen saß, und küßte den Engel vor den Augen der Eltern auf die kühle Stirn, was als ganz in der Ordnung betrachtet wurde, von der edlen Frau mit himmelaufblickendem Lächeln bei gefalteten Händen, von Eberhard mit sichtlicher Rührung, denn ein Tropfen hing links in seinen Wangenborsten. Weiß Gott! fuhr es mir 221 durch den Kopf – aber nur durch den Kopf –, vielleicht hätt' er ausgerechnet mir als Schwiegersohn getraut?

Und ich kehrte heim und brachte Albrecht als Besuch mit. Ein wenig bang war mir freilich, wie ich zu Hause die Dinge wohl finden würde. Denn Albrecht hatte ein scharfes Auge für unsolide Wirtschaftsführung. Doch wurde ich angenehm schon dadurch überrascht, daß Onkel Artur nicht zugegen, sondern auf Reisen war. Und im Verhältnis zu dem Waldmüller schien eine merkliche Abkühlung eingetreten zu sein. Der Vater war weniger ruhelos, dafür etwas nachdenklicher, ja manchmal ganz in sich verloren. Übrigens freute er sich der nützlichen Tätigkeit, zu der mir Albrecht verholfen hatte, und der biedere Junker der roten Erde gefiel ihm ungemein. Seit manchem Jahr zum erstenmal sogar nahm er zu Ehren des Gastes die Veranstaltung von Jagden wieder in die Hand und erwies sich auch sonst in aller Weise für ihn gefällig. Es schien ihm darum zu tun, daß Albrecht einen günstigen Eindruck empfange.

Die Mutter, die ich um Aufklärung über die geänderten Verhältnisse bat, sagte mir, die Verhandlungen über das Bahnprojekt hätten eine scharfe Spaltung und Fehde in der ganzen 222 Gemeinde herbeigeführt. Die Pfarrhofpartei, zu der alle bessergestellten Bauern hielten, fürchte von der Bahnverbindung die Einschleppung großstädtischer Verderbnis und anderer Übel der Zivilisation, die Müllerpartei, die den Handels- und Gewerbestand für sich hatte, sähe natürlich gerade in dem, was den anderen eine Gefahr schien, ihren Vorteil. Der Waldmüller habe inzwischen die meisten Anteile an sich gebracht, so daß er wahrscheinlich mit dem größten Teil seiner Barschaft an dem Unternehmen hänge. Beide Lager nun suchten durch Abgeordnete und sonst gewichtige Leute die maßgebenden Behörden in ihrem Sinne zu beeinflussen, und die gegenseitige Bekämpfung mit oft nicht mehr ehrenhaften Mitteln, Übervorteilung und Verdächtigung habe es so weit gebracht, daß bei Anlässen, wie Wahlen, die Hitze der Gemüter bedrohlich würde. Der Vater spiele dabei eine unvorteilhafte Rolle, da er sich einerseits mit dem Müller leider zu tief eingelassen habe, andererseits mit seinen alten Parteigenossen nicht brechen könne, und jeder Vermittlungsversuch an dem Eigensinn der Kämpfenden, der im Feuer der Erregung immer härter würde, kläglich scheitere. Onkel Artur aber habe sich so verhaßt gemacht, daß er es vorgezogen, seinen 223 Wohnsitz wieder ins Unterland zu verlegen. Dennoch sei er nach wie vor der treibende Geist der Unternehmung und hetze den Vater, wenn ein Geschäft schief ginge, um es angeblich zu retten, in ein neues, und es wäre gar kein Ende der Verwicklungen und Besorgnisse abzusehen.

Genaueren Aufschluß konnte oder wollte mir die Mutter nicht geben, doch merkte ich wohl, daß schwere und begründete Kümmernis auf ihr lastete. Und auch Albrecht, der als ein rechter Westfale bei aller scheinbaren Einfalt das Gras wachsen hörte, sagte mir eines Tages, als wir zusammen bewundernd durch den Fichtenwald spazierten, in jener halbklaren, runenhaften Sprechweise, die ihm in solchen Fällen zu Gebote stand, ich solle mich mal vorsehen, er fürchte, die Nonne habe es auf den herrlichen Wald abgesehen, und er würde für die neue Bahn wohl die erste Fracht sein. In einem anderen Revier zeigte er mir eine Reihe zum Fällen bezeichneter Bäume und meinte trocken, der Bestand sei doch wohl noch nicht so überständig, um eine derartige Inanspruchnahme zu rechtfertigen.

An dieser Stelle muß ich nachholen, daß Onkel Artur nicht nur durch seine unselige geschäftliche Betriebsamkeit Unruhe in unseren 224 stillen, waldumhegten Lebenskreis gebracht hatte. Vor seiner Heraufkunft hatten die Eltern zufrieden mit sich selbst und fast abgeschlossen den Sommer und den Winter hingebracht. Es gab kaum eine pflegbare Gutsnachbarschaft, denn einerseits waren die Güter dort oben als hauptsächliche Waldgüter zumeist recht ausgedehnt und ihre Wohnsitze darum weit voneinander, dann liebten die meisten ihrer Besitzer nicht die Einsamkeit und Entlegenheit unwohnlicher Häuser oder altromantischer Burgen. So hielten sie sich lieber in der Stadt oder sommers auf ihren Sitzen im Unterland auf, wenn sie auch über solche verfügten, und die Waldherrschaft blieb Verwaltern und Förstern überlassen. Nur mit vereinzelten Familien also, die gleich uns entweder das ganze Jahr seßhaft im Waldland oder doch die milderen Gezeiten, zumal die für Jagdbetrieb geeigneten, dort verbrachten, waren seltene Besuche getauscht worden. Onkel Artur aber, mit der Begründung, daß Umgang mit jungen Leuten für mich nötig sei, überredete die Eltern, daß sie sich allzu abwehrender Einschicht entschlugen und regere Geselligkeit zu üben begannen, zu welchem Ende er im weiten Umkreis Beziehungen, über die mangels Gebrauch längst Gras gewachsen war, aufspürte und 225 ausgrub. So war auch wieder der Pfad zu einem Hause gefunden und begangen worden, das uns irgendwie verwandt und insofern ähnlich war, daß dort ein einziges Kind, und zwar eine Tochter, den Stamm fortsetzte. Dieses Mädchen, Marie benannt und Mimi gerufen, ein hübsches und sehr verwöhntes Ding, war gleich Primavera unentwegt heiteren Wesens mit dem Unterschied, daß solche Fröhlichkeit nicht die Spiegelung eines nur dem Himmel offenen Gemütes, sondern im Gegenteil Ausdruck einer sehr entschieden dem Weltlichen zugekehrten Lust und überdies einer großen Sicherheit in Absicht auf die Stellung und Wirkung des eigenen Persönchens war. Es gab daher wenig, was Mimi nicht erheiternd und belustigend gefunden hätte, wobei ihr ewiges Lächeln, Witzeln und Lachen es unklar ließ, ob sie Menschen und Dinge in wohlwollendem oder verachtendem Sinne lächerten. Ich selbst bot ihr mit allem, was ich an mir und um mich hatte, eine unversiegbare Quelle der Heiterkeit. Nicht nur, daß sie für meine Bemerkungen und Erzählungen, die auf erheiternde Wirkung abzielten, das dankbarste Publikum war, auch meine Art, zu leben und zu sein, meine Liebhabereien und Bücher belustigten sie aus der Maßen, und in 226 meiner geliebten Turmstube, als ich sie ihr einmal und nie wieder zeigte, wollte sie sich gar zerlachen. Begreiflich darum, daß ich mit einer gewissen Sorge eine Begegnung zwischen ihr und dem schwerfälligen, doch feinfühligen Albrecht kommen sah. Sie fand statt. Mimi zerlachte sich über den Junker der Roten Erde nach allen Richtungen auf die reizendste Art. Kein dressierter Tanzbär hätte ihr ein innigeres Vergnügen bereiten können. Doch auch Albrecht, gutmütig und voll Sinn für alles Frohe und Sonnige, belustigte sich ohne Unterlaß an ihr, machte ihr in einem gewollten Zerrbild seiner Art erst recht einen Narren vor und lachte in dröhnendem Baß so stark, daß man Mimi schließlich erstaunt verstummen sah und zum erstenmal etwas wie Unsicherheit an ihr bemerkte. Als sie mit ihren Eltern abreiste, war sie anders als sonst, schweigsam und nachdenklich; sehr nachdenklich aber auch Albrecht, der noch einige Tage, doch kürzer, als er zuerst vorgehabt, bei uns blieb. Und während wir in den letzten Tagen miteinander spazierten oder saßen, machte er zuweilen halbgemurmelt und seufzend wunderliche Bemerkungen, wie: es sei doch ein glückliches Land, daß so sonnige Menschen erzeuge, die alles im Leben und sich selber leicht 227 nähmen, und ich befände mich in einer beneidenswerten Lage.

Nun reiste er wieder nordwärts, um seinen Studien einen gewissen Abschluß zu geben, für mich aber wurde es Zeit, dem Vaterlande ein Jahr mit der Waffe zu dienen. Davon ist nichts Ungewöhnliches zu berichten. Der Zoll an Schweiß, Unbequemlichkeit, Freiheitsbeschränkung, rauher Behandlung und körperlicher Anstrengung, den ich gleich anderen zu entrichten hatte, war mir wie jedem gesund, und das lustige Leben kam nicht zu kurz dabei. Sonnengebräunt und trainiert wie ein Windhund kehrte ich zu Herbstbeginn des folgenden Jahres heim, und da ich als ein farbenprächtiger einjähriger Wachtmeister neben dem vor Stolz auf mich strahlenden Mathias, die Zügel der trabenden Jucker in den Fäusten, auf dem Kutschbock saß und aufsehenmachend ins Dorf einfuhr, geschah es, daß der neuen Villa des Waldmüllers, eben als wir anrollten, durch die mit Zierglas und gußeisernen Schnörkeln versehene Haustür eine schlanke junge Dame dunklen Haares und Blickes in sehr geschmackvoller Reisekleidung enttrat. Martha! Mit einem Ruck setzte ich die Gäule fast auf ihre Kruppen, warf dem verdutzten Mathias die Zügel hin und sprang ab. 228 Jetzt war aber zu meiner Abkühlung auch der Waldmüller hervorgekommen, und ich bemerkte, daß seitwärts sein Gespann mit den wohlgenährten Rappen fahrtbereit stand, das Martha zu besteigen sich anschickte. Die kofferschleppende Dienstmagd fast überrennend, lief ich sporenklirrend hin und begrüßte mit Lebhaftigkeit das, wie meine Mutter richtig gesagt hatte, ganz städtisch gewordene Mühlenkind, dann in gegenseitiger Kühle den nachkommenden Vater. Martha, fremd und verwundert tuend, sagte, indem sie mich groß von Kopf zu Fuß musterte, mit spöttischen Mundwinkeln nur: »Man kennt Sie gar nicht in dem Aufzug!« Schön war sie, daß man es gar nicht beschreiben kann, gestreckt und weiblich entwickelt, blässer im Gesicht, tiefer der Glanz ihrer Augen, süßer die Himbeerfarbe der, wie es schien, feiner und breiter gezogenen Lippen, aufrecht und damenhaft abweisend die Haltung. Ich fing eine schlanke Hand, die eben in weißes Glacéleder tauchen wollte, und hielt sie in meiner derb behandschuhten Rechten fest. War es Einbildung oder der langentwöhnte Anblick, die Ähnlichkeit mit dem Bildnis meiner heimlichen Rokokodame schien noch viel auffallender, zumal das liebe Gesicht bei irgendeiner halb verlegenen, halb 229 erheiternden Bemerkung, die ich machte, nun doch ein Lächeln wie ein flüchtiger Sonnenschimmer und ein leichtes Erröten überhuschte. Sie müsse eilends hinunter zum Schiff, sagte sie, indem sie ihre Hand aus meiner löste und in das Wägelchen stieg. Ob sie auf längere Zeit verreise? Auf sehr lange, erwiderte sie, während der Müller, jetzt nicht mehr weiß bestaubt, sondern in vornehmes Dunkel gekleidet, breitspurig neben ihr Platz nahm und die Zügel ergriff. Nach Frankreich, erklärte er mit jenem sonderbar geheimnisvollen Lächeln, das seine Antworten auf meine Fragen zu begleiten pflegte. Ihr verblüfft ins Gesicht starrend, forschte ich mit Warum? und Wieso? und zu welchem Ende? weiter, und da ich irgendwann einmal gehört zu haben glaubte, sie besuche ein Pädagogium, schoß es mir dumm durchs Hirn, und ich fragte, ob sie etwa eine Stelle als Lehrerin antrete. Das habe sie nicht nötig, versetzte der Vater in verbissenem Triumph, riß die Zügel an, schnalzte mit der Zunge und ließ seine von wohlgehaferter Ungeduld befeuerten Rappen antraben. Und ich hatte wieder einmal das Nachsehen, das ich übte, bis der Wagen in die Landstraße einbog. Aber da wandte Martha sich um, und es war noch nah genug, daß ein Blick 230 mich traf, der nichts von Spott und Fremdheit hatte und so tief wie nur immer einst in schöner, verschollener Sommerwärme und in stummer Sehnsucht zu sagen schien: »Könnt' ich bleiben!«

Das unvermutete Zusammentreffen hatte in meiner Seele allen Bodensatz an Erinnerungen, Sehnsüchten und Zweifeln aufgestört. In Träumen abwesend ging ich die nächsten Tage einher und übersah es fast, daß die Mutter sorgenvoll, der Vater selbst zerstreut und mit Gedanken beschäftigt war. Mochte es die Nachwirkung der doch an Wechsel der Landschaft und Umgebung reicheren Wanderzeit oder die Gewöhnung an vielerlei Geselligkeit, zumal des bunten, geräuschvollen Soldatenjahres, sein, das eben hinter mir lag, mich bedrückte auf einmal die sonst über alles geliebte, von den riesigen Wäldern umstarrte Einsamkeit, und ich fand mich, selbst unruhvoll und in ungewisser Ferne Unbestimmtes suchend, ihr nicht gewachsen. Jene tiefbeglückende innere Tätigkeit, die nicht kennt, was andere Langeweile heißen, die um so reger erwacht, je stiller und eingeschränkter das Außen ist, sie mochte, mir vertraut von Kindheit an und immer sofort bereit, wenn ich nur den ruhedunklen Kreis der Heimat betrat, sich diesmal nicht einstellen. Ziellos und innerlich 231 zertrieben, mißlaunig und mir selbst zur Last, schweifte und lungerte ich umher und empfand es als Erlösung, als der Vater mir riet, mich für einige Monate, ehe die Studien zur Dachgleiche der Prüfungen getrieben werden mußten, noch in der Welt, und zwar in der weiteren Europas, umzutun. Frankreich, da zog mich etwas, doch weder Land noch Leute noch Sprache; immerhin, es war einer Bekanntschaft wert – und vielleicht gab es doch noch romantische Zufälle und wundersame Begegnungen? Spanien schien reizvoller, und der Weg führte dahin. Am stärksten aber lockte Italien, »von alten Marmorbildern ein schöner Trümmerhauf, in reizendem Verwildern ein blühender Garten drauf«. Die Alpen stellten sich mit höhenluftigen Gipfeln und brausenden Schluchten dem Rückweg entgegen. Rasch war die Fahrt zu Land und Meer entworfen, waren Orte für länger genießendes und studierendes Verweilen ausgesucht, und Albrecht wurde angeschrieben, ob er mitwandern wolle. Er fand sich dermalen schwer abkömmlich, schlug aber für später einen Treffpunkt im Auslande vor. Voll Reiseeifer traf ich meine Vorbereitungen, und flüchtig nur störte mich der Verdacht dabei, der Vater wünsche etwa noch aus anderen Gründen meine Entfernung, zumal 232 die Mutter, die sonst jeder Bereicherung meiner Erfahrung das Wort redete, jetzt nicht mit rechter Freude an meinen Plänen teilzunehmen schien. Doch sie vermied es, mir die Lust mit Besorgnissen zu trüben, und meine Phantasie flog mit weitgespannten Schwingen schon so beglückt in den Traum der verheißungsvollen blauen Ferne, daß auch ich mich hütete, durch Fragen vielleicht Hemmungen heraufzubeschwören oder Belastungen des Gewissens als unerwünschtes Gepäck mitzunehmen.

Nun also mit dem Strich der herbstlichen Wandervögel zog ich südwärts, doch ohne ein bestimmteres Ziel als eben die Ferne, und wandte mich dann gegen Westen, wo ich gerne ein Ziel gewußt hätte, doch jenes, das mich sehr bestimmt zog, nicht in Erfahrung hatte bringen können. Den Waldmüller selbst zu fragen, dagegen sträubte sich was in mir, besonders nach der peinlichen Bemerkung, zu der ich den Stolz des reichgewordenen Mannes herausgefordert hatte. Die Reisetasche barg wie immer das Bild im goldgepreßten Ledertäschchen, und noch bedeutungsvoller als bisher war es mir Talisman, behüteter, behütender und festmachender Reisesegen. Daß und wie es mit seiner wunderbaren Wirkung entscheidend in mein Schicksal 233 eingegriffen hat, sei Gegenstand des folgenden Berichtes, des einzigen, den ich von den Erlebnissen meiner Fahrten zu erstatten für wert erachte.

 


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