Hans von Hammerstein
Wald
Hans von Hammerstein

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Es hatte seit Wochen nicht geregnet. Seufzend gingen die Landwirte über ihre Felder, die 152 hart und voller Sprünge waren, und spähten in den Wetterwinkel nach Wolken aus. Die kleinen Bäche lagen trocken, um den Waldweiher bleckte ein breites Band weißer Steine am Ufer hin, selbst die grünen Flecke der Sumpfwiesen schrumpften in ausgedörrten Säumen. Im Wald getraute man sich keine Pfeife auszuklopfen, trat jedes glimmende Streichholz, das man wegwarf, sorglich tot und blickte wohl im Weitergehen noch einmal nach der Stelle um. Das Pirschen war schwer. Die Zweige knackten und prasselten bei jedem Tritt. Bald da, bald dort stiegen Rauchsäulen in den unbarmherzig klaren Himmel auf. Wald- oder Heidebrände, die schnell begrenzt und gelöscht wurden, Heuschober, wo ein unvorsichtiger Wanderer gerastet hatte.

Sonntags las der Pfarrer eine Messe in Grün, indes der Himmel schien sich nicht neigen zu wollen. Nach Mittag trübte sich wohl öfter die Sonne, und Gewölk stieg dunkel auf, zu dem viele Augen erwartend emporblickten. Jedesmal aber hob sich ein heißer Wind vom Süden, machte aus den hoffnungsvollen Wolken seltsam gewirbelte Spitzhüte und andere unnütze Gebilde, und im klarsten Abend ging die Sonne unter, ohne daß ein Tröpfchen gefallen wäre.

Die Ferien gingen zu Ende. Ich bemühte mich, 153 nicht daran zu denken, und sprach nicht davon, als könnte ich so den Schmerz hinausschieben. Dennoch kam ich meiner Seele darauf, daß sie ganz genau die Tage zählte.

An einem dieser stürmischen Nachmittage ging ich zum Föhrenwäldchen bei Biberschlag, um Martha dort zu treffen. Der Sturm rannte heiß atmend übers Land und jagte auf der weißen Straße hohe Staubwolken vor sich her. Die alten Kiefern rangen mit den krummen Zweigen und schüttelten ihre verwühlten Wipfel, daß es aussah, als wär's ein Haufe hadernder Wichte, verwachsener Zwergriesen mit stämmigen rotbraunen Leibern, krampfhaft verdrehten Gliedern und wildgesträubtem, zottigem Schwarzhaar, die stöhnend aufeinander losschlagen.

Martha stand blaß und traurig an einen Baum gelehnt. Als ich sie zärtlich fragte, was ihr wäre, fing sie leise zu weinen an und sagte, der Vater habe ihr mitgeteilt, daß er sie übermorgen oder vielleicht morgen schon in die Stadt bringen werde, wo sie erst zu einer Tante und dann in ein Institut solle. So schwer es mich selber traf, ich begann mit vielen Liebkosungen sie zu trösten, erklärte ihr, daß ich ja auch nun bald fort müsse, daß wir uns doch zu Weihnachten oder längstens zu Ostern wiedersehen 154 würden, und was sonst noch erfindlich war, doch überwand schließlich das harte Gefühl des Abschieds alle meine Worte, und sie heftig umschlingend, wußte ich nichts mehr als Klagen und wilde Beteuerungen meiner Liebe zu ihr.

Sie hob in Tränen lächelnd das Gesicht und fragte, indem sie den Arm um meinen Hals legte und mich mit großen Augen erstaunt ansah: »Hast du mich denn wirklich so gern?«

Da brach, dem Sturm gleich, der eben wieder mit schwülem, beklemmendem Hauch in die Wipfel fuhr, meine Leidenschaft los und ergoß sich über alles, was küssenswert an ihr war, in so zügelloser Wildheit, daß sie erschrocken zurückwich und mit hilflos bittendem Blick die Hände wehrend gegen mich hob. Ich faßte mich, als ich sie so blaß und zitternd sah, sank an ihr auf die Knie und barg mein Gesicht an ihrem Schoß. Mit bebenden Fingern strich sie mir übers Haar und ließ sich neben mir nieder. Lange hielten wir uns schweigend umschlungen.

Daß wir beide keinen fanden, war unser bester und einziger Trost, den es nur noch verkürzte und verbitterte, daß sie diesmal nicht länger bleiben durfte, weil ihr der Vater befohlen hatte, alles für die Abreise zu bereiten. So schieden wir denn mit vielen Seufzern und verabredeten, 155 uns morgen am frühen Vormittag wieder an dieser Stelle zu finden.

Vor acht schon war ich dort, aber Martha kam nicht. An einer der umstehenden Föhren war in Streckhöhe eine Höhlung, die wir gelegentlich als Briefkasten benutzten, wenn wir uns etwa mitzuteilen hatten, daß ein Stelldichein nicht eingehalten werden könne. Als ich eine Weile unruhig auf und ab gegangen war, langte ich gewohnheitsgemäß in die Astgrube und griff einen Zettel. Heißer Schreck fuhr mir in die Glieder, und er ward bestätigt, als ich das Brieflein entfaltete, denn es enthielt in eiliger Schrift die Mitteilung, daß Martha mit dem Vater schon vor Sonnenaufgang abgereist sei, nebst einem innigen Abschiedsgruß. Ich warf mich auf die Erde, las hundertmal den Zettel und wollte das Grausame nicht glauben. Diese Erschütterung, die mich innerlichst wanken und schwindeln machte, ließ mich erst recht fühlen, wie mit ganzem Herzen ich an dem Mädchen hing. Ich trug meinen Kummer heim. Die Gegend schien mir plötzlich starr und fremd, als hätte sie die Seele verloren. Ein paar Tage brachte ich's nicht über mich, in die Nähe der Mühle zu gehen. Ich wanderte gegen Osten hinaus, schweifte dort stundenlang in den 156 Wäldern und Heiden und hatte kein Aug' für die Dinge, die mich sonst entzückten. Wenn ich rasten wollte, trieb mich das Gefühl der Einsamkeit wieder auf und endlich nach Hause.

Inzwischen war es trübe geworden. Der Himmel hüllte sich täglich in dichteres Grau, und bald floß ein öder Landregen nieder. Die nassen Wipfel schluchzten im Wind, und das scharfe herbstliche Wehen zog durch die Wälder wie hunderttausend Seufzer der Verlassenheit.

Die letzten Gänge, die ich durchs Revier machte, galten all den lieben Orten, wo ich so oft mit Martha gewesen. Im Wald war da eine Stelle, wo den Weg ein Bächlein kreuzte, das man überspringen mußte. Dort im feuchten Lehm fand ich noch unsere Spuren und einen Abdruck von Marthas zartem Mädchenfuß, ganz genau und fein die schlanke, gewölbte Sohle und vorn daran die fünf runden Eindrücke der Zehen. Ich baute aus Zweigen einen Zaun darum und deckte eine Baumrinde darüber. Tags zweimal und noch am letzten Abend ging ich hin, hob die Rinde ab, betrachtete die liebe, zierliche Fährte und dachte des wunderbaren Sommers, der vergangen war.

 

Jedes neue Schuljahr stand für mich in seinen ersten Wochen unter dem bitteren Zeichen des 157 Heimwehs. So tief und lang aber hatte es noch nie in meiner Seele gebrannt wie diesmal, als ich wieder in den Klostermauern saß. Und ich pflegte die zehrende Flamme, die mir bei aller Qual süß war, weil sie ein Geheimnis barg, das mich im Schmerz glücklich machte. Das schwarze Taschenbüchlein füllte sich mit Niederschriften, denen jedoch die Frische und Natürlichkeit der ersten mangelte. Meine poetische Unschuld war dahin. Ich hatte Verse machen gelernt, und Rudi war nicht mehr da, um sie zu rezensieren. Er war aus dem Konvikt geschieden und besuchte nun eine der Wiener Mittelschulen. Eines Feiertags zeigte er sich wieder einmal, wie es schien, nur um den gewaltigen Abstand fühlen zu lassen, der jetzt zwischen ihm und seinen ehemaligen Studiengenossen bestand. Er war nach der letzten Mode gekleidet und voll vornehmer Herablassung zu uns.

Als ich zu Ostern nach Hause kam, fand ich zu meiner bitteren Enttäuschung Martha nicht dort. Wir hatten bei dem überraschenden Abschied die Mittel und Wege eines brieflichen Verkehrs nicht ausmachen können, und nach ihr zu fragen, wagte ich nicht. So mußte ich mich auf den Sommer vertrösten.

Dieser brachte mich denn nach 158 wohlbestandener Reifeprüfung als einen freien Studenten heim, den Kopf voller Pläne und das Herz voll Hoffnung und Freude den offenen Pforten des wunderbaren Lebens zujauchzend.

Im Hause fand ich viel Unruhe und Unbehaglichkeit. Der Vater, geschäftiger denn je, hatte einen Stab von Agenten und Zeichnern um sich, mit denen er die Gegend bereiste oder in seinem Zimmer verschlossen über Plänen, Entwürfen und Tabellen brütete. Onkel Artur, nun ganz bei uns eingesessen, schien dabei der Stabschef und treibende Geist zu sein. Und der ehemals verachtete Waldmüller ging aus und ein als ein guter Freund und Berater.

Die Mutter sah diesem ganzen Treiben still und sorgenvoll zu und bemühte sich, in vermehrter Tätigkeit Ablenkung von Dingen zu finden, bei denen ihre Einmischung nicht erwünscht kam.

Martha war nicht bei ihrem Vater, und ich konnte auch nichts Zuverlässiges über sie in Erfahrung bringen. So nahm ich mir einmal Mut und fragte den Müller nach ihr. Mit dem ihm eigenen undurchdringlichen Lächeln erwiderte er, sie sei im Winter ein wenig krank gewesen und mit der Tante, seiner Schwester, in ein Bad gereist. So viel wußte ich schon, daß diese Tante, der Martha ganz zur 159 Erziehung anvertraut schien, eine kinderlose Witwe nach einem vermögenden Wiener Geschäftsmanne war.

Wenn ich die einsamen Wege ging, die mir der vorige Sommer so lieb und erinnerungsvoll gemacht hatte, trat mir wohl ihr liebliches Bild da und dort lebhaft vor Augen, und wie über den Wald manchmal fernher ein geisterhaftes Wehen heraufkommt, mächtig die Wipfel beugend anschwillt und ins Weite ausatmend verläuft, bewegte auch meine Seele ein wehmütiges Gedenken, das sich für Augenblicke zur Sehnsucht steigerte, um dann doch wieder in den tausend Wünschen und Plänen meiner jungen Freiheit unterzugehen.

Auch meine Eltern ließen erkennen, daß ich für sie nunmehr als sozusagen freigesprochen galt, was unter anderem darin Ausdruck fand, daß mir eines Abends nach Tisch angeboten wurde, an Stelle meines Bubenzimmers, das ich im Anschluß an das elterliche Schlafgemach bewohnte, nach Wahl andere Räume im Schlosse zu beziehen. Sogleich am folgenden Morgen sehr früh, da sich nur erst der wirtschaftliche Teil des Hauses zu regen begann, machte ich mich auf, um eine Entdeckungsreise zur Vornahme dieser Wahl anzutreten, 160 heimlich, weil ich jeden Rat und Vorschlag, den vermutlich diktatorischen sowohl des Vaters wie den schwatzhaften Onkel Arturs und sogar den mir gewiß nicht widrigen der Mutter ausschließen und meines jungen Herrengefühles ohne die mindeste Beeinträchtigung genießen wollte.

Zuerst Treppen und Stufen auf und ab, wie es in sehr alten, jahrhundertelang gewachsenen und umgebauten Häusern üblich ist, bereiste ich die Gastzimmer, stieß die oft verquollenen Fensterläden auf, daß Licht oder Morgensonne hereinbrach, und betrachtete die Stuben, die in Größe und Gestalt des Raumes sehr verschiedenartig waren, doch alle darin übereinstimmten, daß in ihnen eine längst vergangene Zeit, ungefähr die von den Franzosenkriegen bis zum Jahre 1850, stehengeblieben und sogar in einem eigenartigen Duft der Verschollenheit erhalten schien. Überall standen da ähnliche Möbel mit glatten, hellgemusterten, meist verschossenen, oft verschliffenen Kretonnebezügen, in manchen war auch noch die Tapete gleichen Musters und der in steifen Falten geraffte Himmel über dem unbequemen Bett erhalten. Die altväterischen Ofengebäude strahlten selbst in ungeheiztem Zustande Behagen aus, und hier und dort fanden sich wertvollere Einrichtungsstücke, 161 Zeugen des Geschickes und Geschmackes alter Handwerksmeister, die, ob auch wurmstichig und übel erhalten, einer näheren Besichtigung unterzogen und für meinen künftigen Wohnraum allenfalls in Aussicht genommen wurden. An den Wänden hingen Kupferstiche oder Lithographien, stockfleckig und unterm Glase verstaubt, romantische Landschaften, Ansichten von Stadtplätzen, Palästen, historischen Szenen, Schlachten und Porträts verwandter oder zu ihrer Zeit berühmter Persönlichkeiten.

Von Stube zu Stube setzte ich meine forschende Wanderung fort, vor der Türe der einen, die dermalen Onkel Arthur, dem fahrenden Glücksritter, zum Quartier diente, verweilte ich einen Augenblick mit dem tückischen Gedanken, den Langschläfer, dessen friedvolles Schnarchen bis auf den Gang heraus zu vernehmen war, mit irgendeiner erfundenen Alarmnachricht aufzustören. In der Voraussicht jedoch, daß die Wirkung des Scherzes unerwünscht und störend auf mich selbst und meine häusliche Rundfahrt zurückfallen könnte, bezähmte ich die Schadenfreude und schlich leise vorüber.

Nun gelangte ich in den abendseitigen Flügel des Schlosses, wo sich die fast nie benützten eigentlichen Repräsentationsräume befanden. Ich 162 selbst hatte sie schon lange nicht mehr betreten und erinnerte mich nur aus den Tagen meiner frühen Kindheit, daß man sie einmal geöffnet hatte, als es anläßlich eines in der Gegend abgehaltenen Manövers galt, einen Erzherzog mit seinem Stabe zu empfangen und zu bewirten. Ein anderes Mal hatte man den Bischof, der zur Firmung in den Ort gekommen war, mit vieler geistlicher Begleitung dorthin geführt und war um ihn herum Kaffee trinkend gesessen, wobei ich in einem blauen Samtgewande, das ich nicht leiden konnte, vorgeführt und als frommer Knabe belobt und mit Bildchen beschenkt worden. Sehr viel besser als der purpurne Oberhirte der Diözese hatte mir damals der Abt des benachbarten Stiftes gefallen, ein jovialer Herr mit mächtiger, blühender Nase, der gleich einem prunkvollen Barockofen Behagen strahlte und mit einigen derben Scherzen zu großem Gelächter der Herren meine zarte Mutter schier verlegen gemacht, mir aber aus der Pein steifer Verlegenheit geholfen hatte, wofür ich ihm zeitlebens dankbar und befreundet blieb.

Zuerst gelangte man hier in das Jagdzimmer, einen kleinen Saal mit brauner Tapete, die hinter der Menge von gehörnten, gefiederten und ausgestopften Trophäen, die sie bedeckte, 163 fast unsichtbar blieb. Zudem standen an den Wänden hinauf mit grünem Tuch bezogene Tafeln, die Reihen alter Steinschloßbüchsen, Armbrüste und ganzen Fächern verrosteter Säbel und sonstiger teils jagdlicher, teils kriegerischer Geräte zum Hintergrund dienten. Auch einige Harnische und Helme samt dem Küraß, den mein Vater als junger Offizier getragen, hingen da, so daß der Raum eher die Bezeichnung einer Waffenkammer verdient hätte. Schwere, hochlehnige, mit grünem Rips bezogene Stühle und in der Mitte ein Billard mit vergilbtem und durchstoßenem Bezug bildeten das Meublement. Durch die hohe, herzu braun, hinauszu weiß gestrichene Flügeltür betrat man einen größeren, sehr hellen Saal, das sogenannte Museum. Er enthielt die Schätze des Hauses an Einrichtungsstücken und bemerkenswerten Erinnerungen, einige Urkunden, sichtbar in Vitrinen aufgebreitet, daneben den Vorfahren verliehene Orden oder von ihnen benützte Gegenstände, wertvollere Gläser, Uhren, Tabaksdosen, Pfeifen, Miniaturbildnisse, Schminkdöschen und dergleichen profane oder fromme Reliquien mehr. Ein hübscher Marmorkamin stand an Stelle des Ofens. Von den Wänden aber, in repräsentabler Haltung und steifem Staat gemalt, 164 blickten einige Ahnen hernieder, Männer in Perücken, Kürassen und Uniformen, Damen in geblumten Taillen und Reifröcken. Sie sahen hochmütig und herausfordernd auf den Nachfahren herab, von den Herren wiesen einige mit diskreter Handbewegung auf den Kammerherrnschlüssel, der neben ihnen goldumquastet auf dem Sammetpolster ruhte, von den Damen diese und jene mit schlanken Fingern auf den Adelsorden, der unterm Spitzenausschnitt des quellenden Busens an schwarzgoldener Schleife befestigt war. Die Porträts waren nicht eben Kunstwerke, sondern historisch-malerische Dutzendware, wie sie, der Eitelkeit ihres Zeitalters zu schmeicheln bestimmt, in unpersönlicher Ähnlichkeit die Schlösser aller Länder enthalten, und die üblichen Ahnfrauen vertraten nicht gerade eine Erbfülle an Reiz und Schönheit. Doch alle schienen mit geisterhaft stummer Mahnung zu sagen: »So waren wir, so hoch haben wir's in Amt und Würde gebracht, erweise, Enkel, dich unser wert!«

Ich habe, wie wohl auch andere Einzelgänger, die gern allein und doch mitteilungsbedürftig sind, die Gewohnheit, Unterhaltungen in Gedanken zu führen und mir dabei jemanden vorzustellen, der meine Behauptungen entweder 165 beifällig zur Kenntnis nimmt, sie geistvoll ergänzt oder ihnen ärgerlich widerspricht, was dann in Stunden besonderer Regsamkeit oft zu temperamentvollem Meinungsaustausch zwischen den in mir selbst verteilten Rollen führt. Im vergangenen Sommer hatte ich oft gewünscht, Martha das Innere des väterliches Hauses vorführen zu können, was nicht nur an dem Mangel einer vor den Eltern schicklichen Gelegenheit, sondern auch an Marthas eigenem Widerstreben gescheitert war. In Erinnerung daran trat mir jetzt ihr Bild sehr lebhaft vor die Seele. Ich sah sie, wie sie mir zuhörend durch die Räume folgte, meinen Erzählungen und Erklärungen in lieblichem Schweigen lauschend, wie sie schlicht in ihrer ländlichen Sonntagstracht und in einem durch Sehnsucht und Phantasie erhöhten Zauber der Schönheit unter den steifen Bildnissen stand, über die sie ihre klaren braunen Blicke aufmerksam und doch in sehr kühler Gleichmütigkeit hingleiten ließ, ich sah sie ihre himbeerfarbenen Lippen leicht spöttisch in den feinen Mundwinkeln herabziehen und vernahm, indem sie das Auge von den Porträts weg und irgendeinem Gegenstande in den Glasschränken zuwandte, ihre einzige, halblaute Erwiderung: »In dieser Gesellschaft hab' ich nichts zu 166 suchen.« Eine Äußerung, die mich ungeheuer erregte und zugleich in vollkommener Ratlosigkeit verstummen machte. Was gab es einem Trotz von solcher Schlichtheit, einem Stolz von solcher Demut, einer Abweisung zu entgegnen, die, wie ich fühlte, doch irgendwo im tiefsten auch Verletztheit war? Jede nur erdenkliche Antwort wäre dumm, oberflächlich, eitel gewesen, hätte die Lage nur noch peinlicher gestaltet. Ich fand mich plötzlich mit dem gesamten Komplex meiner Herkunft und Bedeutung im Weltsinne schroff abgelehnt, was jedoch nicht die mindeste Empfindlichkeit in mir selbst traf, sondern im Gegenteil das tiefe Bedürfnis erregte, diese ganze Vor- und Umwelt hohler Hoffart und Einbildung mit einer Handbewegung gleichsam auszulöschen, mit einer wegwerfenden Bemerkung beiseitezuschieben und mich mit dem geliebten Wesen Mensch zu Mensch auf eine Stufe zu stellen. Doch dieses Gefühl, diesen Sturm wallender Gefühle jetzt in die richtigen Worte zu fassen, war unmöglich. Ja, ein überfallsartiger Kuß auf diese in ihrem Trotz und Stolz unbeschreiblich reizenden Lippen wäre die einzig passende, vernünftige und alles Unsagbare ausdrückende Antwort gewesen. Doch das Mädchen aus dem Walde hatte sich in diesem Moment mit einem solchen 167 Bann der Unnahbarkeit umgeben, daß mir jeglicher Mut entsank und ich in einer geradezu jämmerlichen Verfassung mit einem Gesicht vor ihr stand, so hilflos, beschämt und töricht, wie es nur der machen könnte, von dem man unversehens etwas entfernt hat, einen Kopfschmuck oder eine Maske oder sonst ein Zeichen, das sein Ansehen vor den Menschen bedeutet.

Und dieses Gesicht sah ich jetzt mir gegenüber in der milchig geperlten Scheibe eines der hohen Spiegel, die zwischen den Fenstern hingen. Das riß mich aus dem Traumspiel, das ich selbst erzeugt hatte. Ich mußte lachen. Dennoch befand ich mich in einem seltsamen Zustand der Verwirrung, Beschämung und zugleich Betrübnis, daß nur ein Phantom des schönen Mädchens mich umgaukelt habe, und mir wurde deutlich, wie groß und heftig noch meine Leidenschaft für Martha war. Fast eilig verließ ich den Saal der steifen Ahnen und trat in die anheimelnde Dämmerung der Bibliothek, wo von den Dielen bis zur verrauchten Wölbung nur hochgeschwungene, besäulte Barockschränke mit übereinandergereihten Buchrücken die Wandungen beherrschten und für vorwurfsvoll blickende Ururgroßeltern in heldischen Posen, Oheime und mehr stifts- als heiratsfähige Tanten kein Platz war. 168 Ich durfte behaupten, daß ich der einzige Mensch im Hause war, der diesen Raum oft besuchte. Auch die Mägde mit ihren Besen, Staubwedeln und Putztüchern erschienen hier nicht öfter als zwei- oder dreimal im Jahr, während ich, fast seit ich lesen konnte, viele Stunden in ihm verbracht hatte. Wenn ich auf der obersten Stufe des verschiebbaren Holztreppchens saß, schwankende Bücherstöße unter und neben mir aufgeschichtet, in einen der herausgezogenen Bände nach dem anderen blätternd und lesend vertieft, schien die Zeit stille zu stehen, vielmehr sie lief dem in eine andere Welt Entrückten so verstohlen und eilig davon, daß ihn wie oft erst das Glockenzeichen zur Essensstunde in die Wirklichkeit herabrief und dann noch einen Unwilligen und Säumigen fand, den etwa der Diener eigens holen mußte. Die Bibliothek war für mich bald die große Welt der Entdeckungen, bald der reizende Irrgarten des Geistes voller Geheimnis und Verführung, aus dem ich jedesmal traumselig und trunken wie eine mit ihrer Honiglast taumelnde Biene in den Alltag zurückkehrte. Hier das Reich der Bücher, draußen das Reich der Natur, sie bildeten meine eigentliche Welt voll von Erlebnissen eines tiefen Glückes, das verschiedenen Ursprungs und doch durchaus 169 gleicher Art und Innigkeit war und mit einem Quell den anderen zu bedingen und zu nähren schien. Freilich war die umfangreiche Bücherei in ihren Beständen, namentlich in denen der Geisteswissenschaften und der schönen Literatur, sehr veraltet. Nur politische und ökonomische Schriften waren ihr in den letzten Jahrzehnten zugewachsen. Dafür enthielt sie aus der klassischen und romantischen Zeit der deutschen Dichtung Reihen der köstlichsten frühen Ausgaben, die den Genuß des Werkes sozusagen mit dem vollen Duft der Ursprünglichkeit erhöhten.

Heute widerstand ich der Versuchung des hölzernen Treppchens und der anregenden Aufgabe, die ich mir selbst schon drei Jahre zuvor gestellt hatte, die begonnene Neuordnung und Katalogisierung der vielfach sinnwidrig und nur nach Größe und Gestalt der Einbände eingeschlichteten Bücher fortzusetzen. Denn an der einen Schmalseite des Saales, noch von bücherbeladenen Zwischenfächern überbrückt, führten drei Stufen zu einer kleinen Pforte und in das wunderlichste Gelaß des ganzen Hauses empor. Es war eine kreisrunde Stube, denn sie wurde vom ersten Stockwerk eines der Ecktürme, des nördlichsten, gebildet. Drei Klafter tiefe Nischen, man durfte sie beinah Schächte heißen, führten durch die 170 gewaltige Mauer zu den Fenstern, die so hoch lagen, daß man wieder über ein paar Stufen zu ihnen hinaufsteigen mußte. Trotzdem war das Gemach sehr hell und sein mittelalterliches Ansehen war durch primitive Stuckverzierungen in den Nischen und an dem mächtigen Bogengewölbe im heitern Jahrhundert gemildert worden. Möglicherweise staken auch Freskogemälde unter der einheitlich weißen Tünche, wenigstens deutete die Anordnung des Stuckes in seitlichen Ovalen und einem Kreise in der Deckenmitte auf solche oder doch die einstmalige Absicht, sie anzubringen. Weil Bücherregale, und zwar hier sehr zierliche, mit Einlegearbeit und geschnitzten, vergoldeten Gesimsen versehene, an der Wand, ihrer Rundung sich anschließend, standen, wurde auch dieser Raum noch zur Bibliothek gerechnet. Auch enthielten sie ausgewählte, vielfach mit Kupfern geschmückte Werke deutscher, französischer und englischer Philosophie, Naturwissenschaft und Literatur des 18. Jahrhunderts in den graziösesten Einbänden mit gepreßtem Lederrücken und blumigem Vorsatzpapier. In das Licht der mittleren Nische war ein bocksbeiniges Schreibpult mit geschlossener Klappe gestellt, vor dem Ofen stand ein breiter Tisch, umgeben von hochlehnigen, lederbezogenen Sesseln, die noch das 171 17. Jahrhundert erzeugt hatte. Andere Tischchen und Konsolen waren mit Gerätschaften für gelehrte Beschäftigungen, so einem Globus, zwei Fernrohren auf blanken Messingdreifüßen, ziselierten Zirkeln, Lupen und anderen Instrumenten, Gesteinsbrocken und Kristallen beladen. Nur ein Bild befand sich in dem Zimmer; es hing nicht an der Wand, sondern auf einer eigenen Staffelei: in ovalem Goldrahmen, der oben in eine geschnitzte Schleife auslief, das Pastellbildnis eines schönen Mannes mit Haarbeutel und Spitzenjabot in dunkelblauem Rock, ein feines Gemälde, sichtlich von Meisterhand und als Kunstwerk wohl das beste im Hause. Und dieses Antlitz hatte nichts ahnenhaft Steifes und Eitles: Die klare Stirn, das lebhafte blaue Auge strahlten den Geist des erleuchteten Säkulums, das, wäre es möglich gewesen, zu erleben ich mir ausgesucht hätte. Das Porträt stellte eine in der Geschichte der Familie und des Hauses umstrittene Persönlichkeit dar, einen Halbbruder meines Urgroßvaters, der zu seiner Zeit für einen revolutionären Schöngeist gehalten und mit manchem großen Mann, so auch noch mit Goethe, in Briefwechsel gestanden hatte. Doch hieß es, seine schriftliche Hinterlassenschaft sei unauffindbar, in Wahrheit aber hatte man dafür gesorgt, daß sie 172 nicht so leicht gefunden werden konnte. Die Chronik wußte sonst nur noch von ihm, daß er viel gereist sei, auch eine Zeitlang als Gesandter in fremden Ländern gewirkt und, heimgekehrt, versucht habe, eine Zucht exotischer Schafe einzuführen, was gänzlich mißglückt sei und zum Ruin des Vermögens geführt habe. Tatsächlich war der Besitz nach dem kinderlos Verstorbenen stark verschuldet an seinen jüngeren Bruder, eben unseren direkten Vorfahren, übergegangen, und es hatte der Mühe und des Sparens langer Jahre bedurft, um das Gut wieder in Ordnung zu bringen. Trotz solch wenig dankenswerten Andenkens hatte der aus altem Herkommen so genannte Onkel Christian Günter sich in einer gewissen Beliebtheit erhalten. Einmal war er nach seinem Porträt so sympathisch gewesen, und auch die Fama wußte zu berichten, daß ihn nicht nur eine sehr vorteilhafte Erscheinung und sprühender Geist, sondern auch überaus liebenswürdiges und gewinnendes Wesen, und zwar als Ausdruck wahrer Güte und Großmut, ausgezeichnet habe. Mir erschien er darum als der klassische Vertreter einer klassischen Zeit, und wenn die historischen Musen in Gestalt ältlicher Tanten weiter zu munkeln wußten, mit seiner Moral habe es wie mit seinem Sinn für 173 Wirtschaftlichkeit nicht zum besten gestanden, so fand ich diesen Zug seines Charakters dem Zeitbilde gemäß und von ihm gewissermaßen bedingt. Jedenfalls hatte ich den Onkel Christian Günter für mich schon lange zu einer Art von familiärem Ideal und Vorbild erhoben, dem ich zwar nicht in der Schafzucht, um so mehr aber im Eifer für die Dinge des Geistes nachzustreben mir vornahm, denn ich fühlte mich ihm in allen Stücken verwandter als seinem Bruder, dem eigentlichen Stammvater, der der Überlieferung nach ein recht trockener Patron und dazu ein Pantoffelheld gewesen sein soll. Seine Gattin freilich, die ihn, obgleich an Jahren überlegen, um fast zwei Jahrzehnte überlebt hatte, rechtfertigte nach ihrem Bilde, das im elterlichen Wohnzimmer hing, den Ruf einer mehr tatkräftigen als gutmütigen Dame, als welche sie noch in allgemeiner Erinnerung und einzelnen Anekdoten fortlebte.

Meine Wahl war getroffen. Diese und keine andere Stube schien mir geradezu vorbestimmt, indem sie mich auf eine nur mir bewußte Art mit einem geistigen Erbe des Hauses verband, das mich weit wertvoller dünkte als das blutmäßige. Auch ging der Blick vom hübschen Sekretär aus durch das Fenster genau auf das 174 steinige Hügelchen, von dem ich so gerne, meinen Träumereien nachhängend, die Rundschau über die Landschaft genoß, während das südlicher gerichtete Turmfenster zur Gegend um die Waldmühle blickte. Außen an den Winkeln des Turmes, wo sein Mauerwerk aus dem des Hauses sich vorwölbte, lehnten ein paar uralte Fichten, deren hängende dunkle Zweige vor den Fenstern im Winde schwankten. Ich hätte nicht gewagt, diesen Raum, der gleich den anstoßenden irgendwie museal behandelt wurde, für mich zu fordern. Doch warum sollte er nicht bei voller Erhaltung seiner Wesenheit nun durch mich zu neuem und seiner Geschichte durchaus gemäßem Leben erweckt werden? Entsprach das nicht mehr der lebhaften und gütigen Art desjenigen, dessen Geist keineswegs gespenstisch, wie etwa jener der konventionellen Ahnen im Museum, sondern für mein Gefühl überaus wirksam, wahrhaft unsterblich hier waltete? Vivitur ingenio, cetera mortis erunt. Diesen Spruch, der unter dem von Albrecht Dürers Hand gezeichneten Bildnis des Willibald Pirkheimer steht, hatte ich auf dem Wappenexlibris anbringen lassen, das ein kunstfertiger Freund mir einmal zum Geschenk gemacht. Christian Günters Studierstube, von nun an die meinige, schien eine weitere 175 Verbildlichung der schönen Worte. Es schickte sich gut, daß vom Gang aus übereck eines der Gastzimmer lag, das, obwohl das kleinste und dürftigste von allen, meinen Bedürfnissen als Schlafraum genügte. Also, die Einwilligung der Eltern vorausgesetzt, konnte sofort übersiedelt werden. Wie um förmlich vom Raum Besitz zu ergreifen, wollte ich jetzt den Schreibtisch öffnen und mich an ihm niederlassen. Ich fand die Klappe verschlossen, doch auch bald in einem Schächtelchen auf der benachbarten Konsole etliche Schlüssel, von denen einer paßte. Ich schloß auf, ließ, nachdem ich die kleinen Stützbalken hervorgezogen hatte, den innen mit dunkelrotem Tuch ausgeschlagenen Pultdeckel nieder und setzte mich hin. Die Stirnseite des Sekretärs zeigte mir nun ein leeres, nischenartiges Fach, an dem zu beiden Seiten übereinanderliegende Schublädchen angeordnet waren. Auch unter der Nische in der Mitte des Aufbaues befand sich solch ein Lädchen. Eines nach dem andern zog ich an dem messingenen Knöpflein auf in der Erwartung, Dinge zu finden, die sich sonst üblicherweise in alten Schreibtischen aufzuhalten pflegen: Vergilbte Schriftstücke, Photographien, zerbrochene Bilder oder Rahmen, veraltete Siegelstöckchen, Trümmer von Möbelverzierungen, die man, um 176 sie einmal wieder anleimen zu lassen, in derartigen Behältnissen so sorgsam verwahrt, daß sie nie mehr gefunden werden. Nichts von alledem war da. Die Laden waren so sauber leer, daß sie offensichtlich einmal mit Vorbedacht ausgeräumt worden waren. Auch die größeren zu beiden Seiten der Kniehöhlung enthielten nichts als in den Winkeln etwas Staub. Zuletzt öffnete ich das mittelste der Lädchen unter dem Nischenfach und zog es ganz hervor, weil es sich, obwohl breiter, doch auffällig kürzer als die übrigen fand. Dahinter mußte was stecken. Gebückt strengte ich mich an, in das Gehäuse hineinzulugen, bemerkte aber nichts weiter als die polierte Rückwand, freilich um einiges näher liegend als hinter den anderen Laden. Nun fingerte ich in den rechteckigen Schacht hinein und – fuhr mit Entsetzen samt dem Sessel, dessen Beine ächzend und knirschend über den Estrich rutschten, wohl einen halben Meter zurück. Denn jach war die Rückwand der Nische gleich einer kleinen Zugbrücke geräuschvoll niedergefahren, und – der Schreck verwandelte sich in höchstes Entzücken – auf ihrer Innenseite wie auf einem Schlitten hatte sich, aufgeklappt in einem goldgepreßten Lederrahmen, ein Bild nach vorn geschoben: Das fein gemalte Porträt eines 177 Rokokodämchens, das nun, das Tabernakelchen fast zur Gänze ausfüllend, mich mit allerliebster Schelmerei anlachte. Es stellte in halber Figur die Dame, an einem sehr ähnlichen Sekretär sitzend und mit dem Körper linksseitig halb, mit dem Antlitz ganz dem Beschauer zugewendet, dar. Die rechte Hand an dem bloßen, aus herabfallendem Spitzenärmel erhobenen Unterarm hielt mit leichter Grazie einen Federkiel, die linke ruhte schlank auf der Schreibtischplatte und dem Briefblatt. Um das Köpfchen schmiegte sich in schlichter Frisur gepudertes Haar mit einer blauen Seidenmasche am Scheitel, eine Reihe gleicher, wie Papillons gebändelter Maschen hielt unterm tiefen Busenausschnitt den taubengrauen Taffet der zierlichen Taille zusammen. Reizend und lebhaft war die Miene des frischen Gesichtchens, das dem Beschauer mit einem Ausdruck tiefer, glücklicher Innigkeit zulächelte. Welch ein malerischer Einfall! Der hier einst saß und schrieb, hatte die geliebte Adressatin vor sich, sah sie, schier wie durch ein Fernglas, schon die Antwort verfassen, jedes Wort der Sehnsucht und Zärtlichkeit mit gleicher Empfindung erwidern, unterhielt sich mit ihr, wenn auch stumm, so doch in einer Unmittelbarkeit der Vorstellung, die nur ein solches Zauberwerk anmutigster Kunst 178 hervorzurufen vermochte. Was aber meine Verblüffung ins ungemessene steigerte und fast wieder in Schrecken, wenn auch irgendwie frohen, und in tiefaufstörende Erregung verwandelte: Dieses Gesicht war Martha, bei Gott, Martha in Tracht und Wesen des galanten Zeitalters und trotz puderweißem Haar und vielleicht noch etwas dunkleren und glänzenderen Augen in sprechender Ähnlichkeit. Der gleiche Schwung des, mag sein, etwas kürzeren Näschens, der gleiche zärtlich-spottende Zug in den Mundwinkeln, dieselben, genau dieselben Grübchen, die sich dann in den Wangen bildeten.

»So!« rief ich, als ich mich einigermaßen gefaßt hatte, vor allen weiteren Untersuchungen und Erwägungen, die vorhin abgebrochene imaginäre Wechselrede in Gedanken fortsetzend, aus: »So! Da sagtest du eben, du habest in jener Gesellschaft nichts zu suchen, und jetzt, Schelmin, überfällst du mich hier aus den innersten Eingeweiden des Hauses, die mir und vermutlich jedermann bisher verborgen geblieben, fällst mich an und erschreckst mich wie ein wenn auch entzückendes Gespenst und zeigst, daß du hier viel länger weilst und besser Bescheid weißt als ich selbst?« »Was du glaubst!« lachte das reizende Geschöpf – lehnte es sich nicht 179 herausfordernd zurück, bewegte es nicht, den Federkiel ein wenig schwenkend, die Hand und den an der Schreibtischkante aufgestützten rosigen Arm? – »Was du glaubst! Die steife Gesellschaft dort hat mich nie erblickt, nie hab' ich auch nur versucht und gewünscht, ihr unter die strengen Blicke zu treten!«

Ach, es war ja nur ein Bild, wenn auch ein sprechendes, zu dem ich sprach, vielleicht sogar eine Einbildung und die ganze Überraschung, wie vorhin, ein selbsterzeugter Traum meiner unbändigen Phantasie! Ich stand auf und nahm das kleine Gemälde aus der Nische heraus. Es ließ sich leicht entfernen, denn es befand sich, dem damaligen Geschmack entsprechend, in einem ledernen Täschchen, das wie ein Buchdeckel geöffnet werden konnte und dann dem vorfallenden, durch ein Band in gewissem Winkel aufgehaltenen Rahmen zugleich als Gestell diente. Die Fußplatte war durch zwei Klammern an der Innenseite der kleinen Falltür, die Rückwand aber vermittels eines Schnürchens innen im Gehäuse des Sekretärs befestigt. Durch den Griff in den Schacht der Lade hatte ich unversehens, wie sich nun zeigte, eine federnde Schubvorrichtung betätigt, die die mit einem Bleiplättchen beschwerte Falltür auslöste, wodurch das 180 Täschchen niedergezogen und dank der Befestigung seiner Rückseite gleichzeitig aufgeklappt wurde, so daß Rahmen und Bild von selber in aufrecht-schräge Lage fielen. Ebenso einfach ließ es sich wieder verbergen, indem man das Bild zurückschob, die Falltür hob und in die Nische drückte, wo sie mit hörbarem Klang in den Zähnen der Schuber einschnappte. Ich löste das Täschchen, das zusammengefaltet zum Beispiel auf Reisen mitgenommen werden konnte, aus Klammern und Schnur und trat mit dem Bild nahe vor das Fenster. Die Hand des Malers, die es in Aquarelltechnik angefertigt hatte, mochte die gleiche sein, von der Christian Günters Pastellporträt stammte. Eine Signatur war nicht sichtbar. Lange betrachtete ich es und wußte endlich nicht mehr, sah das Bildnis Martha ähnlicher oder die Vorstellung, die ich von ihr im Gedächtnis des Herzens trug. Doch welch ein Glücksfall für einen Liebenden, ein Porträt des Gegenstandes seiner Neigung zu finden, zu besitzen, das dem Urbild eine so reizvolle, die Schwärmerei und Begehrlichkeit anregende Gestalt verlieh! »Gut!« sprach ich zu meiner Martha, die im Kostüm des heiteren Jahrhunderts sich doppelt süß und lockend darbot, »nun gehörst du mir und gehst mir nimmer von der Seite. Doch 181 vorerst, du heimlich Geheimnisvolle, verschwinde wieder in deinem Gehäuse.« Und ich trug das Bild zurück, befestigte es sorgfältig im Mechanismus des Schreibtischtabernakels und versuchte noch einige Male das Funktionieren der Vorrichtung. Dann, so schwer es mir wurde, verschloß ich den Sekretär und nahm den Schlüssel zu mir.

Meine Wahl wurde gebilligt. Den angebotenen Austausch einzelner Möbelstücke lehnte ich ab. Onkel Artur fand das Sekretärchen altmodisch und unbequem, ich solle mir doch einen ordentlichen Schreibtisch hineinstellen lassen. Da es mir nicht darauf ankäme, umfangreiche Pläne aufzureißen, bemerkte ich leichthin malitiös, reiche das altertümliche Pult für meine Arbeiten vollkommen aus.

Einige Tage lang gab es auf der Welt keinen glücklicheren Menschen als mich. Wald und Rehböcke waren mir plötzlich uninteressant, ich kam fast nicht aus dem Haus vor Eifer, mich im neuen Besitze einzurichten, das heißt, mich in den Raum und seine wunderlich anziehende Atmosphäre recht mit Behagen hineinzusitzen, denn ich veränderte fast nichts darin, trug nur einige Bücher und Schreibzeug herbei und verbrachte Stunden und halbe Nächte mit Stöbern und 182 Betrachten, zumal aber immer wieder in stiller Schwärmerei vor dem süßen Geheimnis des Sekretärs. Und stets war auf ihm eine Vase mit frischen Blumen zu finden.

Eines Abends, als wir wie gewöhnlich nach Tisch im Wohnzimmer der Eltern saßen, brachte ich die Rede auf den Onkel Christian Günter und fragte, ob er eigentlich verheiratet gewesen sei. »Eigentlich nicht«, erwiderte sogleich die strickende Mutter, wobei sie das »eigentlich« in auffälliger Betonung hindehnte. »Was nicht besagen will«, versetzte der Vater in stärker wölkendem Tabaksqualm, durch den er der Mutter einen zweifelnden Blick zuwarf, »was nicht besagen will«, begann er noch einmal und fuhr, da jene nicht von dem werdenden Strumpf aufsah, fort, »daß er keine Nachkommenschaft hinterlassen habe. Nämlich . . . er setzte mit einer Person . . . einem Frauenzimmer, angeblich der Tochter eines italienischen Baumeisters, der im Land an Kirchen- und Herrschaftsbauten beschäftigt war, zwei Kinder in die Welt, einen Sohn und eine Tochter, und bemühte sich sehr, durch seine Verbindungen bei Hof zu erreichen, daß diese Kinder mit kaiserlichem Gnadenakt legitim und erbberechtigt erklärt würden – per subsequens matrimonium, wie, glaub' ich, der 183 juristische Akt genannt wird. Dank der Energie meines Großvaters aber, vielmehr –« und wieder entstieg eine dicke Wolke dem Tschibuk, dessen Glut überm Reden verlöschen wollte, »vielmehr der Großmutter, mißlang dieses schmähliche Vorhaben, und die Güter – damals waren es noch mehrere – verblieben im rechten Stamm.«

Abermals eine Pause. Da niemand, nicht einmal Onkel Artur, dreinsprach, begann er nach etlichem Paffen von neuem: »Im Archiv existiert ein dicker Akt, der dieses traurige Kapitel unserer Familiengeschichte der Nachwelt überliefert. Er enthält zahlreiche Konzepte von Gesuchen und Briefen an Behörden, einflußreiche Persönlichkeiten, den Kaiser selbst, des weiteren Korrespondenzen mit diesen fremden Leuten, die berichten, mahnen, Forderungen stellen – eine häßliche Sache. Kurz und gut, die Legitimation und Adoption wurde gottlob trotz hochmögender Verwendungen – die Gegenverwendungen waren eben noch hochmögender und hatten auch Recht und Moral für sich – abgelehnt. Christian Günter abdizierte gegen eine Abfindung, die von seinen Schulden verschlungen wurde, und starb eigentlich noch in rüstigem Alter, der Großvater sukzedierte, wurde aber von der leidigen Angelegenheit noch lange belästigt, da auf Grund 184 angeblicher Kodizille und Legate immer wieder Ansprüche gestellt wurden, bis ein Schlußurteil des Reichskammergerichtes nach schweren Kosten der Sache ein Ende machte. Der Sohn, heißt es in einer Bemerkung zu den letzten Akten, sei wieder nach Italien zurückgekehrt und betreibe dort ein Baugewerbe, die Tochter heiratete einen kaiserlichen Förster, der, wie erwähnt, auch unter jenen war, die noch einige Male Ansprüche zu stellen versuchten und abgefunden oder sonst zum Schweigen gebracht wurden.«

Und wir alle schwiegen nach dieser Erzählung eines peinlich-traurigen Kapitels aus der Chronik unserer sehr vornehmen und achtbaren Familie. Die Ähnlichkeit meines anbetungswürdigen Bildes, von dem niemand etwas zu wissen schien, mit Martha rückte jedoch nun in eine aufklärende Beleuchtung. Kein Zweifel, dachte ich, das liebreizende Dämchen im Negligé aus taubengrauem Taffet, blauen Schleifen und elfenbeinfarbenen Spitzen war per subsequens matrimonium Christian Günters mehr oder minder heimliche Gattin gewesen. Ihre Tochter heiratete nach Akteuvermerk einen kaiserlichen Förster, und Marthas Mutter, die das arme Kind nie gekannt hatte, war, wie man sagte, eine Försterstochter. Mehr konnte bis hierher nicht 185 festgestellt werden, und vorläufig lag mir auch nichts an dergleichen Feststellungen, doch der Gedanke, daß vor rund hundert Jahren bei anderem Ablauf des Streites zwischen »hochmögenden Verwendungen« heute trotz »Gesetz und Moral« vielleicht der Stamm der Müllerstochter an Stelle des »rechten«, dem ich angehörte, auf Herrenschlag säße, versetzte mich in eine Abwesenheit des Geistes, aus der ich erst aufschrak, als der Vater etwas von einem Porträt erwähnte. Er meinte aber das des skandalösen Oheims und trug, seine Berichterstattung ergänzend, nach, dieses Bild habe sich ursprünglich nicht im Turmzimmer, sondern im Besitz »jener Leute« befunden, von wo es, wie in den Akten stünde, im Verlauf des Erbschaftsstreites durch Tausch oder angebotenen Kauf zurückgelangt sei. Über das Tauschobjekt oder den Kaufpreis seien keine Notizen erhalten. Indes handle es sich um ein wertvolles Werk eines unbekannten italienischen Meisters, und man habe es dorthin gestellt, wo Christian Günter seinen unfruchtbaren Studien obzuliegen pflegte.


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