Hans von Hammerstein
Wald
Hans von Hammerstein

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Die Eltern wußten zu meiner Entrüstung nicht recht Bescheid über den Stand der Hahnbalz, der für mich doch sicherlich wissenswerter war als der der Saaten. Die Mutter war, wie übrigens die meisten Frauen, dem Jagdbetriebe nicht sehr geneigt, weil er leicht Unordnung in den geregelten Gang des Hauswesens bringt. Und der Vater sagte, er habe in letzter Zeit wichtigere Dinge zu tun gehabt, als sich um die Balz zu kümmern. Was mir in Verbindung mit seinem äußerst geschäftigen Wesen, das ich früher nicht so an ihm kannte, fast besorglich vorkam. Immerhin schien er heiter und gesund.

Ich mußte mich in dieser Sache also an den Jäger, den alten Tauchen, halten, und zu ihm war mein erster weiterer Gang, nachdem ich mich in Haus, Hof und Dorf fürs erste genügend umgetan und begrüßt hatte, was zu begrüßen war.

Gleich hinterm Schloß hebt sich eine Bodenwelle, auf der im Heidegras ein Granitblock ruht. Von Kindheit auf war das mein 34 Lieblingsplatz in der näheren Umgebung. Wie es in flachen Landschaften zu sein pflegt, bietet diese geringe Erhebung schon einen bedeutenden Rundblick. Da lag ich oft stundenlang und träumte über die Wälder hin. Wahrlich, der Block war mein erster Sitz in der großen Schule der Natur, und auf ihm hab' ich mehr Weisheit geschlürft als auf allen anderen Schulbänken, die ich je geziert und die mir manche Strafe brachten, weil ich auf jenem Felsstück zu gut das Träumen gelernt hatte.

Auch jetzt saß ich da ein Weilchen und träumte. Entgegen der düsteren Ahnung des roten Hias war es wieder ein schöner, klarer Tag geworden. Früh waren die feuchten Wiesen voll Reif gewesen. Mein weiterer Weg führte mich in den Fischwald, einen achtzig- bis hundertjährigen prachtvollen Fichtenbestand, welcher der Stolz und größte Schatz unseres ganzes Besitzes war. Woher der Name kommt, weiß ich nicht. Gemeiniglich pflegt man im Walde nicht zu fischen. Es gibt da wohl einige Wassertümpel, aber sie sind nicht von Karpfen und Hechten, sondern nur von großen braunen Fröschen und Unken mit feurigen Bäuchen belebt. Unken, die gegen Abend eine dunkle Musik machen, der ein gewisser Stimmungsreiz nicht abzustreiten ist. 35 Wie dem auch sei, der Fischwald war der schönste Wald, den ich kenne. Und wer nicht weiß, was eine Waldviertler Fichte von hundert Jahren bedeutet, dem mag eine Vorstellung davon aufgehen, wenn ich ihm sage, daß hier eine dreißigjährige soviel ist wie anderswo eine fünfzigjährige.

Es war ein greiser Wald, denn er trug an seinen Ästen lange graue Bärte von isländischem Moos, und ein finsterer Wald, denn die Zweige griffen so weit aus und waren so dicht, daß die Sonne kaum mit dem kleinen Finger durchdrang, wiewohl die Stämme beträchtlich voneinander abstanden und kein unordentliches Krüppelzeug unter ihnen geduldet wurde. Wenn ein Baum im Fischwald geschlagen werden sollte, war es ein Familienereignis. Es geschah nicht, ohne daß ein Rat aller Kundigen einberufen worden wäre und nach umständlichen Verhandlungen an Ort und Stelle Beschluß gefaßt hätte. Es war ein wohlgepflegter Wald, gehalten wie ein Saal, wie eine Kirche.

Und wahrlich, es war gerecht, den Hut abzunehmen, wenn man ihn betrat.

Heute, wo ich dies schreibe, ist der größte Teil des damaligen Fischwaldes auch schon den Weg alles Holzes gegangen, aber es geschah 36 unmerklich und langsam, einem ordentlichen Wirtschaftsplan entsprechend, und andere Bestände sind inzwischen nachgewachsen, und es gibt einen neuen Fischwald von gleicher Pracht und Macht, wenn auch nicht an der gleichen Stelle, auf der jetzt schon wieder ein schlankes, dichtes Volk Zwanzigjähriger die Jahresschübe lang und stark wie Kirchenkerzen gen Himmel reckt, als wollte es zu dem älteren in der Runde sagen: »Wir werden euch einmal zeigen, wie man in der Kleinigkeit von hundert Jahren die Wolken erreicht.« Alle Jugend ist so, und gottlob ist sie so, die Jugend der Menschen wie der Bäume. Mit fünfunddreißig und vierzig Jahren sind sie schon zahmer im Streben, mit fünfzig scheinen sie das Wachsen still aufzugeben und befleißigen sich mehr der Breite.

Wer aber in der Jugend nicht zu den Sternen strebt, bringt's nicht einmal auf die Höhe, die sich für einen anständigen Baum und Menschen gehört.

Auf ein Haar wär's übrigens mit dem Fischwald anders und nicht dem Wirtschaftsplan ordentlicher Forstleute angemessen gegangen. Doch davon später.

Ich betrat ihn nun, und es war dunkel in ihm und frisch wie in einem Eiskeller. Da lag noch 37 viel alter Schnee zusammengesunken und mit Nadeln bestreut in den Mulden, und die tiefen Gleise des Karrenweges, auf dem ich schritt, waren mit Eis überzogen. Ich sah an den ungeheuren Bäumen hin, wie sie dastanden und schwiegen gleich Riesen, die in Urweltgedenken versunken sind. Und ich trat zu einem der schönsten, schlang meine Arme um seinen breiten Stamm und küßte ihn auf die kühle, harzduftende Rinde. Da geschah es, daß über die Wipfel, als wollten sie mich grüßen, ganz Adagio lenteein Wehen ging. Von Osten her schwoll es heran, schlug hoch und rauschend über die schmale Wegzeile, wo ich stand, und verlief sich sacht und hallend gegen die Moorniederungen hinaus. Ich lauschte ihm nach, und die Augen wurden mir feucht vor Freude. Ein weiches, schweres Frühlingswehen war es. Und wer da sagen wolle, des Waldes Rauschen sei immer gleich, denn es bestehe aus Wind und Bäumen, der weiß nichts vom Walde. Der Wald hat seine Stimmungen und Ahnungen wie jedes lebendige Wesen und drückt sie aus in seiner Sprache. Wie scharf und traurig ist sein Wehen im Herbst, dieses langhin ziehende, tonlose Sausen. Es ist wie ein Leid, das keinen Trost will und immer neue Seufzer aus sich selber holt. 38 Und wieder das hohe, klangvolle Frühlingsbrausen, das ganz aus den Wolken kommt und den Wald oft mitten im Winter befällt, wie die Herbstahnung ihn mitten im Sommer befallen kann. Und dann das traumhafte, plötzliche Aufatmen manchmal in der Nacht oder in der brütenden Stille eines wetterschwülen Mittags, das frische, muntere Gebraus des hellen Morgens und das tiefe, dunkle, andächtige Rauschen, wenn im Westen rotes Gewölke sinnt.

Der Wald ist die Harfe der Götter. Ich sage der Götter, denn die alten Götter sind's, die ich im Wald fühle. Die Natur hat sich nicht taufen lassen, so sehr manche Dichter darum bemüht waren. Es gibt keine verlorene Kirche im Walde, aber die Götter sprechen noch immer im Waldesrauschen, wie sie zu unseren Vorfahren sprachen.

Ich ging meinen Weg fort, sah an den Bäumen hinauf, bestaunte ihre Größe und die dunkle Schwere ihrer breit niedergebogenen und doch wieder aufstrebenden Zweige, die wie segnende Arme in weiten, kostbaren Gewandfalten sind, griff ab und zu einmal in die langen Moosbärte oder spähte unter den Ästen durch in die braune, kühle Dämmerung nach Plätzen, die ich kannte, nach kleinen Mulden mit schwärzlichen 39 Wassertümpeln oder nach grauen Felsgebäuden, die in dieser Gegend oft unvermittelt aufstehen, wo man sie am wenigsten vermutet.

Als es sich gegen den Ausgang hin lichtete, schlug schon das Hundegebell der Försterei an mein Ohr.

Der alte Förster Tauchen hatte ein nicht ganz gewöhnliches Schicksal hinter sich. Früh verwaist, wuchs er bei Verwandten auf, denen der Bursche das Lösegeld nicht wert schien, das man damals üblicherweise zahlte, wenn man vom Militärdienst freikommen wollte. Doch der Pfarrer, ein Ordensgeistlicher und Angehöriger des forstreichen Stiftes Göttweig, verwendete sich für ihn und verschaffte ihm eine Anstellung als Jägerbursche bei einer entlegenen Försterei des Klosters, wo der gutgewachsene Bursche den Augen der Behörde entging. Indes bewies auch er, daß man nicht gegen seine Bestimmung kann und in dumpfer, ungewollter oder wenigstens unbewußter Bereitwilligkeit herbeiführt, was zu ihrer Erfüllung geeignet ist, so klug auch andere Vorsehung spielen wollen. Der Förster hatte eine hübsche Tochter, und Tauchen bewirkte alsbald, daß sich der Klapperstorch bei ihr zu ungebetenem Besuch ankündigte. Die Entrüstung im Stift war groß, und der Verbrecher wurde 40 nun grausam den Schergen des Mars ausgeliefert, die ihn sogleich in ein Infanterieregiment steckten. Tauchen nahm die Veränderung seines Berufes nicht so tragisch, wie man es ihm als Strafe für seine Sünde zugedacht hatte, und bildete sein Talent, galante Abenteuer zu erleben, mit Geschick und Fleiß aus, wobei ihm der weiße Rock sehr zustatten kam. Gern erzählte er noch im Alter davon auf seine trockene, offene und nichts weniger als zarte Weise. Als es dann ernst wurde, stellte er seinen Mann im Krieg gegen die rebellischen Ungarn, holte sich Verwundungen und Auszeichnungen und brachte es bis zum Korporal. Als solcher zog er zehn Jahre später in den italienischen Feldzug, nicht ahnend, daß ihn ein Zufall von dort wieder in die Heimat und seinen früheren Beruf zurückbringen sollte. Ein Kürassierregiment, bei dem mein Vater als junger Offizier diente, marschierte eines Gefechtstages im Galopp neben Tauchens Regiment auf. Mein Vater kam mit dem Pferd zu Fall und wäre von den Nachstürmenden überritten und noch dazu von der hinterherkommenden Artillerie überfahren worden, wenn nicht der Flügelmann Tauchen mit eigener Lebensgefahr herzugesprungen wäre und den besinnungslos Daliegenden in Sicherheit gebracht 41 hätte. Mein Vater erwirkte dann Tauchens Versetzung zu seinem Regiment, was dem Ex-Jägerburschen wohl anschlug, denn er wurde ein guter Reiter und strammer Wachtmeister und nahm, nachdem ihm noch etliche angenehme Frauenzimmer für kurze oder längere Zeit gutes Quartier gegeben hatten, zugleich mit meinem Vater den Abschied, um diesem als Förster aufs Gut zu folgen. Geheiratet hat er nie, aber seinen Lieben stets ein treues Andenken bewahrt und sich ab und zu auch verwandtschaftlich für seine Nachkommenschaft gezeigt, wenn es die Gelegenheit mit sich brachte.

Das kleine Försterhaus mit seinem laubenartigen Holzvorbau und den grünen Fensterläden liegt anmutig auf einem Heidehügel am Rand des Hochwaldes. Nicht sonderlich gepflegt war damals seine nähere Umgebung. Tierfelle standen auf Bretter gespannt in der Sonne zum Trocknen, Fuchseisen und Kastenfallen lagen herum, und aus dem Dunkel eines Käfigs, der voller Unrat und Futterresten lag, glühten die Augen eines Uhus, der zornig fauchte und knappte, wenn man in die Nähe kam. Und dem gehöhlten Strunk einer breiten Fichte, dem eine runde Holzscheibe als Türlein vorgenagelt war, entkroch knurrend ein Gerippe von Hund, eines jener 42 bedauerlichen Geschöpfe, die vertrauensselige Nachbarn dem alten Tauchen zur Dressur und Einführung in die hohe Jagdkunst übergaben.

Wie viele Erzieher war auch Tauchen der Ansicht, daß man den bedenklichen Anlagen besonders wirksam durch den Magen beikommen könne, und Hunger war daher bei ihm der Anfang aller Abrichtung.

Der Zug, den ich an der Türschelle tat, löste in dem freundlichen Häuschen einen Aufruhr hoch- und tiefstimmigen Hundezornes aus, in den sich bald das Schimpfen einer rauhen Kehle und Treten schwerer Stiefel mengte. Und auf brach die Tür und spie mir die ganze Raserei von zottigen, struppigen, glatten, dunklen und hellen Köpfen, Rücken, Schwänzen und Beinen entgegen, und es war ein hitziges Gelechz, Gefletsch, Gekläff und Gewedel um mich, das mir hätte angst und bang machen können, wäre ich den Hunden nicht bekannt und teilweise befreundet gewesen. Und inmitten der Hundeempörung, die sich neben und zwischen seinen langen Beinen durch die Tür hervordrängte, erschien der hünenhafte Alte, die Pfeife im linken Mundwinkel, die linke Hand am Pfeifenkopf, während die Rechte sich grüßend zum verwetterten Filz über 43 der Stirne erhob und ein paar schlaue graue Augen rechts und links einer barbarisch breiten und stumpfen Nase mich wohlwollend anblinzelten. Das war der Tauchen, und er hatte sich in nichts verändert. Er hatte weder einen neuen Hut noch einen neuen Rock, noch ein neues Gesicht bekommen. Alles an ihm war verschlissen und verwittert und wie mit einer Kruste von steifer Urwaldpatina überzogen und strömte ein starkes Gemisch herber Düfte aus, hauptsächlich aber doch den von abgestandenem Pfeifensaft – nikotiana liquida exfumata.

Der Tauchen pflegte nämlich seine Pfeife, die nur beim Schlaf und beim Essen aus seinem Munde kam, mit Federn zu putzen, die er nach dem Gebrauch nicht etwa wegwarf, sondern zum Trocknen auf den Hut steckte, wodurch sie den doppelten Zweck des Nutzens und der Zierde erfüllten.

Ich schüttelte ihm die derbe, breite Hand und gab vor allem meiner Verwunderung darüber Ausdruck, ihn heute nicht in der Kirche gesehen zu haben. Er kratzte sich schlau lächelnd hinterm Ohr und im wüsten, schmutziggrauen Bart und meinte, es sei ihm des Morgens nicht ganz extra gewesen, woraus ich schloß, daß sein üblicher Samstagabendrausch diesmal besonders schwer 44 ausgefallen war. Vor der Tür stehend – denn er forderte nie auf, das Innere seiner Höhle zu betreten –, besprachen wir nun langwierig die Überwinterung der verschiedenen Wildsorten und manch andere Forst- und Jagdfragen und beschlossen endlich, uns am nächsten Morgen zwei Stunden vor Tag an der Straßenkreuzung hinter der Waldmühle zu treffen und uns von dort aus zum besten Balzplatz der Auerhähne zu begeben. –

Hierauf zog ich auf Umwegen aus Wald und Heide wieder heim. –

*

Ich hatte Unglück gehabt an diesem Balzmorgen, einen Hahn vertreten, einen gefehlt.

Der alte Tauchen versuchte mich mit der philosophischen Bemerkung zu trösten, daß beim Schießen daneben halt viel mehr Platz sei. Mißmutig kam ich aus dem Wald und freute mich kaum des herrlichen Morgens, der frisch wie ein Kindergemüt und voller Lerchentriller über dem geliebten Hochland hing. Noch hoffte ich, einen der vielen Birkhähne zu überlisten, die den halben Vormittag lang über Heide und Feldern herumbalzen, so daß ihr dumpfes Kullern die ganze Gegend füllt. 45

Aber das sind die schlauesten aller Vögel. Du brauchst nur den Gedanken zu fassen, einen anzupürschen, so verstummt er schon, kriegt einen langen Hals und flattert dahin. Die Kiebitze ärgerten mich, die wippend auf den Mooshügeln in den Pfützen saßen und, wenn ich vorbeikam, mich mit ihren blitzenden Flügeln schwankend umflatterten und kicherten, als wollten sie mich auslachen.

So, das Gewehr überm Rücken schlenkernd, die Hände verdrossen in die Taschen gebohrt, kam ich, nachdem ich Tauchen an der Wegkreuzung verabschiedet hatte, zur Waldmühle, die, ein stattliches Gebäude, seitab der Straße in einer an drei Seiten vom hohen Forst umdunkelten Wiesensenke am Bach liegt, wie in einer stillen Bucht. Das Gewässer, das sie treibt, ist der Abfluß eines südlich und etliche Klafter höher im Wald gelegenen Weihers. Die Morgensonne lag voll auf dem sauberen Hause mit dem hohen Schindeldach, dessen Schornstein behaglichen Rauch in die klare Luft kräuselte. Der blitzende Überfall des Wehres dampfte, und fleißiges Pochen drang aus dem Werk, während im langen, hölzernen Hinterbau mit der Brettersäge die Arbeit noch nicht begonnen hatte.

Der östliche Teil der Mulde lag dunkel und 46 kühl unter den schrägen Strahlenbünden der Sonne. Die langen Schatten der Fichtenwipfel schoben sich über den bereiften Rasen fast bis an das blanke Haus hin.

Ich bog von der Straße ab, um auf einem hinter der Mühle am Waldsaum führenden Pfade an den Weiher zu gelangen, dessen Ufer schöne Plätze hat, die gut sind zum Rasten und Träumen. Um die Mühle war niemand zu sehen, nur ein Volk Hühner pickte und scharrte zwischen den Haufen der aufgeschichteten Langhölzer, und der Hahn saß stolz krähend auf einem abgerollten Stamm. Als ich die hölzerne Brücke betrat, die oberhalb des Wehres über das Gerinne zur anderen Seite der Mulde hinüberführt, sah ich übers Geländer gebeugt ein Mädchen stehen, eine schlanke, fast noch kindliche Gestalt, besser als bauernmäßig gekleidet, aber weder Strümpfe noch Schuhe an den Füßen, die blank unter dem kurzen Röckchen hervorsahen. Zwei schwere, dunkelglänzende Zöpfe hingen ihr über die gekreuzten Schürzenbänder herab. Als sie mich kommen hörte, wandte sie sich um und blickte, nun mit dem Rücken, die schmalen Arme ausgestreckt, an der Brüstung lehnend, mir ruhig forschend entgegen. Die Überraschung hemmte mir unwillkürlich den Schritt, so schön war sie. 47 Ein Gesicht schmal und blaß wie Elfenbein und ein paar Augen so groß und so voll dunkler Tiefe, daß mir war, als sähe der ganze Wald mich an. Die Nase gerade und überaus zart gezeichnet, die Lippen vom kühlen, samtigen Blaßrot der Himbeeren, in der Mitte voll und in seine Winkel ein wenig breit verlaufend.

Ich fühlte, daß mir die Röte ins Gesicht stieg, und schritt, die Blicke senkend, ohne Gruß und eilig vorüber, so schwer es mir wurde. Am Ende der Brücke zog es mir aber doch noch einmal das Gesicht herum. Sie stand unverändert, sah mir nach, schlug aber sogleich die Augen nieder, als sie den meinigen begegneten, und blickte, sich rasch umwendend, wieder ins Wasser hinab.

In meinem Leben war ich noch nicht so verwirrt gewesen. »Dummkopf«, dachte ich, während ich sinnlos davonlief wie ein Dieb, fast den Weg zum Weiher hinauf verfehlte und tölpelhaft über einen Holzspan stolperte. »Esel!« sagte ich mir, »warum hast du ihr nicht wenigstens einen guten Morgen geboten? Da hätte sie's doch erwidern müssen, und vielleicht hätte sich noch ein oder das andere Wort dazu gefunden. Tropf, alberner – Stümper – hättest du – ja hättest du jetzt einen Hahn in der Hand und einen Bruch auf dem Hut, das hätte sich halt 48 gut gemacht! Da hätte es was zu schauen gegeben – sie hat gewiß noch keinen Auerhahn aus der Nähe gesehen – und die Anknüpfung wäre gegeben, die Bekanntschaft gemacht gewesen.«

Mich so beschuldigend, merkte ich es kaum, daß ich wieder im Wald war. Ich blieb stehen und sah hinab. Die Gestalt war verschwunden. »Hast du geträumt?« stieg es mir auf. Und dumm starrte ich auf die leere Brücke, das funkelnde Band des Wasserlaufes und die grellblinkende Mühle hinunter. Ich wandte mich, stieg vollends empor und sah nun den stillen Waldsee im stumm ragenden Kreis der Forste liegen, deren vielfach gezackter Wipfelsaum aus dem moorigen Wasser wie aus einem schwarzen Spiegel wieder heraufblickt. Ich kam zur Schleuse, wo die Flut mit leisem Gurgeln in den Ablauf gezogen wird. Das Wasser ist hier besonders tief und in seiner Dunkelheit klar wie ein schwarzer Diamant. Am Uferrand scheint es bräunlich durch und steht dann glashell über einem Kranz von bleichen, verwaschenen Steinen. »So sind ihre Augen«, dachte ich, stand und träumte hinunter und ging weiter zu einem Platz, wo kein Baum steht und das Ufer in einem Bogen flach und seicht verläuft, so daß viele der weißen Steine trocken aus dem Wasser 49 hervorsehen. Von dort aus ist der schönste Blick über den See. Ich streckte mich ins dürre Kraut und sah den weiten, dunklen Ring des Hochwaldes. »So sind ihre Augen«, sprach es in mir. Ich knickte kleine Zweige, zerblätterte einen Tannenzapfen und bekam klebrige Finger. Auf einer schmalen Landzunge, die sich grasig in den Weiher schiebt, trat ein Reh hervor, äugte umher, bückte sich schlank zur Tränke und sah wieder herüber. »So sind ihre Augen«, dachte ich und setzte mich auf. Das Reh machte ein paar Sprünge und verschwand schreckend im Wald. Ich erhob mich, stand eine Weile mit verschränkten Armen, machte einige Schritte zum Wasser hinab und hob ganz in Gedanken verloren einen flachen Stein auf, den ich mit einem scharfen Wurf übers Wasser schlittern ließ. Er fuhr eine Strecke das Ufer lang und geräuschvoll ins Röhricht, aus dem flatternd und quakend ein Entenpaar aufstob, worüber ich heftig erschrak und zu mir kam. Jetzt merkte ich, indem ich weiterschritt, daß viele Vögel sangen. Ein Schwarzblättchen mir zu Häupten flötete besonders süß. Ich wurde schwermütig und seufzte tief, dann schob ich das Gewehr mit einem kräftigen Ruck zurück und machte mich auf den Heimweg. 50

Bald nach dem Essen verabschiedete ich mich von den Eltern, um, wie ich sagte, es neuerdings auf Birkhähne zu versuchen, die gegen Abend wieder aus den Wäldern auf die Balzplätze streichen.

Es zog mich mächtig nach der Mühle, aber eine Art unerklärliche Furcht wirkte dawider, so daß ich schließlich die entgegengesetzte Richtung einschlug und einer etwas erhöht gelegenen Heidefläche im Osten zustrebte. Dort liegt eine kleine Ortschaft, Bernschlag genannt, nur einige verstreute Hütten, die zu den ärmlichsten und altertümlichsten in der Gegend gehören. An den Giebeln tragen sie, wie die Häuser in der Lüneburger Heide, geschnitzte Pferdeköpfe.

Wenn man sich auf der höchsten Stelle der Heide befindet, stehen im Süden über dem langhingezogenen schwarzen Waldsaum die höchsten Häupter der fernen Alpen unvermittelt und zusammenhanglos in weiten Abständen. Ein höchst seltsamer Anblick.

Ich suchte mir an einer Waldspitze ein Plätzchen mit guter Übersicht, breitete meinen Umhang aus und legte mich auf den Bauch, die Flinte schußbereit vor mir.

Noch stand die Sonne hoch und als eine bleichsilberne Scheibe hinter dünnen weißen 51 Wolkenstreifen. Die Dinge warfen ungewisse leichte Schatten, die manchmal schwanden und dann unmerklich wieder da waren. Die Luft war lind und müd, nichts regte sich im Zwielicht des Waldes und über die rötliche Helle der Heide hin. Selbst die Vögel waren träge. Einer jener sanften Tage, wie sie häufig um Ostern sind. Sie lösen die Seele in Weichheit und Träumerei. Die große Stille gebiert Täuschungen des Gehörs. Oft glaubt man ferne Glocken zu hören. Wer in der Fremde ist, sehnt sich nach der Heimat, wer in der Heimat ist, tu die Weite, nach Italien oder nach Traumländern, die es nur auf alten Bildern gibt.

Zum erstenmal in meinem Leben fühlte ich die ungeheure Einsamkeit der Heimat, die mir Mutter und Freundin ist von klein auf, gleich etwas Schwerem auf mir. Ich wurde unruhig, das Blut perlte mir in den Adern. Ich wünschte einen Freund da zu haben, mit dem ich plaudern könnte.

Ein Bauer pflügte hemdärmelig in einiger Entfernung mit kleinen, mageren Kühen sein armseliges Feld, das sich in einem unregelmäßigen Kreis um einen trotzigen Granitblock zog. Der lag schwer und verstockt da, als wollte er sagen: »Pflüge nur zu, mich bringst du nicht 52 weg.« Zuerst, als ich den Mann erblickt hatte, ärgerte ich mich, daß er mir die Hähne verscheuchen würde. Jetzt hatte ich beinahe Lust, zu ihm zu gehen und ihn anzusprechen. Zwar ist nicht viel herauszubringen aus diesen dunklen, schmächtigen Leuten mit dem mißtrauischen Blick. Sie kämpfen hart mit der kargen Natur um ihr Brot, ringen mit Felstrümmern und Moor und dem langen, schweren Winter. Sie sind leicht erregt, verbergen aber ihren Groll, da hält er lange vor. Und der Branntwein – denn Bier und Wein sind teuer hier oben – zieht ihnen dann im Wirtshaus wohl einmal unversehens das Messer aus der Tasche.

Ich war doch wieder zu träg, um aufzustehen. Meine Seele flatterte rastlos herum wie ein Vogel, der einen Platz für sein Nest sucht. Ich wünschte allerlei und doch nichts Greifbares. Und plötzlich flüsterte meine Seele: »Ihre Augen . . . ihre Waldaugen. Wen sie angeblickt haben, der vergißt's nicht mehr. Wen sie anblicken, dem wird das Gemüt still und weit wie der Waldsee, in dem sich die Tannen so schwarz und die Wolken so bleich spiegeln und die Himmelsbläue braun wird und alles wie in Schwermut getaucht . . .

Ihre Lippen schwellen blaßrot und samtig wie 53 die Himbeeren. Und wenn sie feucht sind, werden sie blutrot sein wie zerdrückte Himbeeren.

Und süß . . .«

So flüsterte meine Seele fort, und ich lauschte ihr mit verhaltenem Atem.

Die Sonne saß auf einmal als eine große, rote Dunstscheibe auf den Waldspitzen im Südwesten, die sich immer tiefer in die Glut bohrten und zu brennen schienen.

Und im Osten drüben kam fast zur selben Zeit der Mond herauf, erst wie ein Feuerschein, dann wie eine ungeheuerliche, rübenfarbene Kugel, auf die ein verzogenes Gesicht gezeichnet ist, grotesk, daß man hätte lachen mögen.

Ich schulterte Gewehr und Mantel und ging heim.

*

Ich ging früh zu Bett und war matt von der weichen Lenzluft. Trotzdem konnte ich lange nicht einschlafen, und dann kam nur ein unruhiger Schlummer über mich, leicht wie ein Schleier, den jedes leise Geräusch zerriß, und voll bunter, wirrwechselnder Traumgewebe. Mehrmals machte ich Licht und sah nach der Uhr. Und schließlich hörte ich schon die Hoftür gehen und des Matthias plumpe Hausknechttritte den 54 langen Gang heraufkommen. Ich verwünschte ihn, obwohl ich ihm eingeschärft hatte, mich ja nicht verschlafen zu lassen. Als er eintrat, schmerzte mich das Licht seiner Talgkerze in den Augen. Ich war so müde und gerade am Einschlafen gewesen. Er stand am Fußende meines Bettes und leuchtete mich unbarmherzig an. Der Kerzenschein schimmerte durch seinen roten Bart. Sein dummes Gesicht schien mir einen affenartig boshaften Ausdruck zu haben. Ich fragte nach dem Wetter und hoffte halb, es möge regnen. Er antwortete hart, es sei wunderschön, ganz klar und windstill, und der Wagen werde gleich bereitstehen. Dann stellte er das Licht auf den Tisch und ging. Ich erhob mich gähnend und kleidete mich an.

Wir fuhren gegen Westen. Die Pferde trabten verschlafen, der Wagen rollte dumpf auf dem hell im Mondschein liegenden Band der Straße hin. Noch war die Luft müde und lau von den Ausatmungen der Nacht, noch nicht erfrischt vom Morgenwind und Taufall. In dicken, schwarzen Massen quoll der Wald vom Horizont herein in die matten Felder und tiefen Wiesen, über die sich weißer Nebel schichtete. Hoch herrschte der Mond in der silberigen Bläue. Sein Licht hatte fast alle Sterne aufgezehrt. 55 Nur einer stand groß und flackernd im Osten, hart überm Waldkreis: Venus regina als Morgenstern.

Wir kamen an der Mühle vorbei. Sie ragte mondhell wie eine Insel aus dem Nebelqualm und hatte ein rötliches Fensterauge. Das Werk pochte. Als wir vorüber waren, wurde die Schleuse geöffnet. Das Klopfen setzte aus. Das Wasser fiel über und füllte die Nacht mit traumhaftem Brausen. »Die Augen . . .«, dachte ich schlaftrunken und sah gegen die finstere Wand des Waldes. Der Hahn krähte.

Au der Straßenkreuzung saß der alte Tauchen mit der Pfeife im Mund auf einem Schotterhaufen. Sein Schatten schlug bizarr auf den hellen Grund. Ich stieg aus. Wir begrüßten uns kurz und gingen sogleich nordwärts dem Walde zu, er voraus. Der scharfe Tabaksrauch reizte mich zum Husten.

Lange noch hörte man das Hufgeklapp und Rollen des zurückkehrenden Wagens. Bald war es versunken, bald tauchte es wieder auf, heller und immer ferner, bis es fort war. Nur das Brausen des Mühlbaches schwoll und ebbte dunkel hinter uns her.

Wir traten in den Wald. Tauchen steckte eine Laterne an. Dann ging es schweigsam fort unter 56 den schweigsamen Fichten, die jetzt doppelt so hoch schienen in ihrer steilen Finsternis gegen den lichten Mondhimmel und seine blassen Sterne, die sie uns bald ganz entzogen. Gedankenlos stapfte ich dem Alten nach und sah die breiten Baumstämme im Laternenschein nah an uns vorübergleiten. Ein Kauz klagte, jetzt hier, jetzt dort. – Sonst war's still.

Wir kamen über eine kleine, helle Wiese. Das bereifte Sumpfgras knarrte unter unseren Tritten. Ein verstecktes Bächlein gluckste wo. Nun verschlang uns wieder der Wald, der dichter und voll Unterholz war. Die Zweige streiften mir manchmal ins Gesicht.

Der Tauchen blieb stehen und löschte die Laterne aus. Bei hundert Schritte tappten wir uns noch vorsichtig fort einer Lichtung zu, die ungewiß durch die Bäume dämmerte. Nun hieß es warten.

Ich lehnte mich an einen Stamm und lauschte angestrengt hinaus. Ab und zu der eintönige Eulenruf. Sonst Totenstille, nur daß man, je länger man horchte, ein leises Quirlen und Prickeln ringsum zu spüren glaubte, als stiegen Blasen aus der Erde.

Ich döste so hin und hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. Allerlei ging mir durchs Hirn, 57 halb Gedanke, halb Traum. Manchmal schrak ich zusammen, weil mich irgendein Bild umgaukelte oder eine Stimme anraunte. Dann merkte ich, daß ich eingeschlafen war.

Mich fröstelte. Aus der Finsternis umher quoll ein mattes Grauen hervor. Einzelne Stämme zeigten Umrisse.

Da fuhr ich auf, und alle meine Sinne spannten sich mit einem Ruck. Auch der Alte nahm die Pfeife aus dem Mund. Das machte der seltsame Laut, dem unser scharf wachendes Gehör schon die ganze Zeit über in der Runde aufgelauert hatte. Ein seltsamer, leiser Ton, wie wenn man ein dürres Ästlein vom Stamm einer Tanne bricht, daß es im Abspringen metallisch klingt. Wir horchten hoch aufgerichtet. Jetzt wieder. Vom Rand der Lichtung schien es herzukommen, etwa zweihundert Schritte weit. Und noch einmal – diesmal viel weiter rechts. Ich winkte dem Tauchen, stehenzubleiben, und schlich mit größter Vorsicht einige Schritte vorwärts, immer gespannt herumhorchend. Mein Blut war erregt und sauste mir in den Ohren. Ich hörte den eigenen Herzschlag, blieb stehen und tat ein paar leise Atemzüge.

Jetzt war das Locken deutlicher und öfter und der schnalzende Überschlag schon vernehmlich. Ich 58 wartete den nächsten ab und machte dann ein paar hastige Sprünge, daß die dürren Zweige unter mir laut krachten. Der Hahn schlug sein Gesetz fließend und regelmäßig fort. Ich kam bis nah an den Rand der Lichtung und machte, scharf auf den Boden vor mir spähend, kürzere Sprünge. Vorsicht ist immer geboten. Tags vorher landete ich unversehens auf einem morschen Strunk. Ich stand wie eine Mauer, aber der Hahn hatte ausgesetzt, und als er eben wieder beginnen wollte, brach der Strunk unter mir zusammen. Und aus war's mit der Balz für den Morgen.

Nun hörte ich bereits nach dem Überschlag das Schleifen, ein leises Geräusch, als würde man zwei flache Steinchen aneinander wetzen. Das ist die Ekstase, die dem Hahn Hören und Sehen nimmt. Aber Achtung, Jägersmann! heb den Fuß nicht vor dem Überschlag. Der Hahn kennt seine Schwäche und die Feinde, die auf diesen Augenblick lauern, den Marder, den Fuchs, den Menschen. Drum sucht er zu täuschen, schlägt zwei-, dreimal an, immer schneller, immer fließender. Schon glaubt man, es reißt ihn in den Taumel. Da bricht er plötzlich ab und dreht eilig den langen Hals herum, spürt hinauf, hinunter, verkehrt sich wohl ganz auf 59 dem Ast, und erst, wenn sich nichts Verdächtiges rührt in der Runde, hebt er sein eigenartiges Minnelied wieder an.

Der Hahn, dem ich zustrebte, verstummte, dafür begann ein anderer jenseits des Schlages klar und in rascher Folge zu melden. Über die Lichtung springen, die schon hell im Zwielicht steht, und wo sich ein Gewirr faulender Strünke und dürrer Wurzeln breitet? – Unmöglich. Also zurück und um den Schlag herum. Da vergeht viel Zeit. Und schon – verwünscht! – ist der Waldzeisig, der Wecker des Forstes, aufgewacht und schmettert rücksichtslos sieghaft seine grelle Morgenfanfare hinaus. Da quillt und sickert bald aus allem Gezweig ringsum ein Zirpen, Piepsen und Zwitschern hervor – die Drossel wird munter, das Rotkehlchen, das Schwarzblättchen – und dann soll der Teufel einen Hahn anspringen in dem schallenden Singsang!

Gottlob, mein Hahn meldet wieder. Vorwärts Schlag auf Schlag, Sprung auf Sprung. So nah ist's schon. Dort, in einer der drei hohen Fichten, die sich scharf gegen einen fahl herauflangenden Morgenstreif abheben, muß er sein. Aber wohl auf der anderen Seite. Also unter den Bäumen durch und herum. Ich drehe 60 mir den Hals heraus und schaue mir einen Kropf. Nichts zu erspähen. Und das Locken ist so nah, daß es fast wie ein Klopfen am Baumstamm herunter klingt. Wieder zurück. Halt! Was ist das dort oben, hart am Wipfel, wo sich die ersten breiteren Zweige strecken? Ein aufwärtsgerichteter Tannenzapfen, ein Zweigbüschel? Nein. Es regt sich, wendet sich hin und her. Und nun erkennt das Auge, das die Sehkraft zum äußersten schärft, Hals, Kopf, Schnabel. Dahinter ein großer, dunkler Fleck, der sich spreizt und sachte dreht. Das Gewehr an die Backe. Die Mücke gegen den Himmel gesucht. Jetzt unterhalb des Hahnes hineingefahren, vorsichtig – es mag stimmen. Den Finger ans Züngel – der nächste Überschlag – und los . . . Wie ein großer, roher Stein schlägt der Knall ins stille Waldleben. Die Vögel verstummen erschrocken. Aber ein mächtiges Flügelrauschen hebt sich rundum wie aufgestörter Wellenschlag, klatscht dort und da plump an die Zweige, ringt sich flatternd aus dem Geäst hervor und schwirrt sausend davon. Hähne und Hennen, die verscheucht vom gestörten Balzplatz abreiten.

Meinen Hahn aber hat es abwärts gedreht an seinem Zweig. Er krampft sich fest. Noch 61 ein Schuß? – Unnütz. Er läßt locker, gleitet von Ast zu Ast und fällt dumpf im Moos auf. Da liegt er. Die weißen Flecke am Bug der Schwingen leuchten hell im Zwielicht. Der schillernde Hals ist niedergebogen. Durch den halbgebreiteten Stoß geht ein Zittern. Er hat ausgebalzt für immer.

Ich hebe ihn bei den Ständern hoch. Ein prächtiger, alter Kerl – der hat seine fünf Kilo! – »Weidmannsheil!« ruft der alte Tauchen, der mit langen Schritten herbeikommt. Vergnügt schmunzelnd lüftet er den Filz. Dann bricht er ein Zweiglein von einer jungen Fichte und reicht es mir auf den Hut gelegt dar.

Wir lauschen noch eine Weile umher. Nur Vogelschall und abseits irgendwo im Gesträuch das näselnde Gackern einer Auerhenne.

Wir treten auf den Schlag hinaus, und da steht der rote Morgen brennend überm Forst. Die alten Wipfel heben und senken sich wie in ruhigen, tiefen Atemzügen. Ein hohes Wehen zieht heran und über uns hin erhaben wallend wie der Hauch Gottes, der einen neuen Tag schafft.

Wir schreiten den Weg zurück, den wir gekommen. Die Sonne geht auf, die Tannenspitzen schimmern matt umgoldet. Auf einer der höchsten 62 sitzt spähend ein Auerhahn, schillernd in der dunklen Pracht seines Gefieders. Schnell hat er uns eräugt und streicht ab mit breitem Schwung. Einen anderen sehen wir in einiger Entfernung gewichtig auf seiner Waldwiese schreiten.

Draußen die Heide blitzt von Tau. Überallher das Zischen und Kullern der Birkhähne, der Schrei der Kiebitze, das Schrillen der Wasserschnepfen. Und die ganze Luft voll Lerchentriller.

Im Westen über einem Moor hebt sich am Rand der Hochfläche ein sanfter Hügelsaum, der überschüttet ist von großen und kleinen Granitfindlingen in abenteuerlichen Lagen und Stellungen, als hätten einmal Riesenkinder da gespielt. Auf dem höchsten Punkt, angelehnt an eine wuchtige Gruppe jener Klötze, steht ein Häuschen und sieht mit seiner grellweißen Mauer so windfroh in die Runde und weit über die Wälder hinaus.

Immer, wenn ich vom großen Hahn komme, lacht es mich an in blanker Sonnenhelle und scheint ganz eingetaucht in die traumhaft schwirrende Vogelmusik des Heidemorgens.

Es ist so schlicht und heiter wie ein Märchen und sieht klug und freundlich aus wie ein 63 sauberes altes Mütterchen, das voller Geschichten steckt. Ein armes Ehepaar bewohnt es, das einige Ziegen hat, die den lieben langen Tag vergnüglich knabbernd in den Felsen herumklettern, auf den besonnten Platten liegen oder Possen treiben mit ihren steifen und doch so behenden Sprüngen. Ein dunkler Bube hütet sie; der träumt von früh bis abends und pfeift sich was dazu. Er muß das glücklichste Herz der Welt sein. Die zwei Alten sind ewig, wie Philemon und Baucis. Und der Bub ist auch immer wieder da bei den Ziegen, bald kleiner, bald größer, bald Sepp, bald Hans, stets doch ein brauner, frohversonnener Hüterbub. Ich glaube, er ist die immer aufs neue menschgewordene Seele der Heimat.

Wie war ich heute stolz und glücklich mit meinem Hahn. Der Alte wollte ihn nur nach Hause tragen. Aber ich lehnte es hastig und entschieden ab. Er solle nur heimgehen. Ich brach mir einen Stecken, hing den schweren Vogel mit übers Kreuz gebundenen Ständern darauf, schulterte die Last und strebte froh der Waldmühle zu. Und dachte mir viel Schönes und Kluges aus.

Aber das kommt davon, wenn man die Einbildung so tapfer vorausschickt. Die Wirklichkeit hält dann nicht Schritt mit ihr. 64

Item – das schöne Kind war nicht da. Es stand nicht auf der Brücke, es sah nicht aus dem Fenster, es war nirgends um die Wege.

Nur der Müller trat eben aus der Tür, als ich vorbeikam. Er stand mit den Händen in den Taschen seiner verstaubten Hose, sah mich kalt, beinah feindselig an und grüßte nicht.

Das war mir kein Rätsel, denn mit diesem damaligen Waldmüller hatte es folgende Bewandtnis:

Als junger Holzknecht stand er früher im Dienst meines Vaters, der ihn eines Tages kurzfristig an die Luft setzte, weil man darauf kam, daß der findige Bursche einen unerwünschten und nicht ganz reinlichen Zwischenhandel mit Forstprodukten betrieb. Nun verband er sich mit einigen übelbeleumundeten Kerlen und begann das ebenso einträgliche wie landverderbende Gewerbe der Güterzertrümmerung, dem ein Gesetz, das gänzlich undeutsch Grund und Boden als eine Ware wie alle anderen behandelt, mit Strafen nicht beikommen kann. Das Geschäft blühte, und der junge Unternehmer, der seine Kumpane abzuschütteln wußte, sobald er sie nicht mehr brauchte, hatte auf dem Ruin vieler Bauern bald sein Glück begründet.

In dieser Zeit kam zufällig die Waldmühle 65 zum Verkauf, deren Gründe dem Gebiet meines Vaters recht mitten innen lagen. Es wäre ein günstiger Erwerb gewesen. Aber das flüssige Geld war nie recht daheim bei uns. Immerhin hätte sich selbst die Aufnahme eines Darlehens für diesen Zweck bezahlt gemacht, und die kluge Mutter riet dazu. Der Vater, schwerfällig von Entschluß, zweifelte und beriet sich so lange, bis der Güterschlächter, den er haßte, eines Morgens Eigentümer der schönen Mühle war. Und seltsam: diesen Besitz zertrümmerte er nicht, behielt ihn wie zum Trotz und saß nun – er, der verjagte Holzknecht – dem Vater sozusagen mitten im Kohl. Und das Dummschlimme dabei: Unseres Holzes ein beträchtlich Teil wanderte seit jeher in die zur Mühle gehörige Säge, die beste in der ganzen Gegend. – Aus Zorn baute mein Vater eine eigene Säge. Doch schon der erste Sägemeister war ein Gauner, und die ganze Rechnung stand am Ende so hoch, daß die Waldmühle nicht teurer gekommen wäre. Nun knüpften sich langsam doch wieder Geschäftsverbindungen zur letzteren, zumal der neue Waldmüller sich geschickt und ehrlich zeigte und kraft seiner Wohlhabenheit bald ein Ansehen in der Gemeinde hatte, das den anrüchigen Güterhandel, den er heimlich noch immerfort betrieb – 66 nur in entlegeneren Gegenden –, vergessen ließ. Freilich tat mein Vater so, als kenne er den Müller nicht. Aber dem war's schließlich gleich, ob er mit dem Herrn oder mit dem Verwalter des Gutes abschloß.

Noch hoffte ich, das Mädchen vielleicht am Waldsee zu finden. Aber da war's so still und einsam wie immer. Ich rastete dort eine Weile. Der Auerhahn war mir schwer geworden.

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