Hans von Hammerstein
Wald
Hans von Hammerstein

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In den nächsten Tagen brachte ich noch zwei große Hähne und einen Birkhahn zur Strecke. Aber die junge Waldschönheit aus der Mühle wollte mir nicht mehr begegnen. Endlich, am Karsamstag früh in der Kirche, als die wiedergekommenen Glocken läuteten und die Orgel, vom Bann gelöst, ihr Gloria brauste, sah ich sie von unserem Chorsitz aus rückwärts unter den Leuten. Ich lief ihr dann nach im Menschengewimmel des beginnenden Festes. Doch sie war schon wieder verschwunden.

Auf einem Wiesenplan am Teich außerhalb des Ortes wurden Gerüste und in der Dorfgasse Bretterbuden gebaut. Georgi, das Kirchweihfest, fiel auf den Ostermontag. Einige Wanderkrämer, Schaubuden und Ringelspiele fanden 67 sich auch hier ein, um den armen Hochländern einen bunten Tag zu bereiten.

Am Ostersonntag regnete es Schnüre. Anderntags früh war die Gegend weiß vom frischen Schnee, den die Aprilsonne mittags schon aufgezehrt hatte. Im tiefblauen Himmel schwammen blendende Watteballen mit ausgezupften Rändern. Auf den Wiesen zeigte sich zum erstenmal etwas wie Grün. Die Osterglocken gingen feierfröhlich über Land und Wald. Die Leierkästen einer Schiffsschaukel und eines Karussells warben abwechselnd um das Gedränge auf dem Jahrmarkt und der Festwiese.

Ich trieb mich, der Buntheit froh, in der Menge umher und suchte. Der alte Tauchen stand vor einer Bude und wählte eine Stunde lang in Pfeifenrohren, von denen er bei fünfzig auf Zug und sonstige Eignung prüfte. In einer phantastischen, braungrünen Sonntagstracht, der man es anmerkte, daß sie sorglich in unsauberen Kästen aufbewahrt wurde, sah er aus wie der Rübezahl, der sich einmal unters Volk mischt.

Nachmittags strich ich zum soundsovielten Male auf der Wiese herum, wo sich das jüngere Volk erlustigte. Besonders das Ringelspiel zog, das groß und nagelneu war und um eine grellbemalte, mit roten Samtschabracken und 68 Goldfransen verzierte Turmpagode zu ebener Erde einen Kreis geschnitzter Pferde, im Stockwerk aber Gondeln bewegte, die in eisernem Gestänge hängend bei der Drehung nach auswärts strebten, während im Innern der Pagode die Orgel aus vielen Pfeifen dazu ihre Stücke dröhnte.

Eine Menge Volks stand um dieses bislang hier ungesehene Kirchtagswunder im Kreis, breitspurige Burschen, die Pfeifen im Mund, dralle, kichernde Dirnen mit bunten Tüchern und Röcken, und Kinder, die große, begehrliche Augen machten. Der Besitzer lud mit kreischender Stimme zur Fahrt ein. Seine Knechte, zwei stämmige, fleischhauerhafte Kerle in rot und weiß gestreiften Trikothemden, harrten, bis die Fahrplätze gefüllt waren, um dann das ganze Bauwerk mit seinen drehlustigen Gästen in kräftige Schwingung zu versetzen. Von der anderen Seite pries ein schwarzlockiger Taschenspieler seine Künste und die Sehenswürdigkeiten seines Raritätenkabinetts an. Ein verkommen aussehendes Weib und ein blasses, als Tänzerin gekleidetes Mädchen unterstützten ihn hierin. Über seinem Haupt aber, in einen Reif gekettet, saß ein Affe und schnitt Grimassen.

Als ich so stand und bald das gaffende Volk, 69 bald das Ringelspiel betrachtete, das eben wieder eine Runde begonnen hatte, sah ich plötzlich das Mädchen aus der Mühle kühn und frei auf dem Rand einer der kreisenden Gondeln stehen, sich im Gestänge festhaltend. Sie war heute städtisch und zierlich gekleidet. Ihre dunklen Zöpfe flogen, und das Röckchen wehte ihr, vom Luftzug hingezerrt, steif um die Knie. Sie lachte einer Magd zu, die unten stand und sie voll Besorgnis vor zu großer Kühnheit warnte. Ich konnte kein Auge mehr von dem reizenden Bild wenden, das mir jede Drehung entzog und wieder brachte. Als die Gondeln wieder gesunken waren und das Spielwerk schwieg, sprang das Mädchen leichtfüßig herab und zu der Magd hin und redete lachend auf sie ein, um die ängstlich sich Zierende und Ziehende auch zu einer Fahrt zu bewegen. Es gelang ihr schließlich mit mancher Beteuerung der Annehmlichkeit und Ungefährlichkeit des Vergnügens, und beide bestiegen eines der bunten Schiffchen.

Kurz entschlossen sprang ich nun auch heran, flüsterte dem Unternehmer, während ich ihm ein größeres Geldstück auf den Teller warf, zu, er möge nur ja recht kräftig drehen lassen, lief die Treppe hinauf und trat in dieselbe Gondel. Grüßend zog ich meinen Hut, auf dem eine kecke 70 Spielhahnfeder stak. Überhaupt! War ich nicht ein rechter Kerl heute in meiner jägerischen Sonntagsmontur mit dem flatternden Seidenschlips in Grün und Rot?

Zwar das Mädchen zog, indem sie meinen Gruß mit leichtem Nicken erwiderte, ein wenig spöttisch die feinen Winkel ihres süßen Mundes herab, aber das war so zum Entzücken, daß es meine Kühnheit nur erhöhte. Die Runde begann, und »schneller!« rief ich den Burschen hinunter. Die Gondeln hoben sich und strebten hinaus, als wollten sie in die Wolken steigen. Die Magd schrie. Wir lachten. Hui! wie flogen wir, und wie flogen Schloß, Dorf, Wiese und Wald, wie flog der ganze liebe Heimatkreis in weiße, braune, grüne und blaue Streifen gezogen um uns herum!

Noch eh die Gondeln wieder ruhten, rief ich einem Haufen Kinder zu, sie sollten einsteigen, ich wollt's bezahlen, und mit Jubel stürzte sich der ganze Schwarm auf das Lustgebäude und füllte lachend alle Plätze. Die Magd wollte wehren, das Mädchen aber klatschte in die Hände vor Vergnügen und spottete ihrer voll Fröhlichkeit. Sogleich kam wieder Schwung in das Gehäuse, und noch einmal sausten wir herum.

Galant war ich den Frauenzimmern beim 71 Aussteigen behilflich und ließ die nun geknüpfte Gelegenheit so bald nicht los. Die Magd meinte, ich sei wohl der junge Baron, was zu bejahen mich ein wenig verlegen machte. Doch schnell gefaßt gab ich meiner Verwunderung darüber Ausdruck, daß ich das Fräulein bisher nie hier gesehen habe. Sie sei die letzten Jahre vom Hause fort gewesen, antwortete halb das Mädchen, halb die Magd, unten bei Verwandten in einer kleinen Stadt, wo sie die Bürgerschule besuchte. Und jetzt, fügte die Magd hinzu, soll sie gar noch einmal in ein höheres Institut, der Vater wolle durchaus eine studierte Dame aus ihr machen. Wieder zog Martha, so nannte sie die Magd, und ich war glücklich, nun ihren Namen zu wissen, wieder zog sie ihre reizenden schmalen Mundwinkel herab und meinte, sie bliebe viel lieber hier. Nun hätte sich wohl schicklich eine Schmeichelei anbringen lassen, aber mir fiel nichts Passendes ein, so stockte das Gespräch beiderseits, und schließlich fanden die zwei, daß es Zeit wäre, nach Hause zu gehen. Ich suchte sie zu einer weiteren Rundfahrt, zum Besuch der Raritätenbude und sonstigen Vergnügungen zu ermuntern, aber sie blieben dabei. Ich verabschiedete mich und reichte beiden die Hand. Gar zu gern hätte ich sie ein Stück begleitet, 72 aber dafür langte mir der Mut nicht mehr. So stand ich und sah ihnen wehmütig nach, wie sie der Straße zuschritten.

*

Mein Herz war voll von Martha. Übervoll. Wenn ich was Schönes gesehen habe, muß ich's jemandem sagen. Wer aber war da, dem ich vertrauen konnte? – Der alte Tauchen? – Der saß wo, zechte und log die Bauern an.

Nach der Abendmahlzeit waren wir, die Eltern und ich, im Zimmer des Vaters, wo auf großen Tischen große Unordnung herrschte, Geweihe und alte Stiche an den Wänden hingen, Flinten und Büchsen in Glasschränken standen, Hüte und Stöcke lagen, wo man sie nicht vermutete. Die kleine Mutter saß ganz versunken in einem der mächtigen Ledersessel, eine Hornbrille im schmalen, feinfaltigen Gesicht, und häkelte emsig. Der Vater stand vor dem Ofen und sog an seinem Tschibuk.

Ich schweifte in meinen Jagdplaudereien immer um die Waldmühle herum und wich ihr dennoch aus.

Aber es ließ sich nicht halten. Als eine Pause entstanden war, sagte ich: »Die Waldmüller Martha ist ein hübsches Mädel.« 73

Hui! da war's draußen und rollte hin wie ein Stein, von dem man nicht weiß, was er anrichten wird.

»Ein bildschönes sogar«, betonte die Mutter und sah nicht einmal auf dabei.

Ich hätte sie umarmen mögen.

»Neulich ist sie mir begegnet«, fuhr die Mutter fort. »Es sind gewiß vier Jahre, daß ich sie nicht gesehen. Sie hat sich prächtig ausgewachsen. Und so was Feines, Freundliches hat sie – man möcht' dem Vater kein solches Kind zutrauen.«

»Kein Wunder«, fiel jetzt der Vater ein. »Die Mutter war auch schön und fein.«

»Lebt sie noch?« fragte ich.

»Nein, sie starb bei der Geburt dieses ihres ersten Kindes«, entgegnete der Vater. »Sie war eine Försterstochter aus Gutenbrunn.«

Wie fühlte ich mich! In mehr als einer Hinsicht war dieses Gespräch der Eltern schmeichelhaft für mich.

Einmal kann's ein Verliebter nicht oft genug hören, daß seine Erkorene schön ist. Dieses Schwanken zwischen Geheimnis und Geständnis, das die Seele in ein feines, zitterndes Bewegen bringt, ist einer der höchsten Reize des Verliebtseins. 74

Dann war es ein ehrendes Zeichen dafür, daß die Eltern anfingen, mich für reif und vernünftig zu halten, weil sie ungescheut solche Dinge vor mir besprachen. Fast so ehrend wie die erste Zigarette, die mir der Vater am Ostersonntag erlaubt hatte. Heimlich rauchte ich schon längst, obwohl es mir vorläufig nicht sonderlich schmeckte.

Eh ich zu Bett ging, lag ich noch lang im Fenster und hörte dem Orgeln des Ringelspieles zu, das sich unten mit vielen Lichtern zauberhaft in der dunklen Wiese drehte. Die grellen Scheine schlugen über undeutliche Haufen herumstehender und wandelnder Menschen hin, daß einzelne Gesichter und Gestalten scharf hervortraten, während die in den Gondeln Fahrenden ganz in Licht gehoben waren und so seltsam stumm lächelnd oder bangend um die bunten, abenteuerlichen Bilder der Pagode kreisten. Und das Spielwerk dröhnte und flötete italienische Opernweisen dazu. Eine davon war mir lieb, denn zu ihren Klängen war ich da mit Martha gefahren.

Der Mond stand darüber und machte ein jämmerliches Gesicht wie ein Mann, der eine geschwollene Backe hat.

Die Musik hörte auf, die Lichter verloschen, die Menschen verliefen sich. Alles war still. 75 Nur wenn unten in der Schloßtaverne die Tür aufging, brach Licht und Lärm hervor.

Ein derbes Mädchenlachen flog irgendwo hinter Hecken auf. Ein Bursch ging vorbei und spielte auf der Mundharmonika. Und eine Gruppe Heimkehrender sang weit draußen über die Felder starke, klangvolle Volksweisen. Wie Raketen stiegen die Jauchzer empor.

Ich sah in die Gegend der Mühle hinüber, wo die Säume des Waldes sich zart im Mondesduft verloren.

Wie es immer stiller wurde umher, schien das ferne Rauschen des Mühlbaches sacht anzuschwellen und zog heimlich um die weite, mondhelle Runde, wie der Atem der Einsamkeit.

*

Lange vor Morgengrauen fuhr ich zum Spielberger Moos auf Birkhähne. Es war mein letzter freier Tag. Am Mittwoch mußte ich wieder in den Käfig.

Den Tauchen hatte ich nicht hinbestellt.

Ich schickte den Wagen zurück, stapfte über die Heide und kroch in eine niedere Reisighütte.

Gespenstisch lag das Moor vor mir mit seinen Krüppelkiefern, deren unsichere Schattenrisse wunderlich gegen tagahnende, blasse 76 Wolkenschichten im Osten standen, daß es wie ein verrückter Tanz von buckligen Alraunen und Hexen aussah. Dazwischen ragten die schwarzen Wacholderstauden gleich vermummten Gestalten, die sich manchmal flüsternd zu regen schienen. Dort und da lag ein Haufen Steine, bleich wie Totenschädel.

Das Gewölk im Morgen wurde braun und bekam langsam glimmende Säume. Zugleich hob sich ein scharfer Wind von dort her und fuhr raschelnd durch das Reisig der Hütte. Ich schlug den Mantelkragen hoch, und als ich die Patronen ins Gewehr stecken wollte, fielen sie mir aus den erstarrten Fingern.

Es schüttelte mich.

Da schnitt draußen etwas sausend durch die Luft, und mir war's, als wär' ein Schatten blitzschnell über mich hingestrichen. Ich spähte durch die Luken hinaus. Und da – am Feldrain streckte sich schon der Hals eines Vogels. Unbeweglich. Nur die steigende Dämmerung ließ Kopf und Schnabel erkennen. Und jetzt schwirrte ungestüm ein zweiter heran. Als er im Heidekraut einfiel, schlug es weiß auf, wie ein Fleckchen Schnee. Das war der Hahn. Eine Weile saß er still. Die Henne gackerte und lief ein Stück am Rain hin. Da sprang der Hahn flügelschlagend in 77 die Höhe und zischte. Und dann, mit dem vorgestreckten Kopf und hängenden Schwingen, den leierförmigen Stoß ruckweise hin und her drehend, wobei es immer weiß aufblitzte, begann er kullernd um die Henne zu laufen wie ein Kreisel, der losgelassen schnurrt und taumelt. Die Henne lief ihm nah vorbei, entlief ihm, duckte sich hinter die Grasbüschel des Feldraines und sah lockend nach ihm zurück. Dann kam sie wieder hervor und rannte im weiten Bogen um den Hahn herum, zog engere und engere Kreise, und wie er auf sie losfuhr, war sie wieder entwischt. Plötzlich wurde der Hahn still und streckte sich horchend. Vom Moor her kam dasselbe Zischen und Flattern. Wie toll vor Zorn, sprang er, zischte zurück und horchte wieder dem dumpfen Kullern, das nun auch dort anhub. Dann zog er aufs neue seine Kreise, rascher jetzt und aufgeregt, sich häufig mit flatternden Sprüngen und Zischen unterbrechend, und von drüben kam's näher, und hin und her flog immer zorniger die Aufforderung zum Zweikampf.

Jetzt blitzte es nah im Moor auf, und im nächsten Augenblick schwirrte der zweite Hahn herbei. Und während die Henne abseits auf dem Rain saß und neugierig zuschaute, begannen die zwei Rivalen den Waffengang. Erst maßen sie 78 sich lange mit weit vorgestreckten Köpfen, dann rannten sie kullernd umeinander herum, jetzt stießen sie aufeinander, flatterten in die Höhe, prallten zurück, liefen jeder nach einer anderen Seite, kehrten im Bogen wieder um, kreuzten sich wieder, fuhren und hackten aufeinander los, daß die Federn stoben.

Es war inzwischen schußhell geworden. Die tollen Raufer kamen mir immer näher. Längst schon hatte ich lautlos das Gewehr gespannt. Nun schlug ich vorsichtig an. Der eine hatte wohl was blinken gesehen, denn mit einem Ruck stand er still, legte die Flügel an und bekam einen langen Hals. Der andere tollte fort und war mir schließlich so nah, daß ich die roten Wülste über seinen Augen sah. Da brannte ich los. Er überschlug sich und blieb flatternd im Kraut liegen. Geschwind fuhr ich zum andern hin. Aber der purrte schon mit der Henne davon. Ich lud einen neuen Schuß und wartete. Drüben im Osten brachen mächtige Feuerbündel durch die Wolken und breiteten sich wie ein Strahlenfächer hoch in den Himmel hinein. Schwarzbraun, mit den krausen Föhrenkonturen und rotspiegelnden Pfützen lag das Moor unter der Glut. Weit in der Runde war das Zischen und Kullern der Hähne laut. Mir aber wollte 79 keiner mehr nahen. Als die Sonne heraufkam und eine breite Welle von Licht und Wärme über die Fläche hauchte, kroch ich aus dem Schirm und holte den erlegten Hahn.

Freundlich und blank im hellen Frühschein sah das Häuschen unter den Heidesteinen zu mir herab. Die Flinte gespannt im Arm, pürschte ich am Rand des Moores hin, sah aber kaum nach dem Birkwild, das hin und her eilig flatternd vor mir flüchtete oder von den Baumwipfeln mißtrauisch ausspähte. Das Moor träumte mich so wunderbar an mit seinen schwärzlichen Pfützen, Moosinselchen und grabartigen Hügeln voll rötlicher Grasschöpfe. Dort und da lag ein bleiches Baumgeripp hingestürzt und halb im Sumpf versenkt, den knorrig verästelten Wurzelstock in die Luft streckend. Unter einer kurzstämmigen Föhre, die auf krampfhaft verrenkten roten Armen ihr struppiges Nadeldach pinienartig trug, ließ ich mich nieder und verzehrte ein mitgebrachtes Frühstück. Wohl eine Stunde saß ich da. Dann ging ich hinter dem Moor herum durch den schütteren Bestand von Kiefern, Birken, Erlen und Wacholderbüschen, wo die Tritte dumpf hallen und der Boden wankt, als ginge man über Gewölben. Ich kam auf die Straße, schritt sie hinab und 80 durchs kleine Dorf Spielberg, das voll morgendlichen Lärmes war, der Mühle zu.

Mit Schmerz dachte ich daran, daß ich anderntags fort müsse.

Immer lieber wurde mir mein Hochland, und jedesmal, wenn ich es wieder verlassen sollte, fühlte ich, wie meine ganze Seele es leidenschaftlicher umschlang. Und seit den Tagen der Kindheit, wo man die ersten wachen Blicke in die Natur tut und lauter Wunder sieht, weil Farben und Gestalten noch keine vernünftige Erklärung haben und in ihrer verschollenen Ursprache uns märchenhaft anraunen, seit jenen seligen Tagen, wo alles Klang und Dichtung ist, glaubte ich die Heimat nicht mehr so tief und wunderbar erlebt zu haben als nun im Bann der dunklen Augen des Waldmädchens.

Jetzt kam auch hier der Frühling. Scheu und schüchtern, nur mit einem bescheidenen Kränzlein gelber Blumen an den Bachrändern und mit ein paar bunten Flecken im Waldesdämmern. Der arme, liebe Heimatfrühling, von dem einer einmal sagte, man möchte ihm zwei Gänseblümchen schenken, so bettelhaft sei er. Freilich, er kann nicht aufprunken mit schwerem Baumblust und farbenlachenden Wiesen. Spät erst, wenn die Erika blüht, hat er seine Pracht. 81

Das Hochland ist wie ein stilles Buch mit schwerflüssiger, dunkler Sprache. Es nimmt nicht im Sturm ein. Man muß es oft lesen, dann hört man auch nicht mehr auf, darin zu blättern. Oder wie ein schweigsamer Mensch, der nur, wenn man ihn allein hat, sein Gemüt auftut und nun aus unerschöpflicher Tiefe Dinge hervorholt, die nicht auf der Straße liegen.

Heute war mir das Glück hold.

Als ich zur Mühle kam, stand Martha unter der Straßenbrücke am Bachsaum und pflückte ein Sträußchen Butterblumen. Das war mir sehr lieb. Ich tat schnell die paar Schritte hinab. Da konnte uns von der Mühle aus niemand sehen. Sie erschrak, als mein Fuß neben ihr in den feuchten Grund trat. In wünschte ihr, den Hut lüftend, einen guten Morgen, und fragte, ob sie wohl im Traum noch Ringelspiel gefahren sei. Das bejahte sie lachend und meinte, es sei doch recht lustig gewesen. Dann mußte sie meinen Hahn bewundern.

»Warum haben Sie den schönen Vogel totgeschossen?« bedauerte sie und strich mit den Fingern über das feinschillernde Gefieder des Halses nieder. »Ich hör' sie so gern, wenn sie dort bei Biberschlag auf der Heide herumtanzen.« 82

Biberschlag ist ein Dörfchen, das in einer Mulde versunken der Mühle auf ungefähr tausend Schritte nordwärts gegenüberliegt.

Ich wußte nichts Rechtes zu antworten und hätte den Vogel herzlich gern wieder lebendig gemacht, wenn's möglich gewesen und ihr damit eine Freude geschehen wäre.

Ich führte dumme, gleichgültige Redensarten. Sie sagte nicht mehr viel und ordnete an dem Sträußchen fort, wobei sie den zum Binden bestimmten Grashalm zwischen den Lippen hielt.

»Morgen muß ich fort«, sagte ich schließlich. »Aber im Juli komm' ich wieder, dann für zwei Monate. Werden Sie dann noch hier sein?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Der Vater will, daß ich in ein Institut gehe. Aber das wird erst im Herbst sein.«

»So werden wir uns dann doch hoffentlich manchmal sehen?«

Ihre dunklen Blicke waren ganz kühl und unergründlich. Nur die feinen Mundwinkel zogen sich ein wenig abwärts.

»Ich weiß viel schöne Spaziergänge hier«, fügte ich nach einer Pause hinzu.

»Ich auch«, versetzte sie kurz.

»Desto besser, so können wir einander zeigen, 83 was wir in dieser schönen Gegend vielleicht noch nicht kennen. Waren Sie schon einmal dort im Spielberger Moos und oben bei den Steinen, wo das kleine weiße Haus ist?«

»Nein. Aber da möchte ich gern einmal hin. Es soll dort eine schöne Aussicht sein.«

»Also, wenn ich wieder da bin, gehen wir einmal zusammen hinaus.«

»Ja . . .«

»Leben Sie wohl, Fräulein Martha. Schenken Sie mir diese Blumen zum Abschied.«

Ich griff nach dem Sträußchen. Sie lächelte verlegen.

»Warten Sie«, sagte sie. »Ich muß sie erst binden.«

Sie zog den Grashalm durch die Lippen und knüpfte ihn um die Stiele.

»So.« Sie gab mir den Strauß und sah mich lustig von der Seite an.

»Danke schön. Ich werde ihn gut aufheben. – Werden Sie manchmal an mich denken? . . .« Ich hatte ihre Hand gefaßt.

» . . Warum denn – nicht . . .«, dehnte sie hin und zog, irgendwohin ins Blaue schauend, ihre Hand zurück.

»Adieu!« Ich grüßte und sprang den Rain zur Straße hinauf. 84

»B'hüt Gott.« Sie bückte sich wieder nach den Blumen.

Als ich über die Brücke schritt und hinunterblickte, sah ich ihr dunkles Köpfchen, die zwei schweren Zöpfe und die gekreuzten Bänder der weißen Schürze über dem blauen Kleid.

Im Wald dann drückte ich einen langen Kuß in das kühle, feuchte Sträußchen der gelben Blumen.

*

Nun fuhr ich wieder durch die »Hölle« zu Tal und dachte nur, daß es sehr viel angenehmer wäre, hier eine kleine Ewigkeit verdammt zu sein, als zehn Wochen in dem verwünschten Konvikt zu sitzen.

Von der ersten Poststation abwärts ging es immer voller in Buchen und Wiesengrün hinein. Und als sich die Donaubreite auftat, lag sie tief im Blütenschnee, über den das ferne weiße Gebirge wunderbar hereinschimmerte. Ein Schwall von weicher Luft strömte mir entgegen. Behüt dich Gott, du schöner Wald und du schönes Mädchen in der einsamen Mühle droben!

Mit siebzehn und achtzehn macht das Menschenkind Schübe wie die jungen Tannen, am Leib sowohl als am Geiste, und besonders im 85 Frühling. Es ist erstaunlich, was sich da oft in ein paar Wochen für ein Flegel entwickelt. Alles streckt und dehnt sich und wird ungeschlacht, weil's die junge Kraft noch nicht regieren kann. Die Stimme schlägt um, der Bart sticht hervor, das Herz wird weit und sehnsüchtig, und die Augen sehen, daß die Mädchen hübsch sind. Es waren da ein paar Kerle in der Klasse, die sich schon für was Rechtes hielten und, was die Frauenzimmer angeht, taten wie alte, erfahrene Jäger. Sie genossen großes Ansehen, insonderheit deshalb, weil sie sich mit andeutungsvollen Geheimnissen zu umgeben wußten. Wenn man sie miteinander tuscheln sah, kam man sich sehr einfältig und ausgeschlossen vor. Zumeist waren es Wiener. Sie verstanden es auch, einen Schlips genial zu binden und Bügelfalten mit Bewußtsein zu tragen. Ihr Witzeln und Hänseln biß tief in die Seele. Die Klostermauer diente ihnen nur mehr als Sprungbrett zu nächtlichen romantischen Ausflügen. Beim heimlichen Biergelag trugen sie bunte Bänder auf der Brust und sangen schöne Lieder. Erwischt zu werden, war fatal, aber doch ehrenvoll. Nicht mitzutun gab der Verachtung preis. Ich tat mit, mehr um zu gelten, als aus Bedürfnis. Viel lieber lag ich im Fenster oder 86 strich einsam im Garten herum und träumte nach der Heimat zurück.

Die Kneipe bot Gelegenheit zur Erzählung von Abenteuern. Und es war schicklich, eine Angebetete draußen im Städtchen zu haben.

Einer hatte viel Macht über mich. Er war Großstädter, Sohn reicher Eltern, unter den Ersten der Klasse, trug einen Kneifer und machte Verse, von denen er behauptete, daß sie gedruckt würden. Er schien das Leben aus dem Handgelenk zu spielen: immer Grand mit allen Trümpfen. Eigentlich konnte ich ihn nicht ausstehen, aber er flößte mir doch Bewunderung ein. Und ich war geschmeichelt, wenn er mich vor andern dadurch auszeichnete, daß er den Arm um meine Schultern legte und väterlich redend mit mir auf und nieder wandelte.

Er hieß Rudi und war ein Edler von. Seine Schwester hatte sogar einen Baron geheiratet. Hierdurch fühlte er sich irgendwie mit mir verschwägert und ließ auch im Gespräch öfter durchblicken, daß wir zwei uns mit Recht für etwas Besseres halten könnten als die übrigen.

Ich saß gern auf der Gartenmauer und hing meinen Waldgedanken nach.

Meine Seele sprach viel in dieser Zeit, und ich lauschte ihr andächtig. Besonders, wenn ich 87 studieren wollte, erhob sie ihre Stimme, die immer wie von fernem Waldesrauschen getragen war.

Da ich, was sie sprach, weder mündlich noch schriftlich jemandem mitteilen wollte und konnte, schrieb ich manches davon in ein kleines schwarzes Notizbuch, das ich stets bei mir trug und ängstlich hütete.

Andere beginnen in solchen Lagen Verse zu machen. Ich las Gedichte über alles gern und hatte unter den volkstümlichen deutschen Dichtern meine Lieblinge. Und die Bruchstücke aus Herders »Stimmen der Völker« und »Des Knaben Wunderhorn«, die ich in unseren Lesebüchern oder in der Schülerbibliothek fand, waren meine Leiblektüre. Heiß und kalt wurde es mir bei diesen alten Liedern und Balladen. Die ganze Kindheit, die ganze Heimat sprachen aus ihnen zu mir, das Unergründliche des Waldes, die Wunder der Nacht, die uralten Schauer um Burgen und Hünengräber.

Wenn wir solche Lieder aus dem Kommersbuch sangen, ärgerte ich mich, daß sie dabei so oft verunstaltet wurden. Und während andere gröhlten, kamen mir die Tränen in die Augen.

Nie aber war mir noch der Gedanke gekommen, selbst Verse zu drechseln. Ich hatte eine 88 solche Ehrfurcht vor dem Geheimnis dieser Kunst, daß ich jeden Dichter für etwas Überirdisches und das Dichten für ein Wunder hielt.

Eines Sonntagsabends saß ich wieder auf der Gartenmauer, und da gerade niemand um die Wege war, zog ich das Notizbuch hervor und schrieb hinein. Plötzlich hinter mir ein Schatten, eine Faust, die sich derb an meinen Rock klammerte, daß ich fast nach hinten überfiel, und der Rudi schwang sich neben mich auf die Mauer. Ich hatte kaum Zeit, das Büchlein in der äußeren Rocktasche verschwinden zu lassen.

»Was schreibst du da?« forschte er und sah mich scharf lächelnd überzwerch an.

Ich war rot geworden und gebrauchte verwirrt irgendeine Ausrede.

»Ich merk' es schon lang«, fuhr der Bursche fort, »du machst Verse.«

»Aber – was dir einfällt! . . .«

»Zeig sie nur her. Ich versteh' doch was davon.«

»Wenn ich dir sag': es ist nichts dergleichen . . .«

»Papperlapapp! diese Verschämtheit. Wie ein Mädchen, das man in die Wade zwickt!« Er lachte.

Dann holte er einen tiefen Seufzer hervor, sah träumerisch ins Abendrot und sagte: 89

»Meine Gedichte werden jetzt in Buchform erscheinen. Mein Freund Goldstein, weißt du, der berühmte Lyriker und Ästhet, hat sie seinem Verleger gegeben.

Ich bin ein Neutöner, sagt er. Er wird auch eine Kritik in der Neuen Freien Presse schreiben. Meine Verse seien wie die Augen eines zwölfjährigen Mädchens, das in Nachtlokalen tanzt, sagt er. Sie werden auf Büttenpapier gedruckt, Antiqua ohne jede Interpunktion. Pergamenteinband mit Titelvignette vom Maler Müller – der den großen Skandal auf der Ausstellung gehabt hat – weißt du. Es wird ein Leckerbissen – natürlich nur für Kenner. Der Pöbel versteht so was nicht. Deshalb erscheinen sie auch nur in dreihundert numerierten Exemplaren, hundert von mir signiert. Sonette sind's.«

Eine lange Pause. Dann wieder ein Seufzer, und er begann eines der Sonette zu rezitieren, tonlos und hauchend, den Blick weit in die Ferne gerichtet.

Ich verstand gar nichts davon. Bloß, daß es sich exotisch reimte.

Mir waren einmal in Wien, das ich nur von gelegentlicher Durchreise kannte und wo sich mir immer alles wirr und fremd im Kreise 90 herumdrehte, zwei Herren mit einem Frauenzimmer begegnet, das seltsam gekleidet war, von Seide rauschte und ein Gesicht hatte wie die Puppe eines Friseurladens, so blaß und so rot zugleich. Ein betäubender Wohlduft schlug mir in die Nase, als sie vorbeikamen. Ich mußte wohl etwas auffällig hingesehen haben, denn die Dame warf mir einen sonderbaren Blick zu, der mich ganz eigen schaudern machte, und rief etwas, worauf alle in ein lautes, freches Gelächter ausbrachen. Ich ärgerte und schämte mich zugleich und ging so schnell als möglich vorüber. Dennoch zog mir eine unerklärliche Macht noch einmal das Gesicht herum, und ich mußte ihr nachschauen, wie sie dahinschritt mit gerafften Röcken, Seidenstrümpfen und Lackstiefelchen und einem ungeheuren, wippenden Federschwall auf dem Hut.

Diese halbvergessene Begebenheit fiel mir ein, während Rudi seine Verse hauchte. Durch meine Seele aber ging, wie um diesen Eindruck wegzunehmen, ein dunkles Aufrauschen der Heimatwälder. Und ich war es nun, der einen Seufzer tat.

»Du verstehst mich«, flüsterte Rudi, mir die Hand drückend. »Ich weiß, daß du empfinden kannst.« 91

Wieder sahen wir schweigend hinaus.

»Also zeig mir schon deine Verse«, drang er dann erneut in mich. »Gib das Büchel her. – Wenn sie was taugen, verschaff' ich dir, daß sie gedruckt werden.«

»Ich sage dir noch einmal, es sind keine Gedichte.«

»Was dann? – Eine Novelle vielleicht?«

»Keine Spur. – So – Gedanken höchstens . . .«

»Also Aphorismen. Sehr interessant! Her damit! Aphorismen sind höchst modern. Einer unserer großen modernen Dichter hat nichts weiter als drei Aphorismen geschrieben und sich dann erschossen.«

»Da hat er wohl recht gehabt.«

»Tja! – Er war zu göttlich für das banale Leben. – Aber heraus endlich mit deinen Sachen!«

»Nein! – das geht niemand was an.«

»Ich bin doch dein Freund!«

»Schon – aber . . .«

»Ah! Ich versteh'! Es sind Liebesbriefe, die du nicht absenden kannst!«

Ich war verblüfft. Damit hatte er eigentlich ins Schwarze getroffen. Mir ging selbst ein Licht auf. Der Mensch durchschaute einen. Er war doch schreckbar gescheit!

Er merkte sofort meine Verwirrung, und 92 Verneinen half nicht mehr viel. Nun begann er von der Liebe im allgemeinen und seinen Abenteuern im besonderen zu sprechen. Erst sehr tiefsinnig, philosophisch und dunkel, dann lebhafter und für meine damaligen Erfahrungen ungemein fesselnd. Wieder ging es mir dabei wie mit jener Dame. Seine Art zu erzählen stieß mich ab und zog mich an, und im ganzen imponierte er mir doch sehr. Wie war ich noch dumm und unbeholfen! Da ließ sich vieles lernen. Es begann mich zu bekümmern, daß ich ihm so gar nichts entgegenrenommieren konnte. Und als er mir nun den Arm um die Schultern legend sagte: »Jetzt, lieber Ritter Kunze« – so war, weil ich Konrad heiße, mein Spitzname; auch Waldkunze wurde ich genannt, wenn man meine hinterwäldlerische Plumpheit geißeln wollte – »jetzt erzähl' du einmal was« und sich mit manchem »Hm?« und »Han?« bemühte, mich zu einer Beichte zu bringen, kam ich in immer größere Verlegenheit, zumal, weil der Kerl wirklich alles zu wissen schien und aus dem Stegreif erriet, daß ich von einem hübschen Müllerskind besessen sein müsse. So sah ich mir mein Geheimnis entrissen, eh ich nur daran gedacht hatte, es zu verraten, und schließlich zog er mir bei aller Verleugnung doch manch ein halbes Geständnis 93 hervor. Während er mich so umärmelt hielt, merkte ich es gar nicht, daß er mir fortwährend nach der Rocktasche angelte. Und plötzlich, raschen Griffs hatte er das Buch und war flink damit von der Mauer herunter und lief mit einem Triumphlachen durch den Garten hin. Wütend sprang ich ihm nach, da rief die Glocke zum Studiensaal.

Ungefähr erinnere ich mich noch, was für Ergüsse meiner schwerfälligen Waldseele in dem Heftchen zu lesen waren. Unter anderem hieß es da so oder ähnlich:

»Wo weilen jetzt Deine lieben, großen Waldblicke? Schauen sie auf die finstere Wand des Forstes, auf die vielen wunderlichen Wipfelgestalten, die wie Märchenwesen sind, oder tauchen sie in das kühle Wasser, das glatt im Wehrgang hinschießt, wo die blauen Libellen schillernd in der Sonne tanzen? – Sie schweben hin, schweben her und kommen immer wieder zurück, wie meine Gedanken zu Dir.

Deine Füße sind so weiß und rund wie die bleichen Steine am Waldweiher.

Gehen sie jetzt übers kühle Moos im grünen Dunkel, über die kleinen braunen Nadeln, die sich ihren Sohlen anheften?

Deine Tritte sind wie der Mondschein, der 94 durch die Zweige langt. Du gehst über Blumen, und sie sterben nicht davon.

Ich seh' Dich im Wald stehen. Ein Reh tritt zu Dir und läßt sich von Dir streicheln. Die Tiere haben keine Furcht vor Dir. Du hast die tiefen guten Augen der Tiere. Die Vögel umflattern Dich und picken Dir aus den Händen. Ein Schwarzblättchen sitzt auf Deiner Schulter und singt Dir ins Ohr. Es ist meine Seele.

Du sitzest auf einem Stein und fütterst eine junge Urhahnbrut. Die Kleinen flattern an Deinen Füßen und kämpfen um die Körnchen. Die Henne läuft ängstlich umher. Dem alten Hahn streichst Du mit der kleinen Hand über den schillernden Hals und drohst ihm, weil er so ungestüm mit dem harten Schnabel nach dem Korn in Deinen Fingern schlägt.

Wenn Du bei mir wärest, säh' ich Dir in die Augen, und meine Sehnsucht nach dem Wald wär' still.

Dein Mund ist so kühl wie der Wald. Wenn ich ihn küßte, wär' ich daheim. Denk' ich an Dich, vergeht mir die Welt, und um mich ist das große, stille Rauschen wie im Wald, wenn die Abendwolken rot über den dunklen Wipfeln sinnen, wenn ein feuriger Streif durch die alten Stämme sieht. 95

Vielleicht siehst Du jetzt von den Heidensteinen den weißen Berg dort, den ich sehe. Und die Wolke dort schaut auf Dich hinab.

Wenn ich aufwache, seh' ich Deine Augen, und wenn ich einschlafe, Deinen Mund. Den ganzen Tag liegst Du mir im Sinn wie die Weise eines uralten Liedes.

In der Nacht gehn meine Träume leise auf einer Mondbrücke zu Dir hinüber . . .«

Besonders bange war mir um die Dotterblumen, die getrocknet zwischen den Blättern des Büchleins lagen.

Abends beim Essen gab mir Rudi das Heft zurück. Er sagte nichts. Ich sah nach den Blumen und steckte es hastig in die Brusttasche. Ich hatte ihm eine Rache zugedacht. Doch bot sich keine Gelegenheit an diesem Tage mehr. Den nächsten Morgen war der beste Zorn verraucht. Ich bat ihn nur mehr, er solle alles verschweigen. Er versprach das als selbstverständlich.

»Du bist sehr glücklich«, seufzte er. Das wunderte mich. Denn ich hatte nur ein peinliches Gefühl, als hätte ich mich entblößt, und ein dumpfes Schuldbewußtsein vor den großen dunklen Augen.

Eine Weile ging alles gut hin. Eines Tages 96 aber begann Rudi, mich mit meinen »Briefen, die sie nicht erreichen« zu ärgern. Erst schwieg ich. Dann drohte ich ihm einmal kurz und entschlossen.

Nichtsdestoweniger empfing er mich einmal – er war eben sehr gut aufgelegt – lachend mit den Worten: »Deine Beine sind wie die Steine. Du – die müssen schön . . .« Weiter kam er nicht, denn er hatte alle fünf Finger meiner Rechten auf der Backe, daß ihm der Kneifer hinunterschoß und in Scherben ging. Er fuhr auf mich los. Andere kamen dazwischen und fragten, was es gäbe. Rudi schleuderte mir zornschnaubend eine Forderung auf Pistolen zu. Einige nahmen die Sache sofort sehr wichtig. Es war ihnen ein erwünschter Anlaß, Komment zu spielen. Wir mußten unsere Zeugen wählen. Sie traten zusammen und brachten die Angelegenheit den Ältesten der oberen Klasse vor. Die amüsierten sich heimlich sehr darüber und wollten einen Ulk mit uns veranstalten. Der Klassenerste aber, ein verständiger Bursche, der mir gut war, entschied, daß wir uns mit tüchtigen Haselgerten zu schlagen hätten. Er selbst schnitt auf einem Spaziergang zwei gleichlange, zügige ab. Die erhielten oben aus Pappendeckel Körbe wie Rapiere, und nun konnte es losgehen. In einer 97 entlegenen Gartenecke fand der Zweikampf statt. Rudi nahm prächtige Fechterpositur, machte kunstvolle Ausfälle und Retiraden und fuchtelte herum wie ein französischer Meister. Ich wartete ruhig die Gelegenheit ab und hieb ihm dann eine Quart hinein, daß der Stecken brach und ihm augenblicks vom Mund bis zum Ohr ein blauroter Striemen aufquoll. Rudi ließ die Waffe fallen. Sein Gesicht verzog sich bitterlich, und Tränen tropften ihm aus den zugekniffenen Augen. Die Unparteiischen lachten gewaltig. Ich war bestürzt, trat sogleich zu ihm und streckte ihm mit einigen Worten des Bedauerns die Hand entgegen. Ich hätt's wirklich so scharf nicht gemeint, sagte ich. Erst war er unversöhnlich und bestand auf weiteren Gängen. Aber die Zeugen entschieden, daß die Sache ehrlich ausgetragen sei, und die Backe schwoll entsetzlich auf. So machte er Frieden und dann schleunigst kalte Umschläge. Den nächsten Tag war nur mehr der Striemen zu sehen, den verklebte er mit einem langen Pflasterstreifen und ging stolz damit ins Städtchen, wo er den Schönen heldenhafte Andeutungen machte.

Kurz vor Schulschluß brachte mir Rudi einmal das Heft einer modernen Zeitschrift und zeigte mir darin auf der ersten Seite ein 98 Sonett, das unter dem Titel »Märchen« Ideen und Bilder aus meinem Büchlein enthielt, freilich auf so entstellte und vertrackte Art, daß ich meine eigenen Gedanken kaum wiedererkannte. Das tadellos gebügelte und gereimte Poem widerte mich an in seiner gesuchten Unverständlichkeit und gemachten Einfalt. Es paßte recht zu den Bildern, die die Zeitschrift schmückten, Gestalten voller Pose und Affektation, die in Farbe oder Zeichnung etwas Krankes, Faules hatten, sofern sie nicht an die kümmerlichen Kunstversuche wilder Völker erinnerten. Unter dem Sonett aber stand Rudis voller Name. Es dauerte eine Weile, bis ich vollends begriff, dann schoß eine Zornwelle in mir auf. Aber je länger ich überlegte, desto verständlicher erschien es mir, daß einer, der Verse machen könne, schließlich das Recht habe, Gedanken eines anderen, minder Glücklichen zu verwerten, der dieser Kunst nicht mächtig sei. Ja, es dünkte mich eigentlich ganz vorteilhaft und eines Königs würdig, sich allenfalls so einen Kerl zu halten, der einem hübsche Ideen zu Gedichten verdrechseln könne. Nur, dachte ich, würde ich mir nicht gerade den Rudi dazu aussuchen.

»Das hast du gemacht?« fragte ich endlich, ihm das Heft zurückgebend. 99

»Natürlich! – wer denn sonst?« versetzte er schroff und stolz. »Goldstein war entzückt davon.«

*


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