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Meine Ausweisung aus Ceylon und abenteuerliche Flucht

Der Weltkrieg bricht aus – Ich werde aus Ceylon ausgewiesen und reise nach Batavia – Misslungener Fluchtversuch – in Sumatra – der Tag der »Ayesha« – Wie die Papua mich »gebraten und aufgefressen« haben – Flucht in der Maske eines Kolonialsoldaten – Von Sabang nach Suez – Bange Stunden an Bord – Glückliche Heimkehr


Das sind Hoffnungen, was sind Entwürfe, die der Mensch, der vergängliche baut? …« Gleich unzähligen anderen Schicksalsgenossen blieb es auch mir nicht erspart, die Wahrheit des Dichterwortes aus eigenster, bitterster Erfahrung bestätigt zu finden, damals, in jenen furchtbaren ersten Augusttagen des Jahres 1914, als der gewaltigste aller Kriege ausbrach und sofort oder bald darauf der Existenz der weitaus meisten Überseedeutschen ein Ende mit Schrecken bereitete. Ich habe die schwerste Zeit meines bis dahin so glücklichen und erfolgreichen Lebens in meinem früher erschienenen Büchlein »John Hagenbecks abenteuerliche Flucht aus Ceylon« ausführlich geschildert, glaube aber, jene Ereignisse, die für mich von so einschneidender Bedeutung waren und den jähen, katastrophalen Abschluß meiner ceylonischen Laufbahn herbeiführten, auch den Lesern dieses Buches nicht vorenthalten zu dürfen, und möchte deshalb hiermit in aller Kürze das Wichtigste nochmals erzählen.

Schmerzliche Empfindungen überkommen mich, wenn ich daran denke, welche Stellung ich damals in meinem Tropenparadiese Ceylon einnahm, zu welcher Höhe irdischen Glücks ich mich emporgeschwungen hatte – und wie über Nacht, buchstäblich über Nacht, das alles zusammenbrach, wie ich, durch einen Machtspruch des Feindes aus meiner zweiten Heimat vertrieben, die Meinigen samt Hab und Gut in Stich lassen und Hals über Kopf das Land meiner Lebensarbeit verlassen mußte.

Aber ich will mit dem Anfang beginnen und den Hergang der Ereignisse in zeitlicher Reihenfolge schildern.

In friedlicher Betätigung, ohne mich viel um Politik zu bekümmern, war ich nun mehr als 25 Jahre in Ceylon ansässig gewesen und hatte es in der langen Zeit zu einer, wie ich wohl ohne Unbescheidenheit sagen darf, sehr angesehenen Stellung in Colombo und auf der ganzen Insel gebracht. Ich nahm unter den deutschen Großkaufleuten Indiens einen der ersten Plätze ein, meine Firma war überall in der Welt bekannt, ich besaß ausgedehnte Pflanzungen, ein prächtiges Heim, ein beträchtliches Vermögen und erfreute mich nicht nur in den Kreisen meiner Landsleute, sondern auch bei den Engländern des besten Rufes und der angenehmsten Beziehungen. Wenn man fast ein Menschenalter lang an einem Platz in Übersee lebt, so ist man dort natürlich jedem bekannt. Nicht nur in Colombo, sondern auch in ganz Ceylon war mein Name geradezu populär geworden, hatte ich doch als Importeur und Exporteur, als Tierhändler und Pflanzer mit allen Bevölkerungsschichten zu tun, und war ich doch auf meinen zahlreichen Reisen ins Innere der Insel überall in persönliche Berührung mit Kolonisten und Eingeborenen gekommen. Auch mit den Herren Indiens, den Engländern, stand ich mich, wie gesagt, sehr gut. Obwohl ich trotz dem langen Aufenthalt unter Fremden immer ein guter Deutscher geblieben war und nicht daran dachte, in diesem Punkt irgendwelche Zugeständnisse zu machen, verkehrte ich doch mit den Engländern aller Gesellschaftskreise in freundschaftlicher Art, und niemals hatte es das geringste Zerwürfnis zwischen uns gegeben. Kurz und gut, ich war mir nicht bewußt, irgendeinen Widersacher, einen ernsthaften Feind zu besitzen, und ich hätte damals jeden ausgelacht oder für einen Narren erklärt, dem es eingefallen wäre, mir mein Schicksal so vorherzusagen, wie es sich in den unheilvollen Augusttagen des Jahres 1914 gestalten sollte.

Heute noch will mir das alles wie ein wirrer, böser Traum erscheinen, ein Alpdruck, der dem Schläfer den Atem benimmt … Aber damals, als kurz vor Ausbruch der Katastrophe, die Kabel der Welt fieberhaft zu arbeiten hatten, und die Meldung von der Zuspitzung der politischen Situation in Europa immer ernster und bedrohlicher lauteten – selbst damals wollte man bei uns, sowohl in unserer kleinen, deutschen Kolonie wie auch in der gesamten internationalen Geschäftswelt Colombos, nicht so recht an die Möglichkeit eines Weltkrieges glauben. Das ganze Empfinden sträubte sich dagegen, man war allgemein überzeugt davon, daß es doch noch gelingen würde, den Konflikt zu lokalisieren und schlimmstenfalls auf einen Waffengang zwischen Österreich und Serbien zu beschränken. Aber dann kam es Schlag auf Schlag: nicht bloß Österreich und Serbien, nein, auch Deutschland, Rußland, Frankreich – und nach einigen Tagen qualvoller Spannung am 5. August die nun schon als unvermeidlich betrachtete Meldung vom Ausbruch des Krieges auch zwischen England und Deutschland.

»Was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe? …« Ich hatte, auf dem Höhepunkt meiner Kraft befindlich, gehofft, noch so manches rüstige Jahr in der Kolonie zu arbeiten und zu schaffen und dann, in die Heimat zurückgekehrt, in Deutschland in beschaulicher Ruhe meinen Lebensabend verbringen zu dürfen. Das Schicksal hat es anders gewollt. Der Abbruch der Beziehungen zwischen England und Deutschland machte selbstverständlich mit einem Schlage auch in Colombo die Lage der Deutschen unhaltbar. Anfangs schien es noch, als ob es dabei einigermaßen glimpflich und human zugehen sollte. Man wollte, so hieß es, den in Ceylon befindlichen Deutschen, die den Behörden ja fast durchweg aufs beste bekannt waren, nur das Ehrenwort strenger Beobachtung der Neutralität abnehmen, und unter dieser Bedingung sollten sie sich nach wie vor in Freiheit bewegen dürfen. Aber es kam, in erster Linie was meine Person betraf, ganz anders. Gerade ich, und nur ich allein, sollte von allen Vergünstigungen ausgeschlossen sein! Was die britische Behörde zu diesem überraschenden Schritt gegen mich veranlaßte, das war mir damals vollkommen unbegreiflich und das ist mir in seinen tieferen Ursachen auch heute noch rätselhaft. Zweifellos lagen persönliche Intrigen vor. Wenn ich, wie vorhin bemerkt, des Glaubens war, keinen ernsthaften Feind in Ceylon zu besitzen, so bestätigt das wiederum die Erfahrung, daß der Mensch seine Umwelt doch niemals ganz richtig durchschaut, selbst wenn er sich einbildet, ein guter Menschenkenner zu sein. Zweifellos hat irgendein »guter Freund« die Gelegenheit benutzt und mich der Behörde verdächtigt, obgleich es mir in den fünfundzwanzig Jahren meines Aufenthaltes in Ceylon niemals in den Sinn gekommen ist, mich irgendwie politisch zu betätigen. Allerlei Räubergeschichten über mich, die bald mit den üblichen sensationellen Ausschmückungen durch die ganze englische Presse gingen und natürlich auch von vielen »neutralen« Zeitungen in Übersee mit Behagen aufgetischt wurden, verbreiteten sich zu meinem Glück erst nach meiner Abreise von Ceylon. Andernfalls hätte ich das Schlimmste zu befürchten gehabt, denn die Äußerungen der Kriegspsychose waren damals unberechenbar.

Ich kehre in meiner Erzählung zu jenem 5. August zurück. Nachdem man mir eröffnet hatte, daß ich von der Abgabe der Neutralitätserklärung ausgeschlossen sei, mußte ich die Wahrnehmung machen, daß ich in ziemlich auffälliger Weise von der Polizei auf Schritt und Tritt beobachtet wurde. Am 7. August nachmittags drei Uhr erschien bei mir der Polizeihauptmann in Begleitung von zwei Offizieren und überbrachte mir den Ausweisungsbefehl des Inhaltes, daß ich noch am selben Tage, nur wenige Stunden später, Colombo mit dem um 6½ Uhr nach Batavia abgehenden holländischen Dampfer »Insulinde« zu verlassen hätte. Jeder Versuch eines Einspruchs wurde unterdrückt, man ließ mich gar nicht zu Worte kommen.

Der Leser stelle sich vor, was der Befehl für einen Mann meiner Position zu bedeuten hatte! Ich war ein Kaufmann und Unternehmer mit großen Besitzungen, mein ganzes Vermögen war in Ceylon fundiert, ich hatte Familie und ein schönes, mit Kostbarkeiten und Sammlungen aller Art ausgestattetes Heim – und das alles, meine Angehörigen, mein Haus, mein Geschäft, mein bares und liegendes Vermögen, alles sollte ich binnen drei Stunden im Stich lassen, einer unsicheren Zukunft preisgeben, als Verfemter und Ausgestoßener in die Fremde ziehen! Selbstverständlich war es mir unmöglich, in dieser kurzen Zeitspanne, noch dazu beständig von Polizei und Militär bewacht, auch nur die allernotwendigsten Anordnungen zu treffen. Die Mitnahme größeren Reisegepäcks ward mir verweigert, nicht mehr als einen kleinen Handkoffer voll durfte ich packen. Auf Kosten meiner Firma wurde mir eine Fahrkarte zweiter Klasse nach Batavia gelöst … Es blieb mir also nur soviel Zeit, von meiner Frau und meiner alten treuen Dienerschaft Abschied zu nehmen, dann wurde ich an Bord der »Insulinde« gebracht, wo vor der Abfahrt nochmals eine genaue Durchsuchung meiner Person und meines Köfferchens stattfand. Um 6½ Uhr ging der Dampfer in See, vom Hafen aus mit elektrischen Scheinwerfern scharf unter Kontrolle gehalten, bis er im Dunkel der Nacht verschwand …

Das war mein Abschied von Ceylon, von meinem Tropenparadiese, vom Lande meines Lebenswerkes! Fast ein Menschenalter hindurch hatte ich dort in Frieden und Freundschaft mit Weißen und Farbigen gearbeitet und geschafft, um dieses Land zum bitteren Ende unter solchen Umständen verlassen zu müssen …

*

Damit wäre mein Ceylonbuch eigentlich zu Ende, denn ich habe die Insel bisher nicht wiedergesehen, und ob es unter den heutigen Weltverhältnissen überhaupt möglich sein wird, ihren Strand noch einmal zu betreten, das fragt sich doch sehr. Da meine Leser aber, die mir bis hierher freundlich gefolgt sind, vielleicht Interesse dafür haben, von meinem weiteren Schicksal seit dem Abschub von Ceylon zu hören, so rekapituliere ich kurz die Einzelheiten der abenteuerlichen Flucht, die mich aus Indien endlich glücklich in die Heimat gelangen ließ.

Da stand ich nun also mit meinen winzigen Habseligkeiten auf Deck der »Insulinde« und starrte über das schäumende, von Millionen aufglühenden Protozoen erleuchtete Kielwasser in die Nacht hinaus, dorthin, wo das Leuchtfeuer von Colombo und die allmählich verglimmenden Lichter am Strande mir den letzten Abschiedsgruß meiner geliebten Insel entboten. Und ich gedachte in bitterer Wehmut jenes so weit zurückliegenden Tages, als ich als junger Mann zum erstenmal die Küste Ceylons erblickte und, die Brust von Tatkraft und Unternehmungslust geschwellt, mit tausend weitfliegenden Plänen im Kopf, zum erstenmal den Boden der Insel betrat. Was lag nicht alles seit jenem Tag und dem heutigen!

»Kein größerer Schmerz, als sich im Unglück vergangenen Glücks zu erinnern …«

Aber ich bin niemals ein Kopfhänger gewesen. Der Pessimismus mag ja seine wohlbegründete, philosophische Berechtigung haben – arbeiten und vorwärtskommen kann man damit nicht, und am allerwenigsten taugt er dazu, ein Unglück zu überwinden. Auch in dieser schrecklichen Lage gelang es mir, Gott sei Dank, sehr bald, mein seelisches Gleichgewicht wiederzugewinnen und jenen gesunden Optimismus, dem der Hamburger mit dem Wort »Es ist ja alles nur halb so schlimm« Ausdruck zu verleihen liebt. Ich vertraute auf meinen Stern, der mir bisher das ganze Leben hindurch freundlich geleuchtet hatte, und der mich, dessen war ich gewiß, auch aus den Tagen der Trübnis wieder hinausführen würde.

Das Schiff kam von Rotterdam und sollte als nächste Station Padang auf Sumatra anlaufen, um dann nach kurzem Aufenthalt seinen Bestimmungshafen Batavia zu erreichen. Die Passagiere, meistens Holländer, hatten schon eine lange Reise hinter sich und befanden sich, da sie bisher nur dürftige Nachrichten erhalten hatten, über die weltbewegenden Ereignisse, den Ausbruch des großen europäischen Krieges und alles, was damit zusammenhing, ziemlich im Unklaren. Die Spannung war, wie sich denken läßt, ungeheuer groß, und ich wurde von allen Seiten mit Fragen bestürmt, ob und was ich Näheres über die Vorgänge in Europa wüßte. Übrigens war ich nicht als einziger Deutscher an Bord der »Insulinde« gekommen. Mit mir zugleich waren acht Landsleute, die sich zufällig als Vergnügungsreisende in Colombo befanden, ausgewiesen worden, und ferner hatten vier Österreicher, Mitglieder der dortigen Kolonie, in Voraussicht der kommenden Dinge es für ratsam gehalten, das britische Gebiet zu verlassen. Wir waren also insgesamt dreizehn Deutsche und schlossen uns zwanglos rasch zu einer Art von Schutz- und Trutzbund zusammen. Zuversichtliche Stimmung beseelte uns, und diese äußerte sich bei unserem Galgenhumor alsbald auf eine so heitere Art, daß sich an Bord das Gerücht verbreitete, die Gesellschaft wäre eine Theatergruppe und ich, John Hagenbeck, ihr Impresario!

Als wir nach einer schönen viertägigen Seefahrt in Padang und nach ein paar weiteren Tagen an unserem Ziel, in Batavia, anlangten, hatte ich schon eine ganze Reihe neuer Zukunftspläne fix und fertig im Kopf. Ich war ja durchaus darauf angewiesen, sofort Geld zu verdienen, denn das höchst geringe »Kapital«, das man mich in Colombo hatte mitnehmen lassen, war bei meiner Ankunft in Batavia schon so stark zerkrümelt, daß sein Rest nur noch für wenige Tage reichte, und an ein Nachkommenlassen von Geld aus Colombo war zunächst nicht zu denken. Da mir aber die Verhältnisse in Java schon von früheren Einkaufsreisen her bekannt waren, und ich mancherlei Beziehungen zu den dort ansässigen Kolonisten hatte, zweifelte ich nicht daran, daß es mir rasch gelingen würde, auf einer Plantage oder bei irgendeinem anderen Unternehmen Anstellung zu finden.

Übrigens befanden sich meine deutschen Reisegefährten in ganz ähnlicher Klemme wie ich, denn die Barmittel aller waren durchgängig sehr gering. Es blieb uns deshalb auch gar nichts anderes übrig, als »stramme Haltung zu markieren« und uns in unseren Ausgaben aufs äußerste einzuschränken. Das fing damit an, daß wir dreizehn zusammen uns in drei Zimmern eines Hotels in Batavia einquartierten. Aber meine Genossen zerstreuten sich bald, um ihr weiteres Fortkommen zu suchen, und auch ich begab mich ohne langes Zögern landeinwärts auf die Tour, um hier und dort bei den mir geschäftlich bekannten Landsleuten anzuklopfen und zu hören, ob irgendwo ein Posten für mich frei wäre. Ich fand überall freundliche Aufnahme, man stand mir mit Rat und Tat bei und gewährte mir jede Hilfe, und ich hätte auch rasch geeignetes Unterkommen gefunden – wenn jetzt nicht eine Spionagehetze gegen mich ausgebrochen wäre, die alle Pläne zunichte machte und mir einen dicken Strich durch die Rechnung zog!

Durch die lächerlichsten Klatschgeschichten wurde dadurch im Handumdrehen erreicht, daß ich, den bis dahin niemand beachtet und behelligt hatte, zum Gegenstand einer sehr unerwünschten Aufmerksamkeit wurde. Wie die meisten Kolonien, ist auch Java trotz seiner Größe in gewisser Hinsicht sozusagen ein Dorf. Sobald hier mit einem Europäer irgend etwas »los« ist, weiß es in wenigen Tagen zwischen Batavia und Soerabaya jeder Kolonist. Das bekam ich sogleich zu spüren. Wo ich nur auftauchte, steckte man die Köpfe zusammen, und ging das Tuscheln los: »Aha, das ist er, Hagenbeck, der Spion«. Angenehm war das nicht, ich fühlte mich als Verfemter. Noch unangenehmer war es, daß nun auch aus meinem Engagement nichts wurde, denn trotz allem Wohlwollen konnte sich keiner meiner Landsleute dazu entschließen, mir einen Posten anzuvertrauen; sie mußten Rücksicht auf die allgemeine Stimmung nehmen und hatten schon ohnehin einen schweren Stand in diesem Lande, das zwar neutral war, aber mit seiner Sympathie noch größtenteils auf Seiten unserer Feinde stand und mit dieser Gesinnung durchaus nicht hinter dem Berge hielt.

Es kam bald viel schlimmer, denn es blieb mir nicht verborgen, daß ich auf Schritt und Tritt von geheimen Agenten verfolgt und belauert wurde, die zweifellos dem weitverbreiteten feindlichen Spionagesystem angehörten. Was ich vermutete, wurde mir dann auch von ansässigen Deutschen, die Einblick in die Verhältnisse hatten, bestätigt: daß man nämlich auf irgendeine Weise meiner habhaft werden wollte, um mich in feindliche Gewalt zu bringen. Auf Umwegen erreichte mich auch die bestimmte Kunde, daß man sich bei der holländischen Regierung sehr um meine Auslieferung bemühte. Ich befand mich in meinem »Asyl« in höchster Gefahr. Zwar war meine Auslieferung wegen politischer Vergehen aus völkerrechtlichen Gründen nicht möglich – aber gab es nicht andere Mittel und Wege zur Erreichung des Ziels? Wäre es wirklich etwas so Ungewöhnliches gewesen, wenn man mich einfach eines gemeinen Verbrechens bezichtigt hätte, um die Auslieferung durchzusetzen? Die »beweisenden« Unterlagen dafür herbeizuschaffen, war Kinderspiel. Auch mußte ich bei jeder noch so geringfügigen Entfernung von der javanischen Küste, etwa bei einer Überfahrt nach einer der Inseln, dessen gewärtig sein, daß man mich vorn neutralen Schiff herunterholte. Und schließlich konnten mich die Späher und Spitzel auch unter irgendeinem Vorwand in einen Hinterhalt locken und mit Gewalt festnehmen und entführen – kein Hahn hätte nach mir gekräht.

Alle diese Erwägungen brachten in mir den Entschluß zur Reife, Java zu verlassen und die Flucht in die ferne Heimat zu versuchen. Es war ein Entschluß der Verzweiflung, denn bei genauer Überlegung konnte ich mir doch nicht verhehlen, daß die Aussichten auf ein Gelingen der Flucht außerordentlich schwach waren. Die finanziellen Sorgen wären dabei noch das geringste gewesen, denn die zur Flucht benötigten Mittel konnte ich schon bei meinen in Java ansässigen Landsleuten aufbringen. Aber ich besaß keinerlei Papiere, denn die Behörden hatten mir bei meiner Ausweisung aus Colombo dort mit sämtlichen anderen Schriftstücken auch alle Personalausweise abgenommen, und ohne Papiere durfte ich Java auf offene, legale Weise überhaupt nicht verlassen, das ließen wieder die holländischen Behörden nicht zu. Aber was hätte es mir auch schließlich genützt, wenn ich im Besitz gültiger Papiere an Bord eines holländischen oder eines anderen neutralen Schiffes von Batavia heimwärts gefahren wäre! Man hätte mich draußen auf hoher See, oder spätestens im Suezkanal ja doch vom Dampfer heruntergeholt, denn die englischen Kriegsschiffe hielten damals bereits alle Meere und Wasserstraßen unter Kontrolle und untersuchten mit gewohnter Eigenmächtigkeit jedes Schiff ohne Rücksicht auf seine Neutralität.

Was also tun? Nach vielem Hin- und Herüberlegen sagte ich mir, daß unter solchen ungewöhnlichen Umständen eben auf illegale Weise durchzusetzen versucht werden mußte, was sich mit legalen Mitteln nicht machen ließ. Ich verschaffte mir also von einem holländischen Kolonialsoldaten für Geld und gute Worte – auf ersteres legte er mehr Gewicht als auf letzteres – seinen Paß und schiffte mich damit in Batavia als Zwischendeckspassagier auf einem nach Europa bestimmten Dampfer ein. Zunächst schien auch alles gut zu gehen, man hatte meinen Paß nur oberflächlich geprüft und niemand kümmerte sich weiter um mich, man hielt mich eben für einen abgelohnten alten Kolonialsoldaten, wie es derer ja so viele gibt. Ich machte es mir im Schiffsraum bequem, sprach so wenig wie möglich und wartete, innerlich fiebernd vor Ungeduld, auf die Abfahrt. Daß mir zu guter, oder vielmehr zu böser Letzt meine Popularität einen Strich durch die Rechnung machen würde, daran hatte ich freilich nicht gedacht. Meine äußerliche Erscheinung mit ihren nicht gut zu übersehenden charakteristischen Eigentümlichkeiten war eben nicht bloß in Ceylon und überhaupt in ganz Indien wohlbekannt, sondern auch in Batavia und Umgegend bereits so »populär« geworden, daß mich hier viel mehr Leute kannten, als mir unter den obwaltenden Umständen lieb sein konnte. Als es Abend geworden war, und das Schiff bald abfahren sollte, kam eine Polizeipatrouille an Bord und kontrollierte auch das Zwischendeck. Mir war nicht ganz wohl zumute, und ich bemühte mich krampfhaft, so harmlos wie möglich dreinzuschauen. Kaum hatte mich aber einer der Polizeibeamten erblickt, als er mit einem Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte, mir freundlich zunickte und rief: » Ah, guten Abend, Herr Hagenbeck! Wie geht's?« Damit war meine Rolle als »holländischer Kolonialsoldat« ausgespielt. Man komplimentierte mich vom Schiff herunter und ins Gouvernement hinein, wo ich noch glimpflich mit einer strengen Verwarnung davonkam und den guten Rat erhielt, in Zukunft jeden Versuch einer ungesetzlichen Handlungsweise zu unterlassen, widrigenfalls …

Mein bisher aufrecht erhaltener Optimismus drohte ins Wanken zu kommen. Durch alle Widerwärtigkeiten aufs tiefste verstimmt, reiste ich nach dem im Hochland des Innern gelegenen Städtchen Soekaboemi, weil ich dort nicht so unerwünscht »populär« wie in Batavia war. Soekaboemi (das holländische oe wird wie u gesprochen) bedeutet im Javanischen »Entzücken der Welt« und verdient wegen seiner reizendschönen Lage und seines angenehmen frischen Hochlandklimas den Namen im vollen Maße. Leider war es mir nicht beschieden, mich dieser Idylle in Ruhe zu erfreuen. Zwar fand ich hier bei deutschen Landsleuten freundliche Aufnahme, aber schon nach kurzem Aufenthalt in dem Städtchen mußte ich die fatale Beobachtung machen, daß die Spitzel meine Spur aufgenommen hatten und mir hierher gefolgt waren. Sie blieben mir wie der Schatten meines Körpers treu, hefteten sich an meine Sohlen und überwachten in der Maske harmloser Privatleute mein Kommen und Gehen, Tun und Treiben.

Davon hatte ich nun genug und übergenug. Meine Nerven waren überreizt, und ich beschloß auf jeden Fall, mochte es ausgehen wie es wollte, nochmals den Versuch zu machen, von Java fortzukommen. Diesmal aber setzte ich mir ein näheres Ziel: das benachbarte Sumatra. Mit einem kleinen Küstenfahrer hoffte ich besser durchzuschlüpfen, als auf den großen Ozeandampfern, und wenn Sumatra zwar ebenfalls holländischer Kolonialboden war, so glaubte ich doch nach allem, was ich in Padang gehört und gesehen hatte, darauf rechnen zu dürfen, dort bessere Aufenthaltsbedingungen und schließlich auch bessere Gelegenheit zur Flucht nach Europa vorzufinden.

Indische Zigeuner-Akrobaten

Indische Gaukler mit Zwergen

Diesmal gelang mir die Sache so überraschend gut, daß ich beinahe übermütig wurde. In Begleitung eines Österreichers, der in Colombo italienischer Konsul gewesen war und dieselben Ausreißpläne hatte wie ich, fuhr ich unbemerkt nach Batavia zurück, schmuggelte mich an Bord eines Küstendampfers ein, der zum Glück nicht kontrolliert wurde, und landete zwei Tage darauf in dem am Fuße des Affenberges herrlich gelegenen kleinen Hafenplatz Emmahaven in nächster Nähe von Padang an der Südküste Sumatras. Eine ganz besondere Freude bereitete es mir, hier den Dampfer »Kleist« vom Norddeutschen Lloyd begrüßen zu dürfen. »Kleist« war bei Ausbruch des Krieges von Colombo nach Emmahaven geflüchtet und lag nun hier im neutralen Gebiet, um nicht dem Feind in die Hände zu fallen, in erzwungener Untätigkeit fest. Die Offiziere des »Kleist« waren sowohl mir, wie auch meinem österreichischen Schicksalsgenossen von Colombo her aufs beste bekannt, und wir wurden deshalb an Bord des Dampfers für die ganze Zeit unseres Aufenthalts in gastfreundlichster Weise aufgenommen.

Erquicklich war der Aufenthalt in Padang trotz der Gemütlichkeit an Bord nun gerade nicht. Ganz abgesehen von meinen privaten Schmerzen und Sorgen litt ich zu sehr unter dem nagenden Gefühl, so fern der Heimat zu sein, in Untätigkeit verharren zu müssen, wo Deutschland den furchtbarsten Existenzkampf zu führen hatte. Dazu kam noch als besondere seelische Folter, daß man sich gar kein klares Bild von den Vorgängen in Europa und von der Lage auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen machen konnte. Denn wir waren dort draußen in Sumatra fast ausschließlich auf die Mitteilungen der Feindespresse angewiesen, und zu dieser zählte ihrem ganzen Ton nach auch fast die ganze holländische Kolonialpresse. Immerhin konnten die großen Erfolge der deutschen Waffen doch nicht gänzlich unterdrückt und totgeschwiegen werden, und das waren dann immer Lichtblicke unseres Lebens im Exil, wenn die Kunde deutscher Heldentaten über Länder und Meere bis zu uns Versprengten unter dem Tropenhimmel drang. Dazu gehörten mit in erster Linie die kühnen Streiche der »Emden«, des »Gespensterschiffes«, dessen wackere kleine Besatzung damals den Indischen Ozean gründlich unsicher machte und durch ihre Verwegenheit, ihre fast humoristisch wirkende List auch den Engländern und Holländern Anerkennung abnötigte. Bei den Eingeborenen der dortigen Küsten aber, besonders beim mohammedanischen Teil der Bevölkerung, wurde die »Emden« geradezu populär und jeder ihrer erfolgreichen Streiche wurde mit lebhaftem Beifall begrüßt.

Wer, wie ich, an rastlose Tätigkeit gewöhnt war, den mußte diese zwecklose, erzwungene Muße mit tiefstem Unbehagen erfüllen; nicht nur geistig, auch körperlich litt ich darunter. Da es mir nicht gelang, in oder bei Padang eine Anstellung zu finden, unternahm ich zur Ablenkung eine größere Expedition ins Innere Sumatras, das mir zum Teil schon von früheren Einkaufsreisen her bekannt war. Ich komme auf diese Erlebnisse, wie auf Sumatra überhaupt, im zweiten Band dieses Werkes näher zurück.

Als ich wieder nach Padang zurückgekehrt war, erreichte uns Deutsche an Bord des »Kleist« die traurige Kunde, daß die »Emden« nun doch von ihrem Schicksal erreicht worden wäre. Ein harter Schlag! Aber eines Tages, am 27. November 1914, hatten wir wieder zu jubeln, da gab es eine große und freudige Überraschung. Da kam, von zwei holländischen Torpedobooten begleitet, ein kleines, weißgestrichenes Segelschiff in Sicht, über dessen schwer mitgenommenen, geflickten Segeln die deutsche Kriegsflagge wehte. Es war die berühmte » Ayesha« mit fünfzig Mann von der Besatzung der »Emden« unter Kapitänleutnant Mücke. Sie fuhr langsam in den Hafen ein und machte dicht bei den deutschen Lloyddampfern »Kleist«, »Rheinland« und »Choising«, sowie einem österreichischen Dampfer, fest. Es ist wohl noch in Erinnerung, welche Schwierigkeiten die holländischen Behörden in Padang unserem winzigen Kriegsschiff bereiteten, und daß es aller Energie seines Kommandanten Mücke bedurfte, um seine Rechte durchzusetzen und sich mit Hilfe des deutschen Konsuls mit den für die Weiterfahrt notwendigsten Bedürfnisgegenständen zu versorgen. Man hätte den Engländern und Japanern zuliebe die »Ayesha« gar zu gern festgehalten und ihre Besatzung interniert, aber der Kommandant des kleinsten aller Kriegsfahrzeuge setzte es, wie gesagt, doch durch, daß man seine Flagge respektierte; allerdings wurden ihm viele der gewünschten Gegenstände, wie z. B. Kleider, Seife und Zahnbürsten, verweigert, weil sie angeblich eine »Verstärkung der Wehrkraft« bedeuteten. Auch stellte man dem Kommandanten als ganz sicher in Aussicht, daß ihn beim Weiterfahren nach dem Verlassen der neutralen Zone die draußen lauernden englischen und japanischen Kreuzer ja doch abfangen würden.

Da nach den Neutralitätsbestimmungen die »Ayesha« den Hafen binnen vierundzwanzig Stunden wieder verlassen mußte, und ein Teil der kostbaren Zeit schon durch die langen Verhandlungen mit den Behörden unnütz verstrichen war, setzten wir Deutschen, die wir den Vorgängen mit atemloser Spannung folgten, natürlich alle Hebel in Bewegung, um zur Verproviantierung der unerschrockenen Seemänner beizutragen. Was wir nur irgendwie entbehren oder herbeischaffen konnten, schmuggelten wir »hintenherum« zur »Ayesha« hinüber: Kleidungsstücke, Proviant, Tabak usw., als besonders willkommene Gabe aber auch Zeitungen, denn unsere Landsleute hatten schon seit vielen Wochen keine Gelegenheit gehabt, sich über die Vorgänge in der Welt zu unterrichten. Als am nächsten Tag die vierundzwanzigstündige Frist verstrichen war, und der Segler den Anker lichtete und aus dem Hafen heraus in die dunkle Nacht und einem ungewissen Schicksal entgegenfuhr, da gaben ihnen die Klänge des von uns angestimmten Deutschlandliedes und unsere heißen Segenswünsche das Geleit.

Im unmittelbaren Anschluß an dieses Ereignis trat ich eine für mich sehr riskante Reise nach Batavia an, um von einer dort befindlichen Persönlichkeit Instruktionen für den Kapitän des Lloyddampfers »Choising« einzuholen. Auf Grund der erhaltenen Weisungen folgte dann die »Choising« der »Ayesha« und traf sich mit ihr auf einem vorher vereinbarten Punkte des Indischen Ozeans, wo sie die Mannschaft des Segelschiffes übernahm, und dieses versenkt wurde. Übrigens hatte ich das Glück, bei meiner Rückkehr nach Emmahaven dort unerwartet meine aus Colombo entlassene Frau anzutreffen. Sie brachte mir die Mitteilung, daß man dort inzwischen alle Ceylon-Deutschen interniert hatte.

Am Neujahrstage 1915 übersiedelte ich mit meiner Frau vom Dampfer »Kleist«, der mir so freundlich lange Zeit Obdach gewährt hatte, nach Padang, wo ich bei einer befreundeten deutschen Familie herzliche Aufnahme fand. So von außen betrachtet hatte es ja den Anschein, als ob ich hier an der Sumatraküste ganz friedlich und unbehelligt meine Tage verbrachte. In Wirklichkeit aber blieb es mir nicht verborgen, daß die feindlichen Späher nach dem Ayesha-Zwischenfall wieder scharf hinter mir her waren, und daß man eine ansehnliche Prämie auf meine Ergreifung ausgesetzt hatte. Geradezu komisch waren die immer verworrener werdenden Mitteilungen, die in der feindlichen Presse über meine Person und meine angebliche politische Rolle Verbreitung fanden, den Gipfel der Absurdität aber erreichte eine ungewöhnlich fette Ente, die ein phantasiebegabter französischer Reporter aus der Tiefe seines Gemüts hervorgezaubert hatte und in den Spalten französischer Sensationsblätter herumtummeln ließ. Da wurde nämlich mit einer Fülle malerischer Einzelheiten erzählt, daß der richtige, echte John Hagenbeck überhaupt nicht mehr am Leben wäre, weil ihn auf einer Expedition in Neuguinea wilde Papua überfallen, gebraten und aufgefressen hätten. Dieses hochnotpeinliche Verfahren wurde »nach den Berichten eines überlebenden Augenzeugen« so plastisch geschildert, daß einem kannibalisch veranlagten Leser förmlich das Wasser im Munde zusammenlaufen mußte … Nun, mir konnte es ja eigentlich ganz recht sein, wenn man mich für verspeist und endgültig erledigt hielt, dann hatte ich endlich Ruhe. Leider konnte sich diese Legende aber nicht hinlänglich befestigen, und eine immer quälender werdende innere Unruhe, die durch gewisse Wahrnehmungen in meiner Umgebung veranlaßt wurde, trieb mich dazu, meine Fluchtpläne wieder mit größter Energie aufzunehmen.

Zu diesem Zweck hatte ich schon vor einiger Zeit die Bekanntschaft eines Kolonialsoldaten gemacht, der als geborener Belgier (Vlame) ganz gut deutsch sprach und, wie ich im Verlauf unserer verschiedenen Gespräche bald zu merken bekam, nicht abgeneigt zu sein schien, mir mit Hilfe seiner Papiere die Flucht zu ermöglichen. Da er zufällig dieselbe Figur wie ich und überhaupt eine gewisse Ähnlichkeit mit mir hatte, also die Personalbeschreibung, wenn man es damit nicht so genau nahm, einigermaßen auch auf mich zutraf, war das ja meinem Unternehmen sehr günstig. Eines Abends fragte ich den Belgier unter vier Augen rund heraus, ob er mir gegen angemessene Entschädigung zur Flucht behilflich sein wollte, und da er nach meinen früheren Andeutungen diese Frage schon erwartet hatte, kamen wir rasch ins Reine. Er sollte mir nicht nur seinen Militärpaß, sondern auch andere wichtige Papiere, darunter die Pensionsurkunde, leihweise überlassen, nach geglückter Flucht würde ich sie ihm von Europa zurückschicken. Ich wollte also als abgedankter Kolonialsoldat unter seinem Namen reisen, unter dem Vorwand, daß mich die Sorge um meine in Belgien allen Kriegsschrecken preisgegebene Familie heimwärts trieb.

Wir wurden handelseinig. Der Soldat, der also scheinbar abdankte, besorgte sich außer der Schiffsfahrkarte die nötigen Ausweise, die auch mit seiner amtlich abgestempelten Photographie versehen wurden. Ich erhielt nun die Papiere und das Billet und ersetzte die Photographie des Belgiers durch die meinige; zu diesem Zweck hatte ich mich zunächst in entsprechender »Maske« photographieren lassen. Dem Verwandlungszauber waren nicht nur meine Schnurrbarthaare, sondern auch meine Augenbrauen zum Opfer gefallen, und diese Rasuren sowie die recht abgetragene, saloppe Uniform, die ich anzog, veränderten mein Aussehen derartig, daß ich mich bei der Betrachtung im Spiegel selber kaum erkannte. Nun mußte meine in den Paß hineingeschmuggelte Photographie aber ebenfalls amtlich abgestempelt werden, und auch das gelang mit Hilfe eines dem Mammon nicht unzugänglichen Eingeborenen, der bei der betreffenden Behörde als Schreiber angestellt war. Sehr sympathisch waren mir alle diese Schliche und Ränke wahrhaftig nicht, aber man mußte sie eben als erlaubte Kriegslist betrachten, und wenn ich mein Ziel erreichen wollte, so ging es gar nicht anders, als auf krummen Wegen.

Der Abfahrtstermin des Dampfers kam heran. Wie ein Schauspieler übte ich zu Hause immer von neuem meine Rolle, aber je mehr ich mich dem kritischen Augenblick näherte, desto stärker äußerte sich, ich kann es nicht leugnen, mein Lampenfieber. Endlich schlug die Abschiedsstunde. Der Dampfer sollte um Mitternacht die Anker lichten. Als ich im Schutze der Dunkelheit das Haus verließ, sah ich in meiner abgetragenen Uniform, Sandalen an den Füßen, einen Öltuchsack mit den Habseligkeiten über den Schultern, vollkommen wie ein alter, vom Tropenklima zermürbter, stark reduzierter Kolonialsoldat aus. Und während mit Blitz und Donner ein schweres Gewitter niederging, und es in Strömen regnete, fuhr ich nach Emmahaven und begab mich auf mein Schiff, um dort sogleich, völlig durchnäßt, in den unteren Räumen zu verschwinden, die nun, wenn alles glatt verlief, für viele Wochen meinen Aufenthaltsort bilden sollten.

Welch ein Unterschied zwischen dieser Behausung und den bequemen Kabinen, in denen ich früher auf See zu reisen gewohnt war! Meine Koje war ein roh gezimmerter Verschlag, und ich hatte sie mit fünf englischen Kohlentrimmern zu teilen. Die Ausstattung bestand aus sechs Strohsäcken, unseren Lagern. Die Zwischendecker in den übrigen Kojen waren hauptsächlich Holländer und Engländer. Es herrschte hier unten eine fürchterliche Hitze, und der Duft, der diese dumpfen Räume und die Menschen mit ihren vom Regen durchnäßten Sachen umwitterte, war auch nicht gerade lieblich und angenehm. Aber wie gern wollte ich alles Ungemach ertragen, wurde ich bloß nicht entlarvt! Leicht zu spielen war meine Rolle wahrhaftig nicht, denn von meinen Kojengenossen konnte ich mich natürlich nicht separieren, ich mußte auf ihre Unterhaltung eingehen, mußte auf zahllose Fragen Antwort geben, und wie leicht konnte ich da einmal entgleisen, aus meiner Rolle fallen und den alten Kolonialsoldaten und Belgier nicht mehr überzeugend verkörpern!

Anfangs schien alles zu klappen. Am nächsten Tage befanden wir uns bei schönem Wetter auf hoher See. Da kam der erste, freilich nicht unerwartete Schreck: die Paßrevision. Wir mußten mit unseren Papieren antreten. Mein Paß enthielt, da ich verschiedene Angaben hatte ändern müssen, ein paar Rasuren, die bei genauer Prüfung unmöglich verborgen bleiben konnten. Mir flog der Puls. Aber als ich nun, einer plötzlichen Eingebung folgend, den nervös Erregten und durch die Revision Beleidigten spielte und den Zahlmeister mit einer Sturzflut französischer Worte überschüttete, da geschah das Wunderbare, daß der gute Mann mein verschnürtes Papierbündel überhaupt nicht öffnete, sondern es freundlich lächelnd zurückgab und mich, den armen Kolonialsoldaten und Belgier, zu beruhigen suchte … Ich durfte mit dem Erfolg meines ersten Auftretens wirklich zufrieden sein.

Das gab mir mein altes Gleichgewicht wieder, so daß ich mich nun mit überraschender Leichtigkeit in die Verhältnisse fand. Als Soldat, der nur einen sehr geringen Fahrpreis bezahlte, war ich verpflichtet, ein gewisses Quantum Arbeit an Deck und im Küchenbetriebe zu leisten, und das tat ich sogar mit Vergnügen, weil ich dann für ein paar Stunden von der Notwendigkeit befreit war, mit meinen Kojengenossen Konversation zu treiben. Die Unterhaltungen brachten mich immer in die peinlichste Lage, denn sie drehten sich fast ausschließlich um den Krieg, und da war es ebenso natürlich, daß die Engländer an den Deutschen auch kein einziges gutes Haar ließen. Und da ich nun doch »Belgier« war, mußte ich, es ging gar nicht anders, ebenfalls auf mein Vaterland schimpfen, auf diese bösen Deutschen, die den »armen Belgiern« und auch meiner Familie daheim so unerhört zugesetzt hatten … Dieses Komödienspielen war mir im höchsten Grade zuwider, aber nachdem ich einmal A gesagt hatte, blieb nichts anderes übrig, als nun auch O zu sagen, und überdies war ja das alles nur äußerer Schein, eben nichts weiter als eine Komödie, die sich aus meiner ganzen Zwangslage mit Naturnotwendigkeit ergab. Übrigens muß ich die Wahrheit sagen, daß die englischen Kohlentrimmer, obwohl in ihren Manieren die richtigen »Rauhbeine«, sonst ganz kernige und gutmütige Menschen waren.

Nach zweitägiger Reise liefen wir den Kohlenhafen Sabang an der Nordspitze Sumatras an, von hier sollte es in direkter Fahrt nach Suez gehen. In Sabang lagen dreizehn Hamburger und Bremer Dampfer, die bei Kriegsausbruch hierher in den neutralen Hafen geflüchtet waren, und deren Kapitäne und Mannschaften in erzwungener Untätigkeit der kommenden Dinge harrten. Mir waren die Kapitäne, die mit ihren Schiffen Jahre hindurch Colombo angelaufen hatten, alle wohlbekannt, mit einigen war ich sogar näher befreundet, und als ich nun, während unser Dampfer 14 000 Rollen Tabak einnahm, mit meinen Zwischendeckkumpanen auf den Landbummel ging, war ich gespannt darauf, ob mich einer der Kapitäne bei einer Begegnung, auf die ich an dem kleinen Platz so gut wie sicher rechnen durfte, trotz der Verkleidung vielleicht erkennen würde. In einer Hafenschenke sah ich denn auch in der Tat sämtliche deutschen Kapitäne versammelt, aber obwohl ich sie – mich ritt förmlich der Teufel – unter einem Vorwand französisch ansprach, erkannten mich selbst meine guten Freunde nicht. Das bestärkte mich noch mehr in der Zuversicht, daß mein Inkognito doch nicht so leicht gelüftet werden konnte.

Unser Dampfer sollte, wie gesagt, von Sabang ohne weitere Zwischenlandung direkt nach Suez fahren. Im allgemeinen laufen die Schiffe auf großer Südasienfahrt meistens Colombo an. Aber ich hatte mir mit Bedacht gerade diesen Dampfer ausgesucht, weil er Ceylon nicht berührte, denn unter keinen Umständen hätte ich das Anlaufen von Colombo riskieren dürfen. Ich war ja doch jedermann bekannt, und die an Bord kommende Polizei hätte doch schärfere Augen gehabt, als die deutschen Kapitäne, und auch trotz der Verkleidung meine Identität mit dem als Spion verfolgten John Hagenbeck festgestellt. Und was dann weiter mit mir geschah, das auszumalen, bedurfte es keiner Phantasie.

So war ich denn frohen Herzens, als unser Dampfer in Sabang wieder in See ging. Ich ahnte ja nicht, welche ernste Gefahr mich bald bedrohen sollte. Wir waren vierundzwanzig Stunden unterwegs, als es sich herausstellte, daß das Schiff im Vorderraum an einer schon früher einmal reparierten Stelle wieder undicht geworden war und Wasser schöpfte. Ich war zufällig gerade dabei, als der Kapitän und der Obermaschinist den Schaden besichtigten, und fing die Äußerung des »Alten« auf, daß man wohl gezwungen sein würde, Colombo zwecks Reparatur als Nothafen anzulaufen …

Man stelle sich vor, welche Bestürzung mich bei diesen Worten befiel! Legten wir in Colombo an, so bedeutete das für mich, daran konnte ich keinen Zweifel hegen, geradezu das Todesurteil, denn befand ich mich erst einmal in den Händen der Verfolger, so mußte ich auch auf das Alleräußerste gefaßt sein. Und es stand bei mir sogleich fest, daß ich in diesem Fall selbst der Herr über mein Schicksal sein wollte; unter keinen Umständen wollte ich in die Gewalt meiner Feinde geraten.

Während ich krampfhaft bemüht war, meinen furchtbaren seelischen Zustand vor den Zwischendecksgenossen zu verheimlichen, setzte das Schiff den Kurs auf Colombo. Zugleich wurde aber auch versucht, den Schaden mit einigen Mitteln auszubessern, denn das Anlaufen von Colombo wäre natürlich sehr zeitraubend und kostspielig gewesen und nicht dazu angetan, dem Kapitän bei seiner Reederei Lorbeeren zu verschaffen. Man kann sich denken, mit welcher nur mühsam verhehlten Spannung ich die Fortschritte der Reparaturarbeiten verfolgte. Hing von ihrem Ausfall doch mein Leben ab. Schon tauchten die Berge Ceylons, ein mir so vertrauter Anblick, am Horizont auf, da verbreitete sich die Kunde, daß es gelungen wäre, das Leck abzudichten und den Schaden zu beseitigen! Der Kurs des Dampfers wurde sofort nach dem Roten Meere geändert.

Ich atmete auf, ich war einstweilen wieder gerettet. Aber die starke innere Erregung hatte doch meinen durch die Vorfälle der letzten Zeit ohnehin sehr angegriffenen Nerven so zugesetzt, daß ich einen heftigen Rückfall des auf Sumatra mir zugezogenen Malariafiebers erlitt und ein paar Tage lang im Schiffslazarett das Bett hüten mußte. Im Indischen Ozean gab es dann nochmals einen kleinen Schreck. Wir wurden von einem englischen Kriegsschiff angehalten, und Offiziere kamen an Bord, um nach deutschen Flüchtlingen zu fahnden. Ich dachte wieder an meinen Paß, der mit seinen Rasuren vor einer gründlichen Kontrolle nicht bestehen konnte. Aber als ich an die Reihe kam, da sagte der Zahlmeister, auf mich zeigend, zu den Offizieren: »Ein armer Belgier«, und diese Vorstellung machte auf die guten Engländer solchen Eindruck, daß sie meine Papiere gar nicht zu sehen begehrten, sondern abwinkten.

Im Roten Meere wiederholte sich dieses Schauspiel, das Anhalten und Revidieren durch Engländer, noch dreimal, und jedesmal schlüpfte ich als bedauernswerter »armer Belgier« ohne schärfere Kontrolle durch. Meine belgische Maske kam mir also außerordentlich gut zustatten, desgleichen aber auch der Umstand, daß ich mich nicht nur bei meinen Zwischendecksgenossen, sondern auch bei den Mannschaften und Offizieren des Dampfers mit bestem Erfolg »angebiedert« hatte und mich bei allen des größten Wohlwollens erfreute. Ja, ich glaube beinahe, selbst im Fall meiner Entlarvung hätte man mich in Schutz genommen!

Nun ging es durch den Suezkanal, der von Verteidigungsanlagen und Franzosen, Engländern und Indern, besonders aber Indern starrte.

Auch Port Said wurde glücklich passiert, ich durfte mir hier sogar an Land die Beine vertreten. Im Mittelmeer wurden wir noch einmal von einem französischen Kreuzer angehalten und revidiert, aber auch dieser Kelch ging an mir vorüber. Dann kamen wir in Neapel an, und hier verließ ich unter dem Vorwand, daß ich noch einen Bruder in der französischen Schweiz hätte und ihn besuchen wollte, das Schiff. Wir befanden uns damals mit Italien noch nicht im Kriege. Vom deutschen Konsul, dem ich mich zu erkennen gab, erhielt ich ohne weiteres einen Paß für die Heimfahrt. Und so reiste ich denn mit der Eisenbahn ohne weitere Zwischenfälle nach Deutschland zurück, in mein Heimatland …

Ich war frei – und hinter mir in weiter Ferne lag mein zerbrochenes Glück, Ceylon, mein Tropenparadies!

Der Radscha von Kapurthala auf seinem Prachtelefanten


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