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Am Spätnachmittage des fünfzehnten Juni saßen Herr Emmerich von Nassau, der kurfürstliche Amtmann, und Herr Wygant Modersbach, der Schloßhauptmann, in dem nach dem Rheine zu liegenden Hauptgemach der erzbischöflichen Burg und vertrieben sich die Langeweile beim Zabelspiel, während Wygants Bruder, Herr Daniel, und der Schloßkaplan Heseler in einer der Fensternischen standen und auf den Strom hinaussahen. Keiner der vier Männer sprach ein Wort. Über das, was ihre Gedanken beschäftigte, was sie zu fürchten und zu hoffen hatten, brauchten sie einander nichts mehr mitzuteilen, und so war es gekommen, daß ihnen der Gesprächsstoff eher ausgegangen war als die Lebensmittel, die, wenn sie auch nur noch aus einem kleinen Vorrat an Mehl und trocknen Erbsen bestanden, immerhin noch für etliche Tage ausreichten. Allerdings machte die alte Billa, des Amtmanns Magd, die in der belagerten Burg das einzige weibliche Wesen war, die Rationen täglich kleiner, aber über diesen Mißstand half den Männern das wohlbestellte Weinlager hinweg, das sie trotz der sauern Miene, die der kurfürstliche Kellner, Herr Philipp von Heimersheim, dazu machte, nicht schonten. Die Lage der Eingeschlossenen war verzweifelt genug, hauptsächlich deshalb, weil sie sich zur gänzlichen Untätigkeit verdammt sahen. Es wäre ihnen nicht schwer gewesen, zu geeigneter Zeit einen Ausfall zu machen und ihre Belagerer zu überrumpeln oder mit Hilfe eines der Nachen, die in großer Anzahl unterhalb der Burg angekettet lagen, das Weite zu suchen, aber dann wäre die Burg in die Hände der Städtischen gefallen, und der Kurfürst hätte den letzten Stützpunkt verloren, über den er in der unbotmäßigen Stadt noch verfügte. Es blieb ihnen also nichts andres übrig, als auszuharren, bis sie durch ihren Herrn, von dessen bevorstehendem Anmarsch sie durch einen in die Burg geschossenen Brief Kunde erhalten hatten, entsetzt werden würden. In der kommenden Nacht sollte Simon von Bacharach, ein Schutzjude des Kurfürsten, noch einmal den Versuch machen, Vieh zu länden, aber da solche Versuche bisher immer mißglückt waren, sah man dem großen Ereignis ohne sonderliche Hoffnung auf Erfolg entgegen. Dieselbe schwüle Stille, die draußen in der Natur herrschte, lag auch in den dumpfigen Räumen der Burg und über den Gemütern ihrer Bewohner.
Nur ein einziger hatte seine Lebensfreude noch nicht eingebüßt, obwohl gerade er am meisten über Langeweile hätte klagen können: Nickel Langhenne, der pferdejunge des Amtmanns. Das Roß, dem seine Sorge gewidmet gewesen war, hatte die Irrung zwischen Kurtrier und Boppard als das erste Opfer der bösen Zeitläufte mit dem Leben bezahlen müssen und war von der alten Billa zu Sauerbraten und Pökelfleisch verarbeitet worden, und so war der hinterlassene Nickel jetzt ein Pferdejunge in partibus infidelium Eigentlich: in Gebieten der Ungläubigen, Zusatz zum Titel eines Weihbischofs oder apostolischen Vikars, der den Titel eines Bischofs in einem der Kirche verloren gegangenen Lande führt.,dem seine Sinekure trotz der magern Kost gar nicht übel behagte.
Dieser Nickel kam jetzt mit gewaltigem Gepolter in das Gemach gestürmt und warf, unbekümmert um die spielenden Herren, ein halbes Dutzend schwarzer Vögel auf den Tisch.
Da habt ihr ein Sonntagsgericht, ihr Herren! rief er, sechs junge Dohlen! Sind seiner als Tauben oder Feldhühnlein!
Wo hast du die erwischt, Junge? fragte der Amtmann verwundert.
Im Turm unter dem Dach, Herr. Stand unten im Hof und machte ein Schwätzlein mit dem Dores und dem Merten, da sah ich, wie mit einmal die ganze Luft ob der Burg voll Dohlen war. Die kreisten eine Weile um den Turm, nicht anders denn die Raben um den Galgen, und dann schlüpfte eine durch die Luke auf den Söller, und dann noch eine, und dann immer noch eine. Da sagt ich gleich zu dem Dores und dem Merten: Seht, ihr Leut, da fliegen die Sonntagsbraten, schad, daß sie nit schon gerupft und gebraten sind, dann brauchtet ihr nur das Maul aufzusperren! Und dann bin ich wie der Wind die Stiegen hinauf und auf den Turmboden, da waren der Dohlen an die zwanzig Stück. Als die mich gewahr wurden, machten sie sich wieder davon, aber ich rannte flugs an die Luke und steckte meine Jacke hinein, also daß die, so noch drinnen waren, nit wieder weg konnten. Die hab ich dann gehascht und ihnen den Hals umgedreht, und da sind sie. Will gleich noch einmal hinaus und mich neben dem Eulenloch an die Wand hocken, denn die andern kommen gewißlich wieder, wir brauchen noch elf Stück; sind siebzehn Mäuler, die satt werden wollen!
Und ohne eine Antwort abzuwarten, rannte der Bube wieder davon.
Der Amtmann ergriff einen der Vögel und wog ihn nachdenklich in der Hand.
Was mag das zu bedeuten haben? sagte er endlich. Die schwarzen Vögel sind doch sonst um diese Zeit draußen auf den Wiesen im Lohschlag.
Das bedeutet, daß Krieg wird und arges Blutvergießen, meinte Herr Wygant. Die Tierlein wittern im voraus den Leichengeruch.
Nein, ihr Herren, bemerkte der Kaplan, das bedeutet, daß wir heut noch ein böses Wetter bekommen, mit Donner und Schloßen. Das wissen die Tierlein, die darin klüger sind als wir Menschen, zuvor, und deshalb salvieren sie sich bei guter Zeit.
Könnt recht haben, Pfäfflein, sagte Herr Daniel von Modersbach, mir hat's schon den ganzen Tag in den Knochen gelegen.
Die vier Männer begaben sich in ein nach der Wetterseite zu liegendes Gemach und schauten hinaus. Über den Berghängen lag eine bleigraue Wolkenbank, und die von einer Dunstschicht halb verhüllte blutrote Sonne, die gerade im Begriff war, sich hinter der dunklen Wand zu verstecken, entsandte ihre Strahlen in einzelnen Bündeln.
Es steht über der Mosel, bemerkte Herr Wygant, wer weiß, ob es über das Gebirge kann. Aber wenn es kommt, dann kriegen wir's gehörig.
Ist Hagel dabei, dort der gelbe Saum, der deutet's an, erklärte der Kaplan, der die Muße, die ihm sein Amt ließ, mit Vorliebe zu Wetterbeobachtungen benutzte, und der deshalb in diesen Dingen als ein zuverlässiger Prophet galt.
Auch dieses Mal traf seine Vorhersagung ein. Ehe das dünnstimmige Glöcklein der Burgkapelle, das einzige, das man seit der Interdiktverhängung in ganz Boppard vernahm, zum Ave rief, hatte sich der Himmel verfinstert. Über der ganzen Natur lag eine unheimliche Stille; die Schwalben, die sonst an den langen Sommerabenden bis zum Eintritt der völligen Dunkelheit mit schrillem Schrei um die Türme schwirrten oder, wenn Regen bevorstand, dicht über dem schwarzen Spiegel des Burggrabens dahinschossen, waren verschwunden, der Lärm auf den Gassen war verstummt, und sogar der Rhein, dessen Wellen sonst unter dem Leinpfade in unablässigem Geplätscher an den Ufersteinen emporhüpften, schien in einen Strom von flüssigem Blei verwandelt zu sein.
Hin und wieder flammte am südwestlichen Himmel, wo sich die Wolken jetzt in schwarzen Ballen übereinander türmten, ein Wetterleuchten auf, das sich in den fernen Luftschichten jenseits des Rheins bis über den Kämper Wald hin gleich einem zitternden Feuerschein fortsetzte und die weißen Wingertshäuschen auf der Höhe für kurze Augenblicke von dem dunkeln Hintergrunde abhob. Bald darauf begann auch der Donner zu rollen, erst in weiter Ferne, dann immer näher und verstärkt durch das Echo, das er in den tiefen Schluchten des Gebirges weckte.
Die Belagerten gingen von Gemach zu Gemach und beobachteten das Schauspiel, das ihnen der Himmel bot, mit einem aus Neugier, Andacht und Furcht gemischten Gefühl. Das nahende Unwetter war ihnen als eine Abwechslung in ihrem alltäglichen Einerlei eigentlich nicht unwillkommen, aber die Furcht, was unter den obwaltenden Umständen aus ihnen werden würde, wenn ein zündender Blitz in die Burg schlüge, ließ bei den meisten von ihnen keine reine Freude aufkommen.
Herr Wygant und der Kaplan standen gerade in einer dem Zollhause zugewandten Fensternische und sahen zu, wie einer der Stadtknechte nach dem andern aus der Wachtstube trat und den Himmel mit prüfenden Augen betrachtete. Da fuhr ein Blitz nieder, der alles ringsumher taghell erleuchtete. Ehe noch der Donner, der die alten Mauern der Burg bis in die Fundamente erschütterte, folgte, war der Feind im Zollhause verschwunden. Aber auch der Kaplan, den Herr Wygant doch noch eben an seiner Seite gesehen hatte, war plötzlich unsichtbar geworden. Der Wackre war in die Burgkapelle geeilt, hatte die am Sichtmeßtage geweihte Wetterkerze an der Altarlampe entzündet und kehrte jetzt mit diesem Schutzmittel gegen die Launen des zürnenden Himmels beruhigt zurück. Zugleich mit ihm fand sich die alte Billa in dem Gemach ein, setzte sich so nahe wie möglich zu der Kerze und betete den Rosenkranz. Sie durfte sich freilich des angenehmen Gefühls der Sicherheit nicht lange erfreuen, denn der Junker jagte sie mit ein paar derben Späßen in die Küche und blies zum Entsetzen des Priesters die Kerze aus.
Wollen Gott und den lieben Heiligen nicht ins Handwerk pfuschen, sagte er, denn sie haben das Unwetter doch für niemand anders zugerichtet denn für uns. Wie meint Ihr das, Junker Wygant? fragte der Kaplan mit unsicherer Stimme.
Ihr wißt wohl nicht mehr, daß der Jude diese Nacht die Ochsen bringt? Glaubt Ihr, daß die Städtischen bei solchem Wetter auf dem Posten sein werden?
Da könnt Ihr recht haben, Junker, wenn das Wetter nur anhält! Aber bevor der Jude kommt, kann uns allesamt der Blitz erschlagen haben.
Wenn uns die Heiligen vertilgen wollten, hätten sie sich das Wettergebräu ersparen können, fuhr Herr Wygant unbeirrt fort, wir würden alsdann Hungers sterben. Aber daran, daß sie das Wetter loslassen, kann man leichtlich erkennen, daß sie uns nicht, wie wir als arme Sünder wohl verdient hätten, strafen, sondern uns vielmehr aus aller Penur und Not gnädiglich erlösen wollen. Ihr müßt Euch schlecht auf Euer Geschäft verstehn, Pfäfflein, sonst würden Euch die lieben Heiligen wohl einmal in ihre Karten haben schauen lassen.
Der Priester wollte etwas erwidern, aber ein neuer Donnerschlag verschloß ihm den Mund. Zugleich fuhr ein Windstoß durch das Gebäude, der die offenstehenden Türen zuwarf und die geschlossenen aufriß und die gewölbten Korridore mit einem langgezogenen Klagegeheul erfüllte, das dem der trostlosen alten Magd nichts nachgab. Bald darauf begann auch der Regen niederzurauschen, erst in schweren, mit Hagelschloßen untermischten warmen Tropfen, dann in dünnen Fäden, die aber so dicht fielen, daß man in der Burg nichts mehr von der nächsten Umgebung zu sehen vermochte. Zuweilen ließ der Regen einen Augenblick lang nach, dann aber stürzte er mit verdoppelter Kraft herab, als gelte es, das versäumte wieder nachzuholen.
Der Amtmann und Herr Daniel waren von ihrem Rundgang zurückgekehrt und hatten sich zu den beiden Schicksalsgefährten gesellt, die noch immer in der Fensternische standen und mit spähendem Auge die Finsternis zu durchdringen versuchten. Auch der Kellner, Herr Philipp von Heimersheim, kam jetzt hinzu und meldete, daß das Wasser schon in den Keller gedrungen sei und bald wohl auch in den Kammern des Erdgeschosses stehen würde.
Um so besser! rief Junker Wygant, alsdann können sich die Knechte und die Schützen nicht zum Schlafen niederlegen und das ist gut, denn wir werden ihrer bald bedürfen.
Glaubt Ihr immer noch, daß der Jude die Ochsen bringt? fragte der Amtmann.
Ich bin dessen gewiß, antwortete der Junker, und ebenso gewiß, daß wir sie dieses Mal hereinbekommen. Berndt und Joest sollen auf den Turm gehn und gut Obacht geben. Der Regen hat nachgelassen, und man muß die Laterne sehen können, sobald der Nachen beim Sandturm vorbei ist. Und daß die andern gewappnet bleiben und flugs bei der Hand sind!
Herr Daniel, der die Schützen befehligte, ging in die Wachtstube hinab, um seinen Leuten Verhaltungsmaßregeln zu geben und die beiden Zuverlässigsten zum Auslug auf den Turmboden zu senden. Sein Bruder hielt nach wie vor das Zollhaus im Auge, durch dessen weitgeöffnete Tür ein schwacher Lichtschein auf den Leinpfad hinausfiel. Plötzlich erhob der Junker die Hand und winkte die Gefährten zu sich an das Fenster.
Seht einmal da: die Städtischen bekommen Besuch, sagte er, indem er auf eine Gruppe von drei verhüllten und vermummten Gestalten wies, die sich dem Zollhause näherten, und deren eine einen beladenen Schiebkarren vor sich herschob.
Da der Regen gerade etwas schwächer fiel, konnte man von der Burg aus mit einiger Mühe erkennen, daß zwei der Gestalten, allem Anscheine nach Frauen, das Zollhaus betraten, während die dritte bei dem Karren zurückblieb. Nach einer kleinen Weile kamen die beiden andern wieder zum Vorschein und zugleich mit ihnen einige der Stadtknechte, die sich über den Karren hermachten und mit vereinten Kräften einen schweren Gegenstand, der darauf gelegen hatte, in das Haus trugen. Als sie mit ihrer Last gerade über die Türschwelle schritten, kam von innen jemand mit einer Laterne hinzu, und nun vermochten die Beobachter deutlich wahrzunehmen, daß der schwere Gegenstand nichts andres als ein Weinfäßlein von absonderlich länglicher Form war.
Junker Wygant hatte zwei von den vermummten erkannt, freilich mehr mit der Seele als mit den Augen: Regina und Balthes, den Küfergesellen aus dem Rebenstock. Aus der dritten Gestalt wurde er nicht recht klug. Das schwarze Gewand, das unter dem Mantel zum Vorschein kam, schien auf eine Bewohnerin des Jungfernstifts zu deuten, daß Regina jedoch eine solche mit in das Geheimnis gezogen haben sollte, wollte ihm nicht recht wahrscheinlich vorkommen. Aber darüber zerbrach er sich auch nicht weiter den Kopf; ihm genügte es, zu wissen, daß von seiner Verbündeten mitten im feindlichen Lager geeignete Schritte getan worden waren, die Aufmerksamkeit der Belagerer für diese Nacht von der Burg abzulenken. Er hörte mit stillem Behagen zu, wie sich seine Gefährten in Mutmaßungen ergingen, wer die drei Leute, die inzwischen durch das Pförtchen hinter dem Zollhause wieder in die Stadt zurückgekehrt waren, wohl gewesen sein möchten, aber er hielt sich nicht für verpflichtet, den Schleier des Geheimnisses zu lüften.
Nach einer guten halben Stunde konnte man schon bemerken, daß der feurige Malvasier seine Wirkung auf die nur an den leichten heimischen Landwein gewöhnten städtischen Kriegsknechte nicht verfehlte. Aus dem Zollhause drang fröhlicher Gesang, der anfangs freilich noch jedesmal verstummte, sobald ein besonders heller Blitz oder ein knatternder Donnerschlag verriet, daß das im Rheintal auf und nieder ziehende Gewitter wieder einmal über der Stadt stand. Aber wem die Ausgabe zugefallen ist, mit einem Dutzend durstiger Gesellen ein Fäßlein edlen Weines zu leeren, der muß sich, wenn er die übernommene Verpflichtung ernst nimmt, wacker dazuhalten, sonst kommt er zu kurz und hat das Nachsehen. Dieser Gedanke schien die Helden im Zollhause gleichmäßig zu beseelen: sie tranken den Wein, dessen Bestimmung eigentlich gewesen wäre, die zarten Gurgeln adliger Jungfrauen tropfenweise zu netzen und ihren Gemütern bei festlichen Anlässen einen milden Ansporn zu andächtig-weihevoller Erhebung zu geben, aus irdenen Krüglein und zinnernen Kannen. Kein Wunder, daß sie nach und nach die fromme Scheu vor dem zürnenden Himmel verloren, und durch das Destillat griechischer Erde und griechischer Sonne in Titanen verwandelt, den olympischen Göttern, sonderlich dem blitzeschleudernden Zeus zu trotzen begannen. Sie begrüßten jeden Wetterstrahl mit lautem Gekreisch und bemühten sich, das Rollen des Donners, das ihnen wie eine ohnmächtig zürnende Antwort auf ihre Herausforderung erschien, mit wüstem Gebrüll zu übertönen. Und als sie das etlichemal getan hatten, ohne daß sie das himmlische Feuer verzehrt oder ein Abgrund der Erde verschlungen hätte, waren sie davon überzeugt, daß die Gewalten dort oben in den Wolken doch wohl nicht den Mut hätten, mit einem Dutzend Bopparder Stadtknechte anzubinden.
Ach, die Armen kannten den Vater der Götter und der Menschen nicht! Der griechische Wein hatte ihren Geist nur zu verblenden, nicht zu erleuchten vermocht. Sonst hätten sie ahnen können, daß der Wolkenerschütterer, der dem Streite der Männer heute noch immer so gern zuschaut wie einst, als die Argiver vor den Mauern Ilions lagen, durch die trojanischen Erfahrungen gewitzigt, sich jetzt mit einem Gotte verbündet hatte, dessen Macht damals von ihm zu gering angeschlagen worden war: mit dem mohnbekränzten Hypnos, dem lockigen Jüngling, der mit lächelnder Miene und sanfter Hand dem höchsten der Götter den Blitz, den Königen das Zepter und den Kriegern die Waffen entwindet.
Bei dem wilden Tanze, den die Ausgelassensten der Zecher in der engen Wachtstube aufgeführt hatten, war die Laterne vom Tische gestoßen und zertrümmert worden, so daß sich das Ende des Gelages in der tiefsten Finsternis abspielte, wäre das nicht geschehen, so hätten die Belagerten, die noch immer auf ihrem Beobachtungsposten standen, zum mindesten der Kaplan, der in den alten Poeten wohl beschlagen war, bemerken können, wie der Abgesandte des Zeus auf leisen Sohlen in das Zollhaus trat, sich neben das Fäßlein setzte und in jeden Becher, den eine zitternde Hand unter den Zapfhahn hielt, ein paar Mohnkörnlein streute. Die Folge davon war, daß der Lärm allgemach verstummte, daß sich einer der Helden nach dem andern fluchend, lallend oder schluchzend, wie es gerade seinem Charakter entsprach, auf die Bank oder auf den Strohsack streckte, daß ein Becher oder Krug nach dem andern der erschlafften Hand entglitt und klirrend zu Boden fiel, und daß sich bald ein ungeheures Geschnarch mit dem in der Ferne verhallenden Donner und dem sanften Rauschen des gleichmäßig fallenden Regens vermischte.
Von alledem hatten die Belagerten natürlich nichts bemerkt, aber die friedliche Ruhe, die jetzt an der Stätte des bisherigen Bacchanals herrschte, verriet ihnen deutlich genug, daß der durch eine freundliche Fügung des Schicksals in das feindliche Lager geratene Wein seine Bestimmung erfüllt hatte.
Die Nacht rückte immer weiter vor, und hier und da leuchtete zwischen den zerrissenen Wolkenschleiern ein heller Stern herab, von Zeit zu Zeit stieg Junker Wygant zu den Spähern auf den Turm, aber immer kehrte er mit der traurigen Botschaft zurück, daß von dem verabredeten Lichtsignal auf dem Rheine noch nichts zu sehen sei. Die Spannung und die Ungeduld der ganzen Besatzung wuchsen von Minute zu Minute. Mit Ausnahme derer, die ihren Posten an den beiden Burgpforten nicht verlassen durften, hatten sich nach und nach sämtliche Bewohner der Burg auf dem Turme eingefunden, steckten den Kopf durch die Luken und schauten auf den Strom hinaus. Jeder wollte der erste sein, den rettungverheißenden Schein der Laterne zu erspähen und die frohe Botschaft den Schicksalsgefährten zu verkünden.
Endlich – es war kurz vor Mitternacht, der Stunde, wo die Knechte im Zollhause abgelöst zu werden pflegten, – brach Nickel Langhenne in einen Jubelschrei aus. Und in der Tiefe sah man einen Augenblick später ein winziges Lichtpünktchen, das in weiter Ferne über dem Wasser schwankte, sich etlichemal hob und senkte und dann völlig verlosch. Der Junge stürzte in das Herrengemach hinunter und meldete, daß der so sehnlich erwartete Nachen in Sicht sei. Der Amtmann, die beiden Junker von Modersbach und der Kaplan stiegen nun auch auf den Turm, aber so sehr sie ihre Augen auch anstrengen mochten: von einem Lichte konnten sie nichts entdecken.
Ihr werdet wohl geträumt oder ein Johanniskäferlein gesehen haben, sagte der Amtmann zu den Leuten, die jetzt selber kleinlaut wurden und mit Ausnahme von Nickel Langhenne zugaben, daß sie sich wohl geirrt haben müßten. Da mit einemmal leuchtete etwa drei Steinwürfe oberhalb der Burg der Laternenschein wieder auf, diesmal so hell, daß sich auch der ärgste Zweifler davon überzeugen mußte, daß hier keine Sinnestäuschung vorliege. Aber auch jetzt wurde die Laterne gleich wieder verhüllt, und man sah, wie auf der dunklen Wasserfläche etwas noch Dunkleres langsam näher kam und sich behutsam und beinahe geräuschlos zwischen die unter dem Leinpfade angeketteten Nachen schob.
Die Mannschaft der Burg eilte in das Erdgeschoß hinunter und griff zu den Spießen.
Die Zugbrücke wurde herabgelassen, das Fallgitter aufgezogen und das Tor geöffnet, Hier mußten auf Herrn Daniels Befehl zwei der Schützen, Engel aus dem Hirsch und Merten Zilles, als Wache zurückbleiben. Alle andern, die alte Billa nicht ausgenommen, rannten hinaus und stiegen die Böschung des Leinpfades zum Ufer hinab.
Der Nachen, über dessen Bord die breiten langgestreckten Rücken der beiden Ochsen deutlich emporragten, hatte sich hinter ein mit Brettern beladenes Fahrzeug gelegt, das als ein bequemer Landungssteg trefflich zu gebrauchen war. Aber es währte eine Weile, bis der Schiffer mit seinen Knechten aus Planken eine Verbindung hergestellt hatte. Endlich war diese Arbeit vollbracht, der Jude Simon löste die Stricke, mit denen die beiden Tiere an einem Sitzbrett des Nachens angebunden waren, und führte das erste der Schlachtopfer auf den Holzkahn und von da an Land, wo es von zweien der Schützen in Empfang genommen, den Leinpfad hinaufgezerrt und dann, so schnell es gehen wollte, über die Zugbrücke in die Burg geführt wurde.
Der zweite der Ochsen jedoch, den das verschwinden seines Reisegefährten beunruhigt haben mochte, zeigte wenig Neigung, den Nachen zu verlassen. Er stemmte sich mit allen vieren fest und stieß, als ihn die vier Männer vorwärts zu schieben versuchten, ein klägliches Gebrüll aus. Die Schläge, die er für diese Äußerung seines Seelenschmerzes auf das Maul erhielt, waren auch nicht gerade geeignet, ihm seine Ruhe wiederzugeben, und so kam es, daß er, von seinen Gefühlen überwältigt, einen unvorhergesehenen Anlauf nahm, die Schützen und Nickel Langhenne, die auf dem Holzkahn zu seinem Empfange bereitstanden, über den Haufen rannte, mit einem mächtigen Satze an Land sprang und in wildem Galopp auf dem Ufersaume stromabwärts stürmte. Erst ein paar Klafter unterhalb des Zollhauses blieb er stehen und stieg dann die Böschung zum Leinpfade hinauf. Nun war er offenbar unschlüssig, wohin er seine Schritte lenken sollte: da mit einemmal gewahrte er in einiger Entfernung das Zollhaus, das ihn mit seiner weitgeöffneten Tür an den heimatlichen Stall erinnern mochte. Er trottete langsam darauf los und würde sicher wenig Augenblicke später gleich dem auf Europas Spuren wandelnden Zeus mitten unter den schlafenden Stadtknechten gestanden haben, wenn ihm nicht die rüstige Billa zuvorgekommen wäre und mit bewunderungswürdiger Geistesgegenwart das Tor des feindlichen Lagers vor der Nase zugeschlagen hätte. Das verblüffte ihn so, daß er sich von seinen Verfolgern nun willig bei den Hörnern fassen und im Sturmschritt an den Ort seiner Bestimmung führen ließ.
Die Zugbrücke war kaum wieder emporgewunden worden, der Nachen kaum vom Ufer abgestoßen, als die Ablösungsmannschaft vor dem Zollhause erschien. Sie hörte noch die Ruderschläge der über den Strom setzenden Schiffer, vernahm auch den Lärm in der Burg, vermochte aber, als sie den Zusammenhang zwischen dem Malvasierfäßlein, dem schnell entschwindenden Fahrzeug und dem dumpfen Gebrüll im Burghofe erraten hatte, nichts weiter zu tun, als sich nach einem vergeblichen Versuche, die Kameraden zu wecken, mit dem kärglichen Reste des edeln Weines für die Überraschung und den Ärger zu entschädigen.
Die Belagerten verzichteten dieses Mal auf die gewohnte Nachtruhe und machten sich, nachdem sie den einen der Ochsen in den verwaisten Pferdestall gestellt und der Obhut Nickels anvertraut hatten, sofort ans Werk, das zweite der Tiere zu schlachten.
Zum Glück war unter der kleinen Besatzung ein Mann, der sich auf diese Hantierung verstand: der Bote Engel Schwabe. Er hatte das Metzgerhandwerk erlernt und war viele Jahre lang zum Vieheinkauf über Land gezogen. Dabei war ihm das Nebenamt der Briefbeförderung von Stadt zu Stadt und von Burg zu Burg allmählich vertrauter und lieber geworden als sein beschwerliches Handwerk, und schließlich hatte er das Schlächterbeil endgültig mit dem Brieffelleisen vertauscht und war von Herrn Emmerichs Vorgänger als kurfürstlicher Amtsbote in Pflicht und Sold genommen worden, vor einem Vierteljahre noch würde er die Zumutung, eine Probe seiner blutigen Kunst abzulegen, sicherlich mit Entrüstung zurückgewiesen haben, jetzt aber, wo ihn die Händel mit der Stadt zwangen, seiner Wanderlust eine unfreiwillige Beschränkung aufzuerlegen und statt der derbbeschuhten Füße nur die leichtbeschwingten Gedanken durch das Land schweifen zu lassen, war er von Herzen froh, zu dem Gewerbe seiner Jugend wieder einmal zurückkehren und mit Beil und Messer hantieren zu können.
Vor drei Wochen, als man Herrn Emmerichs Roß vom Leben zum Tode befördert hatte, war Engel Schwabe allerdings auch schon tätig gewesen, aber mehr beratend als selbst mit zugreifend, denn die Pferdeschlächterei, oder wie er es nannte: die Schinderarbeit, vertrug sich nicht mit seiner Reputation als gelernter und von der Zunft ordnungsmäßig freigesprochener Metzger und konnte von den Schützen ebensogut ausgeführt werden. Jetzt aber, wo es einen veritabeln Ochsen und noch dazu einen Westerwälder Ochsen zu schlachten galt, fühlte sich Schwabe als die wichtigste Person in der Burg. Er, der sonst schweigsam und gegen den Amtmann und die beiden Junker von respektvoller Unterwürfigkeit war, führte jetzt das große Wort und traf seine Anordnungen, als ob er plötzlich aus dem kleinen kurtrierischen Territorium der Höchstgebietende geworden sei, ließ unbekümmert um alle Einreden, die Laternen und die Lampen nicht nur aus der Wachtstube und der Küche, sondern auch aus dem Wohngemache der Herren in den Hof holen und verteilte aus eigener Machtvollkommenheit die Rollen, die jeder der Burgsassen bei der Haupt- und Staatsaktion des Schlachtens übernehmen sollte. Und in der Tat fand er bei allen den nötigen Gehorsam. Die Herren lachten, die Schützen murrten, die alte Billa, die, weil sie den Ochsen, dem alle diese Vorbereitungen galten, vor der Desertion in das feindliche Lager bewahrt hatte, auch ein Wörtlein mitreden zu dürfen glaubte, protestierte sogar mit großer Zungenfertigkeit, alle taten jedoch, was Engel Schwabe ihnen auftrug: es waren die Laien und die Bönhasen, die den erfahrenen Meister über sich fühlten.
Mit dem Pferde waren nicht viel Umstände gemacht worden. Man hatte es einfach abgestochen und den Leichnam ausgeweidet, abgehäutet und zerstückelt. Es war aber auch nur ein Pferd gewesen, doppelt verächtlich für einen Mann, der gelernter Metzger und laufender Bote war.
Jetzt wurde die Sache anders angefaßt. Schwabe suchte sich aus dem Gerümpel, das in der Kammer hinter dem Stalle lag, eine zerbrochene Wagendeichsel hervor, ließ das vordere Ende auf halbe Manneslänge absägen, an der abgesägten Stelle mit der Holzaxt zuspitzen und mitten im Hofe, wo eine Lücke im Pflaster war, so tief wie möglich in den Boden treiben. Das andere Deichselstück wurde an beiden Enden mit tiefen Kerben versehen und in der Mitte mit einem starken Strick umwickelt. Dann mußte Nickel Langhenne eine Leiter herbeischleppen und über der Stalltür an dem eisernen Haken, der früher eine Laterne getragen hatte, mit einer Kette einen Ring befestigen, durch den die langen Enden des Strickes so weit gezogen wurden, daß sie bis auf den Boden hinabhingen.
Ms dies geschehen war, ließ Schwabe den Ochsen herbeiführen, zog das Leitseil, das um die Hörner geschlungen war, durch die Öse des Deichselkopfes und erteilte den fünf Männern, die er als die stärksten ausgesucht hatte, und zu denen auch Junker Daniel gehörte, die Weisung, das Seil so stark anzuziehen, bis der Ochse mit der Schnauze den Boden berühre. Dann ergriff er das Beil, stellte sich vor den Kopf des Schlachtopfers und erhob das Mordinstrument zum Schlage. Aber zum Erstaunen seiner Gesellen ließ er es wieder sinken, prüfte mit der Fingerspitze die Schneide und erklärte, das Beil sei nicht scharf genug und müsse erst geschliffen werden, das könne aber niemand besser als der Junker Wygant, dem er neulich erst beim Schleifen einer Schwertklinge zugeschaut habe.
Nun ließen die Fünfe das Seil wieder los, der Ochse, der bei dem unerwarteten Ruck in die Knie gesunken war, richtete sich noch einmal auf, und Junker Wygant mußte sich wohl oder übel dazu bequemen, den Wunsch des Meisters zu erfüllen.
Endlich entsprach die Schärfe des Stahls allen billigen Anforderungen, Schwabe nahm seinen Platz vor dem Ochsen wieder ein, die Fünfe zogen das Seil an, das Tier senkte schnaufend das breitstirnige Haupt, und das blanke Blatt des Beiles stieg empor. Über auch jetzt kam es noch nicht zum Schlage.
Herr Amtmann, rief Schwabe, und seine Stimme zitterte vor Aufregung, mit Gaffen ist's hier nicht getan, wer mit essen will, soll auch mit zugreifen. Nehmt einmal die Lampe dort vom Sims und haltet sie hierher! Und Ihr, Kaplan, habt wohl auch nichts zu tun? Da auf der Treppe steht noch ein Licht. Damit stellt Euch auf die andere Seite. Man muß doch sehen können, wo man hinhaut.
Die beiden folgten dieser Anordnung, und der letzte Eindruck, den der arme Ochse aus dieser unvollkommenen Erdenwelt mit auf die grünen Weiden des Jenseits nahm, waren zwei Laternen, die von einer adligen und einer geistlichen Hand zu beiden Seiten seines Hauptes gehalten wurden. Denn in diesem Augenblick holte der Meister zum Hiebe aus, mit dumpfem Krach traf die stumpfe Seite des Beiles die zottige Stirn, und blitzschnell darnach folgte der Todeshieb, der den mächtigen Schädel bis auf die Rachenhöhle spaltete. Das Tier brach zusammen und wand sich in gewaltigen Zuckungen.
Der Körper war kaum zur Ruhe gekommen, als Schwabe seine Leute aufs neue an die Arbeit stellte. Sie mußten die eingekerbten Enden des Deichselstücks durch die Flechsen der Sprunggelenke stecken und dann mit vereinten Kräften den Ochsen zu dem Haken in der Mauer emporziehen, wobei auf jedes der beiden Strickenden sechs Mann kamen. Als er glücklich an dem Haken hing, begann das Abhäuten, das Ausnehmen und das Ausschlachten. Auch bei diesen Arbeiten mußte jeder wacker mit Hand anlegen, und als beim ersten Schimmer des Frührots das Werk vollbracht war, erhielten der Amtmann und die beiden Junker aus Schwabes Munde das Lob, sie hätten sich geschickter angestellt, als von ihnen zu erwarten gewesen wäre, wie denn aus ihnen, wenn sie sich zur rechten Zeit zu einem tüchtigen Meister in die Lehre gegeben hätten, wahrscheinlich brave Metzgerburschen geworden wären.
Auch die alte Billa und die Schützen bekamen ihre Note, dabei stellte sich heraus, daß einer von ihnen, Dores Holzfahrer, und außer diesem noch Nickel Langhenne und der Kopf des geschlachteten Tieres plötzlich verschwunden waren.
Am Morgen aber sahen die Bopparder mit Schrecken und Zorn, daß aus einer Luke des Burgturms das Haupt eines Ochsen herausschaute, das mit einer papiernen Mütze geschmückt war, die eine fatale Ähnlichkeit mit den Baretten hatte, wie sie die städtischen Schöffen und Ratsherren trugen.