Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. IV. Buch
Karl Gutzkow

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124 12.

Der Abend hatte sich niedergesenkt. In einem der großen, »kaltgründigen« Zimmer des Capitelhauses herrschte eine feierliche Stille. Es war im Studirzimmer Bonaventura's.

Zwei Lichter brannten. In dem großen gußeisernen Ofen, der von außen geheizt wurde, hörte man das Zulegen neuen Holzes. Es war nicht Renatens sorgende Hand, es war die eines Hausdieners, der für die Herren des Capitels zu diesem Amt bestellt war. Auch nicht im Nebenzimmer saß Renate. Der Domherr hatte die alte treue Dienerin gebeten, nach allen den schon längst getroffenen Zurüstungen seiner Abreise nach Witoborn, die für die neunte Stunde bestimmt war – (sein einfacher Sinn und seine gemessenen Mittel begnügten sich mit gewöhnlicher Postgelegenheit) – erst um acht Uhr von einem Geschäft zurückkommen zu wollen, das er sie ersuchte, sich außerhalb des Capitels zu machen. Schon lange hatte sie sich für Benno's Abwesenheit eine Durchsicht seiner Wäsche, eine gründlichere Anordnung seiner Wohnung vorgenommen; diese wollte sie, obgleich es Sonntag war, vollziehen und erst gegen acht Uhr wollte sie zurückkehren. Bonaventura kannte die Abneigung der alten Frau gegen Lucinden und wollte, da er diese erwarten durfte, jeden Conflict vermeiden. Als Lucinde zum zweiten mal geschrieben, verwilligte er ihr, was sie begehrte – Aber eine Generalbeichte konnte er 125 nur auf seinem Zimmer abnehmen. Er rüstete sich zu einem schweren Kampf, zu einer großen Prüfung – An die Seltsamkeit, daß sich bei ihm auf seinem Zimmer Seelenkämpfe solcher Art ausringen, ist der katholische Priester gewöhnt. Lucinde hatte nicht nöthig gehabt, ihr letztes Mittel zu ergreifen –

Mit der Abenddämmerung war sie in Begleitung des Meßners gekommen. Durch die hohen Fenster mit ihren vielen kleinen Scheiben, durch eine grüne Hecke von Epheuranken, welche den Schreibtisch von dem Fenster schied, brachen die blutrothen Strahlen der Sonne. Sie hatte sich den ganzen Tag nicht sehen lassen und nur am Abend noch einmal zeigte sie sich zum kurzen Willkomm. Im Ofen prasselten die Flammen, die einen singenden Ton gaben an der metallenen Wölbung. Alles das begleitete die so seltsame, nur bei katholischen Priestern und bei – Aerzten mögliche Scene, daß eine Liebende zu dem sie verschmähenden Manne ihrer Liebe selbst zu gehen wagt und sich scheinbar nur für ein verstelltes Leiden Raths erholt.

Schweigend hatte Bonaventura Lucinden, die verschleiert kam und den Hut nicht abnahm, angedeutet, sich zu setzen. Dann langte er nach seinem Brevier mit zitternden Händen und gab dem Meßner, der sich wieder entfernte, einige geschäftliche Anweisungen. Durch diese und jene kleine Zurüstung suchte er sich die Sammlung zu geben, die ihm fehlte.

Lucinde schwankte bewußtlos.

Als er sich wandte, sah er, daß sie sich selbst schon einen Fußschemel genommen hatte und auf diesem kniete. Daß es eine Entscheidung für sein ganzes Leben galt, ahnte er, obgleich Lucinde ihn nur wie einen Priester »an Gottes Statt« nahm und sich ganz in religiösen Formen bewegte. Fast eine Stunde verharrte Lucinde in ihrer knieenden Stellung und lehnte jede 126 Bequemlichkeit ab. Bonaventura saß vor ihr und horchte nur ihrem dumpfen, doch vernehmlichen Gemurmel.

Bonaventura kannte aus jener Stadt her, wo er selbst Priester, Lucinde katholisch geworden war, eine Menge von Thatsachen, die zum Leben der damaligen Gesellschafterin der Comtesse Paula gehörten; aber in einer solchen Vollständigkeit wie heute lag ihm ihr Leben nie vor. Nichts hatte sie verschwiegen, was sie belasten konnte, nichts, als nur ihre Liebe zu dem Manne, vor dem sie kniete. Sie war grausam, rücksichtslos gegen sich selbst. Sie klagte sich sogar da bereits an, wo andere sie noch entschuldigten. Alles, was ihr Leben an Widersprüchen bot, leitete sie aus jener Todsünde her, welche die Kirche »Acedia«, die »Trägheit des Herzens«, die Indifferenz für Liebe und Haß nennt. Sie gab von sich ein Lebensbild, das alles enthielt, was wir bereits von ihr wissen. Nur eine einzige große Strömung der Empfindung in ihrem Innern nannte sie nicht, sie war jedoch ersichtlich aus einem Lebenslauf, von dem sie andeutete, er wäre ewig in der Irre gegangen, verfehle ein einziges großes Ziel und schiene rettungslos verloren. Auch von Klingsohr gestand sie alles. Sie klagte weder ihn, noch den Kronsyndikus an, nannte überhaupt nicht die Namen; Bonaventura konnte jedoch alles ergänzen. – Ein seltsames Bild diese Zwiesprache, unglaublich für alle, welche außerhalb des römischen Lebens stehen! Ein Mann, vor dem sich da ein Weib in Liebe windet, blickt wie ein Gottgesandter streng und sich beherrschend zu ihr nieder. Er sieht eine Nachtwandlerin an schwindelnder Klippe dahinwanken, zittert mit den Gefahren, die von Lucinden nur überwunden werden durch immer wieder bekannte neue Schuld: er bleibt fest und stark. – Von Serlo hatte er noch nie so Ausführliches vernommen, wenn er auch aus früheren Geständnissen wußte, daß er es selbst war, der Lucinden anfangs eine 127 auferstandene Wiederholung desselben schien. Drei Jahre des Aufenthalts im orthopädischen Institut wurden von ihr erzählt, Jahre der Selbstbildung, aber nur jener »Bildung, die Kraft geben sollte, Welt und Menschen abzuwehren, zu hassen, zu beherrschen«. Die Reise nach Kocher, die Erfahrungen in der Dechanei, die Verstellung im Kattendyk'schen Hause, alles bis zu den neuesten Vorgängen, ja bis zu den Vorgängen des gestrigen Tages, alles wurde erzählt und nur noch die Rettung durch den unterirdischen Gang verschwiegen, um ihres »letzten Mittels« willen, der lateinischen Urkunde . . .

Religiös blieb von beiden Seiten die Färbung des Ganzen; der Ton alles dessen, was gesprochen wurde, blieb ein heiliger. Ist das Leben, wie die sittlichen Atomisten sagen, eine millionenfach fortgesetzte und ineinander verwundene Kette von Selbsttäuschungen, dann darf es wunder nehmen, wie unser moralisches Scheinleben sich dennoch gleichsam ablösen kann von unserer ersichtlichen körperlichen Hülle. So fließt das Licht der Sonne und des Mondes um die dunkle Erde, so leuchtet der Phosphor an unsern Händen, die ihn nicht fühlen. Zwei Menschen, körperlich vor einander zitternd, bebend vor einer Berührung, wenn zufällig der Saum des Schleiers nur ein Blatt des Breviers streifte – und ihre innerste moralische Welt doch wie ein fast sichtbarer geistiger Aether um sie her und hin und wieder fließend –! Diese Worte, diese Geständnisse, diese Accorde wie von einer unsichtbaren Musik – sollten sie nicht in eine Weltordnung den Weg bahnen, wo die millionenfache Täuschung aufhört und der Geist, auch wenn vom Körper getrennt gedacht, wonnigste, seligste Wahrheit bleibt –? Lucinde hoffte das schon für diese Erde.

Doch – Bonaventura blieb – ein Priester voll Hoheit. Er vertrat die Religion. Er glich einer Kirche, in welche man, 128 innerlich noch so weltlich gesinnt, äußerlich voll Demuth und zur Ehre des höchsten Gottes eintritt. Auch hörte er im Geist die Worte, die ihm und dem Mönche Sebastus vor wenigen Monaten der gefangene Kirchenfürst von der Milde des Heilands zu Magdalena gelesen. Daß sich hier etwas, was liebestollste Zudringlichkeit war, in einer Form aussprach, die schon zum Wahnwitz geworden, konnte er nicht verkennen. Er hatte Lucinden im Lauf der von ihr in düsterm Unmuth und wahrhaft schmerzensvoll bekannten Leiden, die sie durch ihre eigene unausgesetzte Thorheit und moralische Hülflosigkeit über sich heraufbeschworen, gebeten – den Hut abzunehmen; sie that es nun auch endlich wie mechanisch und legte den Hut neben sich auf den Fußboden. Ihrem Haar entglitt eine Flechte, die nicht genug befestigt war. Lang und schwer hing sie nieder. Lucinde merkte nichts von diesem Schein der Verwilderung. Die Formen der Kirche kamen ihrer Selbsttäuschung zu Hülfe – Sie wand sich wie Magdalena.

Bonaventura wußte nun: All das bekennt dies irrselige, schöne Frauenbild nur, um dich in die Kreise ihres Lebens zu zwängen, von dir Worte der Liebe zu vernehmen, vielleicht – jetzt nur deine Hand küssen zu können und – stumm zu gehen –! Jetzt, wo du reisest, will sie nur vielleicht einen Briefwechsel mit dir führen, nur, wenn du wiederkehrst, mit ihren Blicken dich umwerben, mit ihrem Lächeln dich umschmeicheln. Sie will nur den Stolz vor der Welt haben, daß man sagt: Dieser Geweihte ist ein Heiliger; strauchelte er aber, so würde er es nur mit jenem Mädchen thun, das bei jeder Messe, die er liest, stets an demselben Pfeiler ihm zur Rechten oder Linken sitzt –! Bonaventura wußte, daß er straucheln konnte, wenn Lucinde – Paula war –! Jene hatte mehr Geist, mehr Wissen, mehr Thatkraft und – für die Meinung anderer vielleicht selbst mehr 129 Schönheit, als diese – Doch wirkte Lucinde auf ihn, wie er einst auf einen Scherz Benno's gesagt hatte, feuermagnetisch. Sie wirkte abstoßend durch Ueberkraft und durch eine zu große Willensstärke. Er blieb bei seiner Priesterpflicht.

Aeußerlich wollte Lucinde nur einen Rath haben, wie sie, nach einem so geschilderten Leben und bei innerlich gänzlich zerstörtem Dasein, noch nicht am Leben und an sich selbst alle Lust verlieren sollte, zur Wahrheit kommen, die Lüge und Verstellung meiden, sich an fremdem Glück erfreuen, vor allem an ihrer neugewählten Religion wirkliche Beruhigung und Erhebung finden. Eben die Religion verschleierte alles.

Bonaventura hatte sie zuletzt aufgefordert, sich zu setzen. Auch das that sie wie Magdalena und stützte das Haupt. Jetzt fühlte sie die losgegangene Flechte. Sie steckte sie erröthend auf, während Bonaventura die beiden Kerzen anzündete. Endlich sprach er ihr mit einer Stimme, die auch nur ihm angehören konnte: Meine verehrte, liebe, theure Freundin! Wie lange kennen wir uns doch nun schon! O, glauben dürfen Sie mir – daß ich oft, oft – wie oft! über Sie nachgedacht, über Sie mit Gott geredet habe! Was Sie mir vielleicht vor einigen Monaten schon sagen wollten – dies Allerneueste da, der Besuch bei Ihrem frühern Verlobten in Knabenkleidern, das ist eine Waghalsigkeit, die auf Rechnung Ihres abenteuerlichen Sinnes überhaupt kommt, ein Kampf gegen die Obrigkeit, den ich nicht billigen kann, ein Vergehen, das denn immerhin die gute Absicht des Helfenwollens entschuldigen möge – Ihre wahren innern Peinen erfahre ich erst jetzt. Und daß Sie jenes Neueste hinzufügten, nehm' ich für einen Beweis ihres Vertrauens zum Priesterthum. Sie vermissen, sagen Sie, eine Reinigung und Heiligung Ihres Seins und Lebens. Das ist ein schönes, ernstes, für Ihre Zukunft entscheidendes Wort –! Die Fehler Ihrer ersten Jugend will ich nicht rügen. Sie haben 130 die Liebe nicht gekannt. Sie haben sie von andern nicht in beglückender Weise erfahren; ich rüge nicht, daß Sie sie auch nicht erwiderten. Auch Ihren mächtigen Ehrgeiz will ich nicht tadeln. Es war vielleicht nur das Wachsthum zum Bedeutenderen. Daß ein Baum gen Himmel strebt, damit preist er Gott, nicht sich. Ein armes Mädchen vom Lande, gingen Sie durch eine seltene Schule der Erfahrung, die Ihnen bald weh that, bald Ihnen schmeichelte. Immer wollten Sie mehr sein, als was zu sein das Geschick Sie aufforderte; Sie rangen sich auch deshalb vielleicht gewaltsam empor, weil Sie einen Trieb hatten, geistig mit sich zufriedener zu sein, als dies Tausende von Menschen mit sich sind. Die Fähigkeit, einen Klingsohr glücklich zu machen oder gar zu erziehen, konnten Sie nicht besitzen. Auch Ihr Leiden mit Serlo, Ihre Demüthigung, als Sie die Bühne betreten wollten, waren Sühnopfer für manche Schuld der Uebereilung, für manche Herzlosigkeit und Eitelkeit. Als Sie dann den Uebertritt zu unserer Kirche vollzogen, da vorzugsweise begann Ihr innerster Bruch. Immer schon mußte ich tadeln, daß Sie diesen Schritt nicht aus innerm Bedürfniß thaten. Richtiger, Sie thaten ihn aus Bedürfniß, doch machten Sie sich über die Mahnung Ihres innersten Herzens, über ein Gebot Ihres guten Genius, der ihnen bei diesem Schritt zur Seite stand, kein Geständniß, nannten dies Gebot nicht Religion. Nun schwanken Sie zwischen Freiheit und Abhängigkeit, zwischen Religion und Unglaube, ja sogar zwischen dem Guten und dem Bösen – Ihre Natur, fürcht' ich und ich sprech' es offen aus, wird Sie niederwärts ziehen, wenn Sie sich nicht mit einer gewaltigen Gegenmacht rüsten! Andere (Bonaventura dachte an die Scene beim Kirchenfürsten), andere würden Ihnen rathen, lediglich Ihrem Geiste zu mistrauen. Das will ich nicht. Es wäre entsetzlich, wenn dem Geiste sich nicht das Gute gesellen könnte –! Eines aber möcht' ich Sie 131 fragen – und damit, glaub' ich, fasse ich Ihren ganzen Zustand zusammen –: Haben Sie sich je vergegenwärtigt, was die Kirche mit so mancher ihrer großen und uns gerade von andern Religionen unterscheidenden Lehren sagen will? Zum vorzüglichen und Ihnen insbesondere zweckdienlichen Beispiel erwähn' ich – unsern Mariencultus!

Lucinde war von dem Ton dieser innigen Rede wonnig durchrieselt. Den Sinn der Worte behielt sie nicht, nur ihren Klang. Erst bei Erwähnung des Mariencultus stutzte sie. Sie gedachte des noch rückständigen Bekenntnisses ihrer Wanderung durch den unterirdischen Gang und des von Picard empfangenen Auftrags. Das Marienbild am unterirdischen Kreuzweg stand jetzt vor ihrer Seele wie mahnend.

Sie kennen die Lauretanische Litanei? fuhr Bonaventura in Gelassenheit fort, still zu seinen guten Genien betend.

Die Lauretanische Litanei! dachte sie und plötzlich fuhr durch ihr Innerstes ein Streiflicht ihrer Doppelnatur. Die Gottesmutter hat in dieser Litanei Bezeichnungen, als da sind: »Gefäß der Andacht«, »geistliche Rose«, »elfenbeinerner Thurm«, »goldenes Haus«, »Arche des Bundes«. Als noch heute in der Frühe Bonaventura's Ja! nicht gekommen war und sie in die Messe stürmte, wo eben die Lauretanische Litanei gesprochen wurde, hatte sie sich in ihrer aufgeregten, gottfeindlichen Stimmung gesagt: Namen sind das, wie sie ein Verzeichniß zu einer Auction enthält oder als säh' ich durch die Fenster der Trödler in Seligmann's Rumpelgasse –!

Die seligste Jungfrau, fuhr Bonaventura in Sanftmuth fort, die Ihr früheres protestantisches Bekenntniß nur in ihrer Menschennatur kennt, wird in dieser Litanei unter anderm die mystische Rose genannt. Mag sie von denen, die sie als solche sehen mögen, in dieser Eigenschaft als ein liebliches Symbol alles 132 Unaussprechlichen verehrt werden. Ihnen gegenüber zieh' ich eine andere Bezeichnung aus dieser Litanei vor, die, daß uns die heilige Frau – ein »Spiegel« sein solle. Gerade Sie möcht' ich fragen: Wie ist Ihnen das? Wenn Sie jetzt nun nach einem solchen Leben, wie Sie mir geschildert haben, z. B. an Maria denken, zu dieser aufblicken, sich mit dieser ganz einig, ganz verbunden, ganz Freundin zu sein wünschen, was empfinden Sie da?

Im Geist blickte Lucinde auf das kleine, in unterirdischer Einsamkeit stehende Muttergottesbild – und mußte schweigen.

Maria, fuhr Bonaventura fort, mag Ihnen in ihrer menschlichen Gestalt erscheinen, wie sie will; die Evangelisten haben nichts verschwiegen, was die Vernunftkritik gegen sie geltend macht. Halten Sie sich aber an das, was Maria inzwischen erst durch das Christenthum selbst geworden ist, wie denn überhaupt die Tradition und die innerhalb des christlichen Lebens lebendig fortwirkende Liebe eine der immer frisch zuströmenden Quellen unsers Glaubens ist. Schon der allerersten christlichen Zeit wurde Maria eine Mutter, so groß, so verklärt, daß sie ohne Sünde empfing; die Verehrung vor der Frauenreinheit Mariä wird noch dahin kommen, daß die Kirche dem Verlangen nicht länger widersteht, sogar von ihr zu sagen, daß auch sie wie ihr Sohn ohne Sünde empfangen wurde. Das sind Dogmen des Bedürfnisses, der Huldigung, der nicht versiegenden Liebesströme innerhalb unserer kirchlichen Gemeinschaft selbst. Wir wissen, wer die heilige Anna, die Mutter Maria's war, wir kennen die Schleier, die auf ihrer Verbindung mit dem heiligen Joseph ruhen; alles das aber verschwindet, wenn man vergleicht, was Maria in den wilden Geburten der Geschichte wurde. In barbarischen Zeiten! Zeiten der rohen Entwürdigung der Frauen! Immer schwebte sie in den Lüften als 133 ein unentweihtes Symbol des Frauenthums. Der glühende Spanier und Provençale mag sie wie eine Geliebte verehrt haben, der Slawe wie eine Mutter, der Germane vielleicht, am kühlsten, nur wie eine Schwester: immer war es Maria, welche den wilden Sinn zähmte und der Leidenschaft die tödtliche Waffe aus der Hand schmeichelte. Die Civilisation der Sitten ist durch sie gewonnen und erhalten worden. Und erst in unserer Zeit! Mariencultus ist allerdings nicht mehr die Bürgschaft milderer Sitten; er ist nur noch der lebendig gewordene reine weibliche, sittliche Sinn. Gerade die Reinheit Mariä zu verehren drängt es diese unreine Zeit, die Zeit der Frivolität, der Emancipation von der Sitte, die Zeit des beinahe ins Allgemeine mitwirkend und mitstimmend aufgenommenen Frauenberufes, die Zeit der Nivellirung der Familie und Erziehung. Und nun frag' ich Sie: Finden Sie den Weg zwischen Ihrem Innern und diesem Frauenbilde, das Sie in jeder Kirche ja sehen können, ganz frei und ungehindert? Fühlen Sie sich so, daß Sie den Blick unserer Himmelskönigin nicht zu fürchten brauchen, der, ob nun mild oder streng, immer ein sittlich reiner ist? Können Sie, als Weib, als Jungfrau, zur Mutter mit dem Kinde aufblicken und sagen: Viel hat das Leben mich umgetrieben, mancherlei war ich und erlebte noch mehr, aber du kannst nichts gegen mich haben! Du würdest mich aus deinem himmlischen Hofstaat nicht ausweisen!? Ich füge hinzu, liebe Freundin, ich fand immer, daß die Frauen voneinander mehr wissen, als wir Männer. Sie beurtheilen sich strenger, als wir. Sie durchschauen die weibliche Eitelkeit und Koketterie leichter, als wir. Sie lassen sich nichts ungerügt hingehen, dulden keine Verschönerung und Ausschmückung, die wir Männer, geblendet vom Frauenreiz, immer noch in Bereitschaft haben. Jeder Blick einer Frau, die ihr Geschlecht beurtheilt, sagt: Was wir als Frauen sein müssen, das wissen wir 134 vollkommen –! . . . Und so denn also – im Chor der seligen Jungfrauen – denken Sie sich die Königin des Himmels und prüfen Sie sich, was die Allerseligste sagen würde, wenn unter Tausenden auch Sie zur ihr hinträten und sie bäten, in ihrem Hofstaat eine Ehrenstelle im weißen Kleide erhalten zu dürfen, eine Ehrenstelle durch die Reinheit des Herzens, die wahre, geistige Schönheit, die Lauterkeit des Gemüths! Können Sie ein solches Bild der allerseligsten Jungfrau festhalten? Können Sie, rückblickend auf Ihr ganzes Leben, von sich sagen: Maria! Mit dir bin ich einverstanden! Du bist es mit mir! Maria hat nichts gegen mich –!?

Lucinde, von Bonaventura geistig geführt wie ein Kind. schlug anfangs ihre Augen nieder. Jetzt schlug sie sie auf, als suchte sie das von ihm geschilderte Bild an den – bunten Stuccaturen der Decke des Zimmers. Ihre Augen leuchteten – aber wie mit irrem Stern . . . Sie schüttelte ihr Haupt . . .

Was trennt Sie von diesem Bilde? fragte Bonaventura mit gesteigerter Innigkeit und eher wie gewonnen durch diese aufrichtige Verneinung, als abgestoßen. – Liegt nicht Ihr ganzer neuer Glaube in ihm? Liegt nicht Demuth, Unschuld, Entsagung, jede weibliche Tugend und Ehrlichkeit in diesem Bilde?

Als wenn die Luft, die Lucinde gestern bei einem solchen Bilde geathmet hatte, sie wieder zu ersticken drohte, so stand sie jetzt auf, machte einige Schritte und sagte, sich dann wieder setzend: Was ich von Maria sehe, ist alles starr und todt und wie von Stein!

Blicken Sie das Bild nur lange, lange an! bat Bonaventura im liebevollsten Ton. Es wird sich beleben! Es wird sprechen, es wird der Sammelpunkt Ihres ganzen Menschen werden! Geht es nicht, steht etwas dazwischen, so werden Sie nichts mehr thun wollen, was nicht auch diesem Bilde gefällt! Sie werden sich 135 vor ihm eine Magd erscheinen, selbst wenn Sie eine Krone trügen! Sie werden Ihren Geist unterdrücken, wo nur Ihr Herz nöthig ist! Sie werden, sogar wenn Sie leiden, sich nicht mit andern in stolze Vergleichung bringen! Und will es nicht so gehen, wie Sie es im Leben gern möchten, immer vergegenwärtigt Maria, was ein Weib erfahren, was ein Weib überwinden muß, ohne sich – zu rächen! Maria – vergibt! O sie vergibt auch Ihnen vieles, denn sie kennt die Schwäche des Weibes; aber sie vergibt nicht alles. Sie würde nicht jede Ihrer Bitten am Throne ihres Sohnes auszusprechen übernehmen! Sie besitzt die Schwäche einer Mutter, sie kann von einem Kinde ihrer Liebe Fehltritt über Fehltritt vernehmen und vergibt ihm; aber in vielen, vielen Dingen verlangt sie eine unbedingte Unterwerfung und ich glaube, dies ganze, ich sage nicht mystische, sondern einem »Spiegel« gleichende Verhältniß zwischen Maria und einem weiblichen Herzen – ich glaube, Sie kennen es nicht und darin, darin liegt Ihr ganzes Unglück –!

Dumpf vor sich hin sprach Lucinde einen Einwand. Bonaventura kannte die Berechtigung dieses Einwandes aus seinem eigenen Leben und empfand ihn jetzt noch mehr, seitdem ihm so nahe bevorstand seine Mutter wiederzusehen. Warum sagte nur Jesus: Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen? hatte Lucinde gemurmelt.

Bonaventura erwiderte: Maria ist keineswegs die letzte Richterin über unsere Seele! Sie ist nur eine Vorstufe zum Gottesthron und allerdings die ihm nächste! Aber ich glaube nicht, daß die Seele jedes Mannes an ihr Urtheil verwiesen ist; sie richtet auch nicht, sie bittet nur. Nur möcht' ich wiederholt wissen: Sind die Sünden und Irrthümer, die Sie mir heute gebeichtet, die eines weiblichen Herzens, das einen innigen Freundschaftsbund mit der allerseligsten Jungfrau schloß? Mir scheint 136 es, daß Sie vorzugsweise Eine reine, wahre Freundschaft schließen sollten, diese mit unserer Mutter Maria! Welch ein unschuldiger, edler, froher Sinn würde Sie plötzlich heiligen! »Maria stand auf, ging eilends über das Gebirge in das Haus des Zacharias und grüßete Elisabeth –« So steht in der Schrift – Und sich unterbrechend, erhob sich Bonaventura wie in innigster Freudigkeit, schlug den Vorhang von einem Büchergestell zurück, suchte eine kurze Weile nach einem Buch, fand es, kam wieder, schlug es auf, blätterte und las eine schnell gefundene kurze Erläuterung über den Gruß Mariens an Elisabeth, den Gruß der Jugend an eine Matrone, über den Inhalt der Rede, die Maria Elisabeth gegenüber wol gehalten haben mochte, über die Darbringung solcher Empfindungen und Seelenstimmungen, die ihr dafür das Wort der greifen Gönnerin eintragen konnten: »Du bist gebenedeiet unter den Weibern!« Bonaventura las diese Betrachtung aus einer Blumenlese geistlicher Erweckungen und wollte keine Erbauung. Er wollte in der That Lucindens Geist anregen, nicht blos ihr Herz. Er wollte ihr die sittliche Schönheit als das Ziel auch einer reinen Phantasie hinstellen. In wärmsten Worten schilderte er den Zustand dieses »Gebenedeiten am Weibe«. Ueberall würde eine Gebenedeite freundlich empfangen, überall wie der kommende Mai begrüßt; in jeden Streit brächte sie Friede, in jedes Leid Trost; ihre Schritte wären gesegnet; wo sie hinträte, und wär' es in die Wüste, blühte eine Blume auf – wie die Jerichorose unter den Füßen Maria's, als sie mit dem Kinde gen Aegypten floh – So deutete Bonaventura die »Jerichorose« – Dann ertheilte er Lucinden einige leichte Bußübungen, ließ sie knieend seinen Segen empfangen und wollte von ihr Abschied nehmen.

Lucinde stand zwar auf, zog ihren Shawl über die Schultern, hatte sich ihren Hut wieder aufgesetzt, schickte sich an zu 137 gehen – sie war jedoch – wie gebannt. Die Glocken der Kathedrale läuteten zu einem Kirchenfest. Schon sechs Uhr schlug es. Wie sie schon nahe der Thür sich befand, die unmittelbar in den Corridor führte, stand sie plötzlich still.

Bonaventura trat hinzu. Er glaubte zu sehen, daß sie sich entfärbte. Was ist Ihnen? fragte er.

Lucinde erwiderte nichts, doch hielt sie sich fest an der Epheulaube.

Bonaventura glaubte, daß ihr unwohl wäre und ging an einen am Fenster stehenden Tisch, auf welchem Wasser stand.

Sie winkte ablehnend und starrte in die inzwischen hereingebrochene Dunkelheit zum Fenster hinaus.

Bonaventura sah, daß sie von seiner Rede, von seinem Zuspruch nicht befriedigt war, daß sie etwas vorhatte und mit sich kämpfte. Doch mied er, noch einmal wieder die Saiten des Seelischen und des Gemüthes anzuschlagen. Er sprach beruhigend von der Lebhaftigkeit der Gegend draußen und stand, als wollte er eines der Lichter ergreifen und ihr auf den Corridor leuchten.

Sie reisen nach Witoborn? begann Lucinde, schon über diese Andeutung, als fürchtete sie vielleicht nur draußen die Dunkelheit, gereizt.

Noch heute –! erwiderte Bonaventura, sichtlich befangen durch ein Wort weitern Gespräches, das nicht durch sein Amt veranlaßt wurde.

Lucinde sah diese Förmlichkeit, diese plötzliche Kälte und hauchte: Schon so bald –! Dabei blieb sie vor dem Epheu stehen und pflückte gedankenvoll ein einzelnes welkes Blatt ab. Wer hätte an dieser Handlung erkennen mögen, daß sich die ganze seit Monaten angesammelte Fülle der Spannung wieder gegen ihre Brust riesig anstemmte und in irgendeiner Weise sich helfen wollte; 138 sie hatte die Befriedigung des Gemüths nicht so gefunden, wie sie gehofft . . . Sie wollte und hoffte ja nur – – Liebe.

In einigen Stunden! sagte Bonaventura, jetzt sogar drängend.

Dieser sein plötzlich immer kälterer Ton reizte sie mehr und mehr und schon war es nur ein Hauch, als die erstickte Stimme sprach: Grüßen Sie – Gräfin Paula –!

Bonaventura antwortete durch ein äußeres Zeichen –

Lucinde fuhr fort, wie bewußtlos in dem Epheu nach welken Blättern zu suchen. Da sie deren nicht zu viele fand, brach sie auch schon die grünen ab.

In Bonaventura's Innerm drängte sich jetzt Unmuth, sogar eine Aufwallung des Zorns, doch suchte er nach Geduld und Selbstbeherrschung.

Paula's Sehergabe soll Wunder wirken! fuhr Lucinde fort, zitternd und nicht von der Stelle könnend. Ich wünschte wohl, Sie frügen sie, was für mich – noch in den Sternen steht!

Das würd' ich die Sterne der eigenen Brust fragen! sagte Bonaventura lächelnd und machte Miene, um Schonung seines Epheus zu bitten. Schon allein das längere Verweilen Lucindens verdroß ihn.

Sie merkte nichts von dem, was sie that. Sie brach Blatt um Blatt, zerknitterte das Gebrochene, warf es weg; sie war im Geiste bald in der Ebene von Witoborn, bald gedachte sie des Picard'schen Auftrags, das Schreiben Leo Perl's abzugeben – Grüßen Sie Herrn von Asselyn. Ihren Vetter Benno! sagte sie – wie spottweise – und nur um zu sprechen und sich – sammeln –

Bonaventura versprach die Ausrichtung dieses Grußes und entfernte sich von dem Tisch, an welchem er stand. Er machte in 139 der That Miene, sich mit höflicher Neigung des Hauptes in sein Nebenzimmer zurückzuziehen –

Lucinde machte sich durch Scherze Muth zum Bleiben und gefiel sich darin, durch das Zerrupfen des Epheus auch die ihr wohlbekannte – Pedanterie der katholischen Geistlichen, die überhaupt mit den Jahren jede ehelose Lebensweise annimmt, bereits an diesem jungen Mann zu constatiren – Schon in St.-Wolfgang hatte sie ihn im Geist früh vergrämeln und verzärteln gesehen – Er soll sich hüten, sagte sie jetzt, Armgart nicht zu schwesterlich zu lieben! Das kann dann so im Ernst kommen! Uebrigens dürfte wol Frau von Hülleshoven, ihre Mutter, Armgart zuvorkommen und einen gewissen Herrn von Terschka wählen –

Bonaventura hörte schon nicht mehr. Seine Entrüstung nahm immer mehr zu und auch sein Kampf; denn jedes Wort, das Lucinde sprach, war ersichtlich nur eine Verschleierung der Rede: Thor, warum umschlingt mich nun nicht dein Arm? Warum lässest du mich jetzt so hingehen, wie ich gekommen bin?! Voll Seligkeit läg' ich – trotz deiner »Maria« – in deinen Armen! . . . Herr von Terschka, fuhr sie, den Epheu zerzupfend, fort, nimmt jede Religion an, welche die schöne junge Frau mit ihren koketten Locken von ihm verlangt! Aber sie hätte die Conversion gar nicht nöthig! Wär' ich in Rom und flüsterte – nur zwei Worte – mit den Cardinälen der Sacra Dataria, sie sollte ohne weiteres geschieden werden –!

Warum scherzen Sie über so ernste Dinge! fragte Bonaventura verdrossen – doch staunend.

Kein Scherz! . . . Ich lernte neulich die Frau kennen! Ihre Seele ist aus heißer Luft gewoben –! Wer möchte glauben, daß auf der Heide von Witoborn solche Blumen wachsen –! Sie kennen ja dies Geschlecht mit dem ewig gleichen Perpendikel 140 des Herzens –! . . . Ein Schlag wie der andere! Bim – bam! Es ist ja wahr – auch – Ihre Heimat ist's!

Bonaventura sah Lucinden ganz so wieder, wie sie sonst und noch zuletzt in seinem Pfarrhause gewesen.

Das muß ich doch noch sagen, ich liebe nur den katholischen Glauben, wenn er die Seele zum Muthe entflammt! fuhr sie in einer Aufregung, die sie nun nicht mehr bemeistern konnte, fort. Ich liebe ihn, wenn er die Menschen aus der Gewöhnlichkeit erhebt und ihnen Flügel gibt! Dort? Dort – ist wirklich alles nur Aberglaube und so vieles, so vieles – auch hier – . . .

Bonaventura, seine vorhergegangene, tief vom Herzen gekommene Ansprache verhöhnt, kalt abgewiesen sehend, athmete hörbar vor immer mehr zunehmender Entrüstung. Schon war Lucindens ganze Hand voll abgerissener grüner Epheublätter. Sie werden auch Schloß Neuhof sehen? sprach sie, noch wie harmlos, aber doch, da sie nun gehen mußte, aller Fassung beraubt –

Ohne Zweifel! sagte Bonaventura kalt.

Auch den Kronsyndikus?

Man erwartet seine Auflösung –

Das bedaure ich –! Ich wünschte, Sie frügen ihn nach seiner zweiten Frau, die noch jetzt in Rom leben soll – Und ob wol die alten – Stammers noch im Parke hausen? – Und Bruder Hubertus – werden Sie – sehen – auch Klingsohr –

Nicht unmöglich . . .

Wenn ich einmal Paula im magnetischen Schlafe sähe, wollte ich sie etwas fragen – Aber es ist ja wahr – Immer, wenn ich an ihr Lager trat, wissen Sie wol noch, hörte – die Posse auf –

Bonaventura stand auf glühenden Kohlen. –

Nur einmal glaubt' ich selbst, daß sie im Traum wahr 141 sprechen konnte – Einmal –! Am Tage Ihrer Weihe! Warum aber thaten Sie ihr das auch!

Der bitterste, schrillste, ja ein frecher Hohn war es, mit dem Lucinde diese Worte gesprochen. Und Bonaventura nahm die Kriegserklärung auf . . . Er ergriff das Licht, ging an die Thür, die zum Corridor führte, und machte die Miene, als wollt' er ihr ruhig hinausleuchten.

Jetzt blieb Lucinde stehen und verwüstete erst recht den Epheu.

Schonen Sie doch diese unschuldigen Blätter! rief er . . .

Lucinde ließ alle Blätter, die sie gerade in der Hand hatte, zu Boden sinken und suchte Bonaventura's Auge.

Der Priester versuchte ihren Blick auszuhalten.

Sie starrte ihn an wie die Walkyre.

Er aber stellte den Leuchter auf den Tisch zurück, um sich aus ihrer Nähe entfernen zu können und ins Nebenzimmer zu gehen. Die Augen niederschlagend und sich den letzten, entscheidenden Rest von Selbstbeherrschung gebend, den er noch solcher Herzenshärtigkeit gegenüber besaß, hauchte er an der Thür des andern Zimmers mit erstickter, aber deutlicher Stimme: Fräulein! Da ich so wenig über Ihren unglückseligen Sinn vermag, so möcht' ich ein für allemal gebeten haben, Sie suchten sich für jeden künftigen Fall Ihres – Beichtbedürfnisses einen – andern Freund – Ihrer Seele –! . . . Eine kurze tödtliche Pause folgte auf dies, sich im Sprechen mildernde, aber mit dem entschlossensten Aufdrücken der Nebenthür endende, kategorische Ersuchen, nie wiederzukommen und sich für immer einen andern Beichtvater zu wählen.

Lucinde verstand das tödtlich entscheidende Wort. Bald auch machte sich ihr Seelenzustand in einem furchtbaren Ausbruch Luft. Kein Lachen stieß sie aus, auch kein Weinen. Es war ein Ton, der sich ihr, als sie an der Thür stand, vom Herzen 142 losriß, ohrzerreißend, von Lachen und Weinen eine Mischung, – erhört für den Priester, der wie in Betäubung stand und – bei alledem sagte: Jetzt oder nie! Es muß ein Ende werden! Nie aber auch von ihm gesehen war, was er jetzt sehen mußte. Lucinde lag am Boden, hingestreckt wie eine Leiche – dicht an der Thürschwelle lag sie wie leblos – völlig starr – beide Arme lagen zu ihren Häupten weit ausgestreckt, ihr ganzer Körper wie gelähmt –

Erst wollte der zum Tod Erschrockene sich dennoch entfernen. Dann mußte er bleiben. Der Gedanke, Lucinde wäre an einem plötzlichen Krampf erstickt, erfüllte ihn mit Entsetzen. Er beugte sich zu ihr nieder, rief sie an, ergriff ihren rechten Arm, der wie gefühllos herniederhing, der Hut lag im Nacken, der Shawl war ihr von den Schultern geglitten, kein Glied mehr bewegte sich – Erst als sich Bonaventura erhob, an den Tisch eilte, wo das Wasser stand, sein ganzes Taschentuch eingetaucht hatte und zurückkehrte, um ihr die Stirn und Schläfe zu befeuchten, regte sie sich und suchte aufzustehen. Sie lehnte dabei seine Hülfe ab, drückte ihren Hut fest und hinein in die Worte der Bestürzung, die er sprach, erhob sie ihre Stimme, faltete die Hände, blieb in ihrer knieenden Stellung und rief: Maria –! . . . Ja, ich wage es doch, dich anzublicken –! . . . Gib mir Kraft, mein Loos zu ertragen, wie du das deinige ertragen hast! Sieben Schwerter durchbohrten deine Mutterbrust und du sahst dennoch die Herrlichkeit deines Sohnes –! Dann sprang sie auf, riß ihren Hut herab, stand wie wahnsinnig, erhob den Arm und flüsterte heiser: Auch ich werde sie sehen! Gott hat die Zukunft meiner Liebe, das Glück und die Lebensruhe des grausamsten aller Menschen in meine Hand gegeben –! Dabei bebten durch die blendenden Zähne hindurch die von ihr 143 wiederholten Worte Bonaventura's: »Einen andern Freund Ihrer Seele –!«

Vielleicht würde Bonaventura in einem Versuch leidlicher Aussöhnung von Lucinden geschieden sein, wenn ihn die räthselhaften Worte, die sie sprach, nicht aufs neue erschreckt und der furchtbar betonte Sinn der Drohung, der in ihnen lag, nicht befremdet hätten –

Ja, sagte sie wie geisterhaft zu dem sie Anstarrenden, das hat Gott in meine Hand gegeben! Wie Ihr Schatten werde ich Ihnen durch Ihr Leben folgen dürfen – Herr – von Asselyn!

Wahnsinnige! rief Bonaventura aufs neue ermuthigt.

Ja, setzte sie lachend ihre Rede fort, ich bin die Ursache, daß das Grab erbrochen wurde, in welchem der letzte Begleiter Ihres Vaters bestattet war –

Bonaventura horchte auf und starrte ob dieser neuen Gedankenreihe.

Ich, ich kenne den Verbrecher! Ich, ich besitze, was er im Sarge gefunden hat!

Wie – Sie besitzen – was ich seit jeder Stunde –?

O, keine Verletzung der Beichte! unterbrach sie bitter höhnend . . . Ich kenne den Verbrecher ohne Ihre Andeutung! Mir gab er, Ihnen das Gefundene einzuhändigen. Der Muth des Mannes regt sich in Ihnen? Sie glauben, mir das Geheimniß entreißen zu können? Wohlan! Suchen Sie! Mit allen Häschern der Erde! . . . Sie finden Ihr Lebensgeheimniß nicht . . . das halte Ich!

Bonaventura, in äußerster Verwirrung, sprach zitternd durcheinander: Lebensgeheimniß? Ich kenne – den Haß – dessen Sie fähig sind – aber Sie dürfen beruhigt sein – Durch die Gerichte werd' ich diesen Haß nicht nähren – und seine teuflischen Werke nicht abwenden –

144 Schmeicheln Sie? hohnlachte Lucinde. Wandeln Sie dahin, wohin Sie Ihr Geschick ruft! In die Thäler, auf die Berge! Lassen Sie die Mitra auf Ihr Haupt setzen, wie Paula prophezeite – ich habe das Geheimniß, Sie in jeder Stunde des Tages, in jeder der Nacht – an mich zu erinnern!

Ich fürchte dich nicht! Dämon! Was könntest du besitzen?

Ein Bekenntniß –!

Von meinem Vater? Er ist die Liebe selbst!

Nicht von Ihrem Vater –!

Von meinen Angehörigen? . . . Meiner Mutter?

Nicht von Ihrer Mutter –!

Die Ehre meines Namens befleckt kein Bekenntniß der Erde!

Freilich nicht die Ehre Ihres Namens!

Die Ehre eines Angehörigen? Ha, meines Vetters Benno?

Lucinde stockte, dann sprach sie: Auch das nicht!

Lucinde! Ich habe Sie zu allen Zeiten einen Teufel nennen hören! Sind Sie denn wirklich ein Bote der Hölle –?

Ein Mann im rothen Haar saß in Ihrem Beichtstuhl! antwortete sie kalt auf diesen fast bittenden Ton. Er bekannte Ihnen, daß er eine Schrift in lateinischer Sprache gefunden. Fürchten Sie nicht, daß ich die Hülfe eines Andern in Anspruch zu nehmen hatte, um sie zu entziffern – Ich erzählte Ihnen ja heute, von wem ich alles – Latein gelernt –! Lucindens Stimme zitterte so, daß man gezwungen war, in ihrem Auge nach einer Thräne zu suchen.

Betrifft die Schrift – –? fragte der Gefolterte. Aber er wußte selbst nicht mehr, in welchen Verhältnissen er forschen sollte. Dunkel war ihm ja nur außer dem Tode seines Vaters – Eine, Eine geheime Stelle in seinem Innern – sein – Beruf selbst –!

Nichts betrifft die Schrift, was Sie hindern kann, alle 145 Prophezeiungen von Westerhof wahr zu machen! fuhr Lucinde fort und faßte sich allmählich. Werden Sie Bischof, Erzbischof, setzen Sie sich die dreifache Krone aufs Haupt –! Ein Wort von mir entwerthet Ihr ganzes Dasein! Ein Wort von mir nimmt Ihrem Segen die Kraft! Ein Wort von mir, und was Sie blühend glauben, muß verwelken, was Sie für die Ewigkeit geschaffen wähnen, muß untergehen –!

Wahnsinn! Wahnsinn! rief Bonaventura außer sich.

Dann sprechen Sie das Wesen Ihrer Kirche aus – erwiderte sie und wollte gehen . . .

Meiner? Ihrer – unserer – Kirche!? . . . Die Urkunde hängt mit unserm Glauben zusammen?

Mit unserm Glauben! . . .

Mit der Wahrheit – des Glaubens?

Mit dem ganzen – ganzen Bau der Kirche!

Ein Hohnlachen schien ringsum von den Wänden widerzuhallen.

Bonaventura wandte sich, um sein Bewußtsein nicht zu verlieren. Die Stirne brannte ihm. Die zitternde Hand fuhr über die düstern Furchen hin und wischte gleichsam die Vorstellungen hinweg, die sich auf ihr wie ersichtlich zu sammeln schienen. Schon wieder die kaum beruhigte Seele in Aufruhr versetzt? Schon wieder eine Mahnung des Zweifels? Wieder das Herz im Tumult wie damals, als aus Italien der räthselhafte Brief gekommen, der ihm von Fehlern der Kirche, von Huß, Savonarola, Arnold von Brescia gesprochen? Und wie er sich wandte, um sich in Güte mit Lucinde zu verständigen, sogar sein hartes Wort: Sie sollten sich einen andern Beichtvater suchen! zu mildern, mehrte sich sein Entsetzen – Lucinde war verschwunden . . .

Die Stelle, wo sie noch eben, wie »ein Bote der Hölle«, gestanden, war leer. Das Auf- und Zugehen der Thür, nichts 146 hatte er in seinem Schrecken und der tiefsten Verlorenheit in sich selbst vernommen. Sie war nicht mehr da. Selbst, als er die Thür aufriß und in die hellerleuchteten Corridore blickte, fand er nirgends mehr eine Spur.

Nun war alles wie ein Traum. Seine Geister rasten . . . Wahnsinniger! riefen sie ihm . . . Was trotzest du mit deiner Tugend? Was mordest du dich und andere? Trittst Blüten der Menschlichkeit mit Füßen und gewinnst nur blutige Dornen dafür? Bist du nicht ein Thor mit deinem entsagenden Herzen! Lügst du nicht selbst, indem du einem Mädchen, das dich liebt, nur – um einer andern Liebe willen kalt erscheinst, einer Liebe, die, verboten wie sie ist, in deinem Herzen thront? Thor, der du den erquickenden, berauschenden Trank der Leidenschaft nicht zu kosten wagst! Wagst? Ha, ein Schatten, ein Schatten bist du selbst, ein Spiel der Täuschung! Ein Gedankenschemen ohne Wahrheit! Ein mit bunten Kleidern behängtes Nichts! Ein Mensch ohne Leben, ohne Zeugniß für den Schöpfer, der dir den Athem seines eigenen zeugungskräftigen Daseins in die Seele blies –! O, wäre sie doch geblieben, riefen jetzt die Leidenschaften in ihm fort und fort, eine Secunde noch, vielleicht wäre die Maske gefallen und das Spiel, das erheuchelte, zu Ende gewesen! Der Welt hätt' ich, und wenn im Arme eines Teufels, gerufen: Unmöglich, unmöglich ist die Kirche, weil unser Priesterthum unmöglich ist!

Zwischen dieser rasenden Nachwirkung einer in Liebe und Haß gleich bestrickenden Frauenleidenschaft jammerte es tief wehmuthsvoll in ihm: Was kann sie von dir besitzen? Was wissen? Von deinem Vater? Von uns allen –?

Noch kämpfte es in seinem Innern, als dann schon wieder manche Mahnung an seinen Beruf sich ihm näherte, manches Wort von ihm mechanisch gesprochen werden mußte, Renate kam, 147 ihm plauderte, ihm Fragen stellte, die er beantwortete, ohne zu wissen wie –

Dann sah er den Hauswart, sah seine Koffer holen und in den Wagen tragen, mit dem er zur Post fahren wollte –

Abschied nahm er von Renaten, von seinem Zimmer, von seinen Büchern, von seinem zerstörten Epheu, dessen zerrissene Blätter vor ihm dalagen – wie seine Ideale –! Im Hof fand er den Wagen, in welchen er einstieg, geschmückt mit bunten Kränzen, hoch den Sitz mit Blumen belegt. Er sah Männer mit Fackeln, die ihm Abschied sprachen, Frauen, die mit den Taschentüchern wehten. Als er dann durch das große Portal fahren wollte, umringte ihn ein Chor von Knaben, die ihn mit einem Lobgesang begrüßten. Er erkannte die Kattendyks, seine Beichtkinder, Trendchen Ley, sogar, im Scheine hochgehaltener vierflammiger Kirchenlaternen einen kleinen Mann, schwarz und weiß angethan, Herrn Jean Baptiste Maria Schnuphase, der eine feurige Rede hielt – Auch die Frau in silbernen Locken schien ihm an einem Pfeiler zu stehen und sinnend und träumerisch ihm nachzublicken.

Ringsum öffneten sich jetzt die Fenster im Hofe und die sonst so grämlichen alten Bewohner des Hauses – ihm waren sie freundlich, ihm lächelten sie Abschied und frohes Wiedersehen! Denn, wie Klingsohr gesagt hatte, »die göttinger Ritter des Guelfenordens fühlten die Transfusion des jungen Blutes in ihren Adern«. Der junge Domherr, leichenblaß, sprach der zahlreich versammelten Menge Worte des Dankes, Worte der Wehmuth – Was er sprach, sprechen konnte, stand mit dem Schmerz des Abschieds im Einklang – So kam er grüßend, handwinkend auf die Post, wo von allen Blumen nur ein kleiner Strauß zurückbehalten wurde, den er in den engen Postomnibus mitnahm, welcher von hier zu dem kleinen Stückchen schon 148 benutzter Eisenbahn fuhr. Unmittelbar mit eigenem Fuhrwerk zur Eisenbahn zu fahren, war eigentlich niemanden gestattet, der später mit der Schnellpost, nicht wie Piter im letzten Herbst vorgegeben hatte, mit Extrapost weiter wollte. Im Posthof mußte man sich sammeln und dort wurden sogar die Namen aufgerufen –! So war das Ghibellinenthum jener Zeit. Präcis, geordnet, ganz nach dem militärischen Geiste Grützmacher's und Schulzendorf's, und wie Thiebold de Jonge bei den Freunden Piter's berichtet hatte, der Generalpostmeister (zugleich Bundestagsgesandter) sprach einst das historisch gewordene Wort gegen Einführung der Eisenbahnen: »Mit solchen Neuerungen hört die Ueberwachung der demagogischen Umtriebe auf« –! Benno's Kampf lag eben in diesem unvermittelten Gegensatz so vieles Hochherrlichen am Ghibellinen- und so manches Hochherrlichen doch auch am Welfenthum. Wie sehnte sich Bonaventura nach dem Geist eines Dritten, das über diesen Gegensätzen versöhnend schwebte –! Er fuhr von dannen – tief unglücklich –; das Räthsel nicht nur des Grabes von St.-Wolfgang, das Räthsel der Welt im Herzen.

 

Ende des vierten Buchs.


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