Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. IV. Buch
Karl Gutzkow

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34 8.

Die Worte der geistesstarken jungen Frau, die Widersprüche zweier Pole im Katholicismus – die größte Abhängigkeit und eine eigenthümliche achtungswerthe Freiheit – hatten Lucinde in alle Gedankenreihen gestürzt, die ihr oft schon und vorzugsweise über Serlo's Memoiren gekommen waren. Aber mehr, mehr als alles, was sie zu einer würdigen Denkerhöhe, zu welcher auch sie Berechtigungen in sich trug, hätte emporheben und ihr den oft bitter errungenen, aber tiefinnerlich beglückenden Stolz, in solcher Höhe wie Alpenhäupter einsam zu stehen, erhaben über die alltägliche Denkweise der Menge, hätte einflößen können, quälte sie ihr eigenes Geschick. Paula – Bonaventura – Hildegard – der Benedictiner Gottfried – alles das überwältigte und lähmte jeden Versuch eines Aufschwungs –

Ein großer Unterschied – der zwischen Monika und Lucinden! Monika liebte das Gute um des Guten willen. Den meisten der Gesichtspunkte Lucindens fehlte Ernst und Festigkeit und das Gute liebte sie nur, weil in den meisten Fällen das Gute auch das Klügere ist. Monika entsagte schon lange dem Leben und stellte sich entschieden auf sich selbst. Lucinde suchte immerfort einen Anhalt. Nicht von Hause aus saß in ihrer Brust der Neid, aber er nistete sich mit der Zeit durch ihr Unglück ein. Die Unglücklichen sind neidisch; sie werden sich immer sagen, daß sie sich ebenso berechtigt glauben dürfen zum Glück wie die 35 Glücklichen. Seltene, Edelste deines Geschlechts, ich habe dich lieb, ich bewundere dich, nimm mich in deine Freundschaft auf! Das zu Monika zu sagen, vermochte Lucinde nicht. Sie fühlte die anziehende Kraft dieser Frau, sie sah ihr liebliches Kind in ihren Zügen wieder und doch hätte sie nicht einen Schritt thun können, ihr mehr zu huldigen, als ihr Geist verdiente. Die von Monika kundgegebene Geringschätzung der katholischen Lehren würde sie weniger gestört haben.

Schon auf der Treppe zu Delrings hinauf, wo sie etwas von Piter zu erfahren hoffte, lachten sie die gewöhnlichen Larven ihres Innern an und verleumdeten »die Frau in silbernen Locken«: Sie ist mit ihrer Familie zerfallen! Sie hat unter den Vorurtheilen derselben zu leiden! So jung noch, so schön, und sie soll entsagen! Herr von Terschka ist ihr Anbeter! Vielleicht gar Graf Hugo! Was sprach sie nur von Castellungo? Von den Waldensern, die auch damals – den Hedemann so interessirten –? Rein und gläubig war in ihrem Sinn nichts. Nur wo sie unbedingte Liebe und Hingebung fand, wie bei Trendchen, legte sie die Waffen nieder.

Im obern Stock schien alles wie ausgestorben. Der lebendige und rauschende Abend hatte auch die Delring'sche Dienerschaft angezogen und Trendchen mochte zum Thee genügt haben. Lucinde hielt ihre Kleider, um sich durch das Rauschen derselben nicht hörbar zu machen. Oben fand sie alle Thüren offen. Sie schlich sich näher. Das Ehepaar schien noch nicht zur Ruhe gegangen. Trendchen war nicht zu finden. Delrings befanden sich ohne Zweifel in dem kleinen Boudoir, wo das Piano stand und die verhüllte Madonna. In das leise geöffnete Wohnzimmer blickte Lucinde. Noch brannte hier eine Astrallampe, die, von einem dunkelrothen papiernen Tuberosenkranz gedämpft, ein magisches Licht auf Bücher und Nähwerk fallen ließ. In 36 der hier herrschenden Stille lag ein geisterhaftes Etwas, gleichsam als lebte schon das Kind, das mit sich so vielen Kampf und nach Lucindens Meinung unnützen Streit auf die Welt brachte. Aber die Stille wurde gespenstischer und gespenstischer. Die Lauschende erschrak. Ihr alles vom Gegentheil auffassender grausamer Sinn sah das erwartete Kind statt in der Wiege – schon auf der Bahre. Sie fuhr zurück, als wehte sie ein Eishauch des Todes an.

Um Trendchen zu finden, mußte sie hinterwärts, dem Hofe zu. Alle Zimmer waren hier dunkel. Endlich kam sie furchtsam und erschreckt an Trendchen's Kammer an, die sie rasch und wie Hülfe suchend öffnete.

Unfehlbar hätte sie jemand, der drinnen war, hören müssen, so leise sie die Thür auch aufklinkte. Trendchen aber, die wirklich drinnen war, lehnte sich gerade zum Fenster hinaus, weit, weit hinaus; sie hätte in den Hof fallen können. Erschrocken trat Lucinde näher und wollte sie am Sturze hindern.

Trendchen klammerte sich mit der linken Hand am Fensterrahmen fest und jetzt sprach sie sogar hinaus. Nun zog sich Lucinde zurück in die dunkle Vorkammer.

Herr Kattendyk! Herr Kattendyk! wisperte Trendchen zu den Fenstern Piter's, in welchem sich ein leiser Lichtschimmer entdecken ließ. Jetzt kehrte sie vom Fenster zurück und sprach mit klagender Stimme zu sich selbst: Jesus Marie! Er verschläft den ganzen herrlichen Abend –!

Ein dumpfes Gemurmel von Menschenstimmen ließ erkennen, daß unten die Thür zur Verbindungstreppe mit den Zimmern Piter's offen stand, vielleicht der Hitze wegen. In diesen hintern Zimmern wurde gespielt.

Lucinde kämpfte mit sich, ob sie Trendchen belauschen oder mit einem plötzlichen: Guten Abend! erschrecken sollte. 37 Trendchen's Angst schien sich zu mehren, als sie an die Verbindungsthür trat, die seit einigen Monaten für immer geschlossen war. Der Schlüssel steckte, so viel Vertrauen hatte ihr Madame Delring geschenkt; aber die Thür zu öffnen war ihr streng verboten. Nun seufzte sie: Er ist nicht in der Gesellschaft. Er schläft! Jesus Marie Joseph! Und kein Mensch kümmert sich um ihn!

Sie liebt ihn wirklich! sagte sich Lucinde mit einem vornehm herabblickenden Mitleid.

Kein Mensch kümmert sich um ihn! wiederholte Trendchen halb weinend. Und der Abend geht vorüber, der sein Stolz sein sollte! Was macht man nur –! Am offenen Fenster rief sie wieder: Herr Kattendyk –! Drüben blieb alles still. Licht war im Zimmer, das sah man.

Lucinde sagte sich: Wenn ich einmal eine recht gute Handlung in der Welt begehen will, so soll es die sein, dich, es koste was es wolle, zur Frau Piter Kattendyk zu machen –! Das Lachen, Reden, Tellerklappern, Gläserklingen von unten her nahm immer mehr zu.

Trendchen faßte einen Entschluß. Sie trat an die Thür, sah durchs Schlüsselloch, erfaßte den Schlüssel, drehte entschlossen einmal, zweimal um, drückte die Klinke auf und herein strömte eine blendende Lichtfülle, strömte in die matterhellte Kammer so strahlend, so feenhaft festlich, daß Lucinde unwillkürlich wieder in die Vorkammer zurückhuschte.

Trendchen wagte sich vorwärts. Die Fülle des Lichts fiel auf ihre angstbleichen schönen Züge. In Anmuth hob sich lichterhellt die liebliche Gestalt von dem dunkeln Vordergrund ab. Auf den Zehen schlich sie an die Thür Piter's, die von innen durch einen Drücker, von außen durch einen Schlüssel zu öffnen war, einen Schlüssel, der leider nicht steckte. Tiefseufzend öffnete sie das Corridorfenster, lehnte sich auch da weit hinaus und 38 räusperte sich laut, um hörbar zu werden. Dann rief sie wieder: Herr Kattendyk!

Für Lucinden war dieser Beweis der Liebe Trendchen's ein Genuß. Noch viel länger hätte sie jetzt lauschen mögen. Sie hatte die Absicht, nach einer Weile hervorzuspringen und sie zu küssen. Sie war in Trendchen verliebt; diese – kritisirte sie doch nicht! Und Trendchen's Lebenslage glich so sehr der ihrigen in ihrer ersten Jugend. Nun aber wollte sie, um Piter zu wecken, ernstlich Lärm machen.

Eben kehrte Trendchen zum Schlüsselloch zurück und wisperte die ängstlichsten und dringendsten Rufe. Da tönte vorn in den Delring'schen Zimmern eine Klingel; sie wurde zwar nur einmal, doch laut schallend gezogen. Wie der Blitz schoß Trendchen an Lucinden vorüber und verschwand mit einer Schnelligkeit, die es unbegreiflich machte, wie sie zu gleicher Zeit noch die Thür ihres Zimmers anziehen konnte. Ehe Lucinde sich über die Störung hatte orientiren können, war sie im Dunkeln; auch das Licht Trendchen's war vom Zuge ausgegangen.

Lucinde wäre gern in diesem Dunkel geblieben – mit sich allein – mit dem Chaos in ihrer Brust. Der Befehl der Commerzienräthin war jedoch zu entschieden. Sie öffnete und wollte an Piter's Thür stark pochen. Der Lichtschimmer in seinem Zimmer fing an immer matter und matter zu werden. Das offene Fenster störte sie. Sie war in bloßem Halse und hocherglüht.

Eben, wie sie das Fenster schloß, hörte sie von unten her das leise Betreten der Corridortreppe. Da sie nichts zu fürchten hatte, drückte sie Trendchen's Thür zu und wollte sich ans Werk machen, in allem Ernst zu entdecken, ob der »junge Herr« anwesend war oder nicht.

Da sprach von der untern Treppe eine männliche Stimme 39 herauf: Fräulein, was haben Sie denn nur für ein Interesse, uns allen den Abend zu verderben?

Es war die Stimme des Oberprocurators.

Lucinde wandte sich, tieferbebend.

Nück stieg eine Stufe höher.

Ihr Herr Schwager verschläft den Abend, der sein eigenes Werk ist! sagte sie und suchte nach Unbefangenheit. Sie hoffte, Nück würde gehen.

Nück stieg aber höher und sprach: So wird er, wie hier auf Erden jedes große Genie, auf seinen Nachruhm angewiesen sein!

Wir erleben aber von ihm die heftigsten Vorwürfe, fuhr Lucinde sich ermuthigend fort – Es benahm ihr den Athem, dies Näherkommen und Alleinsein mit dem gefürchteten Manne – Frau Commerzienräthin hat mich auch beauftragt, ihn auf alle Fälle zu rufen! setzte sie tonlos hinzu.

Wenn er nun aber hier nebenan gefesselt sitzt bei dem kleinen Mädchen, dessen Schutzengel Sie geworden sind –? Nück stand mit diesen schmeichlerisch betonten Worten oben und vertrat Lucindens, in dieser lichthellen Einsamkeit vollends blendender, Erscheinung den Weg, als sie kraftlos wieder bei Piter anklopfen wollte. Bitte! Bitte! sagte er höchst sicher und ruhig. Wirklich! Lassen Sie den albernen Burschen träumen! Beschämungen sind zuweilen eine gute Cur und ohne ihn geht alles noch einmal so gut. Er würde das Leben der heiligen Hildegard viel besser gewußt haben, als die kleine überspannte Frau – nicht wahr?

Lucinde war wie gefangen durch die immer entschiedenere Annäherung. Sie wußte schon nicht, wie sie entkommen sollte.

Sie fliehen vor mir? rief er ihr nach, als sie an ihm mit rauschendem Kleide vorüberhuschte, und suchte sogar ihre Hand 40 zu haschen – Selbst eine Rose, wie Sie, muß duldsam sein für jeden Wurm, der aus ihrer Blüte Duft saugen will! sprach er mit einem funkelnden Blicke.

Ja! sagte Lucinde mit gepreßter Stimme und vor Angst scherzend und auf seine graue, unfestliche Kleidung deutend. Ein Wurm sind Sie! Ein rechter Actenwurm!

Mädchen –! rief Nück wie im plötzlichen Sichselbstvergessen, dann aber sich mäßigend. Er war wie um zehn Jahre jünger geworden durch dies tête-à-tête. Seine dunkelbraunen Augen leuchteten. Am Geländer der Treppe mußte er sich halten, um sein aufgeregtes Zittern zu verbergen. Das wußt' ich doch, sagte er und vertrat ihr wieder den Weg, daß Sie das nicht sind, was Sie bisher geschienen –

Ha! wallte Lucinde sich besinnend auf und stand still wie nach der Bedeutung dieses Wortes fragend. Allmählich gewöhnte sie sich an das gehörte Wort und gedachte ihrer äußern Erscheinung, die Nück wol nur gemeint haben konnte und die heute allerdings eine festliche war. Ja sie erglühte, da sie ihren Schatten sah und die Locken, die in ihrem Nacken wogten. Erfuhren Sie das – von –? sagte sie bei alledem mit erwachendem Muthe und deutete abbrechend auf die Straße hinüber.

Von wem? fragte Nück staunend und unschuldig wie ein Kind. Seine Augen schossen zwar einen durchbohrenden Pfeil auf die Fragerin, die ihrerseits im Ton angedeutet hatte, was sie über die Frau vermuthete, die sie zur Chocolade eingeladen; doch zugleich lag etwas um Vergebung Bittendes in seinem Tone. Endlich, wie ein Jüngling, der zum ersten mal von Liebe spricht. sagte er leise und zitternd: Lucinde! Ich bete Sie an!

Lucinde sah einen Mann vor sich, der aller Welt an Willenskraft und Macht ein Riese erschien. Ihr gegenüber schien er ein Kind, die Demuth selbst. Laut lachte sie auf mit jenem hellen 41 Lachen, das ihr nie schön gestanden. Seit Monaten hatte sie nur in Trendchen's Gegenwart und für sich allein so lachen können.

Befehlen Sie über mich! Strafen Sie mich! Gebieten Sie mir etwas! Ja, ich bin Ihnen Genugthuung schuldig für mein gewagtes Wort! sagte Nück und bot die Hand der ihn Verhöhnenden.

Lucinde hatte das Bedürfniß, ihr spottendes Lachen wieder gut zu machen. Fast scherzend und schon wie um ihn festzuhalten sagte sie, sich rasch auf die von Veilchen Igelsheimer erhaltene Mahnung besinnend und ihren Vortheil nutzend, nutzend auch dahin, um vielleicht Klingsohr irgendwie für immer aus ihrer Lebensbahn wegzuschaffen: Ganz recht, Herr Oberprocurator! Sie können mir einen Gefallen thun! Sie kennen doch den Mönch – Sebastus?

Ihren ehemaligen Verlobten, Doctor Klingsohr –

Lucinde hatte diese Wendung nicht erwartet. Sie brach erblassend ab und wollte gehen. Es war doch ihr Fluch, daß ihr überall die gespenstische Vergangenheit entgegentreten mußte –! Aber Nück vertrat ihr den Weg, streckte die Arme aus und hauchte leise, wie zerflossen von Inbrunst und Leidenschaft: Mädchen! Was fliehst du! Ich kenne ja dein ganzes Leben!

Lucinde blickte ihn finster und von der Seite an, indem sie die Thür zu Trendchen's Zimmer fest in der Hand behielt. Sie bot ein Bild des Schreckens, der Entrüstung und – jener Schönheit, die dem Charakter eigen ist.

Rolle deine gewitternden Augen nicht! sprach Nück. Lache nicht über mich – mich, den Narren im grauen Haare –! Pater Sebastus . . . Ja, ganz recht! Dem geht es schlecht! . . . Was wünschen Sie, Fräulein Schwarz, daß ich für ihn thue –? So sprang er wieder in einen ganz gewöhnlichen Ton der 42 Artigkeit zurück, hielt diesen Ton aber nicht lange fest, sondern hauchte sogleich hinterher: Angebetete! –

Lucinde hatte sich in ihre Lage gefunden und fing an sich zu beherrschen. Warten Sie nur, sagte sie, nun weiß ich etwas was eine Dame, die fortwährend über Hitze klagt, endlich abkühlen wird –! Sie sagte das so voll Uebermuth, so voll Frivolität, daß Nück neue Hoffnung schöpfte. Mit elegischem Blick sprach er: O das war – grausam!

Sein Blick dabei gen Himmel wollte ein ganzes verfehltes Leben malen. Lucinden graute vor diesem Blick. Es war gar kein menschlicher mehr. Was kann ich für den Mönch thun? fragte Nück sich sammelnd –

Kann man ihm nicht die Freiheit geben?

Die Rückkehr in sein Kloster?

Lucinde stockte. Sie wollte sagen: Gerade das vielleicht am wenigsten!

Sie sind an ewige Gelübde nicht gewöhnt! sprach er. Es wird ihm besser sein bei Pater Ivo und Bruder Hubertus – Oder – Ja! Ganz recht, Sie wollen ihn nicht gern in der Gegend von Witoborn haben! Nicht bei Schloß Westerhof, wohin Sie Ihre ganze Sehnsucht zieht –! Wallen Sie doch nicht auf, Fräulein . . . Gut! Erst erfahren wir, ob er entfliehen will? Will er wieder Protestant werden? Nein! Oder was? Weltpriester? Er hat die Weihen nicht! Halt! Das ginge! Das würde ihn aus Ihren Bahnen schaffen –! Blitzt es schon wieder? Wie schön steht Ihnen dieser Zorn –! Mädchen –! Gut, nach Belgien schicken wir ihn, wie ich manchen dahin schicke, Alte und Junge! Sie verstehen? Er darf sein Ordenskleid wechseln, falls er – Jesuit werden will! Lassen Sie ihn nach Lüttich gehen! Dann sind Sie ihn los – Bleiben Sie aber doch! Warum zürnen Sie mir denn! – Lucinde! – Ich besorge 43 alles! Empfehlungen, Wagen, Pferde! Nach Lüttich! Nicht wahr? Nicht nach dem Düsternbrook, wo Sie ihn zum ersten mal sahen? O, o – ! –

Lucinde folgte allen diesen Reden in höchster Aufregung. Bald stand sie auf der Flucht, bald wieder wie gebannt von dem dämonischen Manne, der ihr ganzes Leben kannte und so tief in ihrer Seele las.

Nück fuhr fort: Allerdings! Dieser Mann könnte sich noch besser bewähren, als nur durch Betteln! Soll ich ihn nach Rom schicken? Auch da findet er eiserne Gitter – denn in ein Gefängniß muß er! Büßen muß er für eine solche Flucht! Das ist die Stufenfolge – auf seinem Calvarienberge des Lebens! Ein lebhafter Briefwechsel hin und her, lange Läuterung, lange Prüfung – aber besser, er setzt sich die viereckige Jesuitenmütze auf und predigt, besser, als bei den Barfüßern verkümmern – Fragen Sie ihn, ob er zu den Jesuiten will? Ich besorge alles . . .

Lucinde sprach sinnend und des Mannes staunend: Ich werde – Ihnen schreiben –

Schreiben! In Zeiten, wie die jetzigen, schreibt man nicht!

So schick' ich – zu Ihnen –

Schicken! In Zeiten, wie die jetzigen, kommt man selbst –!

Lucinde fuhr zurück; denn Nück trat mit einer Keckheit auf sie zu, daß sie jetzt alles hätte abbrechen müssen. Darum beherrschte er sich und flüsterte: Mädchen! Mädchen! höre mich jetzt! Du hast in der Welt nichts unversucht lassen wollen! Versuche noch eines! Die Liebe solcher Männer, zu denen ich gehöre! Wir zählen einundfünfzig Jahre, aber unsere Leidenschaft zählt geradezu neunzehn. Wir geben nur, wir opfern nur! Wir markten nicht mehr, wir lieben nicht mehr um unserer Eitelkeit willen, wie – – dein Oskar Binder liebte! Ha! Sei 44 klug, Mädchen. und erschrick nicht ewig – vor dir selbst! Sei, was du bist! Das Bedürfniß der Hingebung ist am Mann nie reiner, nie aufrichtiger, nie selbstloser, als wenn alle Hoffnungen und Illusionen schon hinter ihm liegen! Lucinde! Ich baue dem Glück, das Sie mir gewähren, ein goldenes Haus! Niemand soll es sehen – in Lüften soll es schweben, wie die Hütte von Loretto! Wollen Sie anderes? Befehlen Sie! Ich breche mit allem, was Sie stört, thue alles, was Sie bedingen! Reisen wir? Nach Paris? Nach Rom? Nach Mekka! Ich bete Sonne und Mond an, wenn du es verlangst, göttliches Mädchen!

Lucinde hatte die Thür in der Hand, um sie zu öffnen; sie wollte entfliehen –

Bleibe –! rief Nück außer sich.

Sie wandte sich. Da fuhr sie entsetzt zurück . . . Wie sie in des wilden Mannes Augen sah, waren diese plötzlich ein einziger weißer Glanz. Die Augäpfel sah man nicht.

Nück, den unheimlichen Eindruck, den er machte, ahnend, bestätigte ihn, indem er tonlos sprach: Ja! Ich bin unglücklich!

Wieder hatte im untern Stockwerk Musik begonnen. Man sah, daß in dem Zimmer Piter's eben das Licht ganz erloschen war. Die unten geführten Gespräche hörten auf. Hier oben war man nun ganz allein.

Lucinde sprach zitternd und in Rücksicht auf die nun entstandene Stille kaum vernehmbar: Ich muß zur Gesellschaft!

Nück gab sie nicht frei. Ebenso leise flüsterte auch er: Sie lieben, Lucinde, ich weiß es –

Die Musik kam vom Spiel auf dem Flügel. Lucinde dachte, sie müßte vergehen. Man hätte den Schlag ihres Herzens hören können.

Sie lieben einen Menschen, der ein Gott ist! fuhr Nück flüsternd fort. Das wird Sie nicht glücklich machen!

45 Lucinde hielt sich, um nicht zusammenzubrechen.

Warum verschwenden Sie Ihre Kraft, Ihre Jugend, Ihren Geist an diese Schwärmerei? Sie lieben ein Phantom, Sie lieben Serlo's Geist – zucken Sie doch nicht vor meiner Kenntniß Ihres Lebens, die sich meine rasende Leidenschaft verschafft hat –! Es sind ja keine Dolchstiche, die ich gegen Sie führe! – Serlo's Geist, der in einem neuen Körper wohnt – Hat dieser Priester etwas von Serlo? Ich wünschte, Serlo's Geist spräche Ihnen aus dem meinigen oder hab' ich nichts mit ihm gemein? . . . Sie schütteln Ihr schönes Haupt? . . . Diese schönen Locken! . . . Lucinde! Was wollen Sie in diesen Verhältnissen? Schwingen Sie sich auf! Wissen Sie, daß – Sie eine große Rolle spielen könnten? Daß die Väter der Gesellschaft Jesu thatkräftige Freundinnen brauchen? Wollten Sie denn nicht schon damals an unserm Kreuzzuge theilnehmen, als mir Beda Hunnius über Sie geschrieben? Hassen Sie nicht auch diese numerirten Knöpfe und bunten Achselklappen? Diese kluge, durchsichtige, polizeiliche Welt? Ein Sturm wird über die Erde kommen und sie in ihren Grundfesten erschüttern! Verbünden Sie sich uns doch ordentlich! Wenn nicht in der Liebe, dann im Hasse! Ja! Du kannst hassen, Mädchen! Mehr, als lieben! . . . Siehst du, wie dich das traf! Lachen mußt du jetzt? . . . Hör' es, hör' es! Ich habe immer eine Fackel in der Hand, um noch einmal die Welt in Brand zu stecken! Kannst du Gift mischen, Mädchen?

Für Fliegen!

Kannst du stehlen?

Kirschen!

Falsch schwören?

Lernt sich von euch Männern!

Falsche Handschriften machen?

46 Lucinde verstand kaum noch sein immer gedämpfteres Flüstern –

Wenn ich nun Paula zwänge den Grafen Hugo zu heirathen und dann dein Gott nicht mehr mit dieser seiner Liebe straucheln könnte?

Das verstand Lucinde und blieb starr –

Wenn sich nun die Urkunde fände, welche die Erbberechtigung des Grafen Hugo ausschließt! Wenn adelige Conduite mit sich brächte, daß Paula dem Getäuschten in Wien dafür ihre Hand gibt, wodurch sogar eine Conversion zu hoffen ist – der Mann folgt ja dem Weibe –! Und wenn dann Paula nicht in ein Kloster ginge, nicht mit Herrn von Asselyn die mystischen Nähe seraphischer Liebe feierte, wie die Heilige von vorhin mit dem Benedictiner Gottfried? Ja, wenn vielleicht deine eigene Hand, Mädchen, im Westerhofer Archiv –

Bei diesen, von Lucinden deutlich verstandenen, gierig aufgesogenen, sie mit halber Besinnungslosigkeit erfüllenden Worten trafen plötzlich zwei Thatsachen zusammen, die sie bestimmten, einen nur mühsam unterdrückten Schreckensschrei ausstoßen zu wollen. In seiner Sinnenglut hatte sich Nück Lucinden so genähert, daß nicht nur wieder seine Augen völlig weiß erschienen, sondern auch unter dem weiten weißen Tuche, das seinen Hals bedeckte, ein anderer Anblick sie schaudern ließ. Rings unter der Binde ging ein blutrother Streifen hin, der sie sofort an Hammaker's That erinnerte. Und in demselben entsetzlichen Augenblick, in der offenbaren Aufforderung zu einem Verbrechen, gab es auch unten eine lärmende Unterbrechung des Klavierspiels. Was ist? hörte man wie aus Einem Munde rufen. Dann folgte ein lärmendes Durcheinanderlaufen, ein Klingeln, ein Schreien im Hofe und zugleich von der Straße her ein Dahersprengen von Cavalerie.

Nück horchte auf und ordnete rasch die Binde an seinem Halse. 47 Ein Alarm! wandte er sich. Da der Lärm zunahm, bedeutete er Lucinden ruhig zu sein und beugte sich horchend über die Lehne der Treppe. Das Dahinsprengen der Cavalerie wurde lebhafter . . . Lucinde stand kraftlos . . . Ohne ein anderes Wort zu sprechen, als: Auf morgen, Freundin! Klingsohr geht nach Belgien! Morgen! Schicken Sie nur! Schreiben Sie nur! Thun Sie – thun Sie, was Sie wollen und was Sie wünschen! Ich unterziehe mich allem, aber Vergebung, Vergebung jetzt – meine Freundin! Und – Wiedersehen –! entfernte sich Nück über die Stiege und ging schneller nach unten zurück, als er gekommen. So plötzlich ward ihm seine Selbstbeherrschung, daß Lucinde starrte, ihn so verschwinden zu sehen, als wäre nicht das Mindeste hier oben geschehen, am wenigsten eine Aufforderung zum Stehlen und Fälschen.

Sie schwankte in Trendchen's Kammer zurück. Diese war ohne Licht. Halb ohnmächtig sank sie auf Trendchen's Bett. Wol eine halbe Stunde mochte sie so gelegen haben, besinnungslos, allem Erlebten nachdenkend, unbekümmert um den Lärm um sich her, auch um den auf der Straße, der sich seit November so oft wiederholte, als endlich Trendchen erschien, mit einem Licht in der Hand. Jetzt erst entdeckte sie Lucinden und war nicht wenig erschrocken, sie hier und wie krank zu finden. Wissen Sie denn nicht –? fragte sie erregt.

Lucinde antwortete nichts –

Trendchen erzählte, daß die ganze Gesellschaft auseinander wäre. Schon wäre am Marsthor geschossen worden. Die beiden Handwerkervereine lägen in blutigem Streit. Das ganze Militär stünde schon unter Waffen. Jetzt wäre es ruhiger, wenigstens könnten die Wagen wieder durch und die geängstigten Herrschaften abholen. Die meisten hätten sich zu Fuß davongemacht. Unten wäre niemand mehr.

48 In der That war auf der Straße und unten alles ruhiger. Lucinde erhob sich und sagte: Ich wollte den jungen Herrn abrufen! Seinen ganzen Abend scheint er verschlafen zu haben! Da kommt der Joseph! Weckt ihr ihn jetzt! Er schläft gewiß! Gute Nacht, Trendchen!

Sie entfernte sich und schwankte dahin wie ein verstörter Geist. Joseph hatte ihr ein Licht gegeben. Sie ging, halb wie Psyche mit der Lampe vom schlummernden Amor, halb – wie Lady Macbeth vom ermordeten Duncan.

Mit dem Joseph kam dann auch noch der Hausknecht. Unten gingen die Klingeln der Commerzienräthin und Johannens. Man klopfte an Piter's Thür. Jetzt erfolgte Antwort. Er erschien. Piter hatte geschlafen. Er orientirte sich, brach in Staunen, in Zweifel, noch einmal in Zweifel, dann in Verwünschungen aus, in Schwüre um Rache am ganzen Menschengeschlecht und zunächst an seiner Familie. An die Möglichkeit dessen, was »ihm passirt war«, vermochte er anfangs gar nicht zu glauben.

Trendchen behielt den meisten Muth und die meiste Fassung. Sie ging Piter leuchtend voraus, half bei der Zurückstellung der Speisen, beim Auslöschen der Beleuchtung. Da die Commerzienräthin von einem Fieberanfall gesprochen, unterstützte sie dann die Bedienung derselben in ihrem Schlafgemach. Ueber Piter konnte sie der Mutter Beruhigung geben. Zu den »etwa Erschossenen« gehörte er nicht. Er hatte nur »seinen eigenen Abend« verschlafen –!

Halbtodt war Piter darum doch und um ihn her sah es aus wie auf einem Leichenfelde. Der Ueberblick unserer aus festlichem Schmuck zur Alltäglichkeit zurückkehrenden Wohnräume hat ohnehin etwas Gespenstisches. Piter aber glich einem marodirenden Adler auf einem Schlachtfelde. Alles war vor dem ersten Ausbruch seiner Wuth geflohen. Es konnte nicht zweifelhaft sein, daß er seine Eröffnung der Wintersaison, die 49 Honneurs, den Empfang der Frau von Hülleshoven, zum Gelächter der Stadt, verschlafen hatte. Da lagen die Noten, da stand noch der Kasten mit der Baßposaune, da waren Lichter niedergebrannt, da gab es die vorausgesehenen Oelflecken, silberbeschlagene Korke lagen auf den Tischen, die Stühle waren in Unordnung, der gebohnte Fußboden mit Staub bedeckt und ohne Glanz, die Oefen erkaltet – die Früchte seiner Saat hatte man ohne ihn geerntet.

Er raste und suchte ein Opfer –! Messer sah er liegen und ergriff eines – dann schleuderte er's fort; wieder aber nahm er's, denn eine Stimme hinter ihm her sprach von einem Aufruhr. Ha –! . . . der Sprechende rannte von dannen. Der Hausknecht war es; er hatte den Schmerz des Kutschers anbringen wollen, der als Garderobier in dem lärmenden Aufbruch ohne Trinkgelder geblieben war.

Endlich aber kam über Piter eine tiefe Beschämung, ja sogar eine Wehmuth. Ach, er sah aufgedeckt die große Verschwörung der Menschen gegen seinen Verstand, sein Herz, seinen Fleiß, seine Thätigkeit, seine Autorität, seine bloße Existenz als Mensch! Er ergriff einen der Klingelzüge, um zu läuten, als sollten die Todten zum Jüngsten Gericht erstehen. Dann aber besann er sich und es fing ihn an leiser und leiser zu frösteln. In den Spiegeln sah er ein kreideweißes Antlitz, eine weiße Halsbinde, eine weiße Weste, einen neuen Frack und das war Er. Diese Gewißheit erfüllte ihn mit einem Gefühl, als sprächen tausend Stimmen: Schon manchen Jammer nach einem Trinkgelag hast du erlebt, aber noch nie einen solchen, wie heute, nach so wenigen Gläsern Cognak, nach so kleinen Nippgläsern, die so verderblich wirken mußten, blos weil ihnen – große geistige und physische Anstrengungen vorangegangen! Wo waren seine Anekdoten hin, die er aus dem »Demokritos« auswendig gelernt! 50 Wo seine witzigen Antworten, zu denen die Fragen zu provociren er soviel Schlauheit anwenden wollte! Zuletzt überkam ihn selbst ein Lächeln. Es war dies jenes Lächeln, wo der Mensch bei aller Eitelkeit zuweilen nicht umhin kann, sich komisch vorzukommen. Wir verrathen nur nicht dies Lächeln besonders oft. Aber es kommt zuweilen. Es ist dann die Folge der Erkenntniß, daß andere Menschen manchmal nicht so Unrecht haben, wenn sie unsere Handlungen einer Kritik unterwerfen, die uns plötzlich selbst keineswegs mehr bestochen vorkommt. In diesem Lächeln ließ Piter den Klingelzug seiner Hand entgleiten und versparte sich das »Jüngste Gericht« bis auf den folgenden Morgen. Er hoffte auf den ermuthigenden Eindruck, den ihm die Helle des Tages machen würde.

Nun hätte er viel darum gegeben, hätte er jetzt noch das einzige Wesen bei sich gehabt, das ihm nicht widersprach und dem Er nicht widersprach. Er schlich sich still in die hintern Zimmer zurück, ahnte das morgen ihn überschüttende Gelächter seiner Freunde, die ihn so ignoriren konnten, ja er sagte sich: De Jonge – der, der wäre der einzige honnete Mensch gewesen, der mich vermißt hätte! Mußte auch gerade de Jonge fehlen –! Nun ging er über die knarrende Stiege ganz mit den Empfindungen, die jener Held hatte, der da gesprochen: »Was sind Pläne, was sind Entwürfe –!« Und auch ihm wurde es wie Melodram, als er seufzend sich unter seine Decke streckte: »Süßer Schlaf! Du lösest die Knoten der strengen Gedanken. Eingehüllt in gefälligen Wahnsinn, versinken wir – und – hören – auf – zu – sein!«

Ringsum war alles still. Auch im Hofe. Die Lichter erloschen. Am spätesten erlosch das Licht an den Fenstern, wo Lucinde wohnte.


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