Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. IV. Buch
Karl Gutzkow

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Achtes Bändchen.

1 7.

Die Baßposaune hatte bereits unter den rauschendsten Acclamationen das berühmte Spohr'sche Lied an die Rose geblasen und ein stürmisches Dacapo veranlaßt. Auch die enormen Schwierigkeiten der Arie »Ocean, du Ungeheuer!« waren von einer alle Wände und Stockwerke durchschneidenden Stimme überwunden worden. Lange war es über neun Uhr. Das Eis kam bereits und – noch immer saß Lucinde in ihrem saubern Zimmer mit dem kleinen Porzellanofen, mit dem weißen Sopha und dem geheimnißvollen Bettschirm, ohne daß sie sich hatte entschließen können, in die menschenüberfüllten Räumlichkeiten zu treten.

Athemlos war schon einmal die Commerzienräthin gekommen und hatte sie wie im Sturm ermahnt, endlich nun doch, endlich zu kommen, da alle Welt schon nach ihr vor Verlangen »brenne«. Zweimal war auch Johanna dagewesen, einmal sogar begleitet vom Außerordentlichen, der die »Jerichorose« um ihre Kenntniß der lateinischen Sprache ebenso wie um ihre Botanik bewunderte; Lucinde kannte die Kräuter des Waldes, die Bach- und die Wiesenblumen. Ein schöner Strauß, den ihr Trendchen verehrt hatte, lag zu ihrem Eintritt in die Gesellschaft bereit. Auch die Frau Oberprocurator Nück, die schon im Hause hin- und herrannte – nur nicht hinauf in den stillen obern Stock zu ihrer Schwester! – um sich, wie sie sagte, abzukühlen von dieser »wieder 2 unerträglichen Hitze« in den Zimmern – sie war die erste, deren Liebe nach Piter suchte, nämlich um ihm Vorwürfe zu machen –, auch Josephine Nück war bei dem »guten Fräulein« gewesen mit der Mahnung, doch nun baldigst gleichfalls zu kommen; denn sie entbehrte zu schmerzlich die Bewunderung, die das Fräulein über ihre Toilette aussprechen sollte; ein Bedürfniß, das nicht im mindesten auch den Tadel ausschloß. Ja Josephine hörte es gern, daß sie einen Fehler gemacht hätte mit dieser Farbe oder mit jenem Besatz oder mit jenen gemachten Blumen, die z. B. auf ihrem Kopfputz sich nicht gut ausnähmen oder ihrem so leicht echauffirten Teint nicht stünden. Dann hatte sie doch einen Grund für ihre gesellschaftliche Verstimmung und für das Gefühl, sich vernachlässigt zu sehen. Dann konnte sie doch in einer Ecke, nicht am Ofen, sondern dicht am Fenster, das sie zuweilen öffnete, mit dem Fächer in der Hand sitzen und über ihre Putzmacherin und über ihre weibliche Bedienung klagen, als wär's nur eine Verschwörung aller Welt und vorzugsweise ihrer eigenen geschmacklosen Umgebung, wenn sie nicht ebenso brillirte, wie die jungen Frauen und Mädchen alle, die da lachend und bunt und schönheitsstrahlend in den belebtesten Gruppen saßen.

Zu ihrer innigsten Freude und Dankbarkeit nahm Lucinde ihr sogleich von den Schläfen ein Uebermaß von Blumen weg, führte sie an ihren kleinen Spiegel, beleuchtete sie und bewies ihr, daß sie sich nunmehr viel vortheilhafter ausnähme. Einer jetzt nunmehr noch mit dem Ausdruck der Dankbarkeit wiederholten Aufforderung, doch nun bald zu kommen, erwiderte sie ein einfaches: Ich komme, ganz gewiß! – und doch entsank ihr der Muth, als sie allein war.

Nicht der religiöse Grund, den sie seither alle Tage gegen diese Gesellschaft vorgeschützt hatte, bestimmte sie – sie stand, an 3 ihren Ofen gelehnt. bereits in vollständigster Toilette. Trendchen hatte sie geschmückt wie eine Braut – etwa wie eine Braut, die sich zu einer Zeit vermählt, wo sie um irgendeinen Anverwandten zu trauern hat. Ihr Kleid, bestehend aus einem leicht wallenden aschgrauen Stoff mit reichem schwarzen Spitzenbesatz, war ein Geschenk der Commerzienräthin. Das dunkelbräunliche Incarnat der offenen Arme und des Halses wurde durch diese Farbe gemildert, die auch ihre ganze, einer Creolin nicht unähnliche Erscheinung minder scharf hervortreten ließ. Das Haar war einfach nach vorn getheilt; nach hinten sammelte es sich in zwei schweren runden Flechten, die in Kreisform aufgebunden, von einem schwarzen Sammetgewinde bedeckt waren. Unter den beiden Rundungen der Flechten quollen hinter jedem Ohr bis in den Nacken vier Locken hervor. Es war zum ersten male wieder, daß Lucinde sich wie seit lange nicht gegeben hatte; sie hatte es in der Gewalt, aufzufallen oder ganz zurückzutreten. Der reiche Spitzenbesatz am obern Rande des Kleides erlaubte, in bloßem Halse zu erscheinen. Auch war der obere Arm halb von einem offenen Spitzengehänge verdeckt. Eine kleine Juwelenschnalle aus einem schwarzen Sammetband bedeckte den Hals – ein Weihnachtsgeschenk der Frau Oberprocurator. Ein Armband von einem als Schlange ausgearbeiteten blutrothen Korallenzweige, reich mit Goldverzierung, hatte zu Weihnacht sogar Piter geschenkt. Silbergraue lange Handschuhe lagen auf der Sophalehne. Schon waren sie von ihr anprobirt und wieder ausgezogen worden. Trendchen hatte einmal schon Lucinden bis an den Eintritt in den Saal begleitet und wieder war sie zurückgegangen. Trendchen durfte aber oben beim einfachen Thee ihrer Herrschaft nicht fehlen; sie mußte Schlag acht Uhr von ihrer Gönnerin sich trennen und konnte ihr: Bitte! Bitte! Gehen Sie doch! Die Menschen werden Augen machen! nun nicht mehr öfter wiederholen.

4 Die Furcht, die Lucinden zurückhielt, unter »all die Menschen« zu treten, beruhte auf dem Gefühl, daß sie sich in einer Weise elektrisirt und angeregt fühlen würde, die ihrer ganzen bisherigen Haltung und wahren Stimmung widersprach. Nur mit Noth erwehrte sie sich schon lange dieser und jener Huldigungen. die bei dem regen Verkehr im Kattendyk'schen Hause nicht fehlen konnten. Blicke, die sie verfolgten, gab es im Personal des Bureau; unter Piter's Freunden, in den Kirchen, auf der Straße erregte sie Aufsehen. Oft auch schon meldete sich in ihrem Blut die Zeit von Hamburg und Kiel. Nicht, daß sie eine gewöhnliche Gefallsucht gehabt hätte, nicht, daß ihre Sinne glühten – ihre Sinne schienen kalt. Ihr erster »Kindskopfwahn«, wie sie ihn nannte, welcher sie hatte bestimmen können, mit Oskar Binder nach Amerika gehen zu wollen, hatte ihr eine ganze Gattung von Männern verleidet. Wenn sie sich sagen mußte: An welchen Fäden hing doch schon oft deine Zukunft! und sie sich gestehen durfte, daß sie in alle diese Lagen fast ohne Bewußtsein und nur wie von einem Instinct der Selbsterhaltung und einer Hohes aus Eitelkeit anstrebenden Zukunft geführt wurde, bangte ihr vor dem Gedanken, je wieder so nahe an Abgründe zu treten. Klingsohr, dessen dauernde Anwesenheit in dieser Stadt, dessen mögliche Beziehung zu Bonaventura sie oft in Verzweiflung brachte, Klingsohr war ihr ein Phantast gewesen. Die merkwürdige Erscheinung, daß jene Verirrung, welche Klingsohr beinahe rettungslos dem Trunk zugeführt hätte, mit einer Abneigung gegen Frauen verbunden zu sein pflegt, zeigte sich schon in Kiel, wo Klingsohr moralisiren konnte. In jener schauerlichen Nacht auf Schloß Neuhof bestanden seine Zärtlichkeiten im Knieen wie vor einem Gnadenbilde, im Küssen der Locken, des Kleides, in Eingebungen einer Phantastik, die seinem Wesen entsprach, dem Leben nicht in der Wirklichkeit, sondern im Erträumten und Schattenhaften. Jérôme 5 von Wittekind berührte Lucinden nie. Sie war ihm eine Erscheinung aus dem Reiche der Märchen. Klingsohr's Entmannung, wie wir seinen Zustand nennen möchten, war nicht die Verrücktheit des tollen Kammerherrn und des Paters Ivo, nicht die Empfindung glühender, nur sich beherrschender Liebe, sondern das Bedürfniß, das er mit seinen hamburger Freunden theilte, sich aus den Trümmern der Unschuld ein letztes »reines Gnadenbild«, eine Madonna, eine Laura, eine Beatrice zu erhalten, ätherisch und unentweiht.

Lucinde fürchtete sich vor einer so rauschenden Gesellschaft, weil in ihrem Innern ein Vulkan tobte. Sie glaubte nicht länger sich verleugnen zu können. Unterdrückte sie auch seit Monaten ihren Spott, ihren Humor, selbst ihre Kenntniß des Pianos, nur um nicht in Versuchung zu kommen, ein stürmisches Allegro zu spielen, so wußte sie doch, was in ihrer Brust wuchs und wuchs und ausbrechen mußte und was nicht länger zu halten war. Daß man immer mehr ihrem vergangenen Leben nachspürte, erkannte sie es; erfüllte sie aber auch schon lange mit dem Gelüst, sich vertheidigen zu wollen. Halt nur an dich! sagte sie sich oft und das aus Furcht, daß sie plötzlich so nicht mehr fort konnte. So andächtig besuchte niemand die Messe, so für unwürdig der Communion erklärte sich niemand (freilich mußte sie sich den Genuß derselben versagen, da sie seit der geschilderten Scene nicht wieder beichtete), so sittsam blickte niemand nieder auf der Straße, so bescheiden äußerte sich niemand in Gesellschaft, so geringschätzend sprach niemand von seinen Ansprüchen auf Anerkennung, so gelassen gab sich niemand einer etwaigen Anspielung auf sein früheres Leben preis. Sprach man selbst bei Frau Walpurgis von jener schönen Stadt mit den Wachparaden und den berühmten Wasserkünsten, ja sogar von dem dortigen Aufenthalt der ermordeten Frau von Buschbeck, von bösen 6 Dienstherrschaften, von leichtsinnigen jungen Commis, von dem dunkeln Geiste, der auf dem Hause Wittekind-Neuhof ruhte, von dem Mönche Sebastus, der immer noch in der Stadt verweilte und das alte Profeßhaus der Jesuiten nicht verlassen durfte, von seinem Vater, dem Deichgrafen, vom abermals gefangenen Küfer Stephan Lengenich, von einer nahe bevorstehenden Auflösung des Kronsyndikus, vom Stiefvater des Domherrn von Asselyn, ja von Hamburg, Kiel und plauderte sogar einmal der »gemüthliche« Pötzl von einer Schauspielerin Namens Constanze Huber, die irgendwo vor einigen Jahren die Jungfrau von Orleans nur bis zum dritten Act durchgeführt hatte – was war ihr alles das! Sie saß – und nähte – oder las dabei – sie erhob sich auf jeden Wunsch der Commerzienräthin oder Johannens, ließ ihr goldnes Kreuz wie unachtsam aus der Brust gleiten und sprach mit leiser und zurückhaltender Stimme von geistlichen Exercitien, von jener Wallfahrt, welche die Commerzienräthin für die glückliche Entbindung ihrer Tochter Hendrika und die rechtgläubige Taufe ihres Enkelkindes gelobt hatte. Mit Beredsamkeit sich vertheidigen, gewährt oft ein schönes Schauspiel; mit Beredsamkeit sich anklagen, kann ein noch schöneres sein; schweigen aber, schweigen, um sich zu vertheidigen, ist Heldengröße und schweigen vollends, schweigen, um sich anzuklagen, Märtyrerglorie –

In Lucindens Mienen lag: Was sind alle diese Vergehen, deren ihr mich anklagt, wenn die Seele, wie der Rhein, der unter dem Bodensee hindurchzieht, aus geringen und unbedeutenden Anfängen wieder nach kurzer Läuterung und dann wie groß und majestätisch hervorbricht! Sie that, wie nur aus der Fremde in die Heimat gekommen, aus der Lüge zur Wahrheit, aus dem Irrthum zur Erkenntniß. In der großen Gemeinschaft ihrer Kirche durfte kein Gläubiger zu dem andern sagen: Deine Vergangenheit schändet dich! Die Tages- und Jahresgebete, 7 die Abendandachten, der Rosenkranz, der englische Gruß, die Anbetung des allerheiligsten Sakraments, das heilige Meßopfer, alles das ist eine Kette, die zu Leibeigenen Gottes und durch das Erlösungswerk zu Kindern seiner Liebe macht! Lucinde kannte diese Formeln. Sie waren für sie an und für sich – todt; sie belebten sich aber – im Hinblick auf eine Entscheidung, die ihr endlich doch wol »kommen mußte« – Nun wollte der Mann, den sie ein Jahr lang in der Stadt, wo sie katholisch geworden, angebetet, den sie zwei Jahre vergebens zu vergessen gesucht hatte, den sie in St.-Wolfgang, in Kocher am Fall und hier mit den glühend wieder aufschlagenden Flammen des Herzens wiedersah, nach Westerhof reisen – zu Paula! Sie wußte das seit einigen Tagen und da hatte sie erklärt, ihr fehle die Stimmung zu dieser Gesellschaft. Gebeten hatte man sie, sich zu überwinden. Wol stand sie in ihrem kleinen, schon von ihr und Trendchen sofort wieder aufgeräumten Zimmer wie ein Wesen, das bei so auffallender Erscheinung nicht schüchtern eintreten konnte. In der That riß es und zog es auch an ihr, die Wahrheit ihrer Natur zu enthüllen. Wie hob sie's, den gesenkten Kopf zurückzuwerfen, zu lachen, die acht schönen Locken im Nacken zu schütteln, die freie, gescheitelte Stirn zu erheben, statt Wehmuth um die Lippe, Stolz und Bitterkeit zu zeigen, aus den Augen das Feuer einer unter der Asche drohend noch glimmenden Leidenschaft hervorbrechen zu lassen –! War sie nicht wie auf der Flucht? Wie gehetzt von Gespenstern? Nie, nie liebt' ich diesen Klingsohr, der jetzt vielleicht hier gegen mich zeugt! Das hätte sie in die Welt, in die Messe hinausrufen mögen, wenn sie Bonaventura celebrirte. Sie las im »Kirchenboten« des Beda Hunnius, mit dem sie ihre Correspondenz nach der Katastrophe des Kirchenfürsten hatte abbrechen müssen, die »Stufenbriefe«; Klingsohr schrieb sie allerdings nur für Lucinden. Es waren Empfindungen, wie sie an 8 Heloise'n Abälard, nach der ruchlosen That seiner Feinde, geschrieben haben konnte. Aber wenn nun Bonaventura nach Westerhof ging! Nach Schloß Neuhof, Kloster Himmelpfort, wo ihre volle Vergangenheit mit ihm zusammentreffen konnte! Täglich mußte sie hören von der »Sehern von Westerhof«! Selbst Benno konnte nicht in Abrede stellen, daß ganz vernünftige Menschen von Paula's Visionen und Heilungen mit Bewunderung sprachen. Jetzt wollte Bonaventura nach St.-Libori reisen und – darüber war kein Zweifel – einen Seelenbund erneuern, der fürs Leben geschlossen wurde, wenn Paula, wie man vermuthete, nach dem Verlust ihres Processes den Schleier nahm. Lucinde kannte die Glückseligkeit, die den heiligen Franz von Sales mit Frau von Chantal vor und nach der Stiftung des Ordens der Visitandinen verband. Sie wußte, daß Fénélon, der sanfteste der Priester, Seelenbündnisse mit Madame Guyon und Fräulein von Maisonfort hatte. Sie wußte, daß selbst der strenge, so trockene und pedantische Bossuet von einer Frau von Cornuan, deren Geistesbildung etwa der der Commerzienräthin Kattendyk gleichgekommen sein mußte, in einer Weise belästigt wurde, die zuletzt, trotz alles von dieser Frau ihm verursachten Aergers, ihm zum Bedürfniß werden konnte, also, wie Lucinde gelegentlich bitter vor sich hinsprach – ebenso gut wie die Ehe war –! Ein vom Außerordentlichen einmal gesprochenes Wort, nun würde mit dem Domherrn von Asselyn aus Schloß Westerhof der wahre »Doctor ekstaticus« erscheinen, machte sie vor Eifersucht zittern. Das war an dem Abend, als sie die »Jerichorose« genannt wurde. Stündlich stand sie auf dem Sprunge zu Bonaventura, um ihm zu rufen: Reise, aber erst morde mich!

Nach jener schmeichelhaften Bezeichnung hatte sie zum ersten mal gewisse durchbohrende Blicke des Oberprocurators verstanden, eines Mannes, vor dem sie sich anfangs entsetzt hatte. Er war 9 ihr doch gewesen wie ein Gebilde von Eis. Alles an ihm scharf, kantig, schneidend. Aber ein Sonnenstrahl nach dem andern fiel auf diese Erscheinung und ließ sie immer mehr im Regenbogenfarbenlicht, wenn auch wie aus tausend Eiskrystallen, leuchten. Das ist ja ein merkwürdiger Mensch! sagte sie sich. Und als sie alles vernommen, was die Welt von Dominicus Nück wußte, als sie ihn vor Gericht den Mörder vertheidigen sah, der ihm selbst schon einmal hatte ans Leben gehen wollen, als sie den Blick beobachtete, mit welchem Nück die vielbesprochene Prise verweigerte, erschien ihr seine Häßlichkeit, sein Cynismus, seine Charakterkraft geradezu interessant und überraschend. Er war nicht mehr jung, war häßlich – aber Klingsohr's Narben im Antlitz hatten sie nie gestört. Sie war in die düstersten Lebenslabyrinthe eingedrungen. Sie wußte. daß jener in Serlo's Papieren erwähnte Advocat, der nicht zu entfernt gestanden beim Strafgericht des Bruders Hubertus über den Pater Fulgentius, der hingerichtete Mörder ihrer »Hauptmännin« war. Schaudernd überliefen sie die Rückerinnerungen an alles, was sie schon von den Verirrungen des menschlichen Geistes in Erfahrung gebracht. Oft stand ihr wieder die Leichenschminkerin mit Blumen vor einer Todten und redete: Bist du nun auch erlöst, du armes Weibchen? Lache doch, lache, du armes Kind, das zu gut für diese Erde war –! Diesem Nück konnte Lucinde seit der »Jerichorose« nicht mehr begegnen, ohne daß es ihrem Innersten war, wie dem Knaben im Erlkönig. Sie sah sich fortgerissen in Nacht und Wind und stieß vor einer Hand, die unsichtbar sie umfing, einen Hülferuf aus; ein »Leids« war ihr schon »angethan«, ein so tiefes Weh, daß nur das einfache Vorüberstreifen des grauen Mannes an ihr, sein Blick zu ihr empor nöthig war, um sie einer Ohnmacht nahe zu bringen. Gespenstisch war allein schon die Stille, die eintrat, wenn sein magisches Wesen vorübergezogen.

10 Schon seit mehreren Tagen war ihr seltsam gewesen, daß eine Frau, die immer höchst elegant gekleidet neben ihr in der Messe auf einem der gemietheten Stühle kniete, sie anredete, am Tage darauf sie sogar verfolgte auf einem Gange, den sie in die Rumpelgasse machen wollte. Eine Jüdin, Namens Veilchen Igelsheimer, hatte in den ehrerbietigsten Ausdrücken an sie geschrieben, sie kenne, wie sie wisse, den Pater Sebastus. Der Aermste säße, krank und elend und zwar um ihretwillen, in einer Haft, aus welcher ihn weder die jetzt machtlose geistliche Behörde erlösen könnte, noch die weltliche erlösen wollte; ob sie nicht ihre einflußreichen Verbindungen, besonders die Fürsprache des Oberprocurators Nück in Anspruch nehmen wollte, um vielleicht den Unglücklichen freizubekommen oder ihm wenigstens die Rückkehr nach dem Kloster Himmelpfort zu ermöglichen, worein die weltliche Behörde der vielen Untersuchungen wegen, in welche auch Pater Sebastus verwickelt wäre, nicht willigen wollte, oder ob sie vielleicht sonst etwas zur Erlösung des Armen ersinnen könnte; sie möchte ihr die Ehre gönnen und sie unter ihrem armen Dache besuchen. Dieser Brief hatte Lucinden vollends aufgeregt – Auch Klingsohr zurück nach Kloster Himmelpfort? Zugleich mit dem ihm vielleicht schon lange nahe stehenden Bonaventura? O daß eine Vergangenheit auf dem Weibe so furchtbar lastend ruht –! Sie hatte die Zuschrift der Jüdin mündlich beantworten wollen. Da war ihr die fremde Dame nachgegangen und ermuthigt durch die verdächtigen Umgebungen der Rumpelgasse, sprach sie Lucinden in einer Weise an, die diese so erschreckte, daß sie ihren Vorsatz, die Jüdin zu besuchen, aufgab. Die Frau sagte ihr Schmeicheleien über ihre Schönheit. Sie lud sie zu sich ein, forderte sie sogar auf, bei ihr sofort Chocolade zu trinken. Lucinde wies die Frau zurück, deren Absicht sie vollkommen verstand. Wer stellt dir denn nach? Wer verdächtigt dich –?

11 Heute plauderte Trendchen nun noch gar von einer offenbar ganz gleichen Bekanntschaft, die auch sie mit einer sie verfolgenden Frau gemacht hatte. Trendchen erzählte, der fromme Pfarrer Rother, der die Frau vor seinem Hause auf sie warten gesehen, hätte ihr jede Beziehung zu ihr verboten. Auch wäre sie seitdem von ihr unbehelligt geblieben.

Warum gehst du nur so oft zu diesem Pfarrer? fragte Lucinde sinnend.

Denken Sie sich, das fragte mich neulich jemand anderes auch! Der Herr Oberprocurator –! Die Pfarrei vom Berge Karmel liegt frei auf dem Platz und wie ich oben beim Pfarrer bin, zeigt er mir in der Ferne noch einmal die Frau, wie sie an einer Ecke gerade mit dem Oberprocurator spricht –

Mit – Nück –?

Mit Herrn Nück! Und heute früh begegn' ich ihm und da sagt' ich ihm, daß ich so gern bei den Damen auf dem Römerwege bin, weil ich meine Geschwister im Waisenhause habe –

Lucinde hörte kaum der Erklärung zu; denn Nück, Nück im Gespräch mit jener Frau – das sagte ihr alles. Dies Bild weckte ihr eine Vorstellung, die sie eiskalt überlief. So unwürdig denkt der Mann –? Gehört auch er zu jenen Bemitleidenswerthen, bei denen es eine unheilbare Krankheit geworden zu sein scheint, an Frauentugend nicht glauben zu können? Muß es nicht elend in einer Seele aussehen, die vielleicht ein mächtiges Bedürfniß nach Liebe hat und davon nur den trügerischen Schein auf solchem Wege finden kann –? Oder stellt man dir Fallen und wiederholt sich der alte Unglaube an das, was du dir doch – »bei alledem«, konnte sie selbst hinzufügen – noch rein bewahrt hast –? Da kam denn Josephine Nück und Lucinde mußte sich sagen: Freilich, ein Mann von Geist und Leidenschaft 12 und ein solches Weib –! Düstere Falten zog die Stirn, die sich nun unter dem rauschenden Gewühl heiter und sorglos zeigen sollte.

Nachher hatte noch Trendchen so viel zu erzählen von der großen Begebenheit des Hauses, dem Zank mit Delring, daß von diesen dunkeln Gegenständen das Gespräch abkam. Lucinde mochte die »obere Gesellschaft« bei Delrings nicht. Hendrika Delring verrieth sehr deutlich die Abneigung aller Frauen gegen sie, eine Abneigung, die Lucinde für einen Beweis der »Gewöhnlichkeit« erklärte. Delring war ihr der Repräsentant jener »blonden« norddeutschen Weise, die ihr soviel Schmerzen und Demüthigungen bereitet hatte. Sie stellte ihn in die Reihe der hamburger »Respectabeln«; sie vermied seine »kalten« »wasserblauen« Augen, die ganz den Tausenden von Augen glichen, vor deren tugendhafter Kritik sie sich einst, nach dem Tode Jérôme's von Wittekind, in des Herrn Nikolaus Carstens und seiner plattdeutschen Schwestern Sommerwohnung, drei Tage lang hatte verbergen müssen. Endlich war sie eine Convertitin und dadurch schon allein für Herrn Delring unangenehm.

Das Rufen und Klingeln und der zunehmende Lärm im Hause unterbrach zuletzt alles weitere Gespräch Lucindens mit Trendchen und dann mit sich allein. Sie brach endlich alles, was sie bestürmte, ab, faßte sich Muth, zog ihre Handschuhe an, nahm ihr Bouquet und schlüpfte in das vordere Zimmer, wo im lebhaftesten Gespräche Herren standen, die sogleich Chaine machten, um die überraschende Erscheinung hindurchzulassen – –

Der erste, der sich der hohen Gestalt »erbarmte« – Erbarmen kann man wol die erste Begrüßung und Anrede eines in menschenüberfüllte Räume Neueintretenden nennen – war der alte Pötzl, der die beiden Bologneserhündchen, die auch selbst bei dieser Gesellschaft nicht fehlen durften, unterm Arm hielt. Auch 13 der Medicinalrath, ein quecksilberner kleiner dicker Herr, sprang hinzu und nun wäre alles zurückgewichen vor dieser königlichen und fremdartigen Gestalt, wenn nicht Frau Nück, die am feucht beschlagenen Fenster saß, sie erblickt und sogleich nur für sich in Beschlag genommen hätte, um sie hinter den Gardinen zu fragen, ob sie – noch immer »so echauffirt« aussähe –? Ein Flor von Jugend und Schönheit und Pracht der Toiletten war zugegen. Dennoch machte Lucinde einen Eindruck, der die Aufmerksamkeit aller auf sie gezogen haben würde, wenn nicht gerade jetzt der Stolz der Stadt, das berühmte Moppes'sche Quartett, intonirt und die Stimmung des Flügels mit einem angegebenen Accord in Einklang gebracht hätte.

Alles rannte, um zum Sitzen zu kommen. Die Krystalle in den Kronleuchtern wackelten vor solchem Sturm. Alles mußte jetzt still sein. Nur der Außerordentliche sprach über die Baßposaune noch seinen Satz aus. Er widersetzte sich einer natürlichen Erklärung des Wunders, daß die Mauern von Jericho durch Posaunen wären niedergeblasen worden. Denn Beamte aus dem ghibellinischen Heerlager, rationalistische Zweifler, fehlten nicht und der alte Herr de Jonge hatte für seinen leider abwesenden Sohn die Neckereien übernommen. Während man mit Fanatismus dem Außerordentlichen zischte und Lucinde sich still für sich selbst sagte: Vielleicht bestanden die Mauern von Jericho aus nichts, als Gärten von Rosen! und nach dem Manne der echauffirten Frau sich umschaute, die neben ihr saß und die Ueberfüllung mit Menschen verwünschte, welche nicht einmal möglich machte Piter zu entdecken, entfaltete sich das Bouquet des Abends. Waren es auch nur immer dieselben »Gute Nacht!« und dieselben »Schlaf wohl!« und dieselben humoristischen »Speisezettel«, welche die Sänger vortrugen, die Thatsache stand fest: Beim letzten Hauche konnte man den entsprechenden Accord des Flügels 14 anschlagen – und nicht um eine Viertelnote waren diese jungen Kaufleute in ihrem Vortrag gesunken, worüber die alten regelmäßig in Enthusiasmus ausbrachen. Wie regierten sie aber auch mit strenger Gewalt die Musikzustände der Stadt! Wie bestimmten sie den Erfolg jeder Oper, jeder neuen Messe! Was die Sänger verwarfen oder guthießen, fiel oder stand in der öffentlichen Meinung.

Lucinde blieb hinter den Gardinen und beobachtete blos. Sie kannte solche Gesellschaften nur aus Kiel und aus der Zeit ihres dreijährigen Wirkens im orthopädischen Institut, wo es genug vornehme Beziehungen gegeben hatte. Sie sah zunächst, die Wonne des Entzückens machte niemanden lebendiger, als die Commerzienräthin. Glich die Frau sonst schon in ihrem ganzen Wesen einem jener kleinen Marienwürmchen, die auf einer flachen Tafel hin- und herrennen können, stutzen über nichts, links und rechts schwenken und wieder da hinlaufen, wo sie eben hergekommen sind – wie erst heute! Trotzdem daß ihr eine Art Turban mit purpurrothen Sammettroddeln und goldenen Fransen die feierliche Haltung eines Schlittenpferdes vorschrieb, drängte sie sich durch alle Bravis und Dacapos, durch alle Erfrischungen und Staats- und Kirchengespräche hindurch mit wiedererwachtem Jugendmuth. Blieb auch an einigen Frackknöpfen der Herren, an einigen der aufgestellten Rhododendren, am Kettchen eines neuen Halsbändchens ihrer Hunde zuweilen eine Troddel oder sonst eine ihrer Zierrathen hängen, sie war überall und nirgends und zuletzt auch bei Lucinden, die sie hervorzog und auf die Stirn küßte. Sie flüsterte ihr zu: Wie lieb' ich Sie! Aber ich muß Sie vorstellen! Und noch ehe sie eine Antwort bekam, war sie schon wieder bei einer andern Gruppe und eigentlich suchte sie auch nur immer Piter und sagte dies auch laut. Obgleich aber die Gesellschaft schon zwei Stunden beisammen war, 15 entbehrte doch niemand den Schöpfer dieses brillanten Abends. Die jungen Herren, seine Freunde, hatten mit den jungen Damen zu thun und der Außerordentliche machte die Honneurs des Hauses, so klein er war, mit einer Entschiedenheit, die imponirte und für Piter's bekannte Nonchalance vollen Ersatz bot.

Wiederum hatte man bei einer Extra-Arie der Sängerin ihre berühmte Schule und ihre Bocktriller bewundert und Lucinde war endlich von dem beschlagenen Fenster erlöst, erlöst aus Umgebungen, wo sich einige Beamte und gemäßigte Commerzienräthe, die einen ghibellinischen Orden im Knopfloch trugen, durch den Gesang der Primadonna nicht hatten hindern lassen von den Zeitläuften zu flüstern – Pamphlete, die in Belgien gedruckt waren, wurden erwähnt; Vorgänge im Kapitel spannten ihre Neugier; der Severinusverein hatte gestern mit einem evangelischen Handwerkerverein eine blutige Schlägerei gehabt; Plakate in einem eigenthümlichen alten Drucke, »Himmelsbriefe« genannt, waren von den Straßenecken abgenommen worden; die Worte: Rom, Gesandtschaft, wiener Staatskanzlei fielen – Lucinde konnte nicht länger verweilen und horchen, sie wurde der Gegenstand allgemeiner Neugier und kam aus einer Vorstellung in die andere.

Sie suchte Benno. Als sie hörte, er fehle und wäre schon nach Witoborn, entsank ihr Kraft und Sammlung. Mitten unter allen Huldigungen nahm sie an allen diesen Männern nur Anlaß zur Vergleichung mit Dem – für den sie allein nur leben und sterben wollte.

Die Commerzienräthin zog sie in einen Kreis, wo sich eine lebhafte Debatte entsponnen hatte. Lucinde wurde hier einer Dame vorgestellt, die auf einem kleinen Eckdivan saß, umgeben von einer Anzahl Herren und Damen, die sich ebensowol an der Erscheinung wie an der Conversation dieser Frau zu erfreuen schienen. Die noch jugendliche Gestalt trug ein dunkelfarbiges, mit 16 seidenen Streifen durchwebtes einfaches Tüllkleid. Das Merkwürdigste war ihr Kopf, der halb der Jugend, halb dem Alter angehörte. Aus einem Halbhäubchen von schwarzem Flor, besetzt mit blauen Blumen, quoll eine Anzahl grauer Locken hervor – Die Commerzienräthin sprach von »der Frau Baronin«. Daß Lucinde vor Armgart's Mutter stand, mußte sie sich erst allmählich selbst entnehmen.

Lucindens Erscheinung fiel auch hier auf. Jemand, der der Dame am nächsten saß, sprang sogleich auf und bot ihr zuvorkommend seinen Sitz. Dabei warf er ein paar feurig durchbohrende Augen auf Lucinden, die erröthete. Der Gefällige vergaß fast, daß er es war, der gerade das Wort geführt hatte und daß alle bisher an seinem Munde hingen. Mit einer fremdartigen Betonung, jedoch außerordentlich geläufig und einschmeichelnd, erzählte er Vorgänge, die Lucinde sogleich als auf die Gräfin Paula sich beziehend erkannte. Es waren dies Wetterschläge in ihr Herz. Die Lage des Camphausen'schen Processes war ihr geläufig genug, um zu begreifen, daß jener Bevollmächtigte der wiener Erben, Herr von Terschka, jener Terschka, der einst schon in Kiel sie gesehen und damals durch eine Debatte über ihre Nase die nächtliche Scene mit dem Kronsyndikus veranlaßt hatte, der Sprecher war. Und Terschka wiederum, in dessen Ohr noch bei dem Worte: Fräulein Lucinde Schwarz! die Bezeichnung: Eine ultramontane Emissärin! von jenem Mittag bei den Gebrüdern Fuld in Drusenheim nachklang und der sich gleichfalls seitdem auf die Tage von Kiel besonnen hatte, Terschka begleitete alles, was er sprach, mit Blicken, die sich zwischen Lucinden und Monika zu theilen anfingen.

Monika saß in tiefem Ernst und spielte zerstreut mit ihrem Fächer. Terschka war vor wenig Stunden angekommen. Er hatte gehofft, noch die Gräfin Erdmuthe vor ihrer Weiterreise zu begrüßen. 17 Zu spät eingetroffen, mußte er nun auch noch in dieser Nacht wieder zurück. In seinem ganzen Wesen lag die Elasticität der Aufregung, die, vollkommen verständlich für Monika, gleichsam ausdrückte: Auch nur eine Stunde in deiner Nähe verweilt – und ich bin überreich belohnt –! In dem Bericht über die außerordentlichen Heilungen, die man Paula verdankte, fiel bei Erwähnung der Gesichte, die Paula sähe, das Wort: Der Teppich, auf welchem nächstens der Domherr von Asselyn als Archipresbyter zu St.-Libori die erste Messe lesen wird, stellt eine Vision vor, die Gräfin Paula gehabt haben soll. Der sogenannte Philosoph von Eschede, Doctor Laurenz Püttmeyer, hat diese Vision gezeichnet und vierundzwanzig Stiftsdamen und Freifräulein der Umgegend stickten bisher Tag und Nacht daran. Das Ganze ist jetzt vollendet und sieht aus wie eine Offenbarung Dante's. Für Lucinden lagen in jedem Worte dieses Berichts durchbohrende Nadeln und Stacheln zu Neid und Eifersucht –

So würden wir ja, nahm eine ihr wohlbekannte Stimme die Rede auf, noch einmal die Erscheinung der heiligen Hildegard haben, die bekanntlich von der Natur schon ebenso viel wußte, als Alexander von Humboldt, und noch dazu in einem viel wahreren Geiste –

Dieser Sprecher konnte nur der Außerordentliche sein. Mit einem artigen Gruße an Lucinden hatte er sein: »Bekanntlich«, sogleich schon im Ton, im Gegentheil als ein »Unbekannterweise« gegeben und fuhr deshalb sogleich docirend fort. Er ahnte nicht, daß zufällig eine anwesende Person im Leben jener Heiligen, deren »Physik« seit einiger Zeit durch die Bekenner der »frommen Naturwissenschaften« bekannter geworden, heimisch war. Sie kennen Bingen, meine Herrschaften? sprach der Professor mit seiner hochliegenden Stimme. Sie kennen den höchst 18 vortrefflichen Scharlachberger der Veste Klopp und die Lokalerinnerung an Kaiser Heinrich IV.? In der Nahe dieser gegenwärtigen Victoria-Hotels und Bellevues lag sonst das Kloster Disibodenberg, dessen Aebtissin vor achthundert Jahren Hildegard gewesen ist, die Tochter eines adeligen Vasallen der Grafen von Sponheim. Schon im dritten Lebensjahre hatte sie Visionen. Sie gab ihr Erbe auf, schenkte es der Kirche, wurde Benedectinernonne und lebte schon hienieden im Geruch der Heiligkeit. Sie sah den Himmel offen, heilte, that Wunder, schrieb, ohne die Sprache gelernt zu haben, im entzückten Zustande Latein. Sie war eine Gotterleuchtete, die nach allen Richtungen hin Spuren ihres Geistes zurückließ. Ich nenne nur ihre Einsicht in die Naturwissenschaften. Sie hat vom Bau des menschlichen Körpers, von den Kräften der Luft, des Wassers und Feuers mehr gewußt, als die atomistische Physik des achtzehnten Jahrhunderts –!

Lucinde dachte bebend an Paula –

Die Frau aber mit den silbernen, von der Hitze des Zimmers sich lösenden und lang in einen leichten Ueberwurf hineingleitenden Locken erwiderte plötzlich scharf und bestimmt: Die heilige Hildegard war im Gegentheil beinahe eine Vernunftgläubige!

Alles horchte auf.

Wie so? fragte der Außerordentliche, über den Muth der Interpellantin stutzig und ein in dieser Gesellschaft gebrauchtes anstößiges Wort schon durch eine verächtliche Miene charakterisirend.

Monika erwiderte: Jede Zeit hat ihre eigene Art, den Antheil für edlere Dinge auszudrücken. Was in unserm Jahrhundert die Philosophie ist, war vor achthundert Jahren das Christenthum –

Erlauben Sie! unterbrach der Professor hocherstaunend.

Aber ein Glück für seinen Vater, daß dieser am Whisttisch 19 in einem hintern Zimmer saß. Sonst würde er erlebt haben zu hören, daß die allgemeinste Spannung über die gelehrte muthige Frau seinem Sohn, seinem Stolz, dem Stolz der rechtgläubigen Stadt ein zischendes St! rief – und das noch dazu in einem Kaufmannssalon –!

Frau von Hülleshoven benutzte die im Zimmer eingetretene lautlose Stille und fuhr fort: Bedarf eine Zeit voll Barbarei, um sich dem göttlichen Weltplan einzufügen, der Wunder, so geschehen auch welche. Der Mensch macht dann seine eigenen Thaten dazu, läßt jedoch Gott die Ehre. Die Eingebungen einer Hildegard entstammten einer Sphäre, einer geistigen Sprache, die allein die damals verstandene war und die auch allein wirkende. Das Christenthum in der Bedeutung, wie wir es jetzt zu citiren pflegen, war ganz unwesentlich dabei –!

Das ist ja offene Ketzerei! warf Monika's Gegner dazwischen, lächelnd freilich und vorläufig noch im verbindlichen Tone . . . Aber wieder mußte er erleben, daß ihm gezischt wurde. Man zischte zumal über ein so hartes Wort gegen eine Dame.

Nennen Sie es, wie Sie wollen! fuhr mit einem eigenthümlich bittern Lächeln die jugendliche Sprecherin fort. Ich verweise Sie nur auf die vielen Bestätigungen, welche für meine Behauptung die Aebtissin gegeben hat. Sie hat bei ihren Visionen immer nur das praktische Leben und die Besserung der Sitten im Auge gehabt. Hildegard war eine kleine schwächliche Person, immer kränklich, jedenfalls von einer somnambulen Anlage –

Gräfin Paula ist schlank wie eine Tanne! warf Terschka hinein, offenbar in der Absicht, Monika zur Mäßigung zu mahnen.

Diese fuhr jedoch fort: Hildegard sah Erscheinungen, sah Engel und heilte. Ihre Visionen waren jedoch von einer strafenden und ermahnenden Tendenz. Ihre Heilungen erfolgten 20 nicht ohne Beistand der Kräuterkunde und eine gewissenhafte Beobachtung des menschlichen Körpers. Sie ermahnte den Papst, der kranken Kirchenzucht zu helfen. Sie gerieth in Streit mit dem Erzbischof von Mainz über die Beschuldigung, einen Excommunicirten auf dem Gottesacker ihres Klosters bestattet zu haben. Sie machte sogar Reisen. Wenn sie auf ihnen nur die Klöster besuchte, so lag das im Charakter einer Zeit, wo es noch keine Victoria-Hotels gab und eine Frau mit einigen weiblichen Begleiterinnen nicht auf den Ritterburgen übernachten konnte. Die Klöster waren für jene Zeit die Herbergen, die Gasthöfe. Sie besuchte Paris. Denken Sie sich eine Reise nach Paris in jener Zeit! Eine Reise nach Paris für eine Frau!

Auf einer Reise nach Paris würde man jetzt allerdings nicht mehr in Klöstern absteigen! warf eine Stimme hinter der sich mehrenden dichten Gruppe ein. Als alles lachte, sagte sich Lucinde: Nück's Stimme! Sie und die Sprecherin waren der Mittelpunkt geworden und Terschka's Augen ließen weder von ihr, noch von Monika.

Monika fuhr im Gemurmel der Freude, die den volksthümlichen Nück zugegen wußte, fort: Wie vernünftig, wie praktisch diese Heilige war, beweist der Umstand, daß sie zwar bis in ihr achtzigstes Jahr Wunder verrichtet haben soll, aber im Tode damit aufhörte –

Ein Geflüster und Lächeln – Bitte! unterbrach der Professor der gläubigen Naturwissenschaften. Der Erzbischof von Mainz verbot der Todten ausdrücklich, Wunder zu verrichten!

So viel Ghibellinen hatte Piter eingeladen, daß jetzt sogar die Welfen über diese Aeußerung mitlachen mußten.

Man muß das anders erklären! erwiderte Monika, während sich der Außerordentliche im Kreise rundum schaute und nach allen Seiten strafende Blicke austheilte. Es wäre manchmal sehr 21 schön, wenn man die Reize des Niederwaldes und die Aussicht vom Victoria-Hotel auf Rüdesheim auch den Engländern in Bingen verbieten könnte. Der Zudrang zum Grabe der Heiligen wurde so groß, daß man den daraus entstehenden Unordnungen steuern mußte. Deshalb verbot der todten Aebtissin ihr Erzbischof die Wunder. Und die Heilige erschien dann auch dem Erzbischof von Mainz und erklärte ihm, sie wollte ihm auch noch im Tode gehorsam sein. Es war dies eine Ironie der vortrefflichen Frau; sie hatte ihr Lebtag so viel Aerger mit den Vorgesetzten der mainzer Erzdiöcese gehabt, daß sie ihnen auch noch im Tode gelobte, ihren Willen zu thun.

Ein Gelächter brach aus. Die Entrüstung des Außerordentlichen steigerte sich so, daß sie jetzt schon von Johannen, seiner Verlobten, beschwichtigt werden mußte. Lucinde, die nur ruhig beobachtete, würde mehr aufgethaut sein, wenn sie nicht fast physisch gefühlt hätte, wie Nück, den sie nicht sah, sie beobachtete.

Aber, fuhr die scharfe Frau zur Mehrung ihres Triumphes fort, aber auch wahrhaft liebende und geistvolle Freunde hat die Aebtissin gehabt! Sie müssen das darum schon zugeben, weil sie, des Lateinischen unkundig, nur im magnetischen Zustande etwas davon wegbekam und doch so viel Schriften gerade in dieser Sprache hinterlassen hat! Ein einfacher Beichtvater, von dem die Welt nur weiß, daß Gottfried der Name des Trefflichen war, blieb ihr ein so treuer Freund, daß er alles niederschrieb, was sie in den Wolken gesehen zu haben vermeinte, und es dann noch später mit ihr ausarbeitete. Dieser bescheidene Mönch war also noch etwas mehr, als Goethe'n sein Eckermann. Er war der Geist einer Frau, die keinen Körper, nur eine Seele gehabt zu haben scheint. Gottfried selbst stand unter dem Eindruck ihrer Bezauberung. Er hörte seine Freundin, die auf dem Bette lag, phantasiren. Sie dictirte ihm die Briefe an die, 22 welche ihren Rath begehrten. Sie sprach deutsch und sein Ohr hörte und seine Feder schrieb Latein. Er übersetzte nichts, er schrieb die Geschichte seiner Freundin gleich in seiner geistigen Muttersprache nieder. Das war gerade so, wie Plato den Sokrates Dinge sagen läßt, die dieser nie gesprochen und die Plato darum doch nicht erlogen hat. Plato dichtete seine Dialogen aus Sokrates' Geist heraus; die Dichter lügen nicht, wenn sie auch erfinden. Oder glauben Sie nicht, daß Sokrates somnambul war? Jeder große Geist ist somnambul und jeder Genius hat einen Dämon, wie Sokrates. Jeder Heroe handelt unzurechnungsfähig. Diese Hildegard war die einzig mögliche Diotima des Mittelalters. Aber welche Thorheit, wenn man noch jetzt in ihrer alten Sprache lallen wollte! Ich möchte wol wissen, was Gräfin Paula antworten würde, wenn man sie fragte, was Hildegard gefragt wurde, als Dechant Philipp von Köln an sie schrieb, ob sie in ihren Visionen nichts über den kölner Klerus gesehen hätte –?

Ueber den kölner Klerus? rief man durcheinander. Lucinde lachte mit im Chor. Sie fühlte Schadenfreude – sie sah eine Gegnerin Paula's –!

Gewiß, gewiß! sagte Monika. Die Nonne von Dülmen hätte schwerlich auf diese Frage wie Hildegard geantwortet! Sie hätte ohne Zweifel alle Domherren von Köln für künftige Heilige erklärt!

Ein neuer Sturm – Aber Hildegard? Was sagte sie denn? drängte man. Die Zahl der Umstehenden nahm noch immer zu.

Hildegard antwortete zuvörderst: Der ewige Gott, der da ist, war und sein wird, wird alle Runzeln der Zeit ausglätten! Wer ist dieser Gott? fährt sie fort. Die Sonne ist das Licht seiner Augen, der Wind sein Gehör, die Luft sein Geruch, der Thau sein Geschmack. Der Mond ist Gottes Uhr, die Sterne 23 sind sein Denken. denn in ewigen regelmäßigen Kreisen dehnt sich alles Denken. Hat wol die Nonne von Dülmen je die Gottheit so erhaben definirt? Sie sah nur Nägelmale und blutende Heilandswunden!

Eine Todtenstille trat ein. Man würde jetzt Hildegard für eine Pantheistin erklären! bemerkte Terschka vermittelnd, während der Außerordentliche in aller Blicken zu lesen suchte, vor Staunen und Befremden über diese Sprache.

Noch mehr! fuhr unerschrocken Monika fort. Die heilige Hildegard war Vulkano-Neptunistin, schon achthundert Jahre vor den Theorieen Cuvier's über die Bildung der Erdrinde. Sie sagt an jener Stelle, Gott spräche: Steine hab' ich aus Feuer und Wasser gegossen und die Erde aus Feuchtigkeit und Keimkraft dargestellt. Ich habe Gewölbe ausgeweitet, welche die Körper tragen, um dieselben her befindet sich die Feuchtigkeit zu ihrer Befestigung. Hätten die Wolken nicht das Feuer und das Wasser, so würden sie wie Asche sein –

In das Erstaunen der Zuhörer und der Bewunderung vor dieser seltsamen, jetzt fast feierlich gewordenen jungen Rednerin mischte sich wieder von hinterwärts her die helle und scharfe Frage aus der Menge: Aber bitte, bitte! Noch ein bischen über die kölner Geistlichkeit! Lautes Gelächter – Wieder war es die Stimme des allgeliebten, populären Nück. Lucinde sah ihn aber noch immer nicht.

Sie vergleicht die Würde der Geistlichkeit zuerst den höchsten Erscheinungen in der Natur! fuhr Monika fort und eklipsirte heute den Außerordentlichen bis zur vollständigen Null. Abel, Noah, Abraham, Moses, alle wären Priester gewesen, sagte Hildegard, und hätten in Gottes Haushaltplan der Schöpfung eine große Rolle durchgeführt; die vier Propheten wären wie die vier Weltgegenden zu betrachten, welche die Erde begrenzten. 24 Und die kölner Geistlichkeit – nun von der, sagte sie, die – ich wiederhole wörtlich – die – blase schlecht auf der Posaune der Gerechtigkeit –

Die Erinnerung an die Baßposaune von vorhin erzeugte eine Erneuerung des Gelächters. Denn selbst die Welfen waren mit den jetzigen Kundgebungen ihres plötzlich über den Kirchenstreit eingeschüchterten und sehr furchtsam gewordenen Capitels nicht im mindesten einverstanden.

Eine Posaune, fuhr Monika, als die Zuhörer sich beruhigt hatten, fort, ist ein so erhabenes Instrument, daß es seine Intervallen haben muß. Bei aller Verehrung vor dem Talent, das uns vorhin die süßesten Arien auf ihr vorgetragen hat, würden Sie doch von diesem erhabenen Instrument keinen Walzer hören wollen (Piter hatte gerade auf der Baßposaune einen Strauß'schen Walzer als die Girandole des Abends und den Uebergang zum gemüthlichen »Ulk« bestellt). Die kölner Geistlichkeit aber blies so zu sagen die Posaune der Gerechtigkeit in diesen Sechszehntelnoten, d. h., wie die Heilige sagt, »ohne Einhaltung passender Zeiten« und manchmal gar nicht und manchmal im »Uebermaße« und manchmal heftig und dann ganz abbrechend, kurz ohne jede wahre musikalische Empfindung.

Ein beifälliges Murmeln deutete an, daß man diese Ungleichmäßigkeit des priesterlichen Wirkens vollkommen verstand.

Hildegard will sagen, fuhr Monika fort, ihr übt euer Amt gedankenlos, seid streng aus Gewohnheit oder verhängt Strafen, ohne zu überlegen, wie die Fälle sind! Ihr seid, schreibt sie, eine finsternißathmende Nacht, ein Volk, das aus Ueberdruß an zu vielem Licht nicht länger darin wandeln mag! (»Ueberdruß an zu vielem Licht« –! Lucinden fiel ein Schlaglicht – auf den gefangenen Klingsohr) Sie tadelt die kölner Handwerksmäßigkeit in der Uebung des Priesteramts. Auch die Sünden der 25 Leidenschaft fehlten nicht und doch wolle man daselbst »die Ehre der Heiligkeit ohne Anstrengung« gewinnen. Sie vermißt das reine Feuer und den Duft der Lieblichkeit –

Das Gemurmel wurde so groß, daß der Außerordentliche sich dem Beifall anschließen mußte und sogar für die Bemerkung: Und vergessen Sie nicht, gnädige Frau, daß die Heilige selbst in Köln gewesen ist! Beifall erntete.

Um so mehr also! ergänzte Monika. Und sollte man nicht glauben, daß sie schon die Neigung der Kölner für Männergesang und Carneval gekannt hat, wenn sie – ich bitte die lieblichen Sänger von vorhin um Vergebung – sagt: »Ihr aber seid schon durch jeden fliegenden weltlichen Ruhm überwunden, sodaß ihr euch sogar als singende Possenreißer hinstellt!«

Bravissima! rief glücklicherweise das ganze Quartett selbst; es war ja bereits vom Erfolg seiner Lieder hinlänglich befriedigt. Moppes gab das Signal. Auch sprach Monika so hold lächelnd, daß sie nicht verwunden konnte. Ihre silbernen Locken hatten etwas lieblich Elegisches, was jeden entwaffnete. Terschka freilich wurde immer unruhiger und wechselte wieder Blicke mit Lucinden, die aufs neue durch Nück's Stimme erschreckt wurde – Und die Kaufleute? Die Kaufleute! rief Nück, gleichsam den Uebermuth der Kaufleute strafend, die hier so viel auf Kosten anderer lachten.

Nur von der Geistlichkeit spricht sie! fuhr Monika fort. Die Pfründen wirft sie ihnen vor, wenn sie sagt: »Wegen eures Reichthums unterweist ihr eure Untergebenen nicht und gestattet nicht einmal, daß sie bei euch Belehrung suchen, indem ihr sprecht: Alles können wir nicht aufrichten!«

Wiederum Gelächter. Selbst Kanonikus Taube war vom Spieltisch nähergekommen, zog in dem allgemeinen Jubel seine Dose und fand die Moral auch noch jetzt in hohem Grade anwendbar. Denn wie oft war nicht gerade erst kürzlich bei der 26 Ernennung eines so jungen Domherrn, wie Bonaventura, in der engeren Curie gesagt worden: »Alles können wir nicht ausrichten!« Die Commerzienräthin stand in der Nähe. Sie war vielleicht die einzige, die nicht recht wußte, wovon die Rede war, aber sie lachte mit, seitdem sie den Kanonikus lachen sah.

Ich will die dann folgenden Rügen gegen die mangelnde Sittlichkeit der kölner Geistlichkeit nicht wiederholen! fuhr Monika fort. Auch sind mir die Ausdrücke entfallen. Nur die ganz besonders überraschenden, die ich noch kürzlich las, weil meine Reise mich nach Köln führen sollte, prägte ich mir mit Vorliebe ein. So macht sie der kölner Geistlichkeit den Vorwurf der diplomatisirenden Nachgiebigkeit –

Aha! murmelten die Fanatiker.

Das Predigen und Lehren, das starke Zeugen für Gottes Gesetz wäre dort nicht an der Zeit mehr –!

Aha! Aha!

Ja daß die Heilige dann den Kölnern die Reformation prophezeit, ist allbekannt –

Wie? fragten die Ghibellinen staunend. Unter den Welfen verbreitete sofort dies Stichwort eine Stille.

Terschka winkte Monika. Aber sie fuhr fort: Nein! Nein! Fürchten Sie nichts! In diesem Punkt ist die heilige Hildegard so beschränkt wie die Nonne von Dülmen und wahrscheinlich auch wie – die »Seherin von Westerhof« –

Terschka wurde unruhig und sprach mit seinen flammenden Augen: Mäßigung! Mäßigung! Trotz des Schweigens, das nun eintrat, fuhr Monika fort: Wo ist jetzt wol eine Ekstatische, die so den Papst, die Erzbischöfe, die Domherren und Priester strafte, wie diese Aebtissin! Aber leider – in Einem war sie schwach. Sie lebte in einer Zeit, wo man die Albigenser und Waldenser in Frankreich und in den piemontesischen Thälern mit Feuer und 27 Schwert ausrotten wollte. Die Glaubensgerichte konnten nur den ketzerischen Lehren der Ketzer beikommen, aber nicht den bekanntlich vortrefflichen Sitten derselben. So ergibt sich denn Hildegard in diese Thatsache und sagt, daß zwar auch die künftige große Reaction gegen die kölner Geistlichkeit vom Teufel ausgehen, aber ein außerordentlich klug gewähltes Gewand tragen würde. Sie sagt, das Volk würde diesen gemäßigten, in Zucht und Ehren lebenden neuen Predigern allerdings anhängen. Der Teufel stünde mit verborgenem Leuchter, daß man ihn nicht sehen könne, und spräche: »Ha, ha! Da glauben sie immer, ich müßte in Gestalt von Thieren, von Drachen oder von Fliegen kommen! Aber ich mache mich auch einmal den Propheten ein wenig ähnlich! Nun will ich machen, daß man tugendhaft nicht blos scheinen, sondern auch sein kann und doch nicht in Gott lebt!«

Und ehe man noch über die Schärfen dieser Reden sich sammelte, wiederholte Monika: Tugendhaft sein, nicht etwa blos scheinen. sondern sein, und doch nicht von Gott stammen –! – – Monika wollte offenbar die Verurtheilung dieser Verblendung.

Aber der Außerordentliche rief: Das ist ja ein erhabenes Wort! Das ist ja die trefflichste Charakteristik der Selbstherrlichkeit Ihrer Philosophie! Darin findet die Heilige die künftige Hölle der kölnischen Geistlichkeit! Es ist ja die scheinbare Logik der Kirchenverbesserung, die scheinbare Tugend ihrer Bekenner, die scheinbare Aehnlichkeit mit den Propheten, die scheinbare Größe der, wie man sich rühmt, reiner erkannten Schrift, dies ewige Frösteln in der gemäßigten Temperatur des Rationalismus – dies alles sehen, es der Menschheit genügend finden sollen, allerdings das kann und muß schon auf Erden für jede rechtgläubige Seele die Hölle sein!

In ein Murmeln der Ghibellinen hinein entgegnete Monika: 28 Häufen Sie nicht soviel Schmach über das arme kleine kranke Mütterlein, das in seiner binger Klosterzelle so Großes und so Entsetzliches träumend lag! Wer weiß, ob ihr treuer, mit ihr alt gewordener Freund, der Benedictiner Gottfried nicht zitterte vor dem, was sie sah und er der Hocherleuchteten gehorsam nachschreiben sollte! Immer hatte sie den schönsten, liebenswürdigsten Wahrheitsdrang, den es nur im Frauenherzen geben kann, aber daß sie vor einem andern Lehrsatze erschrickt, als dem, in welchem sie unterrichtet wurde, das ist die Unreife ihrer Zeit. Und daß sie noch so gerecht ist und dem Teufel einräumt, ein so guter Schauspieler zu sein! Die Ketzer sind tugendhaft, sagt sie, aber traut dieser Tugend nicht! Diese Tugend stammt nicht einmal aus Verstellung – das schreibt sie wörtlich – nein, der Teufel gab den Albigensern und Waldensern, die Innocenz III. mit Feuer und Schwert vertilgt wissen wollte und deren er allein bei Schloß Castellungo im Piemontesischen Hunderte verbrennen ließ, die Kraft, wirklich tugendhaft zu sein, wirklich die Sitte der Frauen zu schonen, wirklich enthaltsam zu sein, aber – der Teufel erfüllte nur die »Luft mit solchen Geistern«, daß sie sagten: O wir sind heilig und vom Heiligen Geiste durchgossen! Das Volk wird sich, fährt sie fort, an ihrem Wandel erfreuen, wird ihnen folgen; sie werden sogar die guten Streiter der rechtgläubigen Kirche schonen, hören Sie, schonen, d. h. diese Unglücklichen werden, wenn sie einmal ein klein, klein wenig Macht errungen haben, gegen Andersdenkende tolerant sein – aber alle diese Beweise von Milde und Güte sieht die arme kleine unglückliche gebrechliche Frau nur als Lügen an; alles muß der Teufel gemacht haben, alles, alles, was sie beinahe schon liebt, schon bewundert! Ist das nicht entsetzlich? Die Albigenser und Waldenser wurden mit Feuer und Schwert vernichtet, sie starben in den Flammen mit einem Hosianna, sie waren liebevolle Väter, treue 29 Gatten, zärtliche Gattinnen. aufopfernde Mütter, gehorsame Kinder; aber – daß sie das alles waren, das hatte der Teufel so nur in die Luft »gezaubert«! Gezaubert! Das die Welt glauben zu machen, das war von Seiten Roms wahrlich die größte Zauberei!

Die junge Frau hatte sich erhoben. Die Leidenschaft, mit der sie ihre Ueberzeugungen aussprach, stand ihr herrlich und schön, ihr Auge blitzte voll göttlichen Feuers, ein Zug des Schmerzes um die beredten Lippen gab ihrem Vortrage und der Geltendmachung ihrer Kenntnisse soviel Ueberzeugtes und Ueberzeugendes, daß sie die Königin des Abends gewesen wäre, wenn nicht eine ängstliche Stille ihrer Rede gefolgt wäre. Man ging auseinander. Terschka war bemüht, wenigstens scherzend die Stimmung wieder in den für diese Stadt und solche Gesellschaft lediglich angemessenen Geist der absoluten Kirchlichkeit hinüberzulenken. Sie sind krank! flüsterte er ihr zu und rief dann mit schnell sich fassender Geistesgegenwart: Gnädige Frau, das erinnert mich ja ganz an eine Aeußerung Ihrer Tochter! Fräulein Armgart bekam an dem Teppich für den Domherrn von Asselyn durchs Loos einen Theil zu sticken, worauf ein häßlicher Drachenkopf abgebildet ist. Erst war sie darüber ganz außer sich! Hernach sagte sie, daß sie den Drachenkopf schon lieb gewonnen hätte und sie nun wohl einsähe, wie man sich so auch durch längern Umgang an den Teufel gewöhnen könnte!

Der noch gebliebene Kreis ging auf Terschka's gute Laune ein und rasch fuhr er nun fort: Ja, meine Damen! Das wird halt ein Prachtstück werden! Es ist, wie gesagt, eine Vision der Gräfin! Der Körper des heiligen Liborius wurde aus Frankreich hierher herübergebracht, zum Geschenk von Kaiser Ludwig dem Frommen. Dem Schrein voraus, erzählt die Legende, zog wunderbarerweise ein Pfau, der sich, man wußte nicht wie, der feierlichen Procession angeschlossen hatte und nicht weichen wollte. 30 Der Vogel des Stolzes wurde der Vogel des Triumphes. In Comtesse Paula's Vision ist er riesengroß und schlägt ein majestätisches Rad durch alle Himmel und über die Erde und über die Hölle. Der Regenbogen ist es, den die letzten Augen seines Schweifes bilden. In den Ecken sitzen geflügelte Löwen und Leoparden und tief unterwärts Drachen und Lindwürmer. Nach Comtesse Paula sollte der der Verherrlichung des heiligen Liborius gewidmete Pfau auf seinem Haupt die dreifache Krone tragen. Da man aber vom hochwürdigsten Sitz des Heiligen Vaters leicht ein unehrerbietiges Bild darin hätte erblicken können, so substituirte man halt als Haupteszierde des Pfauen ein Kreuz –

In dem Geplauder fing man an sich zu zerstreuen. Eine gewisse Furcht vor einer so über alles Maß hinausgehenden Meinungsäußerung wie bei Monika schien sich der Meisten bemächtigt zu haben und der Außerordentliche triumphirte.

Da es zum Souper gehen zu sollen schien, erhob sich auch Lucinde, die sonst in der Laune war, zu jedem Fiasco, das jemand machte, schadenfroh zu lachen. Die Comtesse las den Dante! sagte sie zu Monika und suchte durch ein Lächeln die hier verfehlte Wirkung ihrer Vertheidigung der Reformation zu zerstreuen.

Mit Ihnen! ergänzte Terschka, sich schnell einmischend.

Sie hatte allerdings mit Paula zusammen italienisch getrieben.

Lieben Sie Dante? fuhr Terschka fort.

Lucinde schüttelte den Kopf. Es war ihr von Klingsohr früher so viel über Dante gesprochen worden, daß sie ihn schon deshalb satt hatte.

Recht, mein Fräulein! sagte Monika, bitter lächelnd über die Welt der Vorurtheile. Auch ich mag ihn nicht, diesen finstern Italiener –

Der Professor kam, um den Wirth zu machen, mit Tellern und offerirte verbindlich ironisch.

31 Wen? fragte er. Wen mögen Sie nicht leiden?

Dante, Dante! sagte Terschka.

Wie? lautete ein ironisches Erstaunen; Dante nicht? Dante, der doch – den Päpsten fluchte?

Sie lieben ihn also! Und warum? entgegnete Monika und stellte den Teller sich zur Seite auf einen nahe stehenden Tisch, da sie nicht essen mochte und sich zum Gehen rüstete.

Weil Dante für seine Zeit der größte aristokratische Dichter war! Und für unsere Zeit ist er der katholischste – Damit entschlüpfte er triumphirend.

Ich mag ihn nicht, grollte Monika düster vor sich hin, während Terschka einen Tisch arrangiren helfen wollte und sie zurückhielt. Fast wäre sie geblieben, als sie aus Lucindens Munde durch folgende Worte überrascht wurde. Ich finde an Dante peinlich, sagte das ihr jetzt erst auffallende schöne junge Mädchen, wie er sich müht, Martern zu ersinnen, die er seine Gegner erleiden läßt! Weil ihn seine Mitbürger aus Gründen nicht mochten, ruft er die Fremden zu Hülfe, will Italien mit Feuer und Schwert von den Ghibellinen und den Deutschen verwüstet und läßt alles, was ihm persönlich oder seinem Princip misgünstig scheint, in der Hölle gemartert, gesotten und gebraten werden. Eine grellere Einbildungskraft hat es noch nie an einem Dichter gegeben, als sich hinzusetzen und zu grübeln, welche Qualen dem oder jenem seiner Feinde einst zu Theil werden würden! Und wen wirft er nicht alles in seine Hölle! Einen Brutus, Cato, Cassius! Ueberall wittert er Unordnung in seinem Sinn, falsche Freiheit und was darunter die florentinischen Gilden verstanden haben mögen. Ich glaube, es ärgerte ihn nur, daß sie seinen hohen Werth nicht anerkannten, nicht seine gelehrten Verse mochten, in die er, wie er sagte, seine Feinde lebendig einmauern wollte. Beatrice liebte er nur, um ein Ideal für 32 seine Phantasie zu haben; im Leben und als Person war sie ihm völlig gleichgültig. In der That, wenn ich die wie mit Gift geschriebenen Verse Dante's lese, diese lang hingezogen sich ringelnden Terzinenschlangen und Molche, diese dem Verstand abgequälten Bilder und Allegorieen, zu denen man, um sie zu verstehen, dicke Commentare lesen muß, so könnt' ich mich wie eine welfische Löwin fühlen, die mit dem demokratischen Haß eines Vorstehers der florentinischen Schustergilden dem Adler der Ghibellinen den Kampf anbieten möchte. Ich sympathisire dann mit den Mönchen, die auf den Zinnen der italienischen Mauerthürme gegen die Ghibellinen kämpften –

Ein Savonarola war unter ihnen! fiel Monika voll Staunen und gesteigerter Theilnahme ein.

Pötzl, der Träger der Bologneser, unterbrach die fast leidenschaftliche Annäherung Monika's und sprach heimlich mit Lucinden – Monika fuhr inzwischen fort: Und da muß ich wieder Mutter Hildegard eine wunderbare und liebliche Poetin nennen. Die blickt auch in die Hölle, aber sie schmort und kocht und foltert die Gottlosen doch nicht so greulich, wie dieser Dante, dessen Bild mit seiner langen Nase und dem dicken, über die Kapuze gezogenen Lorberkranz ich nie sehen kann, ohne an ein giftiges altes Weib zu denken – –

Lucinde wurde zur Commerzienräthin abberufen, die bei ihrem fortwährenden Patrouilliren und dem dutzendmal wiederholten Worte: »Haben Sie denn auch ein Glas?« endlich auf Piter zurückkommen mußte. Das Muttergefühl und die Sorge der Hausfrau siegte nun über die Liebe zu den Bolognesern und zu den Hausfreunden und zu den zahlreichen Fremden, mit denen sie Conversation begann und nach fünf Worten wieder abbrach. Lucinde bekam den bestimmtesten, ja von »Verzweiflung« dictirten Auftrag, eine Recherche nach Piter's jetzt constatirter, »ja furchtbar 33 ängstlich werdender und ein Unglück ahnen lassender« Abwesenheit anzustellen. Sie mußte sich besinnen, daß sie hier im Hause eine Dienende war.

Monika sah, daß Terschka ihr einige Schritte folgte. Wer ist das schöne, seltsame Mädchen? fragte sie, als er zurückkehrte. Sie stand allein und Terschka nützte seinen Vortheil. Zwar machte er ihr ernstliche Vorwürfe, doch wurden sie von der Glut seiner Huldigungen gemildert.

Monika hörte nur wenige seiner Worte, riß sich los und trat wie fliehend aus dem Zimmer.

Der Abend aber rauschte und wogte nun erst recht dahin.


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