Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. IV. Buch
Karl Gutzkow

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78 10.

Es war im siebzehnten Jahrhundert, wo sich innerhalb der katholischen Kirche der Jesuitismus zu jener Alleinherrschaft erhob, durch welche sein Sturz mehr herbeigeführt wurde, als durch die Philosophie der Aufklärung. Im stillen lieferte die übrige Geistlichkeit, sowol die der weltlichen wie der Ordenssphäre, die Materialien zu jener Verfolgung, die sich gegen die Väter Jesu erhob. Als Gewissensräthe der Fürsten und Staatenlenker waren sie allgemein verhaßt geworden.

In jener Zeit des höchsten und übermüthigsten Jesuitentriumphes entstanden jene großen Kirchen und Collegien, die auf den Namen der Jesuiten gehen und nach dem damals herrschenden entarteten Geschmack gebaut wurden. Auf die Windungen, Rundungen, Cannelirungen, Fenstersimse und Portale der Architektur wurde die Eleganz der gewundenen Bandschleife eines Zopfes übertragen, die glatte Dressur des über den Kamm gestrichenen Haars, die Form der gebogenen Schnalle an den Schuhen. Das Innere der Kirchen wurde mit Marmor und Gold überkleidet. An den Altären erhoben sich gewundene Säulen, umgeben von schwebenden Engeln, welche die gemüthlichen Wirkungen, die sonst die Malerei hervorgebracht hatte, jetzt durch die Plastik hervorzubringen versuchten. Sinnlich erfaßbar, wie wirklich und leibhaftig in die Augen fallend sollte alles erscheinen. Blumen 79 wurden in halb erhobener Arbeit bunt an die Decken und Wände geheftet, plastische Heiligenbilder schmückten sich mit Farben und mit wirklichen Kleidern. Man wollte das Wohlgefallen aller Sinne gewinnen. Sogar die Glocken auf den nicht mehr zu hohen, nicht mehr zum Himmel anstrebenden Thürmen erhielten einen eigenen Rhythmus. Die Jesuitenglocken schlagen in kurzathmiger, schnelllaufender Hast eine zwei- oder dreitönige musikalische Figur an, deren endlose Wiederholung, gleich einer jener alten Litaneien, die man in Abendmetten vom Chor anstimmt, die Seele zuletzt so verwirren und betäuben kann, wie asiatische Tänzer und Schamanen durch die Trommel oder Pfeife verwirrt und betäubt werden.

Doch in den ersten Anfängen der Verbreitung des von Loyola gestifteten geistlichen Ritterordens war dessen Auftreten bescheidener. Hier in dieser Residenz eines Kirchenfürsten gab es eine stattliche Jesuitenkirche mit marmornen Portalen. Ihr gegenüber lag das Collegium der Väter, in jenem Styl, in welchem unter Ludwig XIV. gebaut wurde. Beide Sitze der alten, von Ganganelli gestürzten Herrlichkeit gehören nicht mehr den Jesuiten, auch seitdem das Jahr 1848 ihnen fast allein – Erfolge der Freiheit gegeben hat! Ihr früheres, ältestes Profeßhaus liegt in einem entlegenen Theile der Stadt und hat das Ansehen eines bescheidenen Klosters. Ein Hofraum ist von drei Seiten mit einem zweistöckigen Gebäude umgeben, von der vierten Seite mit einer hohen Mauer, in welcher sich das Eingangsthor befindet. An der Pforte, außen, liegt eine kleine düstere Kapelle unter hohen breitastigen Bäumen; innen, ehe man den grasbewachsenen Hof betritt, muß man erst am Wohnhäuschen des Pförtners vorüber. Ein kleiner Thurm mit durchbrochenem Glockenstuhl, dieser mit einer alten heisern, schon lange geborstenen Glocke, bezeichnen die Stelle, wo sich noch jetzt eine Kirche befindet, welche 80 damals nur für die Väter bestimmt war. Das Dach des dreigeschenkelten Hauses ist von Schiefer; die Fenster sind winzig klein; ein neuer weißer Kalkanstrich steht in grellem Contrast zur Verfallenheit des ganzen Gebäudes, das sowol durch die vorliegende vergitterte kleine und unzugängliche Kapelle (der mit Immortellen, gemachten Blumen und einer bunten Madonna verzierte Altar derselben hat etwas von dem Gespenstischen eines Wachsfigurencabinets) wie durch die ringsumherstehenden uralten Bäume, auf seinem etwas hoch gelegenen einsamen Platz, einen unheimlichen und düstern Eindruck gewährt.

Dies alte Profeßhaus dient noch jetzt zu allerlei geistlichen Zwecken. Es ist nicht in allen seinen Zellen bewohnt. Hier in dem einen Flügel scheint es eine Art Krankenhaus zu sein – ein hüstelnder langer hagerer Greis, den selbst nicht mehr die Tonsur unter dem Sammetkäppchen als Geistlichen erkennen lassen würde, öffnet ein Fenster und hält die Hand in die rauhe Abendluft hinaus. Seit Jahren ist er heiser, kann nicht mehr die Messe singen und fand, da er seine Pfarre aufgeben mußte, hier im alten Jesuiten-Profeßhause seine Versorgung. Dort der gegenüberliegende Flügel deutet auf eine Strafanstalt. Einige Fenster sind vergittert und wiederum ist es ein Geistlicher, der einen Moment eine lange Pfeife durch die Eisengitter steckt und sich den mit Schnee gemischten, in Glatteis übergehenden Regen nicht verdrießen läßt. Ein Irrsinniger ist es nicht, aber die klaren Gedanken kommen ihm selten. Seine Stelle mußte er verlieren, weil er zuweilen in die Messe deutsche Zwischenreden mischte, den Wein beim Namen des Gewächses nannte, bei Austheilung des heiligen Brotes ein: Wohl bekomm's! mit einflocht, auch wol auf der Kanzel Wirthshausanekdoten erzählte und mit der Pfeife im Munde in den Beichtstuhl ging. Nicht so schlimm ist er, wie sein Nachbar links, den man ganz absperren mußte, weil er 81 kein weibliches Wesen erblicken kann, ohne mit ihm Gespräche anzuknüpfen, wie sie selbst einem Laien nicht gestattet sind. Sein Nachbar rechts wieder ist ein so heilloser Flucher, Schwörer, Händelsucher und Wirthshausmatador, wie nur ein geborner Bauernsohn sein kann, der, wenn er wieder in ein Amt kommen sollte und dem Oberförster, dem Amtmann, dem Schulmeister auf seiner Pfarre begegnet, ohne den Gruß so geboten zu bekommen, wie er ihn verlangt, den Leuten den Hut vom Kopf schlägt. Noch jetzt geht er im Zorn aus Rand und Band und kann schon lange nur durch Hunger gezähmt werden. Strafklöster und Strafanstalten gehören der katholischen Kirche ausschließlich an und sind in so hohem Grade eine stillempfundene Demüthigung ihres Priesterstandes, daß man sie gern würde eingehen lassen. Man bedient sich dazu des Vorwandes, unter den Geistlichen neuen Stils kämen keine Vergehen so arger Art mehr vor –

Der mittlere Bau, an welchem sich Sommers vom Grase des Hofes aufwärts hier und da an der weißgetünchten Wand einige Weinranken hinziehen, hat einige freundlichere Zimmer, ein Refectorium und sogar nach der entgegengesetzten Seite ein schmales Gärtchen, das freilich lange schon von einer alten hohen Mauer, der Brandmauer anderer Gebäude, begrenzt wird. Hier finden arme durchreisende Geistliche ihr Unterkommen. Mancher von ihnen wird auch zu irgendeiner Verantwortung berufen; andere kommen in eigenen Geschäften und scheuen die Ausgabe in einem Gasthofe.

Die Ordnung in einem solchen Hause aufrecht zu erhalten, ist keine geringe Aufgabe. Nicht nur gehören dazu Fleiß und Umsicht, auch Unbestechlichkeit, Pflichtgefühl jeder Art und physische Kraft. Für die Reinlichkeit sorgt eine alte Person, die sich allerdings durch ihre Kleidung als zum Geschlecht der Grazien gehörig 82 ausweist; sonst würde man sie eher den Männern und solchen zugerechnet haben, die ohne Gefahr für ihre Gesundheit bei Schleusenarbeiten im Morast leben können. Es ist dies die Hanne Sterz. Sie hat nur ein Auge, ist lahm, kocht aber leidlich. Die Elasticität ihres rechten Fußes hat sie von einem unglücklichen Eingeklemmtwerden in einer der Zellenthüren auf der Strafseite des Profeßhauses, da, wo gezwungene Entbehrung selbst Macbeth-Hexen schön gefunden hätte. Frau Hanne Sterz zählt schon siebzig Jahre und hat ihn redlich verdient den Beistand, der ihr seit einigen Monaten durch einen ihrer Anverwandten zu Theil geworden ist, einen groben rothhaarigen Knecht, den man den Joseph nennt. Ueber der Hanne Sterz aber und dem Joseph steht der eigentliche Verwalter des Hauses, ein ehemaliger Soldat, welchen die Regierung hier zu installiren hat, ohne ihn darum vom Gehorsam auch gegen die geistlichen Behörden zu entbinden, die in diesen Mauern eine Art Jurisdiction und Disciplinargewalt ausüben können. Auch muß Herr Kratzer von jedem Misbrauch dieser Befugnisse der Curie an die Regierung Anzeige machen und allwöchentlich über die im Profeßhause befindlichen Einwohner und deren Betragen die Rapporte abliefern. Denn Fälle wie die, wo man geistliche Strafgefangene in die unterirdischen Gefängnisse warf, sollen nach dem Willen der Regierung nicht mehr vorkommen. Kratzer führt die Schlüssel zu den unterirdischen Gängen der Stadt. Daß sie nicht misbraucht werden, ist die ihm auferlegte Sorge. Längst lag es im Plan der Regierung, sie zu verschütten. Bis dahin muß sie Kratzer so reinlich halten, als es die Ratten und die einmündenden Kloaken erlauben. In diesem Amte unterstützen den »Castellan« die herculischen Schultern irgendeines vom Staat besoldeten Knechtes. Einer der vielen, die in diesem Amte Kratzer schon als Beistand hatte, ist Joseph. Er selbst scheint einer jener alten ergrimmten und ewig verstimmten 83 Invaliden. Ohne Weib und Kind wohnt er in dem kleinen Hause dicht an der Pforte, die er hütet wie ein Cerberus. Grützmacher ist andern Glaubens als Kratzer; hätte er den Kameraden im Sommer so am offenen Fenster, im Lehnstuhl sitzend und rauchend und mit unveränderlich mürrischer Miene in dem weißbebarteten Antlitz auf dieselbe Stelle im Hofe, immer auf dieselbe kleine bunte Winde oder Kresse in dem sechs Fuß breiten Gärtchen, das er um sein Häuschen herum angelegt hat, blickend gefunden, er würde ihn entschuldigt und gesagt haben: Die Menschen verstehen nicht die entsetzliche Müdigkeit eines alten ausgedienten Militärs!

In zwei der kleinen Zellen des Mittelbaues wohnt seit einiger Zeit Pater Sebastus. Anfangs war er hier nur in Herberge. Seit einigen Monaten ist er ein Gefangener. Täglich erwartet er eine Entscheidung, wann und unter welchen Umständen er zum Kloster Himmelpfort bei Witoborn zurückkehren darf. Er ist krank und will keinen Arzt; er liest und schreibt nur und grübelt. Seine Petitionen an die Curie und die Regierung enthalten schon lange nur noch die Bitte, rauchen zu dürfen. Diese verwies dafür auf jene, jene auf diese, und so bettelte der Mönch noch vor Weihnachten den Castellan nur um Eines, um Cigarren an. Jetzt entsagt er auch diesen. Die Censurstriche können ihn zuweilen noch lebendig machen und die Druckfehler. Kratzer, der oft den Burschen mit den »Stufenbriefen« begleitet, ahnt nicht, daß sie mehr enthalten, als Betrachtungen über die Buße, die Sünde, die Erlösung.

Bei alledem ist Sebastus beim Eintritt in sein neunundzwanzigstes Lebensjahr der Alte geblieben. Ja! und: Nein! hatte er drei Tage lang zu Bonaventura gesprochen. Als er aufs neue die Rumpelgasse besuchte, erhielt er Gefangenschaft; dennoch geißelt er sich wirklich, wenn sein Guardian im Kloster Himmelpfort: 84 Miserere! ruft. Wenn nur Gregor und Innocenz verbleiben, gibt er Sokrates, Plato, Aristoteles, Firdusi, Shakspeare, Milton, Spinoza, Goethe, Harry Heine hin, besonders seit Gefangennahme des Kirchenfürsten, der ihm die Springprocession nach Echternach mitzumachen hätte anbefehlen können; er würde, abgekühlt vom ersten Schrecken, darum doch diesen geistlichen Tyrannen eine »Natur« genannt haben. Raubte man ihm alles, so blieb ihm doch – das volltönende Latein des Breviers, der majestätische Klang des »Dies irae« und des »O salutaris hostia«!

Ueber Lucinde und Bonaventura ist Klingsohr unterrichtet. Veilchen hatte ihm erzählt, was sie von ihrem Verehrer Löb Seligmann über die Ursachen wußte, warum Lucinde hatte die Dechanei verlassen müssen. Es blieb kein Geheimniß, daß Lucinde den Domherrn liebte. Das Gerücht entstellt jedoch. Hier sagte es: Lucinde wäre von Bonaventura bekehrt worden. Klingsohr seufzte und kündigte im Geist dem jungen Domherrn, der ihn zu interessiren angefangen hatte, jede Theilnahme auf. Ihn zum Beichtvater zu nehmen, davon war jetzt bei ihm keine Rede mehr. Zur vollen hingegebenen Freundschaft fehlte ihm Bescheidenheit; ohne eine gewisse Unterwerfung gibt es keine Freundschaft. Und wer mag sehen wollen, wie ein Herz, das wir selbst einst besaßen, einem andern gehört –!

Von Tag zu Tag wächst das physische und Seelenleid des Gefangenen, dessen Einsamkeit nur der Besuch der Kirche im Kloster, einigemal die Besuche des Untersuchungsrichters (man vermuthete in Klingsohr den Verfasser einiger in Augsburg und Würzburg erschienenen Broschüren), der Arzt unterbrechen – Weihnacht ist vorüber – Die Hinrichtung Hammaker's kann Sebastus in keine Verbindung mit seinem eigenen Leben bringen – Es kehren die alten geistesschwachen und geisteszagen 85 Stimmungen zurück – die Hände zittern – mager und dürr liegt er in seiner braunen Kutte und barfuß auf einem alten Sopha –

Alte Lieder summt er, dichtet neue, findet die Reime nicht mehr und bedarf dringend des Klosters, bedarf der Hand des Bruders Hubertus, der ihn z. B. um jede Mitternacht aus seinem Schlafe emporhob und ins Chor der Kirche zum Singen trug – dies schwere Amt, das der heilige Franciscus erfunden hat, um im Kloster nichts in der Welt nächst Gott mehr lieben zu lassen, als – den Schlaf, nichts mehr ersehnen zu lassen, als den Schlaf, nichts mehr erstreben zu lassen, als den Schlaf. Eine traurige Winterszeit . . . Es regnet, es stürmt . . . Nur die dumpfen Schläge der Thurmuhren unterbrechen die bange Oede eines Aufenthalts, den des Mönches schroffer Sinn noch einsamer macht durch Ablehnung alles Umgangs mit den übrigen Bewohnern des Hauses. Wenn die Dunkelheit früh schon sich niedergesenkt hat auf den trüben Tag, wenn zwei mächtige Hunde in ihren Hütten sich bäumen und gegen die gewaltige, rings von einem kleinen Eisenverschlag umgitterte Thorglocke bellen, die draußen von einem Einlaßbegehrenden gezogen wird; wenn die großen Holzpantoffeln der hochaufgeschürzten Hanne Sterz im Hofe klappern oder beim Schein einer Laterne Joseph das Holz spaltet, das in den Oefen der Bewohner dieses traurigen Ortes flackern soll; oder wenn Kratzer eine große eisenbeschlagene Thür aufgehoben hat, die in einem Winkel des Hofes platt auf der Erde liegt und in jene Gänge führt, zu deren Reinigung ein Kampf mit einem Heer von Ratten gehört, das die Stufen heraufspringt und sich blitzschnell in alle Löcher des Hofes vertheilt, während hinter den Eisengittern die gefangenen Leviten: Hatz! Hatz! rufen und die Hunde zur Verfolgung reizen, daß sie sich heulend an ihren Ketten aufbäumen und den zottigen Hals blutig reißen – dann überrieseln Klingsohr düstere Schauer – 86 Erinnerungen an die Tage von Neuhof, Hoffnungen auf Witoborn – Wonnen – o du Thor! – eines Wiedersehens mit Lucinden –

Daß er zu den Todten gehört, weiß er und er besingt es. Hat er sich auch unter dem Leichenstein der für ewig abgelegten Gelübde ein scheinbares Leben zu erträumen verstanden, Lucinde sollte doch wol zu diesen Träumen nicht mehr gehören. Kann sie doch mit ihrem, »wenn sie will«, so verführerischen Lächeln keinen seiner Wünsche mehr befriedigen, mit ihren gaukelnden Phantasieen keine Bilder von Freiheit und Liebesglück wecken. Das ist vorüber schon lange – schon vor seinem – »Begräbniß«. Dennoch reizte es ihn stündlich, sich in bunter Folge die Kettenglieder des Lebens zusammenzusetzen, das Lucinde seither geführt haben mochte und nach dem, was er durch die Serlo-Leonhardi im »Goldnen Lamm« erfahren, geführt hatte – Nach ihrem kurzen Theatertraum, von dem sie so unglücklich erwachte, hatte auch sie sich in den Schoos einer Kirche geflüchtet, die einen erstorbenen Willen mächtig wiederbeleben, klaffende Wunden heilen, schmerzlichste Lücken wenigstens ausfüllen konnte mit »Poesie« – Das hätte er gern einmal hören mögen, wie Lucinde zu dem goldenen Kreuz auf ihrer Brust gekommen, das er in der Kathedrale gesehen, gern hätte er hören mögen, wie sie den Rosenkranz beten, was sie sagen würde von der Welt und wie sie zurückdächte auf alte Zeit und wie sie sich ausnehmen würde im Beichtstuhl, in der Messe, selbst mit der Liebe zu einem Priester im Herzen, der sie ja, das sagte er sich, nach seinem wol in solchen Dingen scharfen Blick, von Bonaventura, nie erhören kann –! Dann winkte ihm die Loreley vom kalten Felsgestein, verlockte ihn und andere Knaben, bettete den Bethörten in der kühlen Tiefe. Mit fieberschwangern Glühwinden der Wüste überhauchte es ihn dann und krank wurde er an jenem orientalischen Ragl, der den Pilgern, wenn sie in der Wüste 87 Sahara verschmachten, Städte mit blinkenden Minarets und Bäume voll goldener Früchte zaubert, in deren Schatten, in deren erträumtem Genusse sie sterben.

Wieder auf seinem Sopha liegt Klingsohr ausgestreckt mit nackten Füßen. Wieder wird es Abend. Schon brennt matt und düster eine ärmliche Blechlampe auf einem mit Papieren bedeckten Tische. Er hört das Bellen der Hunde, hört den Lärm, den zuweilen die wilden menschlichen Bewohner des Hauses machen; oft huscht es im Gange an seinen beiden Thüren vorüber – in einer Nebenkammer schläft er –; traurig zieht ein alter Klosterspruch durch sein so tief hülfsbedürftig an Hubertus gerichtetes Sehnen: »Wir Mönche kommen zusammen und kennen uns nicht! Wir Mönche leben zusammen und lieben uns nicht! Wir Mönche sterben zusammen und beweinen uns nicht!« Hubertus hatte ihm einst diesen Spruch als Memento mori des Klosterlebens mitgetheilt.

Fünf Uhr schlägt's. Da und dort blitzt das Licht der Laternen auf, die jenseit der hohen Mauer eben angesteckt werden. Ein kalter Regennebel umhüllt die nächsten Umgebungen, die kleine Kapelle vor dem Eingang und die halb verwitterten Bäume. Die Hunde beginnen ein Wimmern, das ihnen bei eintretender Dunkelheit eigen ist und vielleicht der Erwartung des Mahles gilt, das ihnen Joseph eben in großen irdenen Schüsseln bringt. Mit der einem alten Militär eigenen Gründlichkeit studirt Kratzer an einem Dreierlicht die frisch angekommene Abendzeitung, die über den gestrigen »Krawall« neue Einzelheiten, neue Warnungen und Verordnungen der Regierung enthält.

Da wird die Glocke heftig gezogen. Joseph unten erhebt sich nicht von den Hundehütten; er ruft der Hanne. Eben will diese in das Haus des Castellans mit einem Trunk Wein aus dem Keller hinken – zu Krieg und Frieden, zu den neuen 88 Avancements und den neuen Orden trinkt Kratzer seinen Vesper-Schoppen. Hanne Sterz öffnet. Ein junger Mensch in einer blauen Blouse und mit schwarzer Sammetmütze, von einem alten Regenschirm bedeckt, kommt unterm Arm mit einer Druckermappe und begehrt den Pater Sebastus zu sprechen. Censurstriche! ruft die fast rauhe Stimme rasch und entschieden.

Joseph blickt etwas von den Hunden auf, deren Bellen er beruhigen muß. Hanne Sterz bringt von Herrn Kratzer ein: Passirt! . . . Herr Kratzer will sich die gemüthlichste Stunde des Tages, die Stunde des Schoppens und der Welthändel und der neuen Versetzungen in der immer noch heißgeliebten Armee, nicht stören lassen. Der junge Mensch wagt sich im Finstern an die Treppe, die er schon kennen muß, schlägt den Regenschirm ein, reißt die Treppenthür auf, drückt sie hinter sich wieder zu und schöpft aus hochklopfender Brust Muth und Fassung auf der ersten Stufe.

»Im ersten Gange rechts die zweite oder dritte Thür, Nr. 16 und 17, gleichviel« –! So hatte es in der Anweisung auf der Rumpelgasse geheißen. Die Begleitung Veilchen's bis ans Hofthor hatte Lucinde abgelehnt.

Die Treppe ist erstiegen, eine Thür ist gefunden, nur in der Dunkelheit nicht die Zahl zu lesen . . . Ein Moment der Besinnung. Angeklopft. Kein Herein!? Was thut es? Lucinde tritt ein. Trüber Lampenschimmer zeigt, daß auf dem Sopha jemand zusammengekauert liegt, jemand, der sich nicht erhebt, völlig antheillos bleibt, bis er die Mappe von dem Ankömmling entgegengereicht erhält. Nun greift eine knöcherne Hand darnach, eine Hand, die sich einer Kutte entwickelt. Lucinde sieht das verfallene Antlitz Klingsohr's, sieht die rothen Narben auf den blassen Wangen, das kurzgelockte röthliche Haar, die fast endlose Stirn, die Tonsur – Sie hat ihre Sammetmütze in der einen, 89 den Regenschirm in der andern Hand. Aus dem von der Luft und der Eile gerötheten Antlitz liegen die dunkeln Flechten ihrer Haare dicht zusammengebunden. Ihr Hals ist von einem rothen Tuch umschlungen. Unter der hellblauen Blouse ist sie mit einem groben, doch neuen Tuchkittel bekleidet; trotz der winterlichen Jahreszeit sind ihre Beinkleider neuleinene; darunter hat sie sich sorglich vor Erkältung zu sichern gewußt. Die Füße sind mit Halbstiefeln bekleidet. Ihr Wuchs entspricht dem eines sechzehnjährigen Jünglings, ihre Züge sind in der That männlich. Wäre nicht in ihrer Haltung die Beweglichkeit, die Unruhe und Aufregung gewesen, man hätte dem äußern Eindruck glauben dürfen. Sonst erkannte Klingsohr sogleich an der blauen Dinte die Censurstriche des Assessors von Enckefuß. Heute entdeckte er keine seinen Gedanken beigebrachte Wunde. Er entzifferte nur eine etwaige Botschaft Veilchen's. In der That schrieb sie ihm: Ueberbringer ist – Fräulein – Lucinde Schwarz –

Das Blatt entsinkt seinen Händen . . . Er springt auf und starrt wie vor einem Geiste. Er ergreift die Lampe und leuchtet mit ihr Lucinden entgegen und diese kürzt die Scene der Erkennung ab, indem sie kurzweg spricht: Klingsohr! Sie sehen, welches Opfer ich Ihnen bringe! Ich habe von Ihrer Gefangenschaft, Ihrem Seelenschmerz, Ihren Körperleiden gehört, auch von Ihrer Sehnsucht nach Ihrem Kloster zurück! Können Sie es möglich machen, daß Sie diesen Ort verlassen, so soll dort drüben in der Allee, von morgen in der Frühe an unausgesetzt bis Abends, ein Wagen halten, um Sie aufzunehmen, Mittags ausgenommen, wo die Pferde zu wechseln haben –! – – Es waren dies Ergebnisse eines Briefes an Nück und eines ihr vor wenig Stunden von Herrn Maria gemachten Besuches. Sie sprach diese Worte wie eine soldatische Meldung.

Klingsohr hielt sich nur am Tische, hörte nur, betrachtete 90 nur den schönen Knaben. Das, was er allein begriff, war die Anrede nicht mehr mit dem alten traulichen »Du«. Auf einen Sessel, Lucinden dicht zur Seite, mußte er sich niederlassen; seine Schwäche übermannte ihn. Menschen, die in so naher Beziehung gestanden, sehen sich wieder: das Band, das sie einst vereinigte, ist zerschnitten, das Wort, das einst so warm gesprochen, kalt, die Vergangenheit von einer neuen, inhaltreichern, und berechtigtern Gegenwart ausgelöscht! Eine schmerzliche Lebenssituation ohnehin –! Und hätte dann auch Klingsohr die alte Zärtlichkeit der Empfindung verrathen wollen und wär' es nur mit dem Zittern seiner Stimme gewesen – er war ein Mönch –!

Lucinde empfand mehr Abneigung als Rührung. Glücklicherweise hatte sie Eile und konnte ihre Grausamkeit damit verdecken. Klingsohr! fuhr sie fort. Man muß mit Ihnen Mitleid haben! Es gibt einflußreiche Leute, die Ihnen wohlwollen, die Ihren Geist schätzen! Wie konnten Sie in einen Orden treten, der Ihnen eine völlige Entsagung vorschreibt, Ihnen nichts mehr zu sein oder zu werden erlaubt?

Klingsohr überlegte von dem Gesagten nichts. Er horchte nur der wohlgeordneten Rede und dachte: Bist du das Mädchen vom Düsternbrook, von jenen beiden Apfelblütenzweigen, vom Fest der Dämonen in jener Gewitternacht, die Mondscheinwandlerin am Alsterufer, die Reiterin am Busen der Baltischen See –?

Eine schreckliche Last, die auf Ihnen liegen muß! fuhr Lucinde fort. Ich kann mir es denken! Ich verstehe Ihren ganzen Lebensüberdruß –

Seit unserm Abschied in Lüneburg! hauchte er tonlos –

Auch Lucinde horchte seinem jetzigen Redeton –

Noch immer, weißt du, hab' ich die Hände der Serlo'schen Kinder in den meinigen – statt – der deinen! sagte er 91 leise. Vor einigen Monaten sah ich sie hier wie Marionetten springen!

Lucinde wollte den Uebergang in elegische Töne, die Klingsohr, wie sie hörte, noch immer zu Gebote standen, hindern. Dennoch begann sie vom Vergangenen, wenn auch im kühlsten Tone: Ich habe mich oft gefragt, was Sie damals wol bewegen konnte, den Kronsyndikus so zu schonen!

Schenkte er mir nicht Lucinden –? – Klingsohr sprach dies in der zartesten Dämpfung der Stimme, die ihm eigen war, wenn er aus eigenen oder fremden Dichtungen Verse recitirte.

Das ist es nicht allein! sagte sie. Steht Ihnen Ihre Mutter immer noch so rein und unbefleckt, wie damals vor Augen?

Es ist derselbe Engel –!

In der Erörterung der Vergangenheit schien das Gespräch fortgehen zu dürfen; doch plötzlich trat Lucinde ans Fenster. Es hatte geklingelt. Draußen fuhr schneidend der Wind und die Hunde rissen an der Kette. Ich muß eilen! brach sie mit einem ängstlichen Blick auf das feuchtbeschlagene Fenster ab. Also, was sag' ich Ihren Freunden? Wollen – und wohin wollen Sie fliehen?

Drei Worte nur und dann – in den Tod! rief Klingsohr, faltete die Hände und hielt sie empor, wie betend für sich.

Lucinde entsetzte sich über diese Geberde. Die Hauspforte hatte einen heimkehrenden Bewohner eingelassen. Sie ließ sich beruhigter auf einen harten Sessel nieder.

Lucinde! rief Klingsohr voll Feuer.

Vom Kronsyndikus sprechen Sie! lenkte sie auf Mäßigung zurück –

Warum ich den Kronsyndikus schonte? sprach sich sammelnd Klingsohr. Sieh, Lucinde, hier in meinen »Stufenbriefen vom Calvarienberge des Lebens« steht: »Gerechtigkeit übt sich nur im Kampfe gegen sein eigenes Ich! Wer zu dem erhabenen Bau der 92 Pyramiden voll Bewunderung emporblicken will, muß nicht achten der blutigen Geißel, welche einst die im Sonnenbrand verschmachtenden Völker zwang sie zu erbauen! Wie erstirbt in den Gemüthern immer mehr jener große Geschichtssinn, der das Erbe der Vorvordern nur antritt mit der Absicht, ebenso es den Enkeln zurückzulassen! Voll Andacht betrittst du die Stelle, wo ein großer Mann einst athmete, bewunderst den Federzug, den eine Hand führte, die wir mit schauerndem Entsetzen gleichsam lebendig sehen, die Hand, die Reiche stürzte, Schlachtenpläne schrieb! Um wie viel denkwürdiger ist Klio's Griffel, sind die Runen, in denen Saturn schreibt –« Doch, lies dies selbst, unterbrach Klingsohr seine Feierlichkeit, sank auf seinen Sessel und hauchte leise: Ich werde nicht allem Worte geben können, was mein Inneres damals durchschnitt! Auf der einen Seite lag die Leiche meines Vaters, auf der andern stand sein Mörder, von Angst und Reue gefoltert! Haargesträubt saß Freiherr von Wittekind-Neuhof mir gegenüber und bekannte mir, dem Sohne, die Uebereilung. Im Wortwechsel am Düsternbrook war ihm die Hand an den Hirschfänger gerathen; zum Suchen eines Steins wandte sich der Vater – er sollte zur Gegenwehr dienen; die gezückte Waffe fuhr aus, fuhr in die unbeschützteste Stelle am Nackenwirbel, wo jede Verwundung sofort tödtlich ist. Der Zorn des Feindes war mit dem strömenden Blute verraucht. Ja die Erinnerung der Freundschaft stieg in dem zum Tod entsetzten Freiherrn wieder auf. Die Wildheit seines Wesens – was ist sie denn anders, als ein Uebermaß der Selbstwerthschätzung dieser alten Kernnaturen? Ach, sie kennen ja ihr menschliches Maß so gut wie andere. Soll ich es sagen? Ich empfand Mitleid mit ihm. Mehr noch! Ich nahm – Partei! Ruchlos mag es erscheinen – aber meine erste wissenschaftliche Arbeit war eine Betrachtung über die Politik der Bienen. Wir sollen dem Geiste leben, auch dem Geiste 93 in der Natur; aber schon die Natur hat nicht alles gleichgestellt. Ich liebe die alte Regelung der Geschichte, liebe die Stände, liebe die Unterschiede, welche die Modephilosophie verflachen will. Spinoza, der erste Tonangeber der Nivellirung, löste, was bunt und farbig im Leben blüht, in aschgraue Einerleiheit auf, Substanz oder Gott genannt. Schon aber Kant lehrte, auf unser Ich und das innere Gebot zu lauschen. Wie viel mehr ein Glaube, wie der –, den wir bekennen! Die Persönlichkeit, die sich in der Geschichte austrägt, ist mein Gesetz! Verblendet allerdings auch von deinem Bilde, bestochen auch vom Glanz der Versprechungen des Kronsyndikus, befangen zugleich durch seltsame Märchen, die von meiner Mutter gingen – aber mehr als alles der Gedanke: Das ist ein Enkel Wittekind's! Wollte Gott, es ginge noch groß und hochherrlich und hochfreiherrlich her im bureaukratisch geknechteten Vaterland! Wohl beweinte ich meinen Vater, beweinte auch mich; was hätte es nun aber helfen können, daß ihm der Kronsyndikus Ehre und Freiheit zur Sühne gebracht! Des Freiherrn Schuld wuchs mir zu einer tragischen. Wenn ich auch zagte, wenn das Herrscherwort des Gewissens – nenne so diesen dürren Kantischen königsberger Imperativ – mir wie ein Heimchen im Ohre summte, wenn ich mir auch, im kleinen Schacher und Handel mit dem Schicksal, im Versteckspiel mit meiner Brust, die nach Entlastung stöhnte, mir den Streifen Tuch, den von des Freiherrn Jagdrock abgerissenen, zu bewahren vorbehielt, ich mochte die weltliche Justiz nicht zur Siegerin machen über – die Poesie. Ja, das ist das Wort, das auf des Freiherrn Schicksal paßte. Und nun, Lucinde, sieh, wie die Götter ihre Schicksale verhängen, wie die Furien und Parzen dichten –! Ich, ich mußte dem Freiherrn dafür den Sohn tödten – mußte dich verlieren – mit dir Vernunft und fast das Leben – da reicht eine allerbarmende Hand aus den Wolken, zerstört den Spuk der heidnischen Nemesis, 94 der Gott der Liebe naht sich mir in Gestalt seines Sohnes – – Gestalt seiner Mutter – Maria warst du – du –

Lucinde mußte diesen Ausbruch der gesteigerten Aufregung unterbrechen. Aufs neue erschreckt sprang sie ans Fenster. Der Wind jagte durch die Bäume und ließ pfeifend den schrillen Ton der Laternen vernehmen, die an ihren eisernen Haltern hin- und herschwankten. Auf dem Gange rauschte es dahin daher mit schwerem Fußtritt. Auch Klingsohr horchte auf. Deutlich wurde die Stimme Kratzer's vernehmbar, der dem rumorenden Knechte zurief: Ist denn der Bursch immer noch oben?

Klingsohr! sprudelte sie in mächtigster Erregung auf und ihr Ton nahm vor Angst eine größere Wärme an. Ein Wort! Ich, ich verstehe gewiß Ihren Uebertritt! Jagte mich denn nicht selbst das Schicksal und hetzte mich so lange, so furchtbar, bis auch ich –

Lucinde! jauchzte Klingsohr auf und hob die beiden nackten Arme aus seiner braunen Kutte ihr entgegen.

Beide Convertiten hatten vielleicht nie so die Kraft ihres neuen Bekenntnisses gefühlt, so im Vergessen ihrer Gewissensbisse riesig sich wieder erstarkt gefühlt. Aber Lucinde gewann eher die Besinnung und die kalte Erwägung, als Klingsohr. Doch warum dieser Orden? fuhr sie fort. Warum dieses Gewand der Buße und Entsagung? Das war ja deine unglückliche Natur, Heinrich, daß du jedem Ding, das dein eigen geworden, sogleich die andere Seite abgewannst! Erkanntest du die schönste Lage, in welcher du dich befandest, zu tief, so quälten dich schon ihre Mängel! Immer gefiel dir die Sache, die du selber triebst, aber sie misfiel dir, wenn du sie auch unter den Händen anderer sahst! Ist der Beruf eines Bettelmönchs deiner würdig? Kannst du so deine That eines Vatermordes – denn Hehler, wie Stehler! – vergessen? So diese That sühnen –? Lehne den Vorwurf nicht 95 ab! Auch mich beschuldigen desselben Verbrechens oft die gespenstischen Schatten von Vater und Geschwistern. Trotze aber unserm Menschenloose! Bleibe groß! Ringe dich höher und höher! Auf, flieh nach Belgien! Nach Lüttich! Deine Gönner bieten dir die Hand! Zunächst, kannst du dies Haus verlassen? Der Wagen führt dich, wohin du willst! Flieh nach Lüttich und werde – Jesuit –!

Klingsohr hatte sich erhoben, ging mit seinen Sandalen zwar unhörbar auf und nieder – aber die schöne, muthige, beredsame Sprecherin hatte ihn in Flammen versetzt. Im Begriff war er, sie an sich zu reißen, sie schon auf die schmeichelnde Anrede: »Heinrich!« mit seinen Küssen zu bedecken. Zu ihren Füßen mochte er sich werfen, die schlanke Gestalt umschlingen. Diesen sich mehrenden Sturm seines Innern merkte Lucinde, deutete, um ihn durch Vorsicht zu beschwichtigen, auf einen anrollenden Wagen und fuhr fort: Ich finde dich ganz so, wie Serlo dich beurtheilte! Du glaubtest, sagte der Seltenste der Menschen, andere zu beherrschen und wärest der Sklave doch nur derer, die dich bewundern! Ohne den Wind, den du selbst um dich her machtest, wärst du sogleich auf dem Sande! Stürme glaubtest du zu beschwören, die eine Welt erschüttern sollten, und du wärst doch nur der Mann des Sturms im Glase Wasser! Kleine Huldigungen könnten dir zur Abschlagzahlung für die größten Erwartungen dienen, in denen du dich täuschen ließest! Wahre Erfolge wärst du so wenig gewohnt, daß man dich mit Kupfer statt mit Gold befriedigen könnte! – –

Nein! Nein! rief Klingsohr wild trotzend und ergriff einen Riegel des Fensters, als könnte er diesen vom Holz abreißen vor neuerwachter Lebenskraft –

Nimm von mir die Lehre, fuhr Lucinde lächelnd fort, die sich auf die bitterste Erfahrung auch meines Lebens begründet, daß wir zu Grunde gehen, wem wir uns kein Ziel mehr stecken! 960 Im Kloster könntest du zwei Ziele haben: Priester zu werden – du bist es noch nicht – und dann ein Heiliger! Beides aber wird deiner Natur mislingen. Tritt aus diesem Cirkel, in dem du lebst, heraus! Geh nach Belgien! Unterwirf dich den Strafen und Bußen, die man anfangs über dich verhängen wird! Bei der Beurtheilung des Dranges, der dich trieb, deinen Ueberzeugungen mehr zu nützen, als du im Kloster Himmelpfort vermocht hättest, wird man etwas deinem Geiste Natürliches in dieser Flucht finden und dir in Rom Verzeihung erwirken –!

Für Klingsohr war schon Melodie, sich dies alles, als einst von Lucinden zu ihm gesprochen, für die Ewigkeit zu vergegenwärtigen. Dann aber regte sich mächtig unter so wilder Entflammung sein Ehrgeiz. Längst schon hatte man ihn ja gezwungen sich aufzugeben. Und nun sollte er von ihr, von ihr wieder neu aus den Trümmern seines Lebens zu einem »Titanengebilde« zusammengestellt werden, von ihr, deren Hand dies Bild einst zuerst »zerschlagen«? Gönnte sie denn der Kirche wirklich, forschte sein trunkener Blick, einen Streiter wie ihn? Hatte sie noch so viel Theilnahme, daß sie ihm beistand in seinem Jammer und die Verwerthung seiner Fähigkeiten erleichterte? Klingsohr glaubte in der That aus ihrem Munde die Sprache eines Philosophen zu hören, der in der Welt alles an seinem rechten Platze wünschte, keine Fähigkeit unbenutzt, jede Bestimmung der Natur von den Umständen eingeholt. Bei fernerer Besprechung des von ihr vorgeschlagenen Planes bewunderte er die gereifte Einsicht eines Mädchens, dessen Entwickelung er selbst geleitet, das er aber als zu solcher Höhe des Charakters bildsam sich nimmermehr vorgestellt hatte. Schon war er gefangen von ihren Vorschlägen, geblendet von den Mitteln, die ihr in unbegrenzter Anzahl zur Ausführung derselben zu Gebote zu stehen schienen. Er versprach es, sich aufzuraffen. Morgen in erster Frühe sollte 97 ihm der Druckerbursche gewöhnliche Kleider bringen. In der Abenddämmerung, wie jetzt, wollte er entschlossen auf das Hofthor zugehen, den Schlüssel, der von innen steckte, umwenden, und noch ehe man ihm nachsah, versicherte er, daß der Wagen ihn schon aufgenommen und entführt haben könnte. Diese Verständigung war, als wenn ein in Schutt begrabener Brand durch den Hinzutritt von Luft sich aufs neue entzündet. Die Flammen der Jugend schlugen empor, alle Wahngebilde der Selbsttäuschung wirbelten in flockigen Feuerzungen. Ich dich lassen! rief er wie einst. Ich dich nicht wiedersehen, Lucinde! Mein Geschick ist und bleibt, zu sterben am gebrochenen Herzen – durch deine Untreue, deine Falschheit, deine Lüge – nein! Himmelsbote, vergib, daß ich dich lästere! Lucinde! Lucinde! Liebst du wirklich jetzt –

Sie entwand sich seiner Frage, seiner Berührung –

Nur den Saum deines Kleides laß mir! Ganymed! Götterknabe! Bist ja nur – mein Bruder –! Ach Lucinde! Zu wissen, daß dein Herz, deine Liebe einem andern, einem Mann gehört, der die Himmel deines Besitzes nicht ahnt – verschmäht wol gar –?

Wem –? fragte sie.

Bonaventura von Asselyn –! sagte Klingsohr mit erstickter Stimme –

Ei, sagte sie mit einem ihrer halb wahren, halb falschen Blicke – da irrst du! Den hass' ich ja – – wie er mich –

Du betest ihn an! Ich hör's an deinem Tone –! rief Klingsohr und näherte sich ihr. Da ergriff sie seinen Arm.

Es war ihr eben, als wenn mit einem Eisenstab an die Thorpforte geklopft wurde. Dann klingelte es in der That heftig. Sie sprang auf und sah in den Hof hinunter. Jemand leuchtete mit einer Laterne mehreren im Hofe Ankommenden entgegen. 98 Statt eines traten zwei Männer in den Hof und die Thorpforte blieb offen. Wer kommt da? fragte Lucinde, schon erstarrt, den gleichfalls, aber aus anderer Ursache, völlig Besinnungslosen anblickend. Ihre Worte erstickten im Schrecken vor dem Zurückspringen eines scheuen Pferdes am Thor und dem Hören eines metallenen Klanges, der von einer Waffe zu kommen schien. Auch eine geschlossene Chaise ließ sich aus dem spärlich erhellten Dunkel als draußen vorgefahren erkennen. Wem gilt das? fragte Lucinde.

Klingsohr wollte das Fenster öffnen. Sich langsam sammelnd, sprach er vom andern Flügel des Hauses, wohin man vielleicht einen der wahnwitzigen Priester brächte oder aus welchem man den, der das Haus schon lange beunruhigte, abholte. Unten war dem Joseph die Laterne ausgegangen und hellauf gellten die ihm von Kratzer über seine Ungeschicklichkeit gemachten Vorwürfe. Frau Hanne wurde gerufen und im selben Augenblick, wo gerade einer der Bewohner des Hauses heimkehrend durch die offene Pforte eintreten wollte, sprengte ihm der Reiter in den Weg und fragte nach seiner Befugniß, hier einzutreten. Es war ein Gensdarm.

Was wird?! fragte Lucinde verzweifelnd und die Worte: Wenn ich entdeckt würde! erstarben auf ihren Lippen – Und doch war sie auf mögliche Entdeckung vorbereitet und auf alles gefaßt gekommen – wie sie sich überredet hatte.

Klingsohr beruhigte sie und lauschte. Die beiden Civilisten hatten mit Kratzer den Mittelbau betreten. Schon hörte man sie von der Stiege her reden, ohne daß durch die langen Corridore der Inhalt ihrer Worte verständlich werden konnte –

Mich hier treffen – mich erkennen! Nimmermehr! rief Lucinde. Auf ewig wär' ich verloren –! – Alle ihre Fassung war dahin. Schon hatte sie die Thür ergriffen und sogar ihren Regenschirm in der Hand, wie eine Waffe zum Schutz.

99 Man geht nur nach drüben hinüber! beruhigte Klingsohr, der sich vor Aufregung in die Störung gar nicht finden konnte. Oder geh', geh', sprach er ihr nach, da sie schon ging. Man wird dich durchlassen. Hier nimm die Papiere! Muth! Morgen geh' ich nach Belgien! Wir sehen uns aber wieder –!

Lucinde stand einer Ohnmacht nahe . . .

Lucinde! Hast du mich doch neu belebt! Und du willst zagen? Höre ruhig! Was du mir räthst, ist nichts Kleines. Ich werde ein Verräther an meinem Orden! Ich büße drei neue entsetzliche Jahre meines Lebens! Man wird mich in Kerker und in Peinen aller Art werfen! Ich kenne das, was ein Flüchtling aus einem Orden in einen andern zu bestehen hat –!

Lucinde hörte nicht mehr. Nummer Sechzehn? sprach sie, nach außen das Ohr spitzend, einem Worte nach, das sie gehört zu haben glaubte. Mechanisch sprang sie an die Seitenthür, die zu Klingsohr's Schlafcabinet führte. Klingsohr konnte sie nicht halten und in der That – schon nahten sich die Schritte der Ankömmlinge und schienen allerdings nur die Thür des von ihm bewohnten Zimmers zu suchen.

Instinctmäßig drückte Lucinde auf den Drücker der Kammerthür und tastete im Dunkel des nächsten Nebenzimmers nach dem Ausgange, der gleichfalls auf den Corridor führte. In demselben Augenblick, wo sie bei Klingsohr eintreten hörte und voll Furcht nach einem Schlüssel fühlte, schloß sie, da sie einen solchen fand, auch schon leise auf, drückte die Klinke nieder und wollte sich still entfernen.

Aber beim ersten Schritt, den sie hinaus machte, sah sie auch, nur um einige Schritte weiter, den zurückgebliebenen Kratzer mit dem zweiten der Angekommenen. in welchem sie sofort an seiner 100 Montur einen Commissär der Polizei erkannte. Belebte sich auch ihr Muth, jetzt an dem Castellan vorüberzugehen und trotzig das Freie zu gewinnen, so entschwand er im gleichen Moment. Sie trat wie der Blitz zurück, als sich die Thür bei Klingsohr geöffnet hatte und nun auch Kratzer von einem Manne mit hereingerufen wurde. den sie sofort aus Kocher am Fall und von ihrer Reise dorthin als den Assessor von Enckefuß erkannte. Nun würde sie der Commissär sicher nicht haben ungefragt vorübergehen lassen. Auch stand ihr noch jener am Thor wachende Gensdarm mit dem Anspringen seines Rosses vor Augen.

Bebend hielt sie den Thürdrücker in der Hand und lauschte der geöffnet gebliebenen Nebenthür, wo sich eine lebhafte Erörterung entspann, die jeden Augenblick durch das Eintreten des Assessors auch zu ihr konnte unterbrochen werden. Ihre Lage war so verzweifelt, daß sie sich mit unwillkürlicher Ideenverbindung in ihren schrecklichsten Lebensmoment zurückversetzt fühlte, in den, wo sie einst bei den Worten: »Johanna geht, und nimmer kehrt sie wieder!« den höhnischen Beifall des versammelten Publikums vernahm.

Mit den lauten und absichtlich betonten Worten: Das Gepäck eines Bettelmönchs, meine Herren, ist leicht! trat Klingsohr etwas der Thüre näher, gleichsam um zu verhüten, daß man die Kammer betrat. Man verhaftet ihn! sagte sie sich zitternd . . . Er muß den Wagen besteigen! . . . Mit dieser schneller gedachten, als sich selbst ausgesprochenen Vermuthung hatte Lucinde den Muth oder – die Furcht, die Thürklinke noch einmal leise niederzudrücken und auf den Corridor mit einem hurtigen Blick hinauszuspähen. Im selben Moment kam Joseph an mit seiner neu angezündeten Laterne. Der Commissär wandte ihm das Antlitz zu und ging ihm sogar einige Schritte entgegen. Nun hielt sie keine Besorgniß mehr zurück. Mit einem 101 einzigen Sprunge war sie aus dem Zimmer, huschte den Gang hinunter, tiefer hinein in die vom sich annähernden Lichtstrahl nicht getroffene Dunkelheit. Ohne das Geräusch, das sie bei alledem hatte machen müssen, zu beachten, hielt sie sich in der Thürböschung einer der andern Zellen. Fest angedrückt harrte sie der Dinge, die kommen würden.


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