Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. IV. Buch
Karl Gutzkow

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

51 9.

»Nein, es ist ein S–köndöl! Nicht einmöl eine Löterne ist einges–chlögen –!« Diese am folgenden Morgen in Nück's »Schreibstube« von Herrn Jean Baptist Maria Schnuphase gesprochenen Worte ließen eine zwiefache Deutung zu. Entweder konnten sie sagen: Alle Truppen waren auf den Beinen, um eine einfache harmlose Schlägerei zwischen dem katholischen und evangelischen Handwerkerverein zu verhindern! Oder: Man hat auf einige, die nicht weichen wollten, nur blind gefeuert und niemand von den Feiglingen wagte auch nur den geringsten Widerstand –!

Wie sehr aber statt des ungleichen Kampfes der Faust der Geist des »Treppenwitzes« im Vortheil war, das ließ sich aus den wenigen Worten ersehen, die Nück nur mit Schnuphase wechseln konnte. Nück hatte ihn rufen lassen. Er ersuchte ihn, heute und morgen, zu jeder Stunde, einen Wagen und zwei tüchtige Pferde, die etwas aushalten könnten. in Bereitschaft zu halten, um eine noch nicht näher bezeichnete Person, am Tage oder bei Nacht und Nebel, aufzunehmen und sie an einen gleichfalls erst näher zu bestimmenden Ort zu überführen. Diese bedeutungsvollen, Herrn Jean Maria in »Extöse« versetzenden Worte – er »frühs–tückte« bei solcher Stimmung auf dem »Höhnenkömp« schon um zehn Uhr – waren heute das kurze, aber feste und bestimmte Zwiegespräch zwischen beiden Gesinnungsgenossen. Selbst 52 den leisen Einwand, den Herr Maria machte, morgen Abend reise der Domherr von Asselyn nach Witoborn und es zieme sich wol eine »Demönströtion«, bei welcher er selbst nicht gut würde fehlen können – schnitt Nück ab. Denn schon ging und kam und rauschte und flüsterte und lachte und seufzte es wieder um ihn her. Wieder waren aus Rom Breven angekommen, die den geistlichen Verwesern des Kirchenstuhls sagten: »Wir haben euch zwar gestattet, die heiligen Handlungen zu vollziehen, haben aber auch gehört, daß ihr eure Administration in einer Weise führt, die für euern ruhmwürdigen gefangenen Oberhirten im höchsten Grade beleidigend ist –!« Schon waren die Cabinete der Fürsten gespalten. Eine geheime Deputation der Fanatischen wurde vorbereitet an den damaligen Lenker der europäischen Geschicke an der Donau. Ein geheimer Congreß hatte auf dem Stifte Neuburg bei Heidelberg die Abgeordneten aller Kirchenhäupter des vaterländischen Südens zu gemeinschaftlicher Berathung vereinigt. Der Norden bereitete sich vor zu einer Versammlung in der Nähe Witoborns. Die Väter der Gesellschaft Jesu kamen näher und näher, in mancherlei Trachten und Gestalten. Andere wieder begaben sich von hier nach Belgien, in ihre Profeßhäuser, Kinder sogar, junge Leute, die Michahelles hatte erziehen lassen für die Weiterbildung in Lüttich. So war denn auch neulich Tönneschen Hilgers, der Schifferknabe von der Insel Lindenwerth, zu den Jesuiten expedirt worden. Nück hatte so viel zu thun, daß er nur in dringenden Geschäften zu sprechen war, eine einzige Dame, wie er sagen ließ, ausgenommen, die Gesellschafterin seiner Schwiegermutter, Fräulein Lucinde Schwarz.

Lucinde wählte aber die schriftliche Verständigung und begab sich in der Frühe zu Veilchen Igelsheimer. Ihre hohe schlanke Gestalt sah man, nach dem Besuch der Messe, mit dem Glockenschlag zehn in die Rumpelgasse eintreten. Sie war blau verschleiert, in 53 einem schottisch carrirten Mantel; ein Pelzmuff bedeckte die Hände. Das Wetter hatte plötzlich umgeschlagen und war kalt geworden. Einer der kleinen Kanäle der Stadt war mit einer dünnen Eisdecke überzogen. Eine Menschenmenge stand da, um ein Wunder anzustaunen. Auf dieser Eisdecke hatte sich eine Figur gebildet, die man allenfalls – für ein Kreuz nehmen konnte! Man sah darin eine Anspielung des Himmels auf die Leiden des Kreuzes auf dieser Erde.Thatsächlich. Lucinde drängte sich mühsam durch diesen Aufruhr hindurch und betrat das enge Stadtviertel, wo unter den Tritten der Fußgänger schon wieder der Frost aufgeweicht war und es, wie immer, werkeltägig genug aussah, obgleich die Juden Sabbat hielten.

Lucinde kannte durch Trendchen alles, was Löb Seligmann über Veilchen Igelsheimer erzählt hatte. Sie wußte die Liebe derselben zu jenem Leo Perl, der ihr ja selbst von der Hasen-Jette als ein weiland Michel Angelo'scher Moses dargestellt worden war; sie kannte den Antheil, den an dessen Uebertritt der Dechant und, wie sie aus den gegebenen Andeutungen nicht bezweifeln konnte, sogar der Kronsyndikus genommen hatte; sie kannte Veilchen's jetzige Thätigkeit in dem antiquarischen und carnevalistischen Geschäft ihres Verwandten, eines zweiten Bruders der Hasen-Jette, kannte ihre Kenntniß von alten Münzen und daß sie es war, die jene »Ahasverusscherze« trieb mit römischen Kaisernasen, welche in Gänsemägen den Rost der Jahrhunderte ansetzten. Endlich wußte sie, daß Klingsohr durch die Zutraulichkeit Veilchen's gewagt hatte, hier sein Ordenskleid abzulegen. Der Verräther des Mönchs war Jodocus Hammaker gewesen, der, angstvoll nächtlich umgetrieben, sich noch durch Ausübung seiner gewohnten Spionendienste den Schein der 54 Unbefangenheit hatte geben wollen. Von Serlo's Kindern und ihrer Mutter hatte sie nur einmal einen Brief, die Bitte um Geld erhalten, nichts dann wieder von ihnen vernommen, weder Empfangsanzeige, noch, »wie sich von selbst verstand«, Dank – Alle diese Eindrücke sammelnd und in sich zurecht legend, umschlungen wie mit glühend ehernen Armen von der Erinnerung an den gestrigen Abend, aufathmend nach Hülfe wider die schon im Dom, von wo sie aus der Messe kam, vernommene Kunde, daß Bonaventura morgen Abend reise, nach Witoborn reise, wohin die mögliche Rückkehr auch Klingsohr's ihre Pein vermehrte, voll Entschlossenheit, bis zum morgenden Tag es über ihr ganzes Leben zu einer letzten Entscheidung kommen zu lassen, bestieg sie einige Stufen, die in eine dunkle Hausflur führten, wo zur Linken der Eingang in das heute feiernde Geschäft »Nathan Seligmann« lag.

Die Vorläden zu drei Fenstern, die in die dunkle Gasse führten, waren trotz des Sabbats halb und halb geöffnet geblieben. An einigen alten Vasen und Majolikaschüsseln, alten Kupferstichen, einigen Dominos und Masken sah man, daß sich hier das Geschäft Nathan Seligmann's befand, der sich auch anderweit in der Feier des Sabbats als kein zu strenger Rigorist bezeigte; denn als die Thür mit lautem Klingeln aufging, sah Lucinde, daß am Spalt eines der angelehnten Fensterflügel ein der Hasen-Jette ziemlich ähnlich gebauter, starker und kräftiger Mann stand und an einer Blechhaube die Rostflecken abputzte. Ringsumher lagen die Embleme eines vollständigen Ritters.

So dunkel es war, bald fand sich die entschlossen Eintretende zurecht in dem großen Zimmer, an welches sich weitere mit Gegenständen aller Art überhäufte Alkoven und Gänge und Mauerschränke anschlossen. Die ganze Herrlichkeit der mit ihrem Carneval gleich hinter Rom und Venedig rangirenden Stadt war hier beisammen, soweit sich die Minderbegüterten das alt und 55 leihweise entnahmen, was die der Sphäre Moppes, Maus, de Jonge angehörenden Matadore sich neu anfertigen ließen. Den Helm, den Nathan Seligmann eben putzte, hatte Weigenand Maus im letzten Carneval getragen; der Geschäftsgang brachte es mit sich, daß das Gebrauchte dann um ein Billiges an die Juden ging.

Nathan Seligmann schien tief in Gedanken verloren und die Zeit selbst zum Gegenstand seiner Betrachtungen gemacht zu haben, denn ein Carneval fand in diesem Jahre nicht statt. Traurig hingen um ihn her die Hanswurstjacken. Seiner verdrießlichen Miene schienen die Schellenkappen zu klingeln wie Sterbeglöcklein. Das Lachen der Masken war so todt wie, nach Klingsohr, das stehen gebliebene Lachen in den Gesichtszügen der alten Voltairianer des Kapitels. Nathan war des Sabbats wegen in einen feinen blauen Oberrock gekleidet, mit drübergezogenen grauen Schmutzärmeln. Seine Art war unfreundlicher, als die seines coulanten, weltkundigen, musikliebenden Bruders Löb, der sich zu seiner schon von Geburt weichen Seele noch eine ästhetische und feinfühlende Bildung erworben hatte. Er blickte auf Lucinden, indem er in seiner Arbeit innehielt. Das eine Auge schloß er blinzelnd, eine Geberde, die er an Geschäftstagen noch vervollständigte bis zu einem gänzlichen Bedecken seiner beiden Augen mit der Hand, um drüber wegfahrend durch eine offen gelassene Spalte zwischen den Fingern hindurch gleich sich zu orientiren, weß Geistes Kind ihn besuche, ob er viel oder wenig fordern, Echtes oder Unechtes vorlegen durfte. Die Hoffnung, Lucinde würde auf Veilchen's Schreiben eingehen, hatte man wol schon aufgegeben. Doch war der Besuch eleganter Damen für Seligmann nichts Neues. Nur mit Lässigkeit fragte er nach dem Begehren.

Lucinde verlangte Fräulein Veilchen zu sprechen. Noch ehe sie ihre Worte geendet hatte, wand sich im Hintergrunde eines 56 dunkeln Ganges aus einem Gerüst von Schweizer- und Tirolertrachten, tressengestickten rothen Miedern und Hüten mit Spielhahnfedern und Gemsbärten eine Person heraus, die sie an die alte Garderobière des Theaters erinnerte, wo sie drei Acte der Jungfrau von Orleans gespielt hatte und nach Serlo's Anweisung so sicher und fest die Worte glaubte sprechen zu können: »Mein ist der Helm und mir gehört er zu!« Veilchen war nach Löb's Erklärung am Geiste schön. Der Geist mußte hier einen gebrechlichen Körper verklären und gab auch in der That den blauen Augen etwas durchsichtig Glänzendes. Sonst war die eine Schulter etwas höher als die andere und überhaupt der Wuchs so zurückgeblieben, daß Lucinde fast an die jetzige Baronin, frühere Sängerin Henriette Montag in Kiel erinnert wurde. Man durfte hier sehr wohl von Theatererinnerungen angeregt sein.

Ich wußte doch, daß Sie kommen würden! sprach die kleine Gestalt mit weicher, klangvoller Stimme und verrieth, daß sie Lucinden sogleich erkannt hatte.

Nathan orientirte sich jetzt. Statt aber seine Höflichkeit nachzuholen, schloß er nun auch noch das andere Auge. Durch eine ganz kleine Spalte blinzelte ein Strahl gemachter Freundlichkeit hindurch. »Die Kinder sind wie die Brüder der Mutter!« sagen die Juden. David Lippschütz hatte nicht die freundliche Bonhommie seines Onkels Löb, eher die Miene wie Onkel Nathan. Seine Witze: »Ein Frédéric d'argent« und sein kritisches: »Warum sitzt Moses?« wurden damals in Kocher am Fall mit demselben mürrischen und blinzelnden Zusammendrücken der Augen gesprochen.

Um so freundlicher war Veilchen. Als sie sich aus der Region der grünen Alpenwiesen und der Sennhütten herausgewunden hatte, deutete sie auf eine Thür, die bereits Nathan geöffnet hatte – nicht ohne Anzeichen einer aus seinem 57 forschenden Blick sich entwickelnden ärgerlichen Stimmung, und ließ Lucinden näher treten. Ein Gemach empfing sie, das ebenso ein Comptoir sein konnte wie ein Vorrathsmagazin feinerer Verkaufsgegenstände und sogar ein Boudoir. Hell war es eben nicht. Eine schwarze hohe Brandmauer stand nicht fünf Fuß weit von den beiden Fenstern entfernt, die ohne Gardinen bleiben mußten, nur um ein wenig Licht hereinzulassen. Aber trotzdem stand ein Schreibbureau da, worauf Handlungsbücher lagen, stand ein Tisch da mit ausgebreiteten Kupferstichen und einer langen Verwickelung von Spitzen, die nicht etwa zu Veilchen's Handarbeiten gehörte – Handarbeiten existiren nicht für sie, hatte schon Löb an Trendchen erzählt – sondern zu ihrer Kunst, Neues in Altes zu verwandeln. Die lange Spitzenverwickelung endete in einer Tasse mit Kaffeesatz. Eine andere gebräunte Garnitur hing zum Trocknen an einem der beiden Fenster. Ja auch die Kupferstiche schienen durch Kaffee gezogen. Ein Bücherschrank nur voll alter Bücher.

Aber Sie sollten das Fräulein oben in unsere Stube führen! sagte Nathan mit erzwungener Artigkeit und mit dem Bewußtsein eines oben ersichtlichern sabbatlichen Comforts. Veilchen räumte aber schon einen Sessel ab und fiel ein: Hab' ich eben auch gedacht! Aber für Sie ist heute kein Sonntag! Wenn Sie es nicht verschmähen –

Lucinde saß nicht nur schon, sondern war auch schon in voller Erörterung der Angelegenheit, die sie hergeführt hatte. Gemüthliches Auszupfen einer neuen Bekanntschaft fehlte ihr zu jeder Zeit und vollends bei solcher Stimmung, wie die, in welcher sie kam. Bonaventura reiste –! Nicht ein Schloß, die Welt in Brand zu stecken – dazu hätte ihr Nück gestern die Gelegenheit geben sollen –!

Auf einen Wink Veilchen's entfernte sich Nathan und legte 58 die Thür an, ohne sie ganz zu schließen. Dieser Besuch war für ihn aufregend; für Veilchen schien der Eindruck Lucindens, deren Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erschreckend zu sein. Lucinde inzwischen erkannte allmählich, daß die Jüdin regelmäßige, fast plastische Gesichtsformen hatte, doch schon über die Fünfzig zählen mußte, so dunkel auch noch ihr Haar glänzte, das nach Löb's Vergleich der Seide gleichen sollte. Die zwei langen Locken, die ihr fast über die Augen hinweg hingen und die Nase in gewaltiger Schärfe hervortreten ließen, ihr beinahe das Ansehen eines talmudischen Gelehrten, eines Bocher, gebend, hatten eher etwas Starres, gerade so wie die Haare Lucindens in ihrer ersten Jugend waren, als sie ihren schönsten Schmuck nur noch mit dem Wasser aus den Bächen von Langen-Nauenheim pflegte. Auch ein höchst anmuthiges und fast mädchenhaftes Lächeln hatte Veilchen um ihren schöngeformten Mund. Wohlwollend nickte sie zu allem, was Lucinde mit Ernst und großer Kälte sprach. Dabei hielt sie ruhig die Hände in ihrem Schoose und hatte eine Miene der Spannung und Angst, die bereits verrieth, daß sie von Lucinden keinesweges Gütiges und Wohlwollendes für ihren alten Freund erwartete. Es konnte darüber bei ihr kein Zweifel sein, daß der Gefangene eine frühere Liebe der stolzen jungen Dame gewesen, die da vor ihr saß; bei Erörterung des aus des Mönches Kutte gefallenen alten gestickten Portefeuilles war die Ursache der Metamorphose, die sich ein Geistlicher hatte zu Schulden kommen lassen, nicht verschwiegen geblieben.

Dennoch fragte Lucinde mit der ihr eigenen kurzen und schneidenden Bestimmtheit: Woher wissen Sie denn, daß ich eine Verpflichtung habe, für den Pater zu sorgen?

Zu sorgen, mein Fräulein? sagte Veilchen lächelnd und verbindlich. Hab' ich geschrieben: zu sorgen? Ich habe gebeten 59 um einen Beweis menschenfreundlicher Gesinnung! Und die Frau vom vierten Stock im Goldenen Lamm hat mir's ja auch gesagt, Sie könnten ein Engel sein!

Nicht Lächeln weckte dies: »Könnten« in Lucindens Mienen, sondern düsterer senkten sich ihre Augenbrauen und jede ihrer Mienen verrieth, daß solch Erinnern an ihr früheres Leben ihr peinlich war und daß die Angelegenheit, die sie hierher geführt, rasch erledigt sein mußte . . . Hat mich der Pater selbst als die bezeichnet, die ihm helfen könnte? fragte sie.

Daß Gott verhüte –

Ist seine Haft so streng?

Ein Mensch kann die Luft entbehren, wie ich selbst sie entbehre! Wie Sie mich hier sehen, Fräulein, hab' ich seitdem, daß ich unsern neuen Tempel kennen lernen wollte, nicht die Rumpelgasse verlassen. Aber der Pater liegt in den Ketten und Banden seines Geistes! Krank ist er am Körper wie an der Seele! Er muß zu Menschen, die ihn lieben! Einer war anfangs hier, dem er gern geschrieben hätte, ja dem er erst sogar hätte beichten mögen; dann ließ er es, weil er erfuhr – Veilchen stockte und blickte halb zur Seite, halb prüfte sie Lucinden, die, hocherröthend, sie vollkommen verstand – Anfangs? zuckte es in ihr glücklich auf. Denn daß nur Bonaventura gemeint war, sah sie an dem Blick der Jüdin. Also anfangs nur? grübelte sie. Keine spätere Beziehung? Und erfuhr –? Was – erfuhr? Daß ich – Bonaventura – liebe?

Wer ist dieser Eine? fragte sie kurzweg.

Der neue Domherr von Asselyn! bestätigte die Jüdin.

Lucinde schwieg eine Weile hocherglüht. Dann fuhr sie, wie zustimmend, fort: Ich sah den Pater mit dem damaligen Pfarrer von St.-Wolfgang öfters zusammen gehen – Mit diesen Worten wollte sie sagen: Haben sich beide damals darüber 60 verständigt, wie mich ein grausamer Zufall zwischen beide gestellt hat? Oder hat man Klingsohr von anderer Seite zugetragen, was sogar bereits Nück wußte – daß ich nur Einen, nur Bonaventura liebe? Sind die Umstände, die mit meiner schimpflichen Entfernung aus der Dechanei zusammenhängen, auch hierher schon, unter dies armselige Dach, gedrungen und vielleicht von hier aus Klingsohr bekannt geworden –?

Die Jüdin vermied, das, wie sie wohl sah, außerordentlich reizbare junge Mädchen zu verletzen, zog sich auf ihre Bescheidenheit zurück und plauderte ausweichend: Es gibt Menschen, die sich vermeiden, gerade deshalb, weil sie sich lieben –! Oder: weil die Wahrheit, die einzugestehen dem einen eine große Seligkeit wäre, dem andern Schmerzen bereiten könnte – Ja, gibt es nicht Menschen, die täglich mit Wärme sprechen können von der Liebe, und sie selbst sind kalt –? Sie fühlen wol die Liebe – denn die Liebe ist unabweislich – aber sie haben nicht den Muth, sie – sie zu genießen –

Zu bekennen! verbesserte Lucinde und suchte aus diesen sonderbaren Andeutungen neue Klarheit zu gewinnen.

Die Liebe ist doch ein Genuß – ein Egoismus, ein schöner Egoismus –! sagte Veilchen.

Die Liebe ist Selbstentäußerung –

Das lehrt die Religion, entgegnete Veilchen, aber die Philosophie sagt: Die Liebe ist das Bedürfniß, sich von seiner eigenen Person erlöst zu wissen und die Wonne zu genießen, daß wir darum doch in einer andern Person Bestand haben! Ein Priester kämpft gegen diese unendliche Freude, die in der Liebe liegt, durch seinen Beruf an und – noch mehr! Wenn die Liebe die grausamste Eitelkeit genannt werden muß, weil der Mensch verlangt, daß ein anderer gleichsam statt seiner lebt und mit für sein Leben die Kosten bezahlt – die Kosten, die manchmal über 61 des andern Beutel hinausgehen – so kommt es, daß die weichsten Menschen kalt erscheinen, blos weil sie – bescheiden sind –! Bescheiden! Fräulein! Sie wollen den andern nicht in Unkosten versetzen –

Die Jüdin lächelte, lächelte schon aus Verlegenheit, so offenbar auf die von Bonaventura nicht erwiderte Liebe Lucindens angespielt zu haben. Lucinde lächelte nicht. Sie nahm die seltsame Dialektik der Jüdin als ein Bestreben, auf ihre Kosten witzig zu sein. Und doch hätte sie länger zuhören mögen. Die Andeutung über edle Naturen, die sich den »Genuß« der Liebe versagen und nur äußerlich kalt erscheinen, that ihr wohl.

Inzwischen hatte es draußen geklingelt. Nathan steckte seine zusammengekniffenen Augen, die wieder Freundlichkeit ausdrücken sollten, durch die Thürspalte. Excuse! sagte er mit einer Andeutung seines feinen Weltschliffs und überreichte Veilchen einige Blätter Papier mit den Worten: Eben kommt das von – – Es hat Eile! Der Druckerbursche wartet!

Der Druckerbursche –? sagte sich Lucinde und gedachte des Abends bei Beda Hunnius.

Es war sogar in der That wieder eine Nummer des Kirchenboten – Diesmal nicht die Censur, sondern die Correctur, wie sogleich Veilchen erläuterte, während sie nach einer Bitte um Entschuldigung in dem Blatte las und nach einigem Besinnen leise buchstabirte.

Ist das eine Zeichensprache? fragte Lucinde.

»Ich – bin – elend –!« buchstabirte Veilchen . . .

Wer schreibt das?

»Ich bin elend! Hül–fe! Zu – Hu–bertus! Zu Hubertus –!« Heute weiter nichts! sagte sie, schlug das feuchte, von angezeichneten Correcturen begleitete Blatt zusammen und 62 gab es dem lauschenden Seligmann, der es verdrießlich entgegennahm. Veilchen drückte jetzt selbst die Thür zu.

Zu Hubertus! Lucinde verstand, was sie befürchtete. Aber wenn sie auch sagte: In den Druckfehlern schreibt das der Mönch? so lag in dem Scherz ihre Ungeduld.

Veilchen erklärte, daß infolge seiner schriftstellerischen Polemik und seines Zusammenhangs mit dem aufrührerischen Treiben des Tags Sebastus von der Regierung verhindert wurde, mit irgendjemand zu correspondiren, außer durch die Hände des Untersuchungsrichters. Nur eine in den Schranken sich haltende literarische Thätigkeit war ihm verstattet geblieben. Seine Drucksachen mußten bereits im Manuscripte censirt sein. So konnten nur die Correcturen zu Hülfe genommen werden, um Klingsohr mit der Außenwelt in Verbindung zu erhalten. Mit Veilchen zu correspondiren war ihm Bedürfniß geworden nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen. Sie gab an, daß nicht etwa in den Correcturen zur Seite (Mit Druckfehlern ist nicht zu spaßen! schaltete sie auf Lucindens scheinbaren Scherz ein. Ein Arzt hat einmal einem Patienten, der sich gewöhnte, aus populären Heilbüchern sich selbst Recepte zu verschreiben, gesagt: »Sie sterben noch einmal an einem Druckfehler!«), sondern im Text eine Verständigung dadurch ermöglicht wurde, daß sie beide die Buchstaben, die zu ihren Mittheilungen gehörten, mit einem kleinen, beinahe unsichtbaren Pünktchen bezeichneten. Die Zusammenstellung derselben ergab einen Sinn. So jetzt diesen Hülferuf, der Lucinden aufgetrieben hatte von ihrem Sessel und sie fragen ließ: Sollte es denn so schwierig sein, ihn aus dieser Haft zu befreien?

Doch!

Man könnte den Wächter bestechen –

Unmöglich!

63 In irgendeiner Verkleidung sollte er das Profeßhaus verlassen – Einen Wagen würden Sie ja besorgen können –

Bitte, Fräulein! Sie haben doch wol schon die Verdrießlichkeit des Herrn Seligmann bemerkt?

Ich finde, daß Herr Seligmann nur sehr neugierig ist! sagte Lucinde, sich umblickend. Denn eben ging die Thür und wie gleichsam von selbst wieder auf.

Es ist seine Angst, sagte Veilchen, daß wir uns wieder in Dinge einlassen, die uns die größte Verantwortung zuziehen können!

Und doch wagten Sie das Verleihen eines bürgerlichen Kleides an einen Mönch?

Wohin kommt man nicht, wenn man sein Geschäft hat von der »verkehrten Welt« –! Oben, mein Fräulein! hängt das ganze Mittelalter. Die Angst, die wir dazumal gehabt haben mit der zurückgebliebenen braunen Kutte, möcht' ich nicht zum zweiten male erleben! Und Lucindens Sinnen ließ Veilchen Zeit, zu erzählen: Als damals der Pater ein bürgerliches Kleid von uns begehrte, blieb ich bis spät in die Nacht hinein auf. Endlich kommt der Pater zurück und verlangt nach seinem Gewande. Er langt danach, greift in die Taschen und vermißt ein Portefeuille. Denken Sie sich meine Bestürzung! Ein Franciscaner ist ein Bettler, seine Brieftasche konnte keine Schätze enthalten; auch war sogleich ein Verdacht unserer Unehrlichkeit nicht vorhanden – denn der Pater traute mir, lieber Gott, seitdem ich meine Verschwiegenheit mit einem Scherz beschworen hatte: beim Gotte Spinoza's! ein Wort, das man zu manchem Mönche freilich sagen kann und er versteht's nicht. Also – in der Brieftasche lag nichts, als ein einziger Streifen Tuch, den er eine ewige Belastung seiner Seele nannte und den er besitzen müsse, wie Magdalena den täglichen Anblick ihres sündigen Antlitzes in 64 einem Spiegel, sagte er, oder in einem Bach oder in dem Wasser, in welchem sie sich wusch, oder in den Augen der Menschen, die sie verachtend ansahen. Alles boten wir auf, die Tasche zu finden. Vergebens! Die Zeit drängte. Der Pater mußte sich entfernen. Er erklärte am folgenden Morgen wiederkommen zu wollen. Inzwischen muß ich länger schlafen, als gewöhnlich, da ich die Nachtruhe versäumt hatte, und am folgenden Morgen ist zufällig der Bruder des Herrn Nathan im Geschäft und muß sogar am Fußboden drinnen die Tasche finden. Die beiden Brüder untersuchen sie und entdecken nichts als einen Streifen Tuch. Herr Nathan hatte nicht die Nacht gewacht, wie ich, und wußte nichts von dem Verlust, und wie die Männer in allen Dingen schwächer sind als wir, denkt er, seinem Bruder könnte er schon ein Geheimniß verrathen und erzählt ihm den Vorfall mit dem Mönche und will ihn dann erst schwören lassen, als der's auch schon verrathen hat. Und inzwischen hat sich längst schon der Bruder besinnen können, daß gerade ein Streifen Tuch einem Manne an seinem Ehrenkleide fehlte, einem gewissen Küfer Stephan Lengenich. Wie er nun gar erst den Mönch nennen hört, braust er auf, er, der sonst so milde, gütige Mann, und rennt davon wie ein schnaubend Thier und ruft: Hilf deinem Nächsten, soviel du kannst! Der wüthende Mensch hatte plötzlich erstens seinen Vortheil, zweitens eine Befriedigung für seinen Hochmuth und drittens eine Befriedigung für seine Rache. Der Mönch hatte ihm nämlich eine Beleidigung zugefügt. Nun bringt er den Küfer mit. Der kommt gar erst mit Augen wie ein Pardelthier! Die Brieftasche hatte ihm der Löb noch nicht gegeben. aber er haschte danach, wie ein Fisch nach dem Wurm! Jetzt meine Angst um diese wüthenden Menschen! Der Küfer war einmal angeschuldigt worden, den Vater des Mönchs ermordet zu haben – Gott im Himmel! Dieser Streifen Tuch war 65 abgerissen von dem Kleide des Mannes, der's gethan haben muß. Und wie sie nun den Namen nannten und ich wieder fragte und noch einmal fragte: Der? Eben der? da – da vergingen mir doch selbst die Sinne –

Noch jetzt sank Veilchen in ihren Sessel zurück und zitterte.

Aber auch Nathan kam hereingestürmt und rief zornig mit polternden Worten: Sie wollen sich wieder krank machen!

Veilchen schüttelte, seine Sorge ablehnend, den Kopf. Noch ein Glück, daß ich in Ohnmacht fiel, sagte sie; die Männer erschraken darüber und legten ihre Wildheit ab.

Nathan rumorte im Zimmer. Lucinde stand wie vor einem Vorhang, den eine geisterhafte Hand von ihrem eigenen Leben zurückzog. Sie, sie hatte diese Brieftasche gestickt! Es war die Brieftasche des Abschieds einst in Lüneburg –! Stephan Lengenich, dem sie selbst einst scherzend die Worte gesprochen im Düsternbrook: »Niemand flicket auch ein altes Kleid mit einem Lappen von neuem Tuche –!« . . . Auch das wußte sie von Trendchen, daß eben diese Jüdin durch den Dechanten und den Kronsyndikus um Leo Perl, um die Hoffnung ihres Lebens, gekommen sein sollte – Sie sagte: Eher hätten Sie sich ja selbst dem Küfer verbünden müssen! Denn auch Sie, hör' ich, gehören zu den Vielen, die den Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof vor Gott anklagen dürfen!

Veilchen blickte auf und ihr leidender Blick winkte Nathan zu gehen. Dieser that es, jedoch mit dem misgünstigsten Seitenblick auf einen Besuch, der so viel traurige Erinnerungen weckte.

Ich höre, fuhr Lucinde fort, daß Sie die Hoffnung Ihres Lebens, die Liebe des Doctor Leo Perl, verloren haben, weil er aus räthselhaften Ursachen Christ wurde!

Christ? – Priester! berichtigte Veilchen.

66 Lucindens Zucken verrieth die gleiche Empfindung. Und warum ward er es? Warum gab er Sie auf? fügte sie hinzu.

Veilchen, bereits gesammelter, steckte sich ihre beiden Locken an zwei Haarnadeln zurück. die sie eine Weile im Munde behielt. Schon um deswillen mußte sie schweigen.

Drangen Sie denn nie in dieses seltsame Geheimniß?

Veilchen schüttelte den Kopf.

Auch jede Ahnung fehlt Ihnen? Seltsam! Einige Zeit lebte ich in des Kronsyndikus Nähe! Ich kenne einen Neffen des Dechanten zu Kocher am Fall, den jungen Benno von Asselyn. Man könnte vielleicht nachforschen. War Leo Perl überzeugt von der Wahrheit des Christenthums?

Veilchen zuckte die Achseln und befestigte ihre Locken.

Er hat den Domherrn von Asselyn getauft, fuhr Lucinde fort. Auch eine hier jetzt lebende Frau von Hülleshoven, hör' ich, hat er getraut. Einen strengen, exemplarischen Lebenswandel soll er geführt haben.

Ich hört' es . . . sprach jetzt Veilchen.

Nie wieder hatten Sie eine Beziehung zu ihm –?

Seine letzten Bücher waren in Kocher am Fall geblieben. Als man sie ihm ins Seminar nachschicken wollte, ließ er sie an mich abgeben. Da stehen sie! Sie sind – das Letzte –

Für Lucinden konnte zunächst in dieser Mittheilung nur die Anerkennung der gewaltigen Kraft liegen, die das Christenthum auf die Ueberzeugung eines Mannes ausgeübt hatte, der ihr seine Liebe hatte opfern können. Sie fragte: Und diese Beziehung der Freude des Küfers zur Trauer Ihrer eigenen Erinnerungen – was brachte sie zu Wege?

Zunächst die Besinnung meines Verwandten, des Herrn Löb Seligmann. Er erinnerte sich meines Lebens und wurde mein Beistand! Er gab die Rache auf!

67 Welche Rache?

Sagt' ich es nicht? Am Tage vorher war er von dem Mönche beleidigt worden. Der Pater ist voll Heftigkeit und vor den Narben in seinem Antlitz kann man erschrecken. Herr Löb Seligmann beschwichtigte den Küfer und ich gewann wieder meine Kraft. In Güte hab' ich mit ihm mancherlei besprochen und er ließ mir die Brieftasche und versprach zu schweigen –

Das können Sie nur durch eine flammende Beredsamkeit erreicht haben! sagte Lucinde und gedachte der schauervollen Tage auf Schloß Neuhof, der Lisabeth, ihres eigenen Verhörs, ihres Schwurs. Den Küfer kenn' ich und die That auch, um die es sich handelt. Was sagten Sie ihm denn, das ihn so entwaffnen konnte?

Wieder kam jetzt Nathan herein und machte sich zu schaffen, um die aufregende Unterhaltung zu stören. Veilchen wurde nun selbst über ihn verdrießlich . . .

Mir scheint, Herr Seligmann, sagte sie, Sie suchen den gestrigen Tag.

Ich suche das nächste Jahr! fuhr Seligmann zornig auf. Wo werden Sie sein, wenn Sie nicht aufhören, Ihre Nerven – zu malträtiren!

Meine Nerven sind mein! sagte Veilchen dem Zornigen, der mit irgendeinem Gegenstand, den er scheinbar gesucht hatte, wieder gegangen war. Ja Fräulein! fuhr sie zu Lucinden gewandt fort; ich sprach, was ich eben sprechen konnte. Die Leidenschaften kenn' ich und ich schilderte die Rache. Ich sagte, daß alles gut im Menschen ist, was ihm zum Bedürfniß wird seiner Selbsterhaltung, falls seine Selbsterhaltung die andern nicht kränkt, und was die Erkenntniß Gottes befördert. Ich sagte: Gegen die Leidenschaften sind Großmuth und Edelsinn die einzige 68 Waffe! Ich bewies dem Mann, daß es sich um die Ehre eines Geistlichen handelt! Ich schilderte ihm die Leiden eines Priesters und einer ewigen Entsagung! Ich sah, daß der grimmige Mann ein Ohr für meine Rede hatte, und da gab ich ihm die Hand und sprach: Der Mann. der in wilder Blindheit eine grausame That gethan hat, die sich Gott wie seine andern Thaten wird gemerkt haben, war auch mein Feind! Ich sagte ihm, daß ich gehört hätte, dieser Mann wäre jetzt ein Greis, voll Kummer, und verschwendete so sehr an die Armen und die Priester, daß sie ihm haben seinen eigenen Sohn zum Wächter setzen müssen! Dann sagt' ich ihm, daß ich dem Pater einen Schwur gethan, der mehr als meine Ehre, der die Ehre Gottes selber wäre!

Bei dem Gotte Spinoza's? warf Lucinde ungläubig lächelnd ein. Wer ist denn dieser Gott? fuhr sie fort, den Kopf aufstützend. Den Hut hatte sie gar nicht abgenommen.

Das kann ich nicht sagen! erwiderte Veilchen. Aber jedenfalls ist es auch Ihr Gott! Es ist der Gott des Mannes, den ich liebte! Es ist der Gott, der in nächtlichen Stunden aus den Sternen zu uns sprach, wenn wir im schönen Garten der Dechanei zu Kocher am Fall Arm in Arm spazieren gingen – damals bewohnte sie noch nicht der Herr Dechant von Asselyn –! Es ist der Gott, in welchem die Seele des Geliebten sich damals mit der meinigen vereinigte –!

Und dennoch verließ Leo Perl diesen Gott? fragte Lucinde.

Nathan öffnete wieder die Thür und wisperte: Warum möcht' ich doch, daß der Kirchenfürst heute begnadigt würde und den schwarzen Adlerorden noch dazu kriegte mit Brillanten?

Nun? fragte Veilchen und machte eine Miene der Spannung auf einen »Witz« – trotz ihrer feuchtschimmernden Augen.

Weil uns dann die »Gecken« hier keine Zeit lassen würden zum – Schwätzen, bitte um Vergebung, mein Fräulein!

69 Sie sehen, mein Fräulein, sagte Veilchen aus ihren Thränen heraus, als die Thür rasch geschlossen wurde, er ist unglücklich über den abgesagten Carneval und fürchtet, daß er neben seinem Geld auch noch den Kopf verliert, falls wir uns wieder mit der Kirche einlassen – ohne Kanonen! Verlangen Sie von uns also nichts! Der Küfer sitzt im Gefängniß, weil er sich hat vor der Regierung compromittirt. Als damals dann der Pater zurückkam, erhielt dieser seine Brieftasche und ich hab' ihm erzählt, was damit vorgefallen. Er will dem Küfer dienlich sein, wenn der Kronsyndikus todt ist. Ich weiß nicht, was ihm muß sein Vater aus dem Grabe für wunderliche Sachen zugerufen haben. Nun ist das schon vier Monate her. Der Mönch kam noch einige mal, wurde aber verrathen und seitdem sitzt er ganz gefangen. Daß ich mit ihm durch die »Stufenbriefe vom Calvarienberge des Lebens« correspondire, ist jetzt alles, was wir noch wagen können. Aber Herr Nück! Herr Nück! Der ist allmächtig! Sprechen Sie mit Herrn Nück! Der Pater ist krank, Sie hörten es ja! Er sehnt sich nach seiner Heimat zurück, manchmal zu einem Mönch, den er Vater Ivo nennt, manchmal zu einem andern, Bruder Hubertus – Nun, Sie sahen es ja vorhin – Was soll ich ihm schreiben, mein Fräulein?

Lucinde stand träumend und blickte finster und voll Mismuth. Wie schreiben Sie ihm denn? fragte sie.

Durch die nächste Correctur! Mit Pünktchen –

Lucinde vergegenwärtigte sich die Worte, die Nück zu ihr gesprochen: Ueberreden Sie ihn, nach Belgien zu gehen! Sie mochte von Klingsohr nicht länger ihre Bahnen durchkreuzt sehen und um sich zu dem kalten Entschlusse, ihn für immer aus ihrem Leben zu verweisen, zu ermuthigen, sagte sie sich sogar, daß die geistige Verkommniß desselben jeden erschüttern dürfte, der seinen 70 Geist, seine Kenntnisse, seine Kraft als besser verwendbar zu schätzen wüßte.

Erwartungsvoll stand die Jüdin und wie bittend . . .

Sie wären nicht geneigt, die Zelle des Paters zu besuchen? fragte Lucinde.

Veilchen lehnte erschreckend ab mit den Worten: Mein Fräulein –!

Herr Seligmann nicht –?

Dieser antwortete selbst durch ein heftiges Rumoren nebenan, das allenfalls sagen konnte: Nun wird's zu viel!

Lucinde wußte, daß es sich hier um eine geistige Aufrichtung Klingsohr's handelte, die kaum anders, als von ihr selbst kommen konnte. Sie bedachte einen Brief, den sie etwa schreiben könnte. Die Augen der kleinen Jüdin leuchteten hoffnungsvoll. Eine Pause trat ein. Endlich sagte Lucinde: Aus vielen Gründen wünscht' ich, daß der Pater aus seiner Lethargie erwachte . . .

Das wäre herrlich! rief Veilchen.

Ich wünschte, fuhr Lucinde grübelnd fort, daß er seine Muthlosigkeit aufgäbe und sich für seinen nun einmal gewählten Beruf erkräftigte.

Ja! Ja –! unterbrach Veilchen.

Ich würde ihm rathen, mit allem, was ihn hier bedrängt und ihn auch künftig in Fesseln halten wird, für immer zu brechen und sich vielleicht – ins Ausland zu begeben –

Zu entfliehen? Stellen Sie ihm das vor –!

Wie kann das – ich?

Sie meinen – um die Vergangenheit –

Das hinderte nicht –

Schreiben Sie's ihm –! Ich schicke sogleich in die Druckerei –! Der Druckerbursche ist ein guter Junge – recht pfiffig . . . 71 Der Kaplan Michahelles hat den in eine Druckerei gegeben – Hernach soll er nach Belgien und Jesuit werden –

Die letzten Worte begleitete Veilchen mit einem Lächeln.

Jesuit? Ist Ihnen das ein so gleichgültiges Wort, daß Sie darüber lachen?

Hab' ich die Welt zu verbessern –?

Ihre Duldsamkeit scheint größer, als Ihr Wahrheitseifer –

Was ist Wahrheit?

Mindestens ist die Wahrheit das Gute!

Was ist Gut?

Suchen Sie nicht, was wahr, gut und gerecht ist?

Was ist Recht?

Sie anerkennen nicht Recht oder Unrecht?

Recht geht so weit wie Gewalt!

Wie einmal das Leben ist, ja! Aber –

Im Himmel auch! Gott ist nicht weiter allgerecht, als er allmächtig ist!

Lucinde mußte über dies Wortspielen lachen . . . Was ist Ihnen denn die Tugend? fragte sie, jetzt zutraulicher werdend.

Die Tugend ist mir viel! Die Tugend ist die Erkenntniß Gottes!

Sie kehren, seh' ich, alles um, was wir Christen glauben! Da haben Sie wol auch keine Freiheit des Willens?

Wenn Sie hungert, müssen Sie essen! Richtig, Sie wählen die Speisen! Aber – Sie wählen Speisen, die Ihr Appetit Ihnen vorschreibt!

Jetzt begreif' ich, sagte Lucinde, wie Sie es über sich bringen, falsche Medaillen in die Welt zu setzen und die Spitzen da in Kaffee zu tränken, damit man glauben soll, Maria von Medicis hätte sie schon getragen . . . Hören Sie! Das nenne ich Betrug!

Ein hartes Wort! sagte Veilchen und darüber wirklich erschreckend. 72 Dann aber setzte sie mit einem elegischen Tone hinzu: Mein Fräulein, was ist die Kunst? Ein falscher Schein! Was – das ganze Leben? Mummerei! Wer dreißig Jahre in solchen Possen lebt, wie ich hier unter den bunten Röcken, nimmt die Possen der Erde für ihren Ernst! Ich kehre alles um! sagen Sie? Ganz recht! Sie lieben: so sagen Sie! Ich sage: Sie glauben, daß Sie geliebt werden –

Keine glückliche Lebensauffassung! seufzte Lucinde. Ihr Spinoza, glaub' ich, war krank –

Das war er –

Er entsagte und entbehrte –

Zu sehr –

Er schuf sich eine Philosophie für die, die nichts mehr wollen und nichts mehr wünschen –

Er liebte aber die Freiheit –

Er eroberte sie sich aber nicht –

Wer die Erkenntniß hat, hat alles –

Das bestreit' ich! Sehen Sie, da gebe ich einen einzigen reellen Genuß für alle Schatten der Erkenntniß!

Geschmackssache –!

Auch Wahrheitssache! Eine einzige Reliquie, die ein Gläubiger küßt, ist, wenn man einmal Religion haben will, mehr werth als Ihr Gott, der wahrscheinlich die ganze Welt sein wird oder die Natur?

Der Mönch sagte dasselbe – Ich lass' es ihm – Jedem, wer Religion braucht!

Fräulein! Fräulein! Ich wünschte – da nicht die Spitzen in dem Kaffee zu sehen!

Veilchen zog ihre Haarnadeln aus, ließ ihre Locken fallen, stützte das Haupt auf und sagte träumerisch: Spinoza sagt einmal: »Einen Mann hört' ich mir neulich zurufen: ›Da ist Ihr 73 Hof in den Huhn geflogen!‹ Der Mann versprach sich nur. Er wußt' es nicht. Wozu sollt' ich ihn erinnern, daß er sagen wollte: Sie meinen, Ihr Huhn ist in den Hof geflogen! Er irrte sich, aber ich verstand ihn ja.« So rufen uns alle Religionen zu: Da ist Ihr Hof in den Huhn geflogen –! Machen nur die Religionen gute Menschen, wozu solche Sprach- oder Denkfehler corrigiren –? Ebenso gibt es ganz vernünftige Menschen, die keine antiken Spitzen, wie die da, die Elle zu einem Viertel-Brabanter-Thaler, nehmen! Sie wissen vollkommen, was echte Spitzen, die Maria von Medicis getragen hat, für einen Werth haben! Lassen Sie uns getrost die falsche Grammatik der Erde sprechen. Wenn in der Stadt hier die Herren von der Regierung und die alten Offiziere sagen: Gott straf mir! so wissen wir alle, sie meinen: Gott straf mich! Gott! Und was und wen wird wol einst – die Ewigkeit strafen –!

Die Welt will Wunder – und Ahasverus macht sie ihr! resümirte Lucinde.

Sagte der Franciscaner auch –!

Ihr rächt euch an der Welt, die euch verstieß! Ihr macht sie verkehrt, lacht dazu und laßt sie laufen –!

Sagte der Franciscaner auch –! Je nun, mein Fräulein, Sie haben vielleicht Recht! Ich gebe mich nicht für vollkommen aus. Glauben Sie mir, wenn man die Welt nicht lieben kann und nicht hassen mag, da ist es am besten – man führt dem Nathan Seligmann sein Geschäft, wie ein armes Mädchen, das verlassen und kränklich in der Welt stand und nichts zu erwerben wußte, dies Geschäft vor dreißig Jahren vorgefunden . . . Ja, ja, Sie haben vielleicht Recht, der Franciscaner sagte es auch: In dem einzigen kleinen grünen Streifen Tuch – da läge der ganze Unterschied zwischen seinem Gott und dem Gott Spinoza's!

74 Lucinde grübelte über dies Wort und hätte noch vielleicht darüber gestritten. Nathan unterbrach jedoch aufs entschiedenste die Unterhaltung der beiden im Denken, nicht im Fühlen verwandten Frauen und bewies somit vollständig, daß die Philosophie des klugen, aber willensschwachen Mädchens seit dreißig Jahren vorzugsweise bedingt wurde von seinem tyrannischen Befehl. Seinen Helm und seinen Panzer warf er, als wenn sie von Eisen wären und keine Beulen bekommen könnten. Seine bunten »Geckenkleider« und Tirolerhüte trug er hin und her, nur um damit seinen Wunsch auszudrücken, daß Veilchen endlich zu dem Ziele käme, die ganze Beziehung seines Geschäfts zu Staat und Kirche ein für allemal abzubrechen und die Sorge für den Mönch in Lucindens Hände zu legen.

Lucinde betrachtete schon lange nachdenklich die bunte Herrlichkeit um sich her und sagte: Wenn ich wüßte, wie ich selbst den Pater sprechen könnte –

Das wäre das Beste, mein Fräulein! rief Veilchen. O erbarmen Sie sich seiner! Lassen Sie ihn noch einmal Ihre schöne Hand küssen! Ja, Sie, Sie können ihn erheben, Sie können ihm neue Kraft verleihen –!

Für sein ganzes Leben – möcht' ich ihm – einen Rath ertheilen –

Man wird Sie nicht zulassen –! O das ist traurig!

Ziehen Sie diesen Rock an! sagte Seligmann, sich vorwitzig einmischend und hielt ihr eine braune Mönchskutte entgegen –

Aber Herr Seligmann! rief Veilchen vorwurfsvoll.

Der Störenfried entfernte sich.

Er hat nicht Unrecht –! entgegnete Lucinde.

Wie? Wär's möglich?

Hat jener Druckerbursche wol – meine Gestalt?

Himmel! triumphirte Veilchen und schlug die Hände zusammen 75 und freudestrahlend begreifend blickten ihre Augen. Die Stimme dämpfend sprach sie: Eine ganz neue blaue Blouse hab' ich – Eine kostbare schwarze Sammetmütze mit einem Schirm – Im Abenddunkel – da könnten Sie –

Der Wächter des Hauses würde mich freilich in die Zelle begleiten . . .

Nein! Schützen Sie nur Eile – die Eile der Censur vor – Ja die Censur! Diesmal soll diese abscheuliche Tyrannin die segensreichsten Früchte tragen –!

In Lucindens Innern sagten tausend Stimmen: Würdest du aber entdeckt und käme auch diese neue Demüthigung auf dein großes Schuldbuch – hier in dieser Stadt wärst du vorläufig verloren –! Hier, wo Bonaventura lebt –! Oder du verlörst vielleicht nur deine Stellung im Kattendyk'schen Hause! Wäre nicht vielleicht auch das noch zu ertragen –? Nück würde helfen –! Und ist es nicht ohnehin dein Letztes? Der morgende Tag muß ja für dich – für Paula – für Nück – für alles auf ewig entscheiden –! . . . Sie hatte die Absicht, morgen Bonaventura im Capitelhause persönlich aufzusuchen und – da mußte es doch zur Entscheidung über ihr Leben kommen; was that ihr da noch vorher diese letzte Scene mit Klingsohr?

Die Jüdin flüsterte fort und fort, malte die Gefahrlosigkeit des Unternehmens, beschrieb den Eingang des alten Profeßhauses, die Lage der Zelle des Mönches, alles, was sie wußte von dem jungen Burschen, der wie Tönneschen Hilgers auf Lindenwerth Jesuit werden sollte – die Väter der Gesellschaft Jesu sind in ihren Collegien ihre eigenen Handwerker und eine von einem Laienbruder dirigirte eigene Buchdruckerpresse zu besitzen muß überall für sie von großem Werth sein –. Sie versprach, Lucinden umzukleiden, sie zu begleiten bis an die Pforte, sie draußen wieder zu erwarten – Lucinde hörte und hörte und stand im 76 Kampf der Entscheidung über – ihr ganzes Dasein – Aber die Jüdin betheuerte ihre Verschwiegenheit und versprach, Herrn Nathan in nichts einzuweihen – Es war Sabbat; sie würde, sagte sie, von Nathan verlangen, daß er den Abend zum Nachtgebet in den Tempel ginge und der »gemüthlichen Börse« beiwohnte, die sich nach demselben in der Vorhalle zu versammeln pflegte. Während sie so fortflüsterte, drängte sich in die verworrene Musik im Innern Lucindens ein einziger melodischer Accord, der die Oberhand behielt. Diese sanfte Harmonie, die sie zuletzt sogar wie mit Opferfreudigkeit erfüllte, entwickelte sich aus verworrenen Anfängen und sprach nach und nach: Du hoffst noch einmal auf deinen unglücklichen Genius! Läßt er dir dies Werk scheitern, dann – gibt dir vielleicht dein religiöser Ruf die Rechtfertigung, daß du eine That vollbringen wolltest, die einem Streiter der Kirche hatte zu Hülfe kommen sollen – oder –! Nein, nein, in hoc signo – in diesem Zeichen wirst du siegen, selbst unterliegend – siegen! Gelingt die Flucht, dann verlangst du von Bonaventura morgen die Beichte, die erste und – vielleicht die letzte! Auch das mag er hören, entschuldigen – verurtheilen –! Sie hatte bereits in einem Briefe in erster Morgenfrühe Bonaventura vor seiner Reise noch um eine Generalbeichte gebeten.

Rasch brach sie ab und versprach um die fünfte Stunde, in der Abenddämmerung wiederzukommen. Eine Secunde – und sie war verschwunden.

Als Veilchen Igelsheimer mit Herrn Nathan Seligmann allein war, überschüttete sie diesen mit den bittersten Vorwürfen, verweigerte ihm jede weitere Auskunft, schmollte ernstlich und versparte sich den Antrag auf den Tempelbesuch, den er in den Abendstunden machen sollte, bis nach dem Mittagessen . . .

Ihre Spitzen und ihre Medaillen und die alt sein sollenden 77 Kupferstiche sah sie mit Unmuth an und murmelte vor sich hin. Spinoza war krank? Er liebte und wurde nicht erhört und ging dann hin und schrieb über die Liebe, als wäre sie eine mathematische Figur –? Beweisen will er das menschliche Herz, wie die zwei rechten Winkel bewiesen sind, die sich in jedem Dreieck von selbst verstehen –? Dies muthige, tollköpfige Mädchen! Ihr trotziger Schritt! Die kann alles, was sie will –! Und sie glaubt an die Freiheit des menschlichen Willens! Die könnte mich ja – irre machen! – Wär' ich ein Mann, dann gewiß!

Es war ihr plötzlich in der That, als wenn Spinoza's Gott dem Menschen die Thatkraft, den schönen Wahn, der allein zur wahren Flamme des Lebens das Oel gibt, die ganze tausendjährige Poesie geschichtserzeugender – Irrthümer nähme. Aber nur eine Weile war's ihr so. Sie kehrte bald in ihr sanftes, lächelndes Dulden und vornehmes Zweifeln zurück.


 << zurück weiter >>