Karl Gutzkow
Berlin – Panorama einer Residenzstadt
Karl Gutzkow

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Lyrisches aus dem Zeitungsviertel

(1873)

... Für die bedeutendsten neuern Erscheinungen auf dem Gebiete der gebundenen Rede gelten jetzt Hamerling und Scheffel, jener unter österreichischen, dieser unter rheinischen Voraussetzungen – wozu die dem norddeutschen Ohr unerträglichen falschen Reime (reiten und leiden) gehören. Eingeführt sind hier beide – dieser durch Studenten, die in Heidelberg studierten; jener durch Wienerinnen, die sich hieher verheirateten. Schule, Salon, Konversation und Journalistik haben wenig zu ihrer Verbreitung getan, und noch jetzt würde der gebildete Kalkulator (Rechnungsrat), der einen gefühlvollen Sonntagmorgenspaziergang im Tiergarten unternimmt, seine Stimmung ganz durch den Dichter Ferrand befriedigt fühlen, der vor 30 Jahren in Berlin für einen klassischen galt. Die Berliner Poeten, die sich später auf einem traurig untergegangenen Schiffe »Argo« versammelten, sind teils aus dem Leben geschieden, teils in andere Winde zerstreut oder an andere Berufszweige, z. B. Theaterkritiken zu schreiben, übergegangen. Wir kommen hiebei, ohne diese Metamorphose heute näher zu besprechen, der »Vossischen Zeitung« sehr nahe, und nehmen vom Büchertisch ein in Goldschnitt gebundenes zierliches Bändchen: »Gedichte von Hermann Kletke.« (Berlin, Schröder 1873).

Wie ein Redakteur en Chef, der sechsmal in der Woche eine Zeitungsnummer mit zuweilen 10 eng gedruckten Beilagen zu beschaffen hat, der von hundert Gesuchen, Reklamationen, selbst Erwägungen technischer Schwierigkeiten mit dem Umbrecher (metteur en pages) stündlich in Anspruch genommen wird, noch Stimmung gewinnen und diese erhalten kann, sich der lyrischen Muse zu widmen, begreift sich nur aus dem Gesetz der Kontraste und dem selbst für das politische Gebiet zum Rechnungtragen, zur Rücksichtnahme, zur Mäßigung gestimmten weichen Naturell des hier in Frage stehenden Dichters selbst. Die heilige Nacht, die, ach! manchem politischen Redakteur (glücklich, wer um 9 Uhr abschließen darf!) allein zur Erholung übrig bleibt, spielt denn auch in Verbindung mit dem Mond und den Sternen, dem Brunnengeplätscher, den Wächtern usw. in den wohlgeformten, nur etwas zu epigrammatisch kurz gehaltenen Gedichten Kletkes eine hervorragende Rolle. Im Gefolge der Nacht gehen Traum, Tod, Jenseits, die vollkommenen Gegensätze des Leitartikels, der uns des Morgens beim Kaffee an die Gegenwart fesselt. Für jede »Ente«, die unser Dichter in seiner Zeitung wider Willen hat schwimmen lassen müssen, rudert hier ein Schwan. Die Schwäne, die Blumen, die Nachen, die Sonne und besonders das sonst den Lyrikern wenig zuströmende Gold, der ganze Apparat der deutschen Lyrik, sind vom Dichter umgesetzt in Situationen anziehender Art, das Gold in Abendröten, ins Glühen der Mädchenwange, in den Wellenspiegel des Sees, auch in die Tiefen eines gepriesenen edlen Charakters. Kurz, es gibt sich ein in dieser nihilistischen Zeit, und zumal auf dem Gebiete der Publizistik, in der Tat seltenes, kindlich reines, weihevolles Leben in diesen Gedichten kund. Und keineswegs ist es ein Leben nach der Richtschnur überlieferter Traditionen. Selbst den Greis ergreift noch der Reiz des Schönen, die mächtig wieder auflebende Erinnerung, der Ton geht zuweilen in die dem Saturn trotzende Weise des Hafis über – aber bald (und vielleicht zu oft für diese immer gleiche Pointe) naht Sturm, oder bricht Nacht herein, oder pocht der Tod an die Tür und macht so dem vorgeführten Bild ein Ende. Wenn wir ferner als tadelndes Wort noch von einer gewissen zuweit getriebenen Knappheit der Form sprechen, so ist allerdings damit zunächst ein Lob ausgesprochen, das des Entferntseins jeder phrasenhaften Prolixität; aber doch ist die Übertragung der stündlichen Parole, die ein Redakteur en Chef im Munde führen muß: »Nur kurz! Nur kurz!« auf den lyrischen Mitteilungsdrang bedenklich. Bei Gedichten ist der Rotstift nicht angebracht. Es ist diesen zarten Eingebungen schädlich, wenn man sie zweimal lesen muß, um sie zu verstehen, wie die weiland Gubitzschen Rezensionen in der »Vossischen Zeitung«. In der Tat sind viele der Kletkeschen Gedichte so kompreß in der Form gehalten, so zugleich von irgendeinem zufälligen, dem Leser nicht sofort geläufigen Umstande veranlaßt, daß es ein längeres Verweilen kostet, eine Vertiefung in die gebrauchten Bilder, um in die Konstruktionen und ihren Sinn einzudringen. Am ungezwungensten bewegt sich des Dichters Humor. Im Scherz, angeregt von Vorkommnissen des täglichen Lebens, besonders der Familie, fließt die dichterische Sprache mit kristallner Klarheit voll und mächtig. Den Gesellschaftsliedern läßt sich unmittelbare Sangbarkeit und vor allem Geschmack nachrühmen. Letzterer wird doch wohl bei den Trinkliedern unserer Zeit nicht immer eingehalten? Man glaubt jetzt manches derartige, das dem Jahrhundert besonders zu gefallen scheint, nur für eine Tafelrunde geröteter Nasen bestimmt.


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