Karl Gutzkow
Berlin – Panorama einer Residenzstadt
Karl Gutzkow

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Ich bedauerte, Dessoir nicht beschäftigter zu finden. Dieser geistvolle Schauspieler leidet hier an der üblichen Abgrenzung unserer Rollenfächer. Der Begriff eines Charakterspielers, den er zu vertreten hat, ist so vieldeutig. Man kann Hamlet als Liebhaber spielen, man kann ihn aber auch, wie Dawison und Dessoir tun, als Charakterzeichnung geben. Dessoir ist einer jener Schauspieler, die zwar in jedem Ensemble eine Zierde sein werden, selbst wenn sie nur zweite Rollen spielen, aber Dessoir hat den ganzen Beruf, eine Stellung einzunehmen, die ihn zum Matador einer Bühne macht und jede bedeutende Aufgabe, die nicht ganz dem Liebhaberfache angehört, ihm zuweist. Alle die Rollen indessen, auf die ihn sein künstlerischer Trieb hinführen muß, sind noch im Besitze der Herren Rott und Döring. Es spricht für die geistige Anregung, die Berlin bietet, für die Belohnung, die man im Beifall eines natürlich sich hingebenden Publikums findet, daß Dessoir darum doch seinen hiesigen, höchst ehrenvoll behaupteten Platz mit keinem andern vertauschen möchte.

Vom Schauspiel sagt man an der Verwaltungsstelle, es würde keineswegs vernachlässigt und es hat sich seit Düringers Mitwirkung sehr gehoben; dennoch muß man bei dem Vergleiche der unverhältnismäßigen Pracht, die das Opernhaus umgibt, wünschen, es würde doch endlich ganz von der Musik und dem Ballett getrennt, es verfolgte seine ernste und schwierige Aufgabe für sich allein. Das Schauspiel kann nur ein Stiefkind erscheinen gegen die Art, wie die Leistungen des Opernhauses nicht etwa von der Verwaltung geboten, sondern vom Publikum empfangen werden. Neun glänzende Proszeniumslogen ziehen fast ebensoviel Aufmerksamkeit auf sich wie die Leistungen der Szene. Das Opernhaus ist das Stelldichein der höhern und mittlern Gesellschaft, der stete Besuchsort der Fremden, die Sehnsucht der allgemeinen Schaulust und ein Tempel des Genusses. Nicht Paris und Wien finden im Ballett ihre speziellsten sinnlichen Bedürfnisse so befriedigt wie Berlin. »Satanella« und »Aladins Wunderlampe« sind die Ballette des Tages, die jeder gesehen haben muß und die derjenige, der die Mittel besitzt, nicht oft genug sehen kann. Welche Fülle von Licht, Farbe, Glanz aller Art, von Jugend, Schönheit und Gefallsucht! Die musikalischen Kräfte sind hier so groß, daß z. B. an einem Abend im Opernhause der »Prophet« gegeben werden kann, im Schauspielhause die Zwischenaktmusik zu »Egmont« vollständig da ist und noch in der Singakademie ein Konzert mit der königl. Kapelle begleitet werden kann. Es ist dies nur möglich durch die Unzahl von Akzessisten und Exspektanten, die zwar nicht die Leistungen vorzüglich, aber alle Fächer, auch die des Chors und des Ballettkorps so vollständig machen. Auf dreißig Tänzerinnen, welche die Verwaltung besoldet, kommen ebensoviel junge, hübsche, talentvolle Mädchen, die unentgeltlich mitwirken, nur um der Anstalt anzugehören und vielleicht einmal in die besoldeten Stellen einzurücken. Vor der Auswahl von jungen Leuten, die Eltern und Angehörige »um Gotteswillen« der Verwaltung zu Gebote stellen, kann diese sich kaum retten. Daher auf der Szene die überraschendste Massenentfaltung. Die Kunst der Beleuchtung, der Glanz der Kostüme, der Geschmack der Dekorationen ist aufs höchste getrieben. Da steigen Feentempel aus der Erde, da senken sich Wolkenthrone mit allen Heerscharen des orientalischen Himmels nieder, da leuchten und blitzen unterirdische Grotten von Edelsteinen, da sprudeln natürliche Springbrunnen im Mondenschein und fallen, vielfach gebrochen, in Bassins herab, an deren Rändern die lieblichsten Gestalten schlummern. Jede Demonstration der Szene ist ganz und vollständig. Nirgendwo erblickt man die Hilfsmittel der bloßen Andeutung, die an andern Bühnen die Illusion vorzugsweise in die ergänzende Phantasie der Zuschauer legt; hier ist die Schere der Ökonomie verbannt, die aus Amazonenröcken von heute für morgen Pantalons für Verschnittene macht. Hier fangen alle Schöpfungen immer wieder von vorn an. Kein Kostümier und Dekorateur ist an die Wiederaufstutzung alter Vorräte gewiesen; hier regieren jene Warenmagazine, wo es immer wieder neue Seide, neuen Sammet und für die geschmackvollsten Maler neue Leinwand gibt.

Ein Ballett in Berlin zu sehen wie »Satanella« ist in vieler Hinsicht lehrreich. Dem Ästhetiker macht vielleicht die Grazie und herausfordernde Keckheit z. B. der jungen Marie Taglioni eine besondere Freude, aber die Vorstellung im großen und ganzen mit allem, was dazu auch von Seiten des Publikums gehört, ist kulturgeschichtlich merkwürdig. Dieser Marie Taglioni sollte man eine Denktafel von Marmor mit goldenen Buchstaben und mitten in Berlin aufstellen. Sie tanzt die Hölle, aber sie ist der wahre Himmel des Publikums; sie tanzt die Lüge, aber sie verdient ein Standbild als Göttin der Wahrheit. Denn man denke sich nur dies junge, reizende, übermütige Mädchen mit ihren beiden Teufelshörnchen an der Stirn, mit dem durchsichtigen Trikot, mit den allerliebsten behenden Füßchen, mit den tausend Schelmereien und Neckereien der Koketterie, wie nimmt sie sich unter den ehrwürdigen Tatsachen des gegenwärtigen Berlins aus! Dieser kleine Teufel da, im rosaseidenen, kurzen Flatterröckchen, ist sie etwa die in der Vorstadt tanzende Pepita? Nein, sie ist das enfant chérie der Berliner Balletts, und das Berliner Ballett ist das enfant chérie der Stadt, des Hofs, ist die Kehrseite der frommen Medaillen, die hier auf der Brust der Heuchelei von Tausenden getragen werden. Büchsel, Krummacher, Bethanien, Diakonissen, Campo-Santo, Sonntagsfeier, Innere Mission – was ist das alles gegen einen Sonntagabend, wenn Berlin in »Satanella« seine wahre Physiognomie zeigt! Die Prinzen und Prinzessinnen sind anwesend. Hinten auf der Szene funkelt ein Ordensstern neben dem andern, jede Kulisse ist von einem Prinzen besetzt, der sich mit den kleinen Teufelchen des Corps de ballet unterhält. Der erste Rang zeigt die Generale und Minister, das Parkett den reichen Bürgerstand, die Tribüne und der zweite Rang die Fremden, die den Geist der Residenz in der Provinz verkünden werden, die obern Regionen beherbergen die arbeitenden Mittelklassen und selbst die halbe Armut, der man sonst nur Traktätchen in die Hand gibt, hat hier das Frivolste aller Textbücher mühsam nachzustudieren, um die stumme Handlung der Szene zu verstehen. Welche Wahrheit deckst du doch auf, du echte Berliner, in der Treibhauswärme der speziellsten, königlich preußischen Haus-Traditionen großgezogene Pflanze, Marie Taglioni geheißen! O so werft doch, ihr besternten Herren, eure Masken ab! Verratet doch nur, daß euer Privatglaube nichts mehr liebt als die Götter Griechenlands und daß nicht etwa hier der Kultus des Schönen, sondern draußen euer offizielles System eine Komödie ist.

Satanella verführt einen jungen Studenten, dem das Repetieren seiner Collegia bei Stahl und Keller zu langweilig scheint. Er hat eine Verlobte, die vielleicht Geibel und »Amaranth« liest, aber niemand wird zweifelhaft sein, daß der junge, künftige Referendar besser tut, sich an Heinrich Heine, an die schöne Loreley und die Taglioni zu halten. Wie kalt und nüchtern ist auch die Liebe eines Fräulein Forti gegen die Liebe einer Satanella! Es geht mit letzterer allerdings bergab und geradewegs in die Hölle, aber welcher Zuschauer wird der Narr sein und nicht einsehen, daß der Satan den jungen Lebemann nur anstandshalber holt! Kann das eine echte Hölle sein, in der sogar schon kleine Kinder tanzen, schon kleine Kinder mit Satanshörnern umherspringen und, wie von Selma Bloch geschieht, ein recht widerliches Solo tanzen? Kann das die echte Hölle sein, deren Vorhof die wunderbarste Mondscheinnacht von Gropius mit dem reizendsten Château d'eau und der stillschlummernden antiken Marmorwelt ist? Wird irgend ein Vernünftiger einräumen, daß die Konsistorialräte Recht haben, wenn sie die Venus von Milo eine schöne »Teufelinne«, die Antiken des Vatikan überhaupt, wie Tholuck getan, »schöne Götzen« nennen? Verwandelt sich all' diese Lust und Liebe, all' diese Freude und Behaglichkeit nicht vielmehr nur rein »anstandshalber«, d. h. um dem Vorurteil zu genügen, in Pech und Schwefel, und wird irgend jemand eine solche Vorstellung, wo besternte Prinzen jede Attitüde der Solotänzerinnen beklatschen, mit einer andern Meinung verlassen als der: Ich fühle wohl, es muß einen Mittelweg zwischen Elisabeth Fry und Marie Taglioni, einen Mittelweg zwischen Bethanien und dem Opernhause, einen Mittelweg zwischen den Konzerten des Domchors und Satanella geben? Diese Berliner Ballettabende wecken einen ebenso großen Abscheu vor der mätressenhaften Sinnlichkeit, die durch sie hindurchblickt, wie vor der Kasteiung des Fleisches in der neuen Lehre vom Gefangengeben der Vernunft und dem fashionablen Büßertum, dessen neupreußische Früchte wir hinlänglich kennen.

Beide Extreme gehen in Berlin auf eine erschreckende Art nebeneinander. Sie gehen nicht etwa getrennt nebeneinander, sondern im Durchschnitt in denselben Personen. Die Heuchelei und die Rücksicht auf Karriere mietet sich einen »Stuhl« in der Matthäuskirche, nur damit an dem Schilde desselben zu lesen ist: »Herr Assessor N. N.« und die stille Sehnsucht des wahren innern Menschen ist hier doch allein – der Genuß. Dem Genuß bauen auch andere Städte Altäre; die buntesten, mit Rosen geschmückten Altäre baut z. B. Wien. Aber Berlin ergibt sich immer mehr einer Form des Genusses, die nur ihm ganz allein angehört. Es ist dies die Genußsucht eines Fremden, der in vierzehn Tagen durch seine gefüllte Börse alles bezahlt, was man in einer Residenz, die er vielleicht in Jahren nicht wiedersieht, für Geld bekommen kann. Es ist die Genußsucht des Gutsbesitzers, der seine Wolle in die Stadt fährt und sich mit vierzehn Tagen Ausgelassenheit für ein Jahr der Entbehrung auf seiner Scholle entschädigt. Dies Berliner Lecken und Schlecken hat die Bevölkerung so angesteckt, daß man mit Austernschalen die Straßen pflastern könnte. Wohlleben und Vergnügen ist die Devise des hiesigen Vegetierens geworden, nirgend wird man z. B. den Begriff »Bowle machen« jetzt so schleckerhaft ausgesprochen finden. Die Betriebsamkeit wird durch den Luxus wohl eine Weile gestachelt werden, an Großstädtigkeit der Unternehmungen fehlt es nicht; aber wenn die natürlichen Kräfte versagen, tritt das Raffinement ein und das Raffinement des Verkehrs, gewöhnlich Schwindel genannt, soll hier in einem Grade herrschen, der keine Grenzen mehr kennt. Denn was ist die Grenze, die man Bankrott nennt? Aus Nichts werden die glänzendsten Unternehmungen hervorgerufen. Mit einem Besitze von einigen tausend Talern mutet man sich die Stellung eines Kapitalisten zu. Der Kredit gibt nicht dem Redlichen mehr Vorschub, sondern dem Mutigen. Die Entschlossenheit des industriellen Waghalses leistet das Unglaublichste. Wo die größten Spiegel glänzen, wo die goldenen Rahmen tief bis zur Erde niedergehen, wo in den Schaufenstern der Butiken die fabelhafteste Scheinfülle des Vorrats mit dem Geschmack der Anordnung zu wetteifern scheint, kann man gewiß sein, auf hundert Fälle bei neunzig nur eine Grundlage anzutreffen von eitel Luft und windiger Leere.

Es ist mannigfach schon eine Aufgabe der neuern Poesie, der sozialen Romantik geworden, den Lebenswirren, die sich aus solchen Zuständen ergeben müssen, nachzuspüren. Der Totenwagen rasselt still und ernst durch dies glänzende Gewühl. Rauschende Bälle, in der Faschingsnacht ein Wagendonner bis zum frühen Morgen und die Chronik der Verbrechen, die Statistik der Selbstmorde gibt dem heitern Gemälde doch eine dämonische Beleuchtung. Erschütternd war mir z. B. die Nachricht, daß der Philosoph Beneke von der Universität plötzlich vermißt wurde und wahrscheinlich sich entleibt hat. Erst jetzt kam zur Sprache, daß dieser redliche Forscher, der sich in der Erfahrungsseelenkunde einen Namen erworben und besonders auf die neuere Pädagogik einen nützlichen Einfluß gehabt hat, seit länger als zwanzig Jahren nicht endlich ordentlicher Professor werden konnte und sich mit einem jährlichen Gehalte von 200 Talern begnügen mußte! Zweihundert Taler jährlich für einen Denker, während es hier Geistliche gibt, die es auf jährlich 5000 Taler bringen! Beneke war ein Opfer des Ehrtriebes, der hier noch zuweilen einen edeln Menschen ergreift, nicht auf der allgemeinen Bahn des Schwindels gehen zu wollen. Des Mannes Erscheinen war einfach, war fast pedantisch. Er hatte vor zwanzig Jahren die etwas steifen Manieren eines Göttinger Professors nach Berlin gebracht. Seine Vorträge waren etwas ängstlich, seine Perioden allzu gewissenhaft, sein System knüpfte wieder an Hume und Kant an, er ging über die endlichen Bedingungen unsers Denkens nicht tollkühn in die Unendlichkeit; was sind Kennzeichen solcher altbackenen Solidität in einer Stadt wie Berlin, wo nur die glänzende Phrase, der saillante Witz und Esprit, das kecke Paradoxon und jener doktrinäre Schwindel etwas gilt, den Hegel aufbrachte, Hegel, der jahrelang die trivialsten Köpfe, die nur in seiner Tonart zu reden wußten oder die es verstanden, ihrem sogenannten Denken eine praktische Anwendung auf beliebte Religions- und Staatsauffassungen zu geben, zu ordentlichen Professoren befördern konnte! Hamlet ist auch darin das große und Shakespearen auf den Knien zu dankende Vorbild aller mit der Welt verfallenen Geistesfreiheit, daß er auf des Königs Frage, wie es ihm ginge, antwortet: »Ich leide am Mangel der Beförderung.«

– Wer ertrüge
Den Übermut der Ämter und den Kummer
Den Unwert schweigendem Verdienst erweist!

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