Karl Gutzkow
Berlin – Panorama einer Residenzstadt
Karl Gutzkow

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Der Grundcharakter des germanischen Staatslebens ist die Repräsentation. Bei unsern Vorfahren wurde keine Gewalt anerkannt, die nicht ein förmlicher Vertrag als Recht festgestellt hatte. Was der eine dem andern zu leisten schuldete, war die Folge einer gegenseitigen Übereinkunft. Die Zeit der Reformation machte diesem Verhältnisse ein Ende. Die Einführung des römischen Rechts, die mit dem erwachenden wissenschaftlichen Streben zusammenhing, zerstörte im Volke sein ursprüngliches Rechtsbewußtsein. Das Recht wurde Sache der Gelehrsamkeit, und diese konnte nur unter dem Schutze vermögender Fürsten gedeihen. Die religiöse Anregung band die Gemüter nur noch insofern an die Ereignisse im weltlichen Gebiete, als sie jener förderlich oder hinderlich waren. Fürsten und Bürger hatten dasselbe Interesse, sich gegen die Anmaßungen des Adels sicher zu stellen. Daraus bildete sich endlich der Begriff der fürstlichen Souveränität. Aus fürstlichen Bedienten wurden Beamte des Staats. An die Stelle der Landtage traten Verwaltungen. Aus Rezessen und Abschieden wurden Kabinettsbefehle. Gegen diese moderne Ausbildung der Souveränität reagiert unsre Zeit in zwiefacher Weise, als Revolution und Restauration. Beide kehren sich gegen das Bestehende, beide berufen sich auf die Geschichte, beide auf die Lehre. Aber die eine spricht von einer Vertretung der Intelligenz, die andere von der der Interessen. Jene hat eine Macht gewonnen, die öffentliche Meinung; diese wird in Preußens nächster Zukunft mit Entschiedenheit auftreten; auch sie hat eine Macht, die Gewalt. Haben wir aber Grund, zu fürchten? Ist es nicht der alte Kampf der Demokratie und Aristokratie?

Es wird erlaubt sein, sich die Wege anzusehen, die die Verfasser der preußischen Konstitution einschlagen mögen. Die gegenwärtigen Provinzialstände müssen die Grundlage derselben bilden. Man rühmt die Liberalität dieses Instituts und preist die Gleichstellung der drei Stände, des Adel-, Bürger- und Bauern-, d. h. freien Grundbesitzerstandes. Woher aber das entschiedene Übergewicht der Aristokratie in den Versammlungen? Welche Forderungen hat sie an die Regierungen gerichtet! Verjährte Rechte nimmt sie in Anspruch, Domstifte und deren Pfründen, unverhältnismäßigen Erlaß der Steuern u. dgl. Spricht man in diesem Sinne von einer Beachtung historischer Bedingungen bei den künftigen Reichsständen, so kann man nur wünschen, diese nie ins Leben treten zu sehen. Der Bauernstand ist ungebildet und gibt daher seine Rechte den adeligen Grundbesitzern. Auch die Städter können an Bildung z. B. mit den Bürgern süddeutscher Städte nicht wetteifern und die sie zum Landtage schicken, sind meist städtische Beamte, von der Regierung bestätigt, also mittelbar Regierungsbeamte. Wollten sie auch eine Opposition bilden, so sind sie gegen den Adel in der Minorität und der Regierung gegenüber zu schwach, wie die Landstände am Rhein und in Westfalen bewiesen haben.

Die mittelalterlichen Stände haben ihre Freiheiten und Privilegien vertreten. Solche besitzen die preußischen nicht oder sollen sie ihnen noch erteilt werden? Sollen die Zünfte wieder eingeführt werden? Wollen die preußischen Könige wieder Schutzbriefe ausstellen und Urkunden auf ewige Zeiten? Auch ihre Beutel haben die alten Stände vertreten. Aber unsere Zeit verlangt eine Vertretung des Nationalvermögens, nicht des zufälligen Gutes, das der einzelne Stand besitzt. Eine Wiederherstellung jenes alten Zustandes wäre ein vollständiger Umsturz des herrschenden Finanzsystems, das ohne eignes Verderben nicht aufgeopfert werden kann. Es ist wahr, daß die Fürsten in den Besitz der meisten Steuern nur durch ein Unrecht gekommen sind. Denn wenn ihnen die Stände bei dringenden Gelegenheiten statt Geld die Erlaubnis gaben, auf fünf oder zehn Jahre Schlacht- oder Mahl- oder Tranksteuer zu erheben, so war diese Erlaubnis immer nur momentan, und erst der später ausgebildete Begriff der Souveränität nahm nach göttlichem Rechte von dem ewigen Besitz, was ihm menschliches nur auf eine bestimmte Zeit zugesagt hatte. Aber jetzt ist den Ständen mit der Zurückgabe ihres alten Rechts sehr wenig mehr gedient, weil sie wohl wissen, daß jene verhaßten Abgaben ihnen weniger bereitwillig würden gegeben werden, als der Regierung. Ehemals zahlten auch die Ritter nichts. Soll nun jetzt ein moderner Raubadel, der ohne offnen Angriff auf eine feine Weise plündert, wieder organisiert werden? Soll die Litanei des armen Landvolkes wieder sein, der liebe Herrgott möge es behüten vor den Köckeritz und Lüderitz und vor den Kracht und Itzenplitz? Auch die Prälaten fanden sich auf den Landtagen ein, aber nur um Geld zu verzehren, keines zu geben. Die Geistlichkeit ist jetzt kein Stand mehr, obschon man in Preußen Bischöfe und Erzbischöfe nach englischem Muster angeordnet findet. Die Geistlichkeit vertrat früher die Rechte ihrer Präbenden, solche hat sie aber nicht mehr: Sie vertrat das Interesse der Kirche, und wenn irgendwo durch die Bemühungen der Regierung die Meinung, daß die Kirche in dem Staat aufgehe, verbreitet ist, so ist es in Preußen. Die Bauern wurden gar nicht vertreten, jetzt sind sie es aber als freie Grundbesitzer. Soll ihnen ihr Recht wieder genommen werden? Sollen Ritter, Städte und Geistliche die heilige Dreizahl bilden? Die preußischen Bauernaufstände gegen den Adel und Herzog Albrecht werden die Gesetzgeber vorsichtiger machen. Überall mag man nach historischen Anfängen einer den gegenwärtigen Zeitforderungen nur einigermaßen genügenden Repräsentation forschen, im Preußischen finden sich solche am wenigsten. Die brandenburgischen Markgrafen und pommerschen Herzöge sind eigentlich nur zu den Städten ihrer Territorien in ständischen Beziehungen gewesen und zwar in einer Art, die jetzt nicht mehr denkbar ist. Sie waren die ärmsten Fürsten und die schwächsten zugleich. Nackt und bloß, mußten die Städte sie bekleiden, hungernd, von ihnen gesättigt werden. Die märkischen Städte waren Republiken mit vollständigem Gemeinwesen. Da sie ihren Ursprung auf Kolonisation zurückführten, sich selbst konstituierten und Gesetze gaben, so waren es nicht einmal Privilegien, die ihnen die Fürsten garantierten, sondern was sie ihnen gaben war Dank und Entschädigung für den Schutz, den ihnen die Markgrafen, ursprünglich eine militärische Behörde, angedeihen ließen. Noch anders war die Lage Preußens. Ein fast ganz unabhängiger Städtebund, blühend durch Handel und Gewerbe, stand hier dem deutschen Ordenskapitel zur Seite, noch öfter gegenüber. Hier machte der Landadel mit den mächtigen Städten Danzig, Thorn, Elbing, Kulm, Königsberg gemeinschaftliche Sache, und die deutschen Ritter, die als Herren des Landes gelten wollten, verloren ihr Ansehen und ihre Macht immer mehr und zuletzt auch gegen Polen ihre und des Landes Selbständigkeit. Alle diese Verhältnisse hat die Zeit anders gestaltet. Sie wieder herzustellen, ist unmöglich. Jede Annäherung an sie ist eine Halbheit, weil ein Zustand damals den andern bedingte. Endlich fehlen auch in den neu erworbenen Teilen der preußischen Monarchie in Sitte und Leben überall die Anklänge der Vergangenheit. Die Rheinprovinzen und Westfalen sind nicht nur in neuerer Zeit einem ewigen Wechsel von gesellschaftlichen und rechtlichen Formen unterworfen gewesen, sondern selbst in jener Zeit, die man neu beleben will, waren gerade diese Gegenden ein Schauplatz der unsäglichsten Verwirrungen, in denen sich nichts Altes rein und ursprünglich erhalten konnte. Man denke an die Stürme, die jene Gegenden am Niederrhein, die Länder Jülich, Cleve, Berg erschüttert haben! Neben den politischen Umwälzungen, die sich hier ohne Aufhören folgten, haben auch die kirchlichen und reformatorischen Zwistigkeiten diese Länder so zerrissen, daß an eine Wiedergeburt hier nur durch Animpfung einer neuen Bildung zu denken ist.

Vielleicht sind aber die historischen Bedingungen in einem andern Sinne verstanden worden. Man wird keine Landschaft errichten, sondern wiederum nach englischem Vorbilde ein Parlament mit zwei Kammern und dazu eine dreifache Initiative. Die zweite Kammer würde dann die materiellen, vielleicht auch intelligenten Kräfte vertreten, die erste aber das Ewige, das Unveränderliche, das Unvergeßliche oder was weiß ich. Man denkt an eine preußische Pairie mit dem Rechte der Erblichkeit. Ich erschrecke vor den Männern, die in ihr sitzen werden, vor den Urteilen, die sie fällen wird. Welche Theorien werden hier zum Vorscheine kommen! Während in der zweiten Kammer die Aristokratie des Geldes herrscht, prangt in der ersten die Aristokratie der Geburt im Vereine mit der der Doktrin. Wenn dann einmal, etwa bei einer Verhandlung über die Erblichkeit, Friedrich der Große in die Sitzung träte und anhörte, wie z. B. die neuliche Erklärung der »Staatszeitung«, nicht jedem sei es gegeben, die Majestät des Königtums zu begreifen, interpretiert wird, könnte er noch glauben, in der Hauptstadt eines von ihm gegründeten Staates zu sein?

Wir gehören nicht zu jenen Toren, die die ehrwürdigen Trümmer früherer Zeiten zum Gegenstand ihres salzlosen Spottes machen. Wir bewundern die Vergangenheit, aber wir lassen sie in ihren Gräbern, da auch unsre Zeit einen so schönen Frühling von neuen Ideen und Hoffnungen keimen läßt. O wir fürchten den Kampf mit jenen vornehmen Meinungen nicht, die sich in Preußen so gern mit Purpurmantel, Krone und Szepter bekleiden! Unsre Zeit zittert vor keinem Gedanken mehr. Schon viele Rätsel hat sie gelöst und auch jene nordischen Mysterien werden ihr nicht verborgen bleiben. Das ist aber das Herrliche dieser Zeit, daß, wer die Ansicht widerlegt, auch die Macht überwunden hat, die sie verteidigen wollte. Wenn ein Ödipus kommt, stürzt sich die Sphinx in den Abgrund.


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