Karl Gutzkow
Berlin – Panorama einer Residenzstadt
Karl Gutzkow

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Geist der Öffentlichkeit

(1844)

Berlin ist eine Weltstadt geworden. Früher war Berlin nur eine große Stadt. Berlin hat an Bewohnerzahl und Umfang unglaublich zugenommen, aber in dieser äußern Vergrößerung liegt der auffallende Fortschritt nicht allein. Er liegt im erweiterten Anschauungs-Horizont, im Durchbruch nicht allein von Straßen und neuen Toren, sondern im Durchbruch alter Vorurteile und Gewohnheiten, im vermehrten geistigen Betriebskapital, in der Zunahme eines Selbstbewußtseins, das sich mit einem großen sittlichen Nationalleben in Zusammenhang zu setzen verstanden hat. Es ist überraschend, wie sich die schlummernden Kräfte allmählich entwickelt haben. Von unten fängt das an und hört oben, in idealster Höhe, auf. Der Eisenbahnverkehr hat Berlin endlich in jenen unmittelbaren Zusammenhang mit andern großen Städte-Entwickelungen gebracht, der ihm früher fehlte. Früher bezogen sich nur Potsdam, Brandenburg, Treuenbrietzen, Bernau auf Berlin, jetzt Leipzig, Magdeburg, die Ostsee und bald Hamburg und Schlesien. Der frühere kleinstädtische Geist ist gewichen, große Gasthöfe sind entstanden, die Basis aller gemeinschaftlichen Unternehmungen beruht auf breiteren Dimensionen. Man sieht das, bewundert es, oder muß wenigstens seine Freude daran haben.

Was man in auswärtigen Zeitungen als die laufende Tagesordnung von Berlin besprochen findet, das ist alles keineswegs Erfindung, sondern Tatsache, durchgesprochene, lebendige Tatsache. Es stehen sich hier wirklich Parteien und Parteien, Menschen und Menschen gegenüber. Es hat sich hier wirklich ein Geist der Öffentlichkeit entwickelt, dem bis zur Stunde zwar edle und würdige sowohl, wie dauernde und belebende Organe fehlen, ich meine die Organe faktischer Institutionen, dessen Ringen und Drängen aber so mächtig ist, daß es Augenblicke geben kann, wo wir uns im Anschauen dieser Strebungen nach Paris versetzt glauben. So wie jetzt in Berlin muß es zur Zeit der Restauration in Paris gewesen sein. Das Katheder ist die vorläufige Volkstribüne, die Wissenschaft die vorläufige Politik. Wie das wogt und treibt! Keine Meinung will mehr allein stehen, eine Bestrebung lehnt sich an die andere. In Berlin wohnen und nichts wirken, nichts vorstellen, nichts vertreten, ist der geistige Tod, ist Nullität, heißt wenigstens Nullität, und jeder fürchtet sie. Man hat angefangen, die Bedeutung eines öffentlichen Charakters zu fühlen. Die ruhmvollsten Namen aus der alten Schule sieht man im Verkehr mit den erst sich machenden aus der jungen. Unpopulär zu sein, wagt niemand. Jeder muß einen Kreis von Gleichgesinnten um sich haben, er muß sich nach Anlehnungen umsehen. Kann er nicht selbst einen Mittelpunkt bilden, so ordnet er sich unter und wird Stammgast im Salon eines andern. Berlin hat seine Salons, in der Tat Salons im französischen Wortsinne. Ich muß sogar so weit gehen, zu behaupten, daß es mit Geldkosten verknüpft ist, in Berlin eine eigene Meinung zu haben. Man muß seinen offenen Mittwoch, seinen offenen Freitag, seinen Dienstag haben, um hier ein durchgreifender, öffentlicher Charakter zu sein. Das ist kostspielig, hier mit Tieck, mit den Grimms, mit Herrn von Savigny zu rivalisieren. Man muß wünschen, daß sich diesen Gasströmungen von Ehrgeiz, Tendenz, Zorn, Begeisterung, Rache, ehe es eine Explosion gibt, bald ein luftreiner Zylinder darbieten möchte, ein Abzug ins öffentliche, große Volksleben, durch irgendeine Tatsache, durch irgendein Ereignis, durch irgendeinen Schritt weiter auf der betretenen Bahn besonders des Ausbaues der ständischen Institutionen. Dies oder irgend etwas anderes muß erfunden werden, um diesem Wettkampf von Meinungen und Leidenschaften eine schöne höhere Wahrheit zu geben und solchen Zerrüttungen vorzubeugen, wie sie z. B. jetzt infolge der traurigen Grimmschen Erklärung, durch welche sich zwei berühmte Namen um alte Liebe und Hingebung gebracht haben, schon eingetreten sind.

Einige der auf der Reise empfangenen Eindrücke mögen in bunter Reihe hier wiedergegeben werden.

Am 29. März beschloß Dr. Mundt seine vor einem gemischten Publikum gehaltenen Vorlesungen über die Gesellschaftsfrage unserer Zeit. Es war fünf Uhr. Im Saale des Jagorschen Hauses Unter den Linden versammelte sich so ziemlich der größte Teil des ästhetisch-produktiven Berlins, Dichter, Gelehrte, Musiker, Gläubige und Prüfende, Hingegebene und Zweifelnde, wie dies um so mehr bei einem Gegenstande der Fall sein mußte, dessen öffentliche Behandlung in gewissen Regionen bedenklich erschienen war. Als sich etwa 150 Personen eingefunden hatten, erschien der Redner. Ich fühlte mich an die Vorträge von Edgar Quinet im Collège de France erinnert. Nur schade, daß sich Mundt zu sehr auf sein Heft verließ und einen Gegenstand, der so tief in Herz und Nieren greift, nicht mit freier Rede um so überzeugender darstellte. Die Wärme der Begeisterung fehlte dem Redner nicht, eine jeweilige Handbewegung verriet selbst seine Absicht, das, was er vorlas, als entquollen seinem innersten Gefühle darzustellen; doch kann ich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß ein selbst ungeregelter Vortrag mit Anakoluthen, Wiederholungen und allen Klippen eines ungewohnten oratorischen Versuches dennoch eindringlicher spricht, als ein geschriebenes Heft.

Der Inhalt der Rede erweckte die wärmste Teilnahme. Bot ihr Anfang demjenigen, der sich mit der Sozialwissenschaft unserer Tage beschäftigt hat, auch nichts Neues, so erhob sie sich doch in ihrem weitern Verlauf zu einem höheren Aufschwunge, in welchem sich zum ernsten Denker der sinnige Dichter gesellte. Der Redner sprach von den Rechten der Armen und den Pflichten der Reichen. Er behandelte jenen ergreifenden Gegenstand des Pauperismus, der jetzt nur noch alle Federn, bald aber auch hoffentlich alle Herzen in Bewegung setzen wird. Jene rührende Humanität, welche sich in den Schriften derjenigen Franzosen findet, die sich mit sozialistischen Fragen beschäftigten, hatte, man sah es, in des Redners Herzen ein Echo gefunden. Er sprach mild und sanft von den Proletariern der Gesellschaft, und ein gewisses kaltes Phlegma, eine gewisse doktrinäre Selbstzufriedenheit hinderte doch nicht, daß in einigen weihevollen Momenten ein schöner Abglanz von Gemüt und Wehmut auf seinen Gesichtszügen hervorbrach. Besonders war die Bemerkung, daß jetzt bei den Fortschritten der Volksbildung der Vater beschämt von seinem aus der Schule heimkehrenden unterrichteteren Kinde lernen könne, ebenso geistreich aufgegriffen, wie zart und innig durchgeführt.

Über manches teile ich nicht des Redners Meinung. Er sprach von Owen und würdigte ihn nicht genug, trotzdem, daß er mit Achtung von ihm sprach. Er kam zu oft auf den Mangel an Poesie in Owens System zurück. Poesie ist in der Sozialfrage ein gefährliches Wort. Braucht man es zu oft, so kann man dahin kommen, daß am Ende nichts poetischer als die Armut ist, und der Armut soll doch abgeholfen werden. Wer vom Leben zu viel bunten Effekt verlangt, dem wird freilich das Ziel einer allgemeinen Glückseligkeit unpoetisch erscheinen. So manches andere in des ehrenwerten Redners Äußerungen ließen mich fast besorgen, er hätte das Thema der materiellen Gesellschaftsfrage nur zum Kanevas von allerhand auf anderm Gebiet spielenden Anmerkungen gemacht, von Anmerkungen, die ich sehr treffend, sehr zeitgemäß, ja sehr freimütig und gegebenen Umständen gegenüber kühn fand, die aber doch nur mehr dem idealen Gebiet angehörten und die Ansicht vorauszusetzen schienen, man könne Hungernde mit Sonnenlicht sättigen und Dürstende mit den Farben der Blumen tränken. Der Redner kannte die praktischen Schäden, wollte sie heilen und wich wiederum dem praktischen materiellen Gebiete aus. Doch abgesehen von diesem Einwurf, der ohnehin auf einem Mißverständnis beruhen kann, hat sich Mundt ein großes Verdienst erworben, daß er in jener unmittelbaren Form, in der Form der Rede, einen Gegenstand zur Sprache brachte, der immer mehr in den Vordergrund der Debatten treten und jene welt- und gottweise Philosophie beschämen wird, die im Webstuhl ihrer Abstraktionen nur Leichentücher für das Leben spinnt...


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