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5. Ausgang und Nachwirkungen der mittelalterlichen Religionsphilosophie

a) Das Ende der jüdischen Philosophie in Spanien

Mit Crescas hat die produktive Zeit der mittelalterlichen jüdischen Philosophie ihr Ende erreicht. Seine Leistung hat weder eine ebenbürtige Fortführung noch eine ebenbürtige Erwiderung gefunden. Die philosophische Arbeit des 15. Jahrhunderts besteht in einer eklektischen Verwertung der überkommenen Theorien. Die einzelnen Denker unterscheiden sich vorwiegend in der Art, in der sie diese Kombinationen vornehmen. Dabei sind unter ihnen Männer von umfassender philosophischer Gelehrsamkeit, von der am stärksten ihre Kommentare zu Maimonides und Ibn Rošd Zeugnis ablegen. Der furchtbare Druck, unter dem die spanischen Juden, die hauptsächlichsten Träger der philosophischen Entwicklung, während des 15. Jahrhunderts lebten, tat das Seinige, um eine freie und ursprüngliche Produktivität nicht mehr aufkommen zu lassen. Auf ihn ist es wenigstens zum Teil auch zurückzuführen, daß sich das Denken jetzt in wesentlich konservativeren Bahnen bewegt als zuvor. Von der offensiven Kühnheit, mit der sich die philosophische Aufklärung in der Zeit zwischen Maimonides und Gersonides in der jüdischen Welt ausgebreitet hatte, ist nichts mehr zu spüren. Die Philosophie hat überall die Tendenz zur Rechtgläubigkeit und stößt die freigeistigen Anschauungen der älteren jüdischen Aristoteliker nach Möglichkeit aus. Man merkt es dieser Philosophie an, daß die geistige Atmosphäre, in der sie sich entfaltet, eine wesentlich andere geworden ist. Die radikale Form des philosophischen Rationalismus, mit der sich die jüdischen Aristoteliker von Maimonides bis Gersonides auseinanderzusetzen hatten, hörte mehr und mehr auf, eine aktuelle Gegenwart zu besitzen, und wirkte nur noch als literarische Größe. Crescas ist der letzte, bei dem man noch den Eindruck hat, daß er sich einem Gegner von lebensvoller Macht gegenüber weiß. Weit unmittelbarer als die philosophische Rechtfertigung des Judentums wird die Apologetik dem Christentum gegenüber zum Bedürfnis und gibt der philosophischen Arbeit eine vielfach veränderte Interessenrichtung.

Diese veränderte Einstellung kennzeichnet schon den jüngeren Zeitgenossen Crescas', Simon ben Ṣemaḥ Duran (1361-1444). Seine, wie es scheint, unabhängig von Crescas ausgebildete Philosophie läuft in mancher Beziehung mit der Crescas' parallel. Auch er wendet sich von der Anschauung des Maimonides ab, daß alle göttlichen Attribute einen bloß negativen Sinn haben. Er will ihnen ihren positiven Charakter bewahren, aber an Stelle der bei aller Unfertigkeit doch außerordentlich ideenreichen und tiefdringenden Attributenlehre des Crescas findet sich bei ihm die Rückkehr zu der Behauptung der ältesten jüdischen Religionsphilosophen, daß die Attribute keine Vielheit in Gott setzen, weil sie alle mit dem Wesen Gottes eins sind. Den Einwand, daß dann alle Aussagen über Gott Tautologien würden, weist er mit der eigentümlichen Wendung zurück, in dem Begriff der Attribute, die wir Gott zuschreiben, liege an sich die Identität mit seinem Wesen nicht, erst wenn sie mit dem Wesen verbunden gedacht werden, ergebe sich ihre Identität mit ihm [R606]. Gleich Crescas lehnt er auch die Lehre von der Unsterblichkeit des erworbenen Intellekts ab. Um die wesenhafte Unsterblichkeit der Seele zu begründen, läßt er dem Menschen neben den niederen, an den Körper gebundenen Seelenteilen noch eine immaterielle gottentstammte Seele, die nešama, innewohnen, die der Träger der Erkenntnisanlage ist, und fügt diese der Qabbala entnommene Konzeption einigermaßen unorganisch seiner Aristotelischen Psychologie ein [R607]. Das gibt ihm die Möglichkeit, zu zeigen, daß die Seligkeit des Menschen nicht von seiner Erkenntnisstufe, sondern von seinem sittlichen Wandel, von dem Gehorsam gegen das göttliche Gebot abhängt. Auch die Vorsehung Gottes beschränkt sich nicht, wie Maimonides gelehrt hatte, auf diejenigen, die durch ihren Intellekt mit ihm in Verbindung stehen, sondern wird allen Menschen zuteil. So sehr das in der Polemik gegen die ausschlaggebende Bedeutung des Intellekts an Crescas erinnert, so weit ist Duran von Crescas' grundsätzlicher Kritik dieses Intellektualismus entfernt. Er folgt in allem Prinzipiellen dem Maimonides und modifiziert ihn nur da, wo sein Intellektualismus mit dem Standpunkt der jüdischen Tradition in Widerspruch gerät. So übernimmt Duran von Maimonides auch seine Theorie der Prophetie und hebt nur neben den natürlichen Voraussetzungen der Prophetie ihre Abhängigkeit von der Begnadung durch den göttlichen Willen noch stärker hervor als Maimonides [R608].

Von selbständiger Bedeutung ist nur die in der Einleitung zum Hiobkommentar Durans dargelegte Auffassung von den Dogmen des Judentums. Sie knüpft an die von Maimonides unternommene Fixierung des Lehrgehalts des Judentums in dreizehn allgemeinverbindlichen Glaubenssätzen an, unterscheidet sich aber charakteristisch von Maimonides durch den Gesichtspunkt, der zu der Auszeichnung der Dogmen führt. Maimonides hatte den Glaubensinhalt des Judentums dogmatisch festgelegt, weil er die Grundelemente einer philosophischen Auffassung der Religion für die unerläßlichen Voraussetzungen des rechten Glaubens ansah. Nur der ist ein Jude und nur der hat am ewigen Leben Anteil, der sich, wenn auch bloß in der Form des Glaubens, wenigstens die wichtigsten Resultate philosophischer Gotteserkenntnis zu eigen gemacht hat. Bei Duran tritt dieses Interesse an der philosophischen Rationalisierung des Judentums hinter einem anderen Interesse zurück. Es galt ihm, den Begriff der Rechtgläubigkeit zu fixieren, fast könnte man sagen, die Grenzen der philosophischen Rationalisierung des Judentums abzustecken. Die Entwicklung der jüdischen Philosophie hatte zu Anschauungen geführt, die sich weit vom Boden der jüdischen Tradition entfernt hatten. Die Anhänger der Tradition hatten mit Verketzerungen geantwortet. Welche Möglichkeit gab es, zu bestimmen, wo die Grenze lief, bei der ein Denker noch als Jude gelten durfte? Diese durch die geschichtliche Entwicklung dringlich gewordene Fragestellung ist für Duran maßgeblich. Duran antwortet zunächst, daß jeder bewußte Widerspruch mit irgendeiner Lehre der Offenbarung den Bruch mit dem Judentum bedeutet. Die Heilige Schrift, insbesondere die Tora, muß von jedem Juden als göttliche Offenbarung anerkannt werden, und das heißt, daß ihr ganzer Inhalt als absolute Wahrheit anzuerkennen ist. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es keinen Unterschied zwischen Wichtigem und Bedeutungslosem. Wer auch nur die geringste Einzelheit von den Lehren der Tora negiert, obwohl er weiß, daß die Tora sie lehrt, wird damit zum Ungläubigen [R609]. Duran bringt damit den autoritären Religionsbegriff, der die ganze jüdische Tradition und mit ihr die ganze jüdische Religionsphilosophie beherrscht, zu prägnantem Ausdruck. Die formale Anerkennung der Autorität der Offenbarung ist auch für die radikalsten Denker des jüdischen Mittelalters, soweit sie Juden bleiben wollen, selbstverständliche Voraussetzung. Sie alle erkennen an, daß jedes Wort der Tora absolute Wahrheit ist. Die Wahrheit ist in ihr abschließend gegeben, und der Freiheit der philosophischen Spekulation ist damit eine feste Schranke gezogen. Ihre Freiheit besteht nur darin, den Sinn der Tora zu deuten und mit ihren eigenen Ergebnissen in Einklang zu bringen, und der philosophische Radikalismus äußert sich nur in der Kühnheit und Rücksichtslosigkeit solcher Interpretation. Selbst ein Denker wie Gersonides wollte nichts anderes, als den wahren Sinn der Tora mit Hilfe der Philosophie erfassen. Dasselbe gilt innerhalb des Islam für Ibn Rošd. Auch er nimmt nicht nur für sich in Anspruch, die Autorität des Islam anzuerkennen; wir haben allen Grund, der Ehrlichkeit dieser Behauptung zu trauen, müssen aber freilich dabei berücksichtigen, daß sein natürlicher Begriff der Offenbarung mit dem der Offenbarungsreligion selbst nicht identisch ist.

Gerade die Tatsache indessen, daß es möglich war, bei voller Anerkennung der Offenbarung den gegebenen Inhalt der Religion auf dem Wege der Interpretation gänzlich umzugestalten, machte es unmöglich, die Grenzen der Rechtgläubigkeit durch den bloßen Offenbarungsglauben zu bestimmen. Ibn Rošd hatte mit programmatischer Schärfe für die Philosophie das Recht in Anspruch genommen, in uneingeschränkter Souveränität ihre Wahrheit zu finden und von ihr aus den Sinn der Offenbarung zu bestimmen. Demgegenüber entstand die Frage nach der Möglichkeit, die philosophische Interpretation der Offenbarung in bestimmte Grenzen einzuschließen. Diesem Zweck dient bei Duran die Unterscheidung der dogmatischen Grundlehren von dem sonstigen Inhalt der Religion. Die Umdeutung irgendwelcher Einzellehren der Offenbarung macht niemanden zum Ungläubigen, auch wenn er sich dabei von dem tatsächlichen Sinn der Lehren entfernt. Wer im Einzelnen hier zu weit geht, irrt sich, ohne ein Ungläubiger zu sein [R610]. Der Unterschied der Grundlehren von dem sonstigen Glaubensinhalt besteht darin, daß bei ihnen eine Umdeutung nicht zulässig ist, daß ihre Anerkennung von jedem gefordert werden muß.

Duran sah sich vor die Aufgabe gestellt, diese allgemeinverbindlichen Grundlehren nachzuweisen. Maimonides hatte für die von ihm getroffene Auswahl keine Begründung gegeben. An Stelle seiner dreizehn Glaubenslehren stellte Duran drei auf, das Dasein Gottes, die Offenbarung und Vergeltung. Sie ergeben sich aus dem Offenbarungsbegriff selbst. Offenbarung ist nicht möglich, ohne einen sich offenbarenden Gott, und das offenbarte Gesetz gewinnt seinen Halt erst durch den Gedanken der Vergeltung [R611]. Aus den eigenen Äußerungen Durans geht hervor, daß diese drei Grundsätze von ihm nicht zum ersten Male aufgestellt worden sind, sondern lange vor ihm bekannt waren [R612]. Aller Wahrscheinlichkeit nach gehen sie letztlich auf Ibn Rošd zurück, der auseinandersetzt, daß diese Wahrheiten zu jeder geoffenbarten Religion gehören, wenn er sie auch nicht ausdrücklich als Dogmen auszeichnet [R613]. Dieser Ursprung ist freilich schon ein Hinweis darauf, daß die drei Grundlehren in dieser Allgemeinheit den Zweck kaum erfüllen, den sie nach der dargelegten Auffassung haben sollen. Wer überhaupt die Offenbarungsautorität anerkennt, wird in irgendeiner Form auch diese Lehren bejahen müssen. Es scheint indessen, daß Duran glaubt, sie so fassen zu können, daß sie ihrem Zweck genügen. Wenn er sich auch nicht mit völliger Deutlichkeit über diesen Punkt ausspricht, so weist doch seine eigene Auffassung des Offenbarungs- und des Vergeltungsbegriffs darauf hin, daß der supranaturalistische Sinn beider Begriffe für ihn zu ihrem Wesen gehört [R614]. In dieser Auffassung bieten sie die Möglichkeit, den supranaturalistischen Sinn der Religion überhaupt dogmatisch zu sichern und damit die Grenze gegen die Umdeutung der Offenbarung zu ziehen, die alle ihre Lehren im Sinne natürlicher Notwendigkeit versteht.

Diese Dogmentheorie gehört zu den bekanntesten Lehren der mittelalterlichen jüdischen Philosophie, aber sie geht nicht unter dem Namen Durans, sondern unter dem des Josef Albo (gest. 1444), eines Schülers von Ḥasdai Crescas, bekannt durch seine Teilnahme an der Religionsdisputation von Tortosa, der seine »Grundlehren« (ʿIqqarim) dem Dogmenproblem gewidmet hat. Die »ʿIqqarim« Albos haben infolge ihres leichten flüssigen Stils und ihrer lebhaften und anregenden Darstellungsweise eine außerordentliche Verbreitung gefunden, die ihrer sachlichen Bedeutung nicht entspricht. Ihre tragenden Gedanken stammen zumeist von Maimonides, Crescas und Duran und ihre dialektische Durchbildung verrät mehr Gewandtheit als Tiefe des Denkens. Ihr erster Hauptabschnitt behandelt die Lehre von den drei Glaubensgrundsätzen, dann wird jedem von ihnen ein besonderer Abschnitt gewidmet und so das ganze Gebiet der Religionsphilosophie dargestellt. Die Lehre von den Glaubensgrundsätzen ist ganz auf Duran aufgebaut, führt seine Gedanken jedoch genauer durch und läßt dadurch die Tendenz der Lehre in voller Deutlichkeit hervortreten [R615]. Schon Duran hatte gezeigt, daß sich aus jedem der obersten Grundsätze eine Reihe von abgeleiteten Sätzen ergibt, und die dreizehn Glaubenssätze des Maimonides unter seine drei Hauptgrundsätze subsumiert. Diesen Gedanken baut Albo weiter aus. Die richtigen Konsequenzen aus den Hauptgrundsätzen sieht er nicht in den Glaubenslehren des Maimonides, die er ebenso wie die seines Lehrers Crescas scharf und nicht immer gerecht kritisiert, sondern entwickelt ein genaues System der zu jedem Hauptgrundsatz gehörigen abgeleiteten Grundsätze. Ihr Inbegriff ist die Summe der Wahrheiten, die für jede geoffenbarte Religion notwendig sind [R616]. Zu ihnen können noch spezielle Grundsätze einer einzelnen Religion hinzutreten, die aus dem Offenbarungsbegriff als solchem nicht folgen. Albo behandelt auch diese Spezialdogmen des Judentums, lehnt sie aber möglichst an das Grundschema an. Das System der aus den Hauptgrundsätzen folgenden Konsequenzen ist im Einzelnen von untergeordnetem Interesse, aber es ermöglicht, die Intention Albos in eindeutiger Klarheit zu erkennen. Wie Duran lehrt auch er, daß ein Irrtum in bezug auf eine einzelne Glaubenswahrheit nicht zum Ungläubigen macht, und es scheint zunächst, daß diese Weitherzigkeit sich auch auf die dogmatischen Grundlehren miterstreckt und daß nur die Anerkennung der drei Hauptgrundsätze selbst für die Rechtgläubigkeit unbedingt erforderlich ist [R617]. Späterhin aber setzt er auseinander, daß die Leugnung eines der abgeleiteten Grundsätze die Leugnung des Hauptgrundsatzes in sich schließt. Nur der ist für ihn ein Gläubiger und hat am jenseitigen Leben Anteil, der mit den Hauptgrundsätzen auch ihre Konsequenzen anerkennt [R618]. Da in dem Grundsatz der Offenbarung das Wissen Gottes von den Einzeldingen, in dem Grundsatz von Lohn und Strafe die auf das Individuum gerichtete spezielle Vorsehung mitgesetzt sein soll, tritt jede Auffassung, die das Wirken Gottes in die Grenzen des Natürlichen einschließt, mit der Offenbarungsreligion in Widerspruch [R619]. Die bei Duran nur angedeutete Tendenz, durch die Fixierung der dogmatischen Grundlehren der Religion eine Grenze gegenüber dem extremen Rationalismus zu ziehen, findet so bei Albo ihre bestimmte Ausprägung.

Seine Lehre von den abgeleiteten Grundsätzen hat noch eine andere, nicht minder wesentliche Bedeutung. Sie dient auch als Kriterium für die Wahrheit der mit dem Anspruch auf Offenbarungscharakter auftretenden Religionen. Bei Ibn Rošd, auf den wir die Ableitung der drei Hauptdogmen aus dem Offenbarungsbegriff zurückgeführt haben, hat dieser Begriff keine exklusive Bedeutung. Als eine natürliche Tatsache kommt die Prophetie überall vor, und die Vielheit der geschichtlichen Religionen kann gleichmäßig göttlichen Ursprung besitzen. Auch die Funktion des Propheten, das Gemeinschaftsleben zu ordnen, verlangt, daß überall solche prophetischen Gesetzgeber vorhanden sind. Die verschiedenen Religionen unterscheiden sich nur durch die Rangstufe ihres Begründers und demgemäß durch die Vollkommenheit ihres Inhalts. Albo nimmt diesen Gedanken zunächst auf. Auch er sieht in der göttlichen Gesetzgebung eine notwendige Voraussetzung eines geordneten Gemeinschaftslebens und schließt daraus, daß Gott es der Menschheit nicht an einem von ihm erleuchteten Gesetzgeber fehlen lassen kann [R620]. Grundsätzlich besteht für ihn auch die Möglichkeit einer Mehrheit von Offenbarungsreligionen, und er führt den Gedanken dahin aus, daß die Verschiedenheit ihrer gesetzlichen Bestimmungen ihren Grund in der verschiedenen Natur der Menschen hat, für die sie bestimmt sind und auf die sie Rücksicht nehmen [R621]. Aber er ist weit von dem Begriff der universalen Offenbarung im Sinne Ibn Rošds entfernt und biegt seinen Gedanken so um, daß er die exklusive Geltung der biblischen Offenbarung nicht beeinträchtigt. Bei der Mehrheit der Offenbarungen hat er nur die der mosaischen vorangehenden Offenbarungen der Bibel an Adam, Noa, Abraham im Auge. Die noachidische Religion ist nach bekannter talmudischer Lehre für alle Völker gültig, und nur für Israel ist sie durch die mosaische Offenbarung ergänzt worden. So bestehen in der Tat noch jetzt mehrere geoffenbarte Religionen nebeneinander, und die Verschiedenheit ihrer gesetzlichen Bestimmungen erklärt sich in der angegebenen Weise [R622]. Dagegen lehnt Albo die Anerkennung aller außerbiblischen Religionen ab und hält an dem exklusiven Charakter des biblischen Offenbarungsbegriffes unbedingt fest. Christentum und Islam, die nach dem Judentum aufgetreten sind, treten zu Unrecht als Offenbarungsreligionen auf. Die Polemik gegen den Islam hat für ihn keine aktuelle Bedeutung. Dagegen ist ihm die antichristliche Polemik ein dringliches Anliegen. Für sie bietet ihm die Lehre von den notwendigen Grundsätzen der Offenbarungsreligion und ihren Konsequenzen die Grundlage. Nur eine solche Religion kann göttlichen Ursprungs sein, die nicht bloß mit den Hauptgrundsätzen selbst, sondern auch mit den sich aus ihnen ergebenden Konsequenzen im Einklange ist [R623]. Die Differenz zwischen verschiedenen Offenbarungsreligionen kann stets nur ihren legislativen, niemals ihren dogmatischen Inhalt betreffen. Theoretisch ist es möglich, daß die durch Mose gegebenen Gesetze durch einen späteren Propheten aufgehoben werden, allerdings nur durch einen Propheten, den Gott ebenso öffentlich beglaubigt, wie einst Mose [R624]. Die Wahrheit aber kann für alle Religionen nur eine sein, und sie ist in ihren Grundzügen durch die Voraussetzungen des Offenbarungsbegriffes festgelegt. Das Christentum setzt sich in seiner Gotteslehre mit diesen Voraussetzungen in Widerspruch, indem es die durch den Begriff Gottes geforderte Einheit seines Wesens aufhebt. Die philosophische Kritik des Christentums, der an anderer Stelle die historische zur Seite geht, hebt in dieser dogmatischen Einkleidung die Widervernünftigkeit der christlichen Religion hervor [R625]. Albo unterscheidet scharf zwischen Vernunft- und Naturwidrigkeit. Die Grenzen der Natur können durch die Macht Gottes durchbrochen werden, die der Vernunft sind unverrückbar [R626].

Den übernatürlichen Charakter der Religion legt Albo nach allen Seiten hin fest. Die Prophetie, in der sie ihren Ursprung hat, entspringt aus dem Willen Gottes. Allerdings erkennt Albo an, daß zur Erlangung der Prophetie bestimmte psychologische Grundlagen erforderlich sind. Aber diese Grundlagen, die als solche schon jenseits der gewöhnlichen Menschennatur liegen, ermöglichen nur die Prophetie. Ihre Verleihung beruht immer auf dem Willen Gottes, der ausnahmsweise auch von diesen Voraussetzungen absehen kann [R627]. Ebenso weist der Inhalt der Offenbarung über die Sphäre des Natürlichen hinaus. Das gilt selbst für ihre ethischen Gesetze, die auf die diesseitige Glückseligkeit abzielen und im Prinzip der Sphäre der Vernunft angehören. Die Vernunft vermag wohl die sittliche Ordnung allgemein zu fordern, aber das für den Menschen Gute und Heilsame nicht konkret zu bestimmen. Unter Berufung auf Aristoteles, der es für unmöglich erklärt, die rechte Mitte, in der das Wesen der Tugend besteht, begrifflich zu fixieren, zeigt Albo, daß nur die Offenbarung die rechte sittliche und politische Ordnung konkret festlegen kann, und kehrt damit zu einem Gedanken Saʿadias zurück [R628]. Erst recht ist der transzendente Zweck der Religion, die Erlangung der ewigen Glückseligkeit, auf natürlichem Wege nicht erreichbar. Die philosophische Lehre, daß die Vervollkommnung des Intellekts zur Glückseligkeit führt, weist Albo ähnlich wie Crescas ab. Nicht die Erkenntnis, sondern die Erfüllung des göttlichen Gebotes führt zu ihr hin. Werden die von Gott gegebenen Gesetze in der rechten Gesinnung erfüllt, so üben sie eine Wirkung auf die Seele aus, die sie zur Erlangung des ewigen Lebens befähigt. Albo sucht jedoch den Aristotelischen Intellektualismus nicht, wie Crescas, von seinen letzten Voraussetzungen aus zu überwinden. Vielmehr erkennt er zunächst an, daß der Daseinszweck des Menschen in der Ausbildung seines Erkenntnisvermögens liegt, will dann aber unter der zur Vollendung des Menschen führenden Erkenntnis nicht das theoretische Erkennen, sondern die Überzeugung verstanden wissen, daß das Heil des Menschen in der Erwerbung des göttlichen Wohlgefallens liegt, um daran den Gedanken Jehuda Halewis zu schließen, daß nur die Tora uns die volle Kenntnis der Mittel gewährt, das Wohlgefallen Gottes zu erlangen [R629]. Ebenso eklektisch ist seine bereits erwähnte Lehre von der Prophetie. Er wehrt sich dagegen, daß sie als ein natürliches Phänomen betrachtet wird, und daß, wie Maimonides gelehrt hatte, ein göttlicher Willensakt erforderlich ist, um ihr naturgemäßes Eintreten zu verhindern. Sie soll vielmehr durchaus auf dem göttlichen Willen beruhen. Gleichwohl verbleibt er bei der Lehre des Maimonides von den psychologischen Bedingungen der Prophetie und schwächt sie nur zu bloßen Voraussetzungen ab. Das wiederholt sich im Einzelnen ständig; insbesondere in der Art, daß er Maimonides und Crescas zu kombinieren sucht. Der Versuch einer solchen Kombination liegt z. B. in seiner Lehre von den göttlichen Attributen vor, aber was dabei herauskommt, ist ein widerspruchsvolles Schwanken zwischen beiden Auffassungen. Es lohnt sich nicht, das im Einzelnen zu verfolgen; nur in bezug auf das Dogmenproblem hat Albo, wenigstens in der Durchbildung der überkommenen Gedanken, Eigenes gegeben, darüber hinaus fehlt es ihm an selbständiger Bedeutung.

Diese konservative Richtung erhält sich das ganze 15. Jahrhundert hindurch, und es handelt sich immer wieder um dieselben beiden Fragen: die Anerkennung des übernatürlichen Wirkens Gottes und die Beseitigung des Intellektualismus in der Lehre vom Menschen und seiner jenseitigen Bestimmung. In fanatischer Heftigkeit griff der Qabbalist Šemṭob ben Josef ibn Šemṭob (ca. 1440) die Philosophie überhaupt von diesen beiden Gesichtspunkten aus an, und fast schärfer noch als gegen die extremen Rationalisten wie Albalag wendet er sich gegen Maimonides, den er gerade wegen seiner gemäßigteren Haltung für den gefährlicheren Gegner der Religion hält. In der Lehre des Maimonides von der Vorsehung, der Prophetie und dem Wunder findet er immer wieder dieselbe Tendenz, das übernatürliche Wirken Gottes einzuschränken, und in seiner Lehre von der Unsterblichkeit des erworbenen Intellekts und von der Erkenntnis als dem Bande zwischen Gott und dem Menschen sieht er das Bestreben, die Philosophie der Tora überzuordnen und den ungläubigen Philosophen höher zu stellen als den gläubigen Bekenner der Tora [R630]. Für die Defensivstellung, in die die Philosophie immer mehr gedrängt wird, ist die Form bezeichnend, in der der Sohn Šemṭobs, Josef ben Šemṭob den Rückweg zu der von seinem Vater verfemten Wissenschaft findet. Ihm ist es weniger darum zu tun, die philosophischen Probleme sachlich zu fördern, als die Philosophie vor dem Forum der Rechtgläubigkeit zu verteidigen. Er glaubt dieses Ziel am sichersten zu erreichen, indem er nachweist, daß Aristoteles die ihm zugeschriebenen Irrlehren keineswegs vertreten habe. Sehr geschickt hält er der herrschenden Meinung, daß Aristoteles die individuelle Vorsehung leugnet, die Stelle der Nikomachischen Ethik entgegen, die dem allgemeinen Glauben zustimmt, daß sich die Götter um die Menschen kümmern, und aus ihm folgert, daß der Mensch durch Pflege der Vernunft zum Liebling der Götter wird. Mit glücklichem Griff benutzt er diesen Überrest einer früheren, stärker religiösen Phase des Aristotelischen Denkens, um von hier aus das ganze System zu interpretieren. Auf merkwürdig verschlungenen Wegen gelangt er dazu, auch die Aristotelische Lehre von der Eudämonie der Erkenntnis ihrer Anstößigkeit zu entkleiden. Es ist richtig, daß Aristoteles die Glückseligkeit des Menschen in die Entfaltung der Vernunft als seiner höchsten Kraft verlegt. Aber das bezieht sich nur auf die Glückseligkeit in diesem Leben. Daß die Erkenntnis dem Menschen auch das ewige Leben und die ewige Seligkeit verschafft, findet sich bei Aristoteles nicht, und erst seine Erklärer haben diese Lehre in ihn hineingetragen. Ihre Argumentationen aber sind sachlich nicht zwingend und berechtigen nicht dazu, Aristoteles in ihrem Sinne zu ergänzen. Da er selbst sich über die Frage, wie der Mensch die ewige Glückseligkeit erlangt, nicht positiv äußert, haben wir seine Aussage auf das Diesseits zu beschränken und können sie so mit den Lehren der Tora verbinden. Danach erhebt sich über der diesseitigen Glückseligkeit die durch das Denken erreicht wird, die jenseitige, zu der nur die Befolgung der Gebote der Tora führt [R631]. So wird Aristoteles gegen die Aristoteliker, unter ihnen auch Maimonides, der sich in wesentlichen Punkten von den herrschenden Meinungen hat bestimmen lassen, ausgespielt. Von diesem Standpunkte aus, der den Zweck der Tora ganz in die Sphäre des Übernatürlichen emporhebt, weist Josef ben Šemṭob auch die rationale Erklärung der biblischen Gebote bei Maimonides zurück. Sein Sohn Šemṭob ben Josef kehrt in seinem 1488, also vier Jahre vor der Vertreibung der Juden aus Spanien geschriebenen umfangreichen und gehaltvollen Kommentar zu dem »Führer« des Maimonides allerdings wieder zu diesem zurück, aber das Bekenntnis zu Maimonides ist das Äußerste, was damals möglich ist. Etwa denselben Standpunkt vertritt mit tiefer Durchdringung der Probleme sein Zeitgenosse Abraham Ša1om, der Maimonides insbesondere gegen Crescas mit Scharfsinn verteidigt.

Ihr Ende erreicht die jüdische Philosophie Spaniens in Isaak Abravanel (1437 in Lissabon geb., 1509 in Venedig gest.), dem letzten in der Reihe der jüdischen Staatsmänner Spaniens, der noch wenige Jahre vor der Vertreibung der Juden aus Spanien dem dortigen Königshause, nach der Vertreibung dem von Neapel diente. Bei enzyklopädischer, auch die christliche Literatur umfassender Gelehrsamkeit und nicht unerheblicher dialektischer Gewandtheit ist er an eigenen Ideen arm, und das spontane philosophische Interesse tritt auch bei ihm hinter dem Bemühen zurück, die philosophischen Begriffe und Theorien soweit abzustumpfen, daß sie ihre religiöse Bedenklichkeit verlieren. In einer Schrift über die Grundlehren des Judentums weist er zunächst die Einwände der Späteren gegen die von Maimonides aufgestellten dreizehn Glaubenslehren zurück, um dann zu dem Ergebnis zu kommen, daß die Aufstellung von Grundlehren innerhalb des Judentums überhaupt keine Bedeutung hat, weil jeder Satz der Tora unbedingt zu glauben ist und kein Unterschied zwischen Wichtigerem und Minderwichtigem anerkannt werden darf [R632]. Mit sein Bestes gibt er in der Behandlung des Schöpfungsproblems, trotzdem er auch hier wesentlich mit den in der älteren Literatur vorliegenden Argumenten operiert. Gegen die von Gersonides vertretene Annahme einer präexistenten Materie wendet er ein, daß die Korrelativität von Materie und Form das Dasein einer formlosen Materie ausschließt [R633]. Gegen Crescas behauptet er mit Maimonides, daß die Ewigkeit der Welt mit ihrem Ursprung aus dem göttlichen Willen unvereinbar ist, weil eine Willensnotwendigkeit im Sinne von Crescas den Begriff des Willens aufhebt [R634]. Den Forderungen der Religion entspricht nach seiner Meinung allein die zeitliche Erschaffenheit der Welt, die philosophisch zwar, wie Maimonides lehrt, nicht streng beweisbar, aber möglich ist. Schwierigkeit bereitet ihm nur die Vorstellung, daß das Schaffen Gottes zu bestimmter Zeit angefangen hat, und er neigt darum dem Gedanken zu, daß unserer Welt zahllose andere vorangegangen sind und daß jede von ihnen nur für eine bestimmte Zeit von Gott geschaffen wird [R635]. Den Begriffen des Wunders und der Prophetie will er ihren streng übernatürlichen Sinn zurückgeben, den selbst Maimonides in unzulässiger Weise abgeschwächt hat. Die Prophetie hat ihren Ursprung nicht im aktiven Intellekt, sondern in Gott selbst und sie ist nicht an besondere Fähigkeiten des Intellekts und der Phantasie gebunden, sondern ihre einzige Voraussetzung ist die sittliche Reinheit, ohne die Gott niemanden zum Propheten macht [R636]. Ebenso nimmt Abravanel auch eine spezielle übernatürliche Vorsehung an, allerdings nur für Israel, während die übrigen Völker nicht der unmittelbaren, sondern der natürlich vermittelten Vorsehung Gottes unterstehen. Er kehrt damit, wie in der Annahme der durch die Tora vermittelten übernatürlichen Verbindung des Menschen mit Gott, etwa zu dem Standpunkt Jehuda Halewis zurück, aber was bei diesem der theoretische Ausdruck für das Bewußtsein der außerhalb aller Erkenntnis liegenden religiösen Gemeinschaft von Mensch und Gott war, dient bei ihm nur dem Bestreben, die geoffenbarte Religion ganz aus der Sphäre des Natürlichen herauszuheben, und aus der lebendigen religiösen und historischen Intuition Jehuda Halewis wird ein nüchterner scholastischer Supranaturalismus.

b) Die jüdische Philosophie in Italien

Nachdem die Juden Spanien hatten verlassen müssen, fand die jüdische Philosophie am meisten Pflege in Italien. Schon Abravanel hat seine wichtigsten Werke auf italienischem Boden geschrieben, und andere spanische Flüchtlinge verpflanzten mit ihm die philosophische Tradition Spaniens auf italienischen Boden. Schon vorher aber hatten die italienischen Juden selbst an den philosophischen Studien teilgenommen. Bereits im 13. Jahrhundert ist uns in Hillel ben Samuel ein italienischer Philosoph begegnet, und seither war das philosophische Interesse unter den Juden Italiens nicht erstorben, wenn es sich auch nicht in großen und eingreifenden Leistungen entfaltet hat. Stärker als in Spanien und Südfrankreich ist in Italien von jeher der Zusammenhang mit der christlichen Philosophie spürbar. Es ist nicht ausgeschlossen, daß auch einige spanische Philosophen Einflüsse christlicher Scholastik erfahren haben, und daß der großen Wirkung, die Gabirol und Maimonides auf die christliche Philosophie geübt haben, späterhin wenigstens eine partielle Gegenwirkung entspricht. Bei Crescas haben wir auf die Möglichkeit solcher Zusammenhänge mehrfach hingewiesen. Crescas selbst aber, der seine islamischen und jüdischen Vorgänger ständig zitiert, erwähnt die christlichen Scholastiker in seinem Or Adonai nirgends, und er fühlt sich offenbar, und im wesentlichen mit Recht, ganz in der Kontinuität der arabischen und jüdischen Philosophie [R637]. In Italien treten diese Zusammenhänge von Anfang an sichtbarer hervor. Hillel ben Samuel benutzt Thomas von Aquino sehr stark, und wenn er diese Benutzung auch nicht in vollem Umfange erkennen läßt, bezieht er sich doch wiederholt ausdrücklich auf die christlichen Gelehrten, denen er folgt. Dieser Kontakt mit der christlichen Scholastik begegnet uns mehrfach wieder. Auch an Berührungen mit der Philosophie der Renaissance fehlt es nicht ganz, allein zu einer wirklichen Erneuerung der jüdischen Philosophie inmitten der freilich nicht allzu zahlreichen italienischen Judenheit haben sie nicht geführt. So lebhaft sich die italienischen Juden an den allgemeinen kulturellen Bewegungen der Renaissance beteiligt haben, die große Erneuerung der Philosophie auf italienischem Boden hat die jüdische Philosophie im ganzen nicht befruchtet. Ihr Anteil an der Renaissancephilosophie beschränkt sich auf vereinzelte Erscheinungen. Soweit das philosophische Interesse nicht durch die immer stärker anwachsenden qabbalistischen Tendenzen verdrängt wurde, betätigt es sich in der Pflege der mittelalterlichen Traditionen. Auch als später die Juden eine neue Heimstätte in Holland fanden, änderte sich das nicht; man lebte weiter in der Problemwelt des jüdischen Mittelalters und begnügte sich allenfalls damit, die alten Gedanken mit einiger humanistischer Gelehrsamkeit zu verbrämen. Eine moderne jüdische Philosophie ist bis ins 18. Jahrhundert hinein nicht entstanden.

Noch vor den Beginn der Renaissancephilosophie fällt die Wirksamkeit des Italieners Juda Messer Leon. Der humanistische Zug italienischer Kultur hat ihn allerdings bereits ergriffen. Er ist der Autor einer Rhetorik, die aus Aristoteles, Cicero und Quintilian schöpft und ihre Kategorien auf die Bibel anzuwenden versucht. Philosophisch dagegen gehört er noch ganz dem Mittelalter an. Die meisten seiner philosophischen Arbeiten sind Kommentare zu den Schriften des Aristoteles bzw. Superkommentare zu Ibn Rošd. Der einzige dieser sämtlich noch ungedruckten Kommentare, der bisher näher untersucht worden ist, die um 1450 verfaßte Erklärung zur Isagoge des Porphyrios und den ersten Büchern der Aristotelischen Logik, weist formell und inhaltlich die stärkste Abhängigkeit von der christlichen Scholastik auf. Die zahlreichen Exkurse, welche die Interpretation unterbrechen und grundsätzliche logische Fragen behandeln, sind ganz nach dem Schema der scholastischen Literatur gearbeitet, und inhaltlich folgt Leon zumeist dem englischen Scholastiker Walter Burleigh, einem Schüler des Duns Scotus, während er Gersonides ohne Nennung seines Namens heftig bekämpft. Auch sein Kompendium der Logik scheint nach christlichen Quellen gearbeitet zu sein, es wird wenigstens von einem Kopisten als ein Auszug aus der Logik des Maestro Paolo, d. h. des Paul von Venedig, eines Philosophen aus dem Anfange des 15. Jahrhunderts, bezeichnet [R638].

In naher persönlicher Berührung mit dem Haupt der Florentiner Platoniker, dem Grafen Pico von Mirandola, stand der aus Kreta stammende Elia del Medigo (um 1460 geb., 1493 gest.). Er übersetzte für Pico Schriften Ibn Rošds, deren mittelalterliche Übertragungen dem Grafen nicht genügten, aus dem Hebräischen ins Lateinische, erläuterte sie in einigen lateinischen Abhandlungen, die er teilweise auch hebräisch bearbeitet hat, und führte ihn auch persönlich in Ibn Rošd ein. Vorher schon hatte er an der Universität Padua philosophische Vorlesungen gehalten und stand auch sonst mit christlichen Gelehrten in Beziehung. Aber er verblieb ganz auf dem Boden der älteren arabischen und jüdischen Philosophie und sah seine Aufgabe darin, insbesondere den Ibn Rošd der christlichen Gelehrtenwelt in seiner ursprünglichen Gestalt zugänglich zu machen und ihr ein reineres Verständnis seiner Lehre zu vermitteln, ohne daß die neuen, platonisierenden Tendenzen seines Schülers, Freundes und Gönners Pico irgendwelchen Eindruck auf ihn gemacht zu haben scheinen. Wenigstens lassen seine Schriften, soweit sie bisher untersucht wurden, von einem solchen Einfluß nichts erkennen. Auch seine kleine hebräisch geschriebene religionsphilosophische Schrift »Die Prüfung der Religion« (Beḥinat ha-Dat), knüpft an Ibn Rošd an. Sie ist eine Bearbeitung von dessen Abhandlung über die Verbindung von Religion und Philosophie, allein sie bildet den Standpunkt Ibn Rošds erheblich um. Nach Ibn Rošd stimmt der tiefere Sinn der Offenbarungslehre mit den Anschauungen der Philosophie notwendig überein, und der Philosoph ist berechtigt, die Offenbarungsurkunden so zu interpretieren, daß sie mit den Ergebnissen des philosophischen Denkens harmonieren. Irgendeine Schranke dieser Freiheit erkennt er nicht an, sofern nur die Philosophie zu einem Ergebnis kommt, bei dem der Begriff der Offenbarung überhaupt noch möglich bleibt. Die Menge ist allerdings von dem esoterischen Sinn der Religion streng auszuschließen und an den Wortlaut der Offenbarung zu binden [R639]. Diese Scheidung zwischen Philosophenreligion und Massenreligion übernimmt auch Elia del Medigo. Er lehrt ebenfalls, daß die Menge sich an den Wortlaut der Heiligen Schrift halten muß und nur der Philosoph zu ihrer Umdeutung berechtigt ist [R640]. Aber er will von der philosophischen Interpretation der Glaubenswahrheit die Grundlehren der Religion ausgenommen wissen und verlangt, daß der Philosoph sie ebenso anerkennt wie die Menge [R641]. Als solche Grundlehren hebt er die dreizehn Glaubenslehren des Maimonides heraus, führt sie jedoch ähnlich wie Duran auf die drei Hauptprinzipien des Daseins Gottes, der Offenbarung und der Vergeltung zurück [R642]. Wenn in bezug auf diese Grundlehren ein Widerspruch zwischen Vernunft und Offenbarung auftritt, ist auch der Philosoph verpflichtet, der Offenbarungslehre zu folgen. Von einem Versuch, die Philosophie ihrerseits der Offenbarung anzupassen, hat er sich jedoch fernzuhalten, da Philosophie und Offenbarung verschiedene Gebiete sind und verschiedenen Gesetzen unterstehen [R643]. Es ist deutlich, daß Elia damit die Lehre von der doppelten Wahrheit aufnimmt, von der sich auch in seinen anderen Abhandlungen Spuren finden [R644]. Wenn sie auch vorher schon bei dem jüdischen Denker Isaak Albalag aufgetreten war, so spricht doch alles dafür, daß er sie dem christlichen Averroismus entlehnt hat, dem er in seinem damaligen Hauptsitz, in Padua, nahe gekommen ist. Er vertritt diese Theorie allerdings in zwiefach eingeschränkter Form. Einmal dürfen alle Konflikte, die nicht die Grundprinzipien der Religion betreffen, durch Umdeutung der Offenbarung beseitigt werden. Auch in den dogmatischen Grundfragen aber hält er es für unmöglich, daß die wahre Offenbarung etwas lehrt, was, wie das christliche Dogma, den axiomatischen Grundlagen der Vernunft widerspricht, und beschränkt die Theorie der doppelten Wahrheit auf solche Fälle, in denen die Offenbarung lediglich den Resultaten philosophischer Deduktion widerstreitet [R645]. Was sich so ergibt, ist ein vorsichtig verklausulierter Kompromiß zwischen der Lehre von der doppelten Wahrheit und der philosophischen Interpretation der Religion. Immerhin aber hat er der vielberufenen Lehre doch eine gewisse Berechtigung zugesprochen und sich damit der ihm verwandten averroistischen Richtung der zeitgenössischen christlichen Philosophie angenähert.

Der einzige wirkliche jüdische Renaissancephilosoph, Leone Ebreo, ist seinem Ursprünge nach Spanier und erst im Mannesalter unter den Einfluß italienischer Kultur getreten. Der Sohn des Isaak Abravanel, Juda Abravanel, der in christlichen Kreisen Leone Ebreo genannt wurde (geb. um 1460, gest. nach 1521) war ein Mann von etwa 30 Jahren, als die Juden den Boden Spaniens verlassen mußten, aber er hat sich in jugendlicher Empfänglichkeit von dem Geiste des italienischen Platonismus durchdringen lassen, der vielleicht nirgends einen so unmittelbaren und persönlichen Ausdruck gefunden hat, wie in Leones geist-, lebens- und phantasievollen »Dialoghi d' Amore«. Schon daß Leone seine philosophische Weltanschauung in italienischer Sprache darlegt, bezeichnet die neue Haltung seines Philosophierens. Er schreibt nicht, wie die jüdischen Philosophen Spaniens, als Jude für Juden, sondern für den überkonfessionellen Kreis der philosophisch Gebildeten, und er begnügt sich nicht, wie Elia del Medigo, mit der lateinischen Gelehrtensprache, sondern er bedient sich als einer der ersten Philosophen Italiens der Sprache der lebendigen Bildung [R646]. An die Stelle der begrifflichen Nüchternheit und Trockenheit mittelalterlichen Philosophierens tritt bei ihm der Schwung der Phantasie, die gehobene und bewegte Sprache einer im Gefühl wurzelnden Weltanschauung. Selbst darin folgt er der Richtung der Zeit, daß er an der philosophischen Deutung antiker Mythen teilnimmt [R647]. Innerhalb der jüdischen Philosophie ist es ein Unerhörtes, daß heidnische Mythen mit unbefangenem Gefallen dargestellt und als Ausdruck philosophischer Wahrheit gedeutet werden. Der Renaissanceglaube an die eine Wahrheit, die dem ganzen Menschengeschlecht überliefert ist und auch dem heidnischen Mythos als sein tieferer Gehalt zugrunde liegt, hat bei Leone die schroffe Ablehnung aller Ausdrucksformen des heidnischen Polytheismus verdrängt.

Der an Platon und den griechischen Neuplatonikern genährte Platonismus Leones nimmt die ästhetischen Züge der Platonischen Weltauffassung wieder auf, die dem arabischen und jüdischen Neuplatonismus und seinem Nachwirken im Aristotelismus gänzlich verloren gegangen waren. Die Schönheit gehört für Leone zum Wesen der Welt und empfängt in seinem System ihre metaphysische Deutung. Mit Platon führt er die Schönheit der Körper auf die in ihnen erscheinende Idee zurück [R648], und wenn er sich auch scheut, Gott selbst unter die Kategorie des Schönen zu stellen, so macht er ihn doch zum Quell der Schönheit und stellt der Schönheit selbst und dem von ihr erfüllten Universum Gott als das schönheitverleihende Schöne gegenüber [R649]. In engem Zusammenhange mit dieser ästhetischen Verklärung der Welt steht ihre durchgehende Belebung. Das Universum wird als eine lebendige Einheit erfaßt, die von der einen Grundkraft der Liebe erfüllt und durchdrungen ist [R650]. Der Liebesbegriff Leones, der Zentralbegriff seines Systems, weist zunächst auf jüdische Grundlagen hin. Wenn die Welt als Werk der auf die höchste Vollkommenheit abzielenden Liebe verstanden und die sie erfüllende Liebe als ein Streben zu Gott hin aufgefaßt wird, so scheint das zunächst eine ähnliche Deutung des biblischen Liebesbegriffs zu sein, wie sie uns bei Crescas begegnet ist. Was Leone von Platon und Plotin unterscheidet, der Gedanke, daß die Liebe nicht nur von den Geschöpfen zu Gott, sondern auch von Gott zu den Geschöpfen geht, verbindet ihn mit dem jüdischen Denker, und Crescas kommt nahe an Leones Auffassung der göttlichen Liebe heran, wenn er sie als den Willen auffaßt, das Gute aus sich hervorgehen zu lassen. Allein durch die kosmologische Erweiterung erhält der Liebesbegriff bei Leone doch einen ganz anderen Sinn. Auch Crescas erinnert gelegentlich an die Lehre des Empedokles von der Liebe als dem vereinigenden Prinzip der Welt, aber bei ihm ist nur Bild, was für den Renaissancephilosophen Wirklichkeit ist. Darum bleibt der personale Sinn des Liebesbegriffs bei Crescas gewahrt, bei Leone geht er, wenigstens der Grundtendenz nach, durch die kosmologische Ausweitung des Begriffes verloren. Das allverbindende Prinzip der Liebe hat seinen spezifisch personalen Sinn bei Leone eingebüßt und ist zu einem kosmischen Streben geworden, das Vollkommene hervorzurufen oder sich mit dem Vollkommenen zu vereinen [R651]. Darum besteht die letzte Gemeinschaft mit Gott nicht in der Liebe selbst. Sie ist nur der Ausdruck des Strebens zu Gott hin, das erst in der vollen Vereinigung mit ihm seine Erfüllung findet. An diesem Streben hat der ganze Kosmos Anteil. Die allbeseelende Liebe vollendet sich in dem Streben des Kosmos, zu Gott aufzusteigen und sich mit ihm zu verbinden [R652].

Der Glaube an ein einheitliches Leben des Kosmos ist den Emanationssystemen des islamischen und jüdischen Mittelalters fremd, und es ist ein neues Weltgefühl, das diesen Glauben in Leone erzeugt. Das Mittelalter macht eine scharfe Scheidung zwischen der beseelten Welt des Himmels und der leblosen, von blindem Zwang beherrschten irdischen Welt, und wie die irdischen Körper unterhalb des Lebens stehen, so steht die intelligible Welt über ihm. Die geistigen Wesenheiten werden, besonders in den Systemen Aristotelischer Prägung, als in sich ruhende Intellekte gedacht. Der Aristotelische Begriff des unbewegten Bewegers gilt wie für Gott auch für die von ihm abhängigen Intelligenzen. Die Emanation der Einzelformen aus den Intellekten wird so vorgestellt, daß diese dabei in ihrer Ruhe verharren, und so hat das Weltbild trotz seiner dynamischen Struktur etwas Starres und Unbewegtes. Diese Starrheit löst sich bei Leone, und es ist derselbe Lebensstrom, der alle Sphären des Seins durchflutet. Die Bewegung der Liebe reicht von Gott über die reinen Intelligenzen bis zur irdischen Welt herunter. Allein so eingreifend diese Wandlung ist, sie besteht doch in nichts anderem, als in der Lösung des überkommenen Weltbildes aus seiner logistischen Erstarrung und in der Freisetzung seiner dynamischen Elemente. Die dynamische Auffassung des Geschehens bot sich dieser Durchseelung mühelos dar, und Leone brauchte keine neue Theorie des Weltzusammenhanges aufzubauen, sondern nur die überkommene im Sinne seines Liebesprinzips zu deuten. Nicht nur der eigentliche Neuplatonismus, auch der Aristotelismus trägt durch die Vorstellung von dem Streben der Materie nach der wesenverleihenden Form und durch die Lehre von dem Streben der Körper nach ihren natürlichen Orten die Elemente zu einer Beseelung der irdischen Körperwelt in sich [R653], und die der Emanationslehre zugrunde liegende Vorstellung, daß die höheren Wesen kraft ihrer Vollkommenheit das niedere Sein von sich ausströmen lassen, ließ sich leicht in den Gedanken ihrer Liebe zu dem aus ihnen entstehenden niederen Sein überführen [R654]. Die Ideengemeinschaft, welche die ältere Renaissancephilosophie mit der Weltansicht des islamischen und jüdischen Mittelalters verbindet, wird bei dem in den Traditionen dieser Philosophie herangewachsenen Leone Ebreo unmittelbar greifbar. Wie die ihm vertraute philosophische Überlieferung sich mit dem Neuplatonismus erster Hand, den er in Italien kennenlernte, leicht verschmolz und dessen ästhetische Züge ohne Schwierigkeiten in sich aufnahm, so gab sie auch für die Beseelung des Alls durch das Liebesprinzip die Grundlage her.

Unter den Gedanken, die Leone Ebreo aus dem Mittelalter übernimmt, ist besonders wichtig seine Auffassung der Erkenntnis. Auch nach ihm wird der potenzielle, menschliche Intellekt erst durch die Erleuchtung seitens des überindividuellen aktiven Intellekts aktualisiert und zu wirklicher Erkenntnis geführt. Leone unterscheidet sich vom Mittelalter nur dadurch, daß er zu der Ansicht des Alexander von Aphrodisias zurückkehrt, die den aktiven Intellekt mit Gott selbst identifiziert und so in der Erkenntnis ein unmittelbares Band zwischen Gott und dem Menschen knüpft [R655]. Dem entspricht auch Leones Lehre von der Vereinigung des menschlichen Geistes mit Gott. Zunächst scheint er die Lehre von der erkennenden Gemeinschaft zwischen Mensch und Gott aufzugeben, indem er die Liebe dem Intellekt überordnet und das Erkennen zur Vorbedingung der Liebe macht. Aber das gilt nur gegenüber der ersten, vorbereitenden Erkenntnisform, durch welche die Liebe zu dem erkannten Gegenstande in uns entzündet wird. Damit wir uns mit ihm vereinen, genügt auch die Liebe als das bloße Verlangen zur Vereinigung noch nicht. Sie erreicht ihr Ziel erst in einer letzten, höchsten Erkenntnisform, der vollkommenen, einigenden Erkenntnis Gottes [R656]. Diese Sonderung der uns mit Gott vereinenden Intuition von der diskursiven Erkenntnis ist ein deutlicher Schritt zur Mystik hin. Aber der Gedanke von der Erkenntnis als dem Band zwischen Mensch und Gott bleibt in seinem Kern derselbe, und Leones Lehre von der Rückkehr der Welt zu Gott findet in ihm ihre Krönung.

Auch Leones Verhältnis zum Judentum ist kein grundsätzlich anderes als das der mittelalterlichen Philosophie. Trotzdem seine Beseelung der Welt ihn dem Pantheismus naheführt, tut er doch den entscheidenden Schritt zu ihm nicht. Die Welt ist für Leone Schöpfung Gottes und in seiner eingehenden, wesentlich aus mittelalterlichen jüdischen Quellen schöpfenden Diskussion der Frage, ob die Welt ewig oder zeitlich entstanden ist, entscheidet er sich für die zeitliche Weltschöpfung. Dabei nimmt er freilich den Gedanken einer präexistenten Materie, der ihm außer durch seine mittelalterlichen Ableitungen auch durch Platon selbst nahe gebracht wurde, auf und verbindet mit ihm die von seinem Vater, allerdings ohne die Annahme einer unerschaffenen Materie, vertretene Lehre, daß der jetzigen Welt eine Reihe anderer Welten vorangegangen ist [R657]. Diese Modifikationen sollen jedoch nach seiner Intention den Schöpfungsgedanken in seinem Wesen nicht berühren. Wie der christliche Platonismus seiner Zeit fühlt sich Leone ganz im Einklang mit der biblischen Offenbarung. Er verbleibt auf dem Boden des Judentums wie auf dem seiner philosophischen Überlieferung und verknüpft beide Elemente im Prinzip nicht anders als es die mittelalterlichen Denker getan hatten. Jüdischer Glaube, mittelalterliche Denkform und neues, durch unmittelbare Berührung mit der Antike belebtes Weltgefühl bilden für sein Bewußtsein ein einheitliches Ganzes.

Auch die beginnende Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts hat die jüdische Philosophie wenigstens flüchtig berührt. Josef Salomo del Medigo (1591-1655), ein Nachkomme Elia del Medigos und gleich ihm aus Kreta gebürtig, war ein Schüler Galileis und hat die neuen astronomischen Anschauungen in sich aufgenommen. Er lehrt die Bewegung der Erde um die Sonne und erkennt, daß damit die grundsätzliche Scheidung von irdischer und himmlischer Welt hinfällig wird. Die Himmelskörper bestehen nicht aus einer besonderen Substanz und ihre Bewegungen sind nicht aus Sphärenbewegungen zu erklären [R658]. Auch in der Auffassung der körperlichen Substanz als solcher macht er sich von den Aristotelischen Anschauungen frei. Seine Kritik richtet sich besonders gegen den Formbegriff des Aristoteles, der zur Erklärung des Naturgeschehens nichts beiträgt. Weder bedarf es der Form, um das bloß potenzielle Sein der Materie zur Aktualität zu erheben, denn diese bloß potenzielle Materie ist selbst eine Fiktion, noch ist die Form erforderlich, um die Besonderung der verschiedenen Spezies der Naturobjekte zu erklären, die sich vielmehr aus bestimmten Eigenschaften der Materie ergibt, noch endlich brauchen wir die Form als wirkende Ursache, da die Materie nicht das passive Substrat des Geschehens ist, zu dem Aristoteles sie macht, sondern durch ihre qualitativen Bestimmtheiten alles Geschehen verursacht. Was wir empirisch vorfinden, ist nur die materielle Substanz mit den ihr anhaftenden Eigenschaften, und diese gegebenen Tatsachen reichen zur Erklärung des Naturgeschehens völlig aus [R659]. Diese Auffassung der Materie ist von Galileis Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten noch unberührt. Die Materie ist mit einer Mannigfaltigkeit sinnlicher Eigenschaften ausgestattet, durch die sich die verschiedenen Elemente voneinander unterscheiden, aber die Materie mit diesen ihren Eigenschaften ist ein Letztgebenes, hinter das wir nicht auf den nichts erklärenden Formbegriff zurückzugreifen haben. Mit zahlreichen Denkern der Renaissance gibt del Medigo die traditionelle Lehre von der Vierzahl der Elemente auf und kommt zu einer Dreizahl, scheidet jedoch nicht, wie es in der Regel geschieht, das Feuer, sondern die Luft aus der Zahl der Elemente aus [R660]. Der metaphysischen Konsequenzen dieser veränderten Naturauffassung ist er sich bewußt; er deutet wenigstens an, daß für die Erklärung der Sternbewegungen die immateriellen Beweger des Aristotelismus entbehrlich werden [R661]. Ebenso sieht er, daß seine Kritik des Formbegriffs auch den Seelenbegriff des Aristotelismus trifft, und scheint geneigt, Tier- und Pflanzenseelen aus der Mischung körperlicher Elemente abzuleiten. Für die Menschenseele schreckt er vor der gleichen Konsequenz zurück, neigt aber mehr der Platonischen Seelenauffassung zu, welche die Seele nicht als Form des organischen Körpers, sondern als selbständige, mit dem Körper verbundene Substanz ansieht [R662]. Im Einzelnen der Psychologie wird ihm mit der Preisgabe der Lehre von den immateriellen Bewegern die in der arabisch-jüdischen Philosophie herrschende Auffassung des aktiven Intellekts als einer überindividuellen geistigen Substanz zweifelhaft, und er bevorzugt die Lehre der christlichen Scholastik, die denselben zu einem Teil der Einzelseele macht [R663]. Schon diese psychologischen Lehren sind weit von der sicheren Bestimmtheit der naturwissenschaftlichen Anschauungen del Medigos entfernt. Statt eines selbständigen Aufbaus gibt er nur eine Diskussion der überkommenen Anschauungen, die auch als solche zu keinem durchgreifenden Ergebnisse, sondern bald zu einer Anlehnung an Platonische, bald an Aristotelische Lehren führt und sich mit Andeutungen von Möglichkeiten begnügt, statt zu eindeutigen Entscheidungen zu gelangen.

Diesen Charakter tragen seine Ausführungen überall, wo sie die metaphysischen und religionsphilosophischen Grundfragen berühren. Das mag zum Teil darauf beruhen, daß er in diesen Fragen mit der freien Aussprache seiner Überzeugung zurückhält. In einem großen Werk wirft er sich zum Verteidiger der von seinem Vorfahren Elia del Medigo angegriffenen Qabbala auf, während er anderwärts ihren Aberglauben rücksichtslos verspottet, und wo er freigeistigen Anschauungen Ausdruck gibt, bricht er ihnen durch Einschränkungen und Reservationen aller Art sogleich die Spitze ab. Aber es ist zweifelhaft, ob seine Vorsicht mehr zu verbergen hat als isolierte freigeistige Ideen ohne systematischen Zusammenhang. Weder von einer Neugestaltung der Metaphysik gemäß den veränderten naturwissenschaftlichen Anschauungen, zu denen er sich bekennt, noch von einem neuen Ausgleich zwischen religiöser und wissenschaftlicher Weltansicht ist auch nur der Umriß bei ihm zu finden. Er hat die Notwendigkeit der Aufgabe erkannt, aber nicht die Konzentration des Denkens besessen, um sie in Angriff zu nehmen. Wie bei so vielen unruhigen Geistern der Renaissancezeit führt seine Kritik an den religiösen und philosophischen Traditionen zu keiner wirklichen Befreiung von ihnen. Selbst seine zwiespältige Stellung zur Qabbala mag hier ihren tieferen Grund haben. Er verspottet die abergläubischen Konsequenzen, zu denen sie in ihren gröberen und äußerlicheren Formen hinführt, und fühlt sich doch, gleich anderen an der Aristotelischen Scholastik irre gewordenen Denkern der Zeit, zu ihren platonisierenden Grundanschauungen hingezogen. Auch seine Formel für den Ausgleich zwischen Religion und Erkenntnis, daß man der Wissenschaft nur soweit zu folgen habe, wie sie strenge demonstrative Beweise erbringe, gegenüber bloßen Wahrscheinlichkeiten aber an der religiösen Überlieferung festhalten müsse [R664], will nicht nur der Verschleierung seiner tieferen Absichten dienen. Sie gibt ihm die Möglichkeit auch zum inneren Anschluß an die religiösen Überzeugungen, die durch die wissenschaftliche Kritik ins Wanken gebracht werden. Aus wissenschaftlicher Aufklärung, Traditionsgebundenheit und Anlehnung an die Mystik hat sich kein Ganzes bei ihm geformt.

c) Der Einfluss der jüdischen Philosophie auf das System Spinozas

Das System Spinozas hat seinen eigentlichen Platz nicht in der Geschichte der jüdischen Philosophie, sondern in der Entwicklung des modernen europäischen Denkens. Die Aufgabe aller bisherigen jüdischen Philosophie, die Religion des Judentums philosophisch zu deuten und zu rechtfertigen, hat für Spinoza vom Beginn seines selbständigen Philosophierens an ihren Sinn verloren. Seine Philosophie steht zu der jüdischen Religion, nicht nur in ihrer überlieferten dogmatischen Form, sondern ihren letzten Grundüberzeugungen nach, in tiefstem Gegensatz. Spinoza hat diese Tatsache von Anfang an klar durchschaut und auf den Versuch verzichtet, den Gegensatz harmonisierend auszugleichen. Die Kritik, die sein theologisch-politischer Traktat an solchen Harmonisierungsversuchen übt, ist der Ausdruck der Überzeugung, die sein eigenes Philosophieren beherrscht. Von jeder Beziehung zu der Religion des Judentums gelöst, wendet sich seine Philosophie nicht mehr an die Gemeinschaft des Judentums, sondern an die europäische Gemeinschaft der Denker, die durch die Idee der autonomen Wahrheit geeint ist. Mit sicherem Bewußtsein stellt sich Spinoza in den Zusammenhang der europäischen Gedankenbewegung hinein und will mit seinem System in sie eingreifen. Dem entspricht auch die Wirkung, die von ihm ausgegangen ist. Sie liegt ganz außerhalb der jüdischen Welt und gehört allein der Geschichte der modernen Philosophie an. Erst seit das Judentum den Anschluß an das geistige Leben der europäischen Völker gefunden hat, ist sie von hier aus auch in die jüdische Welt gedrungen.

Mit der jüdischen Philosophie ist Spinoza nur insofern verbunden, als sie zu den Faktoren gehört, die sein Denken geformt haben. Die jüdischen Religionsphilosophen haben ihm zuerst den Zugang zur Philosophie erschlossen, und in eingehendem Studium hat er sich eine genaue Kenntnis ihrer Lehren erworben. Sein Briefwechsel und besonders sein theologisch-politischer Traktat zeigen, wie gründlich er noch in reifen Jahren mit ihnen vertraut war. Der theologisch-politische Traktat arbeitet zum großen Teil mit dem Material der mittelalterlichen Religionsphilosophen. Philosophisch ist das freilich von sekundärer Bedeutung, weil Spinoza sie hier nicht für den Aufbau seines Systems, sondern für seine Auseinandersetzung mit der Bibel benutzt. Ihr Einfluß auf sein System ist weniger sichtbar, aber nicht weniger eingreifend. Die aus Aristotelischen und neuplatonischen Elementen aufgebaute Weltansicht, die der Arbeit der jüdischen Philosophie zugrunde liegt, hat das Denken Spinozas stark bestimmt und lebt, wenn auch in umgebildeter Gestalt, in seinem System fort. Auch wo die Verpflanzung dieser Weltansicht auf jüdischen Boden ihre für Spinoza bedeutsamen Züge abgeschwächt oder beseitigt hatte, ging die Diskussion der jüdischen Philosophen doch auf die ursprüngliche Fassung der Gedanken ein und entwickelte ihre Beweisgründe mit eindringender Schärfe. Es war für Spinoza nicht schwer, dieses Weltbild von seinen Anpassungen an die jüdische Lehre zu befreien und seine ursprünglichen Motive dem eigenen System einzugliedern. Die jüdischen Philosophen, die in diesem Sinne auf Spinoza gewirkt haben, Maimonides, Gersonides und Crescas, stehen freilich dem Pantheismus seiner Lehre fern. Daß andere jüdische Quellen, wie die Bibelkommentare Abraham ibn ʿEzras und das qabbalistische Schrifttum an der Entwicklung seines Pantheismus Anteil haben, ist möglich, aber unsicher [R665].

Die geschichtlichen Wurzeln der Philosophie Spinozas reichen freilich weit über das jüdische Gebiet hinaus. Mit dem Einfluß seiner jüdischen Quellen verbindet sich die Wirkung der Philosophie und Wissenschaft seiner Zeit, und erst das Ganze dieser Gedankenmassen ergibt das Material, das in das System Spinozas eingegangen ist. Auch der Versuch, die jüdischen Quellen seiner Lehre aufzuzeigen, kann an diesen anderen Zusammenhängen nicht ganz vorübergehen. Vor allen philosophischen Einzelsystemen ist hier die in dem Jahrhundert Spinozas zu voller Klarheit herangereifte mathematische Naturwissenschaft zu nennen. Ihr Ideal, die Natur als mathematisch-gesetzlichen Zusammenhang zu begreifen, ist auch das Spinozas, und er überträgt dieses Ideal der Naturerkenntnis auf die Erkenntnis der Wirklichkeit überhaupt. Der Gesetzesbegriff der Naturwissenschaft wird ihm zum Prinzip auch der metaphysischen Erkenntnis und tritt an die Stelle des Aristotelischen Wesensbegriffs. Die Wirklichkeit begreifen heißt nicht mehr sie als Realisation allgemeiner Wesenheiten in dem bestimmungslosen Substrat der Materie verstehen, sondern sie als einen Zusammenhang gesetzmäßig verknüpfter Elemente erfassen. Kausalität ist nicht, wie im Aristotelismus, Entfaltung dynamischer Potenzen, sondern mathematisch-logischer Bedingungszusammenhang. Damit entfällt auch die teleologische Struktur des Aristotelischen Weltbildes. Dessen Wesenheiten sind zwecktätig bildende Formen, ihre Dynamik Verwirklichung einer Zweckgesetzmäßigkeit; Kausalität im Sinne Spinozas dagegen ist logisch-mathematische Notwendigkeit. Hatte die Naturwissenschaft den Dynamismus der Aristoteliker und Neuplatoniker aus der Naturerkenntnis verdrängt, so tut Spinoza dasselbe in der Metaphysik. Wenn er gleichwohl an der Weltansicht des Aristotelismus festhält, so doch nur, indem er sie in die Gesetzesform der modernen Naturwissenschaft überträgt, und wir werden sehen, wie sich aus dieser Übertragung die Grundzüge seines Systems ergeben.

Innerhalb der Philosophie hatte Descartes die Methode der neuen Wissenschaft zu begreifen und an ihrem Muster die Methode wahren Erkennens überhaupt zu bestimmen unternommen. Sie hat ihren Ausgangspunkt in einer letzten, jedem Zweifel standhaltenden Grundgewißheit zu suchen und von ihr aus den ganzen Inhalt der Erkenntnis in strenger Deduktion zu entfalten. Diese methodische Forderung macht sich Spinoza zu eigen. Wahrhafte Erkenntnis muß auch für ihn in einer Grundgewißheit wurzeln, welche die letzten Prinzipien des Wissens mit unmittelbarer Evidenz ergreift. Von ihr aus muß aller Erkenntnisinhalt in lückenloser Deduktion entfaltet werden. Dieser Erkenntnisbegriff wird von Spinoza auch auf die Metaphysik übertragen. Wahrhafte Metaphysik ist nur möglich, wenn sie das Ganze der Wirklichkeit aus einem letzten, evidenten Grundprinzip deduktiv abzuleiten vermag [R666]. Die Idee einer solchen deduktiven Metaphysik bedeutet abermals eine Abwendung vom Aristotelismus. Der empiristische Zug des Aristotelischen Systems bestimmt auch dessen Metaphysik, die von der gegebenen Wirklichkeit zu ihren Bedingungen aufsteigt. Alle Gottesbeweise des Aristotelismus schließen von der Welt auf ihre höchste Ursache zurück. Die neuplatonischen Elemente, die der arabische und jüdische Aristotelismus aufnahm, führten in dieser Beziehung keine grundsätzliche Änderung herbei, und selbst der Schluß von der Zufälligkeit der Welt auf eine ihr zugrunde liegende notwendige Ursache geht trotz seines rein begrifflichen Charakters den Weg von der Welt zu Gott. Die Metaphysik Spinozas muß den entgegengesetzten Weg gehen und die Wirklichkeit aus ihren letzten Bedingungen deduktiv ableiten [R667]. Das ist nur möglich, wenn die Wirklichkeit selbst ein logischer Zusammenhang ist. Der mathematisch-naturgesetzliche Zusammenhang des Seins, der von Spinoza zum zeitlosen Zusammenhang logischen Folgens sublimiert wird, läßt in der Tat die Ordnung des Seins mit der Ordnung logischen Begreifens zusammenfallen. Damit aber ein deduktives Begreifen der Wirklichkeit möglich ist, muß der letzte Grund des Seins in begrifflicher Notwendigkeit erkennbar sein. Ähnlich wie vor ihm Descartes, aber doch in ungleich weiter reichender Intention, greift Spinoza auf den ontologischen Gottesbeweis der christlichen Scholastik zurück, um den Weg vom Begriff zur Wirklichkeit zu finden. Der Begriff Gottes schließt seine Existenz in sich, in ihm gewinnt das Denken den selbstgewissen Ausgangspunkt seines Folgerns und zugleich die Gewißheit, daß der Zusammenhang seiner Bestimmungen dem Zusammenhang des Seins entspricht [R668]. Das Erkenntnisideal Spinozas fordert so, daß er bei der Gewinnung des Gottesbegriffs statt der jüdischen Philosophie der christlichen Scholastik folgt, deren Begriff des ens realissimum für die formale Ausgestaltung seiner Gottesidee auch im Einzelnen ergiebiger war als die Formulierungen des Gottesbegriffs in der jüdischen Theologie.

Trotz all dieser tiefgreifenden sachlichen und methodischen Differenzen läßt sich die Verwandtschaft mit dem jüdischen Aristotelismus durch das ganze System Spinozas hindurch verfolgen. Auch für den Aristotelismus ist die Welt von der Gesetzmäßigkeit des Begriffs beherrscht und baut sich in der Ordnung eines begrifflichen Systemes auf. Die allgemeinen Wesenheiten des Aristoteles sind die hypostasierten Gattungsbegriffe, die für ihn die Repräsentanten der begrifflichen Gesetzmäßigkeit überhaupt sind, und an der Spitze dieser begrifflichen Formen steht die oberste göttliche Form, in der das Weltgeschehen seinen Ursprung hat. Die Übernahme des neuplatonischen Emanationsgedankens durch die arabischen Aristoteliker bedeutete den Versuch, die Mannigfaltigkeit der Einzelformen aus der göttlichen Urform abzuleiten und so das Entspringen der Welt aus Gott als die Entfaltung der göttlichen begrifflichen Grundwesenheit in die Mannigfaltigkeit der Einzelbegriffe zu verstehen. Am durchsichtigsten ist dieser Zusammenhang in der von Maimonides diskutierten Emanationslehre Alfarabis und Ibn Sinas, die aus Gott der Reihe nach die einzelnen immateriellen Wesenheiten hervorgehen läßt, die ihrem logischen Wesen nach reine begriffliche Formen sind, bis die letzte unter ihnen sich in die Mannigfaltigkeit der in die Materie eingehenden Einzelformen zerlegt. Aber auch wenn Ibn Rošd die Abfolge der immateriellen Wesenheiten auseinander preisgibt und die einheitliche begriffliche Ordnung der Welt unmittelbar aus Gott hervorgehen läßt, bleibt das Prinzip der Welterklärung unverändert. Als ein Prozeß der Begriffsentfaltung ist das Hervorgehen der Welt aus Gott ein ewiger Prozeß von strenger Notwendigkeit. Die Parallele zu Spinoza wird in einem Punkte besonders deutlich. Wie im Aristotelismus aus Gott zunächst die immateriellen Wesenheiten, die dem Weltganzen zugrunde liegen, und aus diesen erst die Einzelformen der Dinge folgen, läßt Spinoza unmittelbar aus Gott die »unendlichen Modi« seiner Ethik oder wie sie im Tractatus de intellectus emendatione genannt werden, die »festen und ewigen Dinge«, d. h. die Grundgesetze des Seins, hervorgehen und leitet aus ihnen die Mannigfaltigkeit der Einzeldinge ab [R669].

Die Verdrängung des Aristotelischen Formbegriffes durch den Begriff des Gesetzes gibt der Ableitung freilich eine von Grund aus veränderte Gestalt. Spinoza lehnt nicht nur die Aristotelische Verdinglichung der Gattungsbegriffe zu selbständigen Weseneinheiten ab, er hält diese Gattungsbegriffe in ihrer leeren Abstraktheit auch für völlig untauglich zum Begreifen des konkreten Seins der Dinge [R670]. Sein Gesetzesbegriff, wie der der modernen Naturwissenschaft überhaupt, ist gerade dazu bestimmt, den Zusammenhang des konkreten Seins der Dinge zu erkennen. Was aus Gott hervorgeht, sind nicht allgemeine begriffliche Wesenheiten im Sinne des Aristotelismus, sondern es ist die konkrete gesetzmäßige Ordnung des wirklichen Seins. Ihre Allgemeinheit ist nicht begriffliche Abstraktheit, sondern die Allgemeinheit des unendlichen Ganzen, der alles Einzelne angehört [R671]. Gott selbst wird so zum Prinzip der gesetzlichen Ordnung, in dem alle bestimmten gesetzlichen Zusammenhänge wurzeln. Allein auch Spinoza entgeht der Hypostasierung des Begriffes nicht. Gott, das Prinzip der Gesetzmäßigkeit, ist als seiende Substanz zugleich dingliche Existenz. Ist es die logische Funktion des Gottesbegriffs, den gesetzmäßigen Zusammenhang der Dinge zu begründen, so tritt er dem Sein des Einzelnen zugleich als dessen dingliches Substrat gegenüber. Dieselbe Verdinglichung wie das göttliche Prinzip der Gesetzmäßigkeit erfahren die aus ihm hervorgehenden Grundgesetze des Seins selbst. Die festen und ewigen Dinge des Tractatus de intellectus emendatione enthalten in sich die Gesetze, »nach denen alles Einzelne sowohl geschieht als geordnet wird« [R672]. Dieselben festen und ewigen Dinge sind das konkrete unendliche Ganze, von dem alles Einzelne umschlossen wird. In ihrem Begriff fällt die schrankenlose Geltung des allgemeingültigen Gesetzes mit der grenzenlosen Ausbreitung eines unendlichen Seins zusammen. Den Übergang vermittelt der Begriff des Raumes, der sowohl das alle Einzelräume bestimmende Raumgesetz wie das sie umschließende Raumganze bedeutet. Nach seiner Analogie wird in der göttlichen Substanz überhaupt die Einheit des Gesetzes mit dinglicher Allheit identifiziert. Wie in den Aristotelischen Formen die Allgemeinbegriffe verdinglicht sind, so wird hier das allgemeine Gesetz in eine Wirklichkeit umgebildet. Hier wie dort muß darum die Ableitung der Dinge aus Gott bei derselben Schranke stehen bleiben: die Individualität des Einzeldinges bleibt für den Aristotelismus wie für Spinoza ein bloß Gegebenes. Die Emanationslehre des Aristotelismus führt nur bis zu den Einzelformen als den begrifflichen Wesenheiten der empirischen Dinge. Die Individualität des Einzeldinges muß das neue Prinzip der Materie auf sich nehmen, der sich die Form in immer neuen Verwirklichungen einprägt, und ungeachtet der in den Anfängen des arabischen Aristotelismus unternommenen Versuche, auch die Materie in den Emanationsprozeß aufzunehmen, bleibt die Konkretion des Einzeldinges doch unabgeleitet. Bei Spinoza folgen aus der Unendlichkeit des göttlichen Wesens als solcher nur die unendlichen Modi, d. h. die ewigen Gesetze des Seins. Die endlichen Modi, der Inbegriff der empirischen Dinge, sind aus ihm nicht ableitbar; jeder solche Modus setzt einen anderen als seine Ursache voraus und ihre Reihe geht ins Unendliche zurück [R673]. Das entspricht genau der logischen Funktion des Gesetzes. Das Einzelding in seiner Konkretion läßt sich wohl gemäß dem Gesetz erklären, und es unterscheidet das Gesetz von dem Aristotelischen Allgemeinbegriff, daß es Instrument solcher Erklärung ist, aber niemals kann der Einzelfall aus dem Gesetz abgeleitet werden. Indem aber die notwendige Dualität von Gesetz und gesetzlich bestimmter Tatsache auch auf das Verhältnis Gottes zu den Einzeldingen angewandt wird, wird der Ableitung der Dinge aus Gott eine Schranke gesetzt, durch die Gott aufhört, die wirkende Ursache für alles Sein zu sein.

Der Wandlung, welche der Gottesbegriff und die Ableitung der Dinge aus Gott gemäß der veränderten Form begrifflichen Zusammenhanges erfahren hat, entspricht nun auch ein gewandeltes Verhältnis Gottes zu den Dingen. Der Pantheismus Spinozas in seiner spezifischen Form wird von hier aus methodisch verständlich. Die vom mittelalterlichen Aristotelismus aufgenommene Emanationslehre ließ die Formwesenheiten eine aus der anderen hervorgehen. Indem sie die Begriffe als existente Wesenheiten faßte, mußte auch dieses Hervorgehen nicht nur ein logisches Folgen, sondern ein reales Entspringen sein. Jede dieser begrifflichen Wesenheiten entließ, kraft der ihr innewohnenden Fülle, die nächste aus sich. Die begriffliche Realität war zugleich wirkende Kraft, von der ein neues Sein ausströmte. Dieses mehr in bildhafter Analogie als in gedanklicher Klarheit beschriebene Ausströmen der Realitäten auseinander war mit Spinozas Begriff gesetzmäßigen Folgens nicht verträglich. Der Begriff der Emanation hat in seinem System keinen Platz. Kausalität im Sinne mathematisch-naturgesetzlichen Folgens hat mit dem dunklen Ausströmen der Realitäten auseinander nichts gemein. Sie ist ein Bedingungszusammenhang, in dem eine Bestimmung aus der anderen kraft gesetzmäßiger Ordnung hervorgeht. Nur so kann auch das Hervorgehen der Dinge aus Gott verstanden werden. Gott ist nicht die Ursubstanz, der andere, abgeleitete Substanzen entquellen, er ist das Prinzip aller Gesetzmäßigkeit, in der das System der Gesetze wie das der gesetzmäßig verknüpften Tatsachen gegründet ist. Wie das Gesetz den Tatsachen, muß auch Gott den Einzeldingen immanent sein. Daß das göttliche Gesetz der Wirklichkeit zugleich ihr dingliches Substrat ist, ändert an diesem Zusammenhange nichts. Aus der göttlichen Substanz können in gesetzmäßiger Folge nur ihre abgeleiteten Bestimmungen, keine weiteren Substanzen hervorgehen. So ergibt sich die Immanenz Gottes in den Dingen, seine alleinige Substanzialität, als die allein mögliche Form, in der die Denkmittel Spinozas die Ableitung der Dinge aus Gott zulassen. Spinoza selbst gewinnt dieses Resultat allerdings auf anderen verschlungeneren Wegen, bei denen er von dem traditionellen Begriff der Substanz ausgeht [R674]. Aber das ist die nachträgliche Begründung, nicht der Ursprung des Gedankens. In diesen selbst dagegen läßt er uns hineinsehen, wenn er in der Konsequenz seiner Grundauffassung auch die Ausdehnung zum göttlichen Attribut und die räumlichen Dinge zu Bestimmungen des göttlichen Wesens macht. Der Ursprung der körperlichen Dinge aus Gott hatte der Emanationstheorie besondere Schwierigkeiten bereitet. Sie war entweder genötigt gewesen, die Materie in den Emanationsprozeß einzugliedern und aus der allmählichen Vergröberung der Form hervorgehen zu lassen oder den Emanationsprozeß auf die Reihe der Formen zu beschränken und die Materie zu einem von Gott unabhängigen selbständigen Grundprinzip zu machen. Das eine war für Spinoza so unmöglich wie das andere. Nicht nur, daß beide Auffassungen auf der dualistischen Zerreißung der Körperwelt in Materie und Form beruhten, es war gleich unmöglich, daß irgendein Sein der allumfassenden göttlichen Kausalität unabhängig gegenübersteht, wie daß aus einer unkörperlichen Welt geistiger Wesenheiten der Prozeß ins Körperliche übergeht. Die zu jedem echten Kausalverhältnis gehörige Gleichartigkeit von Ursache und Wirkung fordert, daß Gott als der Ursprung der Körperwelt selbst das Grundattribut der Körperlichkeit, Ausdehnung, besitzen muß [R675]. Wie das Gesetz alles Seins muß auch das Gesetz des körperlichen Seins in ihm enthalten sein. Wir verstehen an diesem Beispiel, warum der Gott Spinozas nicht das sich jeder positiven Bestimmung entziehende Eine des Neuplatonismus, sondern das ens realissimum der abendländischen Scholastik ist. Die Bestimmtheit der Einzeldinge kann in ihm nur dann ihren Grund haben, wenn er das Gesetz dieser Bestimmtheit ist. Freilich ist die Unendlichkeit dieser Realität doch nur die der alles einzelne Sein bestimmenden Gesetzesfunktion, deren Hypostasierung zu dinglicher Realität keinen eigenen Seinsgehalt ergibt.

Für die an dieser Stelle unabweisbar hervortretende Frage nach dem religiösen Sinn dieser Gottesvorstellung ist noch einmal die Notwendigkeit des zwischen Gott und Welt bestehenden Zusammenhanges die entscheidende Instanz. Das Besondere an der Lehre Spinozas liegt nicht in der Behauptung dieser Notwendigkeit als solcher, sondern in ihrer spezifischen Form. Auch das Emanationssystem der arabischen Aristoteliker läßt die Welt mit Notwendigkeit aus Gott entspringen, aber diese Notwendigkeit ist die ihres Systems überhaupt, die der dynamischen Kausalität. Gott als die oberste Form ist die höchste der zwecktätigen Kräfte, die aus ihrer Seinsfülle heraus die Welt aus sich entläßt. Seine Kausalität ist die der Zweckverwirklichung, der Realisation der in ihm implizite enthaltenen teleologischen Einheit des Alls. Bei Crescas wird dieser Gedanke ins Voluntaristische gewendet. Die göttliche Güte ist durch ihr eigenes Wesen zum Schaffen determiniert. Für Spinoza ist die Notwendigkeit des göttlichen Wirkens die einzige, die das System kennt, nämlich die des mathematisch-naturgesetzlichen Folgens, dessen Identifizierung mit dem rein logischen Folgeverhältnis gerade in bezug auf die göttliche Kausalität besonders scharf ausgesprochen wird. Wie aus der Definition jedes Dinges eine Fülle von Folgen hervorgeht, und zwar um so mehr, je mehr Realität diese Definition ausdrückt, muß aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur Unendliches auf unendliche Weisen folgen [R676]. Das Wirken Gottes ist nur ein anderer Ausdruck für den die Wirklichkeit beherrschenden mathematisch-gesetzlichen Zusammenhang. Mit ihm ist jede Teleologie, die des Zwecke setzenden Willens so gut wie die der zweckvoll gestaltenden Kraft, unvereinbar, und Spinozas Polemik gegen den Zweckbegriff ist nichts als die selbstverständliche Konsequenz seiner Form des Weltbegreifens. Die Ausschaltung des Zweckbegriffs schließt die der Wertprädikate des Seins unmittelbar in sich. Für den Notwendigkeitszusammenhang mathematischer Gesetzlichkeit gibt es keinen Wertunterschied innerhalb der Objekte, die von ihm umschlossen werden. Die Gegensätze von gut und schlecht, schön und häßlich haben ihren Sitz nur in der Vorstellung der Menschen und gehen die Natur der Dinge nichts an [R677]. Die Wertabstufung der Dinge, die in dem Emanationssystem dem metaphysischen Aufbau der Welt zugrunde liegt, verliert in Spinozas System mathematischer Gesetzlichkeit ihren Sinn. Wo er von einem mehr oder minder an Vollkommenheit spricht, versteht er darunter nur ein mehr oder minder an Realität [R678]. Die Wertfreiheit der naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsauffassung wird hier auf die letzte metaphysische Weltdeutung ausgedehnt, und die Anziehungskraft, welche die Philosophie Spinozas immer wieder auf die Anhänger naturwissenschaftlicher Denkweise ausübt, hat in dieser Ausschaltung aller Wertbestimmungen aus der Auffassung des Alls ihren Grund. Für das Empfinden Spinozas aber schlägt diese naturalistische Denkweise unversehens in eine religiöse Stellung zur Welt um. Die der naturwissenschaftlichen Weltkonstruktion immanente Auslöschung aller Wertunterschiede wird ihm zur religiösen Bejahung des Alls, die sich auf alles Seiende als Wirkung Gottes gleichmäßig erstreckt. Der allen Wertunterschieden gegenüber indifferente neutrale Wert der Vollkommenheit ist für ihn der Träger des sich in allem Sein ausprägenden religiösen Wertgehalts. Dieselbe paradoxe Vereinigung vollkommener Wertindifferenz mit absolutem religiösem Wertgehalt kennzeichnet auch seinen Gottesbegriff selbst, der nichts ist als der Inbegriff der Gesetzmäßigkeit des Alls, aber gerade als solcher dem religiösen Bewußtsein Spinozas den erhabenen Ursprung aller Vollkommenheit bedeutet. Mit der Religiosität der Bibel, mit dem Glauben an den Gott des Guten hat dieses religiöse Bewußtsein keine Berührung. Verständlich ist es nur von den religiösen Grundlagen der Emanationsmetaphysik aus, welche die göttliche Vollkommenheit als die über alles menschliche Begreifen hinausliegende Seinsfülle versteht. Für sie freilich schließt diese Seinsfülle auch die höchste, alle innerweltlichen Werte hinter sich lassende Wertfülle in sich. Für Spinoza wird der nackte Seinsbegriff zum Träger des religiösen Wertes. Ein Gott, der seinem logischen Gehalt nach nur den Seinsbegriff der Naturwissenschaft bedeutet, wird zum Gegenstand mystischen Gottesgefühls.

Verwandtschaft mit dem Aristotelismus und Gegensatz zu ihm begegnen uns wiederum in Spinozas Lehre vom menschlichen Geist. Für den arabischen und jüdischen Aristotelismus ist auch der menschliche Intellekt ein Glied in dem kosmischen Emanationsprozeß. Wie alle Formen der irdischen Welt, ist auch der Intellekt des Menschen als seine Wesensform durch den Emanationsprozeß bedingt, aber das Erkennen des Menschen gehört noch in besonderem Sinne in diesen Zusammenhang hinein. Der an sich nur potenzielle Intellekt des Menschen wird unter dem Einfluß des überindividuellen aktiven Intellekts zur Aktualität des Erkennens geführt. Die Verwirklichung der Erkenntnis ist die Aufnahme der begrifflichen Formen, die vom aktiven Intellekt in den menschlichen Geist einstrahlen. Wenn Aristoteles das menschliche Denken nach der Analogie der Wahrnehmung als eine Einwirkung des Gedachten auf den erkennenden Geist deutet, so versteht der arabische Aristotelismus das dahin, daß das Gedachte in dem aktiven Intellekt eine vom menschlichen Einzelbewußtsein unabhängige Existenzform hat und von hier aus in den Einzelintellekt eingeht. Die in dem aktiven Intellekt in unwandelbarer Wirklichkeit bestehende Welt der Wahrheit teilt sich dem Denken des Menschen je nach dem Maße seiner Vorbereitung mit. In dieser Form ist die Metaphysik der Erkenntnis für Spinoza schon ihrer Abhängigkeit vom Emanationsprinzip wegen unmöglich. Wenn er aber in seiner Jugendschrift, dem »Kurzen Traktat«, der einen Zusammenhang mit der älteren Denkweise vielfach erkennen läßt, noch an der Aristotelischen Auffassung festhält, daß gleich der Sinneswahrnehmung auch das Denken ein passiver Vorgang, ein Erfaßtwerden des Bewußtseins von seinem Gegenstande ist und daß so auch in der Erkenntnis Gottes das Denken von seinem Gegenstand ergriffen wird [R679], so gibt er späterhin, unter dem Einfluß Descartes', die passivistische Auffassung der Erkenntnis grundsätzlich auf. Das Denken empfängt die Idee nicht von außen, sondern erzeugt sie durch seine eigene Kraft, und die Wahrheit des Gedankens erkennt kein Objekt als ihre Ursache an, sondern hängt von dem Vermögen und der Natur des Intellektes selbst ab [R680]. Das gilt auch für die Erkenntnis, die sich auf wirkliches Sein bezieht. Die Korrespondenz zwischen der Erkenntnis und ihrem Gegenstande beruht nicht auf einer Abhängigkeit der Erkenntnis von ihrem Objekt. Die innere Wahrheit des Gedankens verbürgt vielmehr die Wirklichkeit seines Gegenstandes, und die Identität der logischen Ordnung, die Erkenntnis und Gegenstand beherrscht, sichert die Übereinstimmung zwischen dem Zusammenhange des Seins und dem Zusammenhang der wahren Erkenntnis [R681]. Diese Lehre von der logischen Korrespondenz zwischen Erkenntnis und Gegenstand ist die Grundlage der metaphysischen Theorie Spinozas von der Parallelität zwischen geistigem und körperlichem Sein, nach der beide einander genau entsprechen, ohne wechselseitig auf einander zu wirken [R682]. Daß die logische Korrespondenz von Erkenntnis und Gegenstand zur metaphysischen Parallelität geistigen und körperlichen Seins werden kann, beruht darauf, daß das allumfassende göttliche Denken nichts anderes ist als der realisierte Zusammenhang der Wahrheit. Alles Bewußtsein ist ein Teilinhalt des universalen göttlichen Denkzusammenhanges, und die ursächliche Verknüpfung der Bewußtseinsinhalte ist identisch mit der logischen Verknüpfung des im göttlichen Denken wurzelnden Gedankenzusammenhanges. Dem universalen Zusammenhange dieser Wahrheit muß der ebenso universale Zusammenhang der ihren Gegenstand bildenden räumlichen Wirklichkeit Glied für Glied entsprechen [R683].

Damit wird das menschliche Erkennen zu einem Teilinhalt des unendlichen göttlichen Verstandes. Die Ideen, die von der menschlichen Erkenntnis erfaßt werden, sind ein Ausschnitt aus dem universalen Ideenzusammenhange, der im göttlichen Denken wurzelt. Der begrenzte, unvollständige Komplex der vom menschlichen Bewußtsein umfaßten Ideen vermag freilich den Zusammenhang des göttlichen Denkens nicht rein auszudrücken. Während im göttlichen Denken aller Denkinhalt in strenger logischer Folge zusammenhängt und jede Einzelbestimmung im Zusammenhang der Gesamterkenntnis deduktiv einsichtig ist, gehen in den begrenzten Komplex menschlicher Ideen eine Fülle von Einzelmomenten ein, die in ihm selbst ihre deduktiven Voraussetzungen nicht haben; was an sich deduktiv bestimmt ist, erscheint vom Menschen aus gesehen insofern als ein bloß äußerlich Gegebenes [R684]. Reine und adäquate Erkenntnis besitzt der menschliche Intellekt nur insoweit, als die Voraussetzungen seines Erkennens in ihm selbst liegen, oder was dasselbe besagt, als sich in ihm selbst der deduktive Zusammenhang der göttlichen Erkenntnis vollzieht. In solcher spontanen und darum adäquaten Erkenntnis erfaßt unser Geist die allen Dingen gemeinsame Grundgesetzmäßigkeit des Seins, die, wie allen Ideen, so auch denen zugrunde liegt, die den menschlichen Intellekt konstituieren; und da diese Gesetzmäßigkeit wiederum in dem Wesen Gottes ihren Ursprung hat, so muß das göttliche Prinzip der Gesetzmäßigkeit, müssen die sich in allem Sein manifestierenden Grundattribute Gottes das höchste und ursprüngliche Objekt adäquater Erkenntnis sein. Indem der menschliche Geist auf die Grundlagen seines eigenen Wesens zurückgeht, erschließt sich ihm in unmittelbarer Gewißheit die Erkenntnis des ewigen und unendlichen Wesens Gottes, und die höchste Form unseres Erkennens besteht darin, daß wir aus Gott das gemeinsame Wesen der Dinge, d. h. die notwendige Ordnung des Seins, ableiten [R685].

Damit erneuert sich in veränderter Form derselbe Zusammenhang menschlichen und göttlichen Erkennens, der auch im Aristotelismus besteht. Hier wie dort beruht die Erkenntnis des Menschen darauf, daß er an der göttlichen Erkenntnis Anteil hat. Nur wird dieser Gedanke bei Spinoza aus der Sprache der Abbildtheorie in die der autonomen Erkenntnislehre übertragen. Während für den Aristotelismus das Erkennen ein Aufnehmen des Begriffes ist und die Gemeinschaft zwischen menschlichem und göttlichem Erkennen darauf beruht, daß aus dem göttlichen oder dem ihm entstammenden aktiven Intellekt die begrifflichen Formen in den menschlichen Geist übergehen, weist für Spinoza gerade die Spontaneität des Erkennens auf ihren göttlichen Ursprung zurück. Die rationale Erkenntnis ist kein Empfangen eines fremden Objekts, sondern wird aus der eigenen Gesetzmäßigkeit des Bewußtseins erzeugt. Allein in dieser erzeugenden Gesetzmäßigkeit des Bewußtseins selbst wirkt Gott, der aus einem unserer Erkenntnis äußerlichen Objekt zum inneren Ursprung unserer Erkenntnistätigkeit, zu dem letzten logischen Grunde alles unseres rationalen Erkennens geworden ist. Gleichwohl ist der Grundgedanke derselbe wie im Aristotelismus. Wie dort im aktiven Intellekt ist hier im göttlichen Verstande das Ganze der Wahrheit verwirklicht, und das Erkennen des Menschen ist in beiden Systemen ein Anteilhaben an diesem ewigen Ideenzusammenhange. Auch in der Auffassung des menschlichen Bewußtseins selbst läßt sich die Kontinuität dieser Entwicklung aufweisen. Für Spinoza ist der menschliche Geist eine dem göttlichen Denken immanente Idee oder richtiger ein Komplex solcher Ideen. Für das Einzelbewußtsein gibt es nicht die Korrelation des Denkaktes und der von ihm erfaßten Denkinhalte, das Bewußtsein ist vielmehr nur ein Inbegriff von Denkinhalten. Zu dieser schwierigen Auffassung treibt Spinoza sicherlich eine innere Notwendigkeit, die Konsequenz seines Substanzbegriffs, für den das Einzelbewußtsein als Modus des göttlichen Denkens zum Denkinhalt wird, aber Spinoza fand seinen Bewußtseinsbegriff im Aristotelismus vorgebildet. Wenn dieser auch in der Lehre von der Seele und ihrem vernünftigen Teil als der Form des Menschen auf ganz anderem Boden steht, so nähert er sich Spinoza außerordentlich in der Lehre vom erworbenen Intellekt. Die Vernunftanlage, die allein zunächst zum Wesen des Menschen gehört, findet ihre Verwirklichung in den begrifflichen Erkenntnissen, die unter dem Einfluß des aktiven Intellekts in uns entstehen. Sie bilden den erworbenen Verstand des Menschen, den einzigen unsterblichen Teil der Seele. So wird auch hier die menschliche Vernunft zu einer Summe von Denkinhalten, fallen Begriff und Geist zusammen.

Der Intellektualismus Spinozas betrachtet das ganze menschliche Bewußtsein als einen Inbegriff solcher Denkinhalte und reduziert alles seelische Leben auf einen theoretischen Vorstellungsprozeß. Wollen, Streben und Fühlen sind keine selbständigen Phänomene, sondern eine Folge des Mechanismus des Vorstellungslebens. Aus der Selbsterhaltungstendenz der Vorstellungen geht alles Getriebe des Strebens und Wollens hervor [R686]. Von der Ausschließlichkeit dieses Intellektualismus ist der Aristotelismus weit entfernt. Das theoretische Verhalten ist für ihn nicht die einzige Betätigung des Bewußtseins. Aber auch die Aristotelische Psychologie gibt dem Intellekt das Übergewicht über alle anderen seelischen Kräfte. Die Vernunft ist die höchste Kraft der menschlichen Seele, und alle ihre anderen Anlagen zielen auf die Verwirklichung der Vernunft ab. Die höchste und eigentlich menschliche Betätigung der Seele ist die Erkenntnistätigkeit, und letztlich beruhen alle ihre anderen Funktionen nur auf der Verflechtung mit dem materiellen Dasein. Nur in der reinen Vernunftbetätigung ist die Seele ganz bei sich, nur in ihr kommt ihr Wesen zu seiner Erfüllung.

Der psychologische Intellektualismus beider Systeme hat seine bedeutsamste Konsequenz in dem Intellektualismus des ethischen und religiösen Lebensideals, in dem sie sich näher als irgendwo sonst berühren. Bei Aristoteles liegt die Glückseligkeit des Menschen, die aufzuzeigen die Ethik bestimmt ist, in der sein Wesen zur Erfüllung bringenden Tätigkeit, seine höchste und eigentliche Glückseligkeit also in der Entfaltung seiner höchsten Kraft, der theoretischen Vernunft. Die Eudämonie des Erkennens ist die Vollendung menschlichen Lebens. Der arabisch-jüdische Aristotelismus ging darüber noch einen Schritt hinaus und machte das höchste Ziel des Menschen zu seinem einzigen wirklichen Lebensziel. Aber auch für ihn blieben die anderen Formen menschlicher Vollkommenheit bestehen. Wie das reine Denken die höchste, aber nicht die einzige Kraft des Geistes ist, so ist auch die theoretische Eudämonie die höchste, aber nicht die alleinige Vollkommenheit des Menschen. Alle andere menschliche Tugend aber hat ihren Wert darin, der spekulativen Vernunft die freie Betätigung zu ermöglichen. Die sittliche Vollendung des Menschen ist kein absoluter Wert, sie steht im Dienst der reinen Erkenntnistätigkeit, die als das Ziel menschlicher Entwicklung durch die untergeordneten Funktionen bedingt ist. Spinoza erkennt diese Mannigfaltigkeit seelischer Betätigungsformen nicht an und kann darum auch die Abstufung der Werte nicht anerkennen. Da das Bewußtsein ein rein intellektueller Prozeß ist, muß auch die intellektuelle Vollkommenheit die einzige des Menschen sein. Der einzige Wertunterschied, den es unter den Inhalten des Bewußtseins geben kann, ist der ihrer logischen Rangordnung. Die Selbständigkeit der aus dem eigenen Wesen menschlichen Denkens entspringenden reinen Erkenntnis ist die allein mögliche Form aller Aktivität, die Unselbständigkeit des bloßen Erfahrungswissens die einzige Form der Passivität. Die wahre Freiheit des Menschen ist die Freiheit der reinen Erkenntnis, seine Unfreiheit wurzelt zuletzt in seiner Bestimmtheit durch unklare, äußerlich gegebene Vorstellungen [R687]. Die Kraft der theoretischen Vernunft ist es, die uns von der Herrschaft der Leidenschaften befreit, wie ihre Ohnmacht uns zu deren Sklaven macht. Die freie Entfaltung der Erkenntnis, die im Aristotelismus die Wirkung sittlicher Vollkommenheit war, ist für Spinoza der Ursprung auch der sittlichen Freiheit [R688]. Die sittliche Vernunft steht nicht selbständig neben der theoretischen, sondern ist in ihr beschlossen wie der Wille in der Erkenntnis. Neben den in Spinozas Bewußtseinsbegriff liegenden Gründen sind es Gründe allgemeinerer methodischer Art, die dieses Resultat fordern. Die Negierung der Wertunterschiede der Dinge verschließt die Möglichkeit, einen selbständigen sittlichen Wert anzuerkennen. Spinoza überträgt die Forderung wertfreier Erkenntnis in radikaler Schärfe auf das sittliche Gebiet und macht es sich zur Aufgabe, die menschlichen Handlungen und Begierden ebenso zu behandeln wie Linien, Flächen und Körper [R689]. Der einzige Wertunterschied, der für ihn bestehen bleibt, ist der logische zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen adäquater und inadäquater Erkenntnis, der ihm ontologisch mit dem Unterschied von Kraft und Schwäche, d. h. von größerer oder geringerer Realitätsfülle zusammenfällt. Auf ihn muß er die sittlichen Wertunterschiede reduzieren, um sie von seinen letzten Denkvoraussetzungen aus rechtfertigen zu können.

Das Ideal der freien vernunftbestimmten Persönlichkeit scheint zunächst mehr in die Nähe der Stoa als in die des Aristotelismus zu weisen; aber das gilt mehr für die formale Fassung des Ideals als für seinen letzten innerlichen Sinn. Für Spinoza liegt nicht wie für die Stoa, wenigstens in ihrer ursprünglichen Form, die zentrale Bedeutung der Vernunft darin, den Menschen in seinem Handeln frei zu machen, sondern das eigentliche Ziel ist die theoretische Erkenntnis selbst, und bei aller Verschiedenheit der methodischen Begründung stimmt er sachlich ganz mit der Aristotelischen Lebensgesinnung überein, die in der Eudämonie des Erkennens den Sinn menschlichen Lebens sieht. Diese Gemeinschaft bewährt sich Schritt für Schritt in der Unsterblichkeitslehre Spinozas und in dem Gedanken des amor dei intellectualis, dem großen Abschluß seines Systems.

Den Aristotelischen Gedanken von der Unsterblichkeit des denkenden Teiles der menschlichen Seele hatte der arabische Aristotelismus dahin gedeutet, daß die Erkenntnistätigkeit dem Intellekt die Unsterblichkeit verleiht. Die Denkanlage des Menschen als solche ist an das Schicksal des Körpers gebunden; nur der in der Erkenntnis erworbene Verstand, der mit dem Inbegriff der vom menschlichen Denken erworbenen Erkenntnisse zusammenfällt, ist vom Körper unabhängig und darum unsterblich. Zumeist tritt diese Ansicht in der Form auf, daß die Unsterblichkeit an die metaphysische Erkenntnis geknüpft ist, weil diese ein ewiges Sein zu ihrem Objekt hat und der menschliche Geist sich in ihr mit diesem Objekt vereint. In seinem Kurzen Traktat steht Spinoza ganz auf dem Boden dieser Anschauung. Er lehrt hier, daß die Seele vergehen muß, wenn sie sich mit dem vergänglichen Körper verbindet und die Unvergänglichkeit nur durch die Vereinigung mit dem unvergänglichen Wesen Gottes erlangen kann [RN690]. In dem fertigen System Spinozas ist der Gedanke in dieser Form nicht mehr möglich; weder ein Einswerden der Seele mit Gott noch eine erworbene Unsterblichkeit sind mit seinen Voraussetzungen vereinbar. Doch durch die veränderte Form, die der Unsterblichkeitsgedanke in der Ethik Spinozas annimmt, ändert sich an dem Kern des Gedankens nichts. Der unvergängliche Teil des Menschen ist die im Denken Gottes enthaltene ewige Idee, die das zeitlose Wesen des menschlichen Geistes ausmacht [RN691]. Aus der vom göttlichen Geist in den menschlichen einströmenden Erkenntnis des Emanationssystems der Aristoteliker ist bei Spinoza die dem göttlichen Denken immanente Idee als das Ewige im Menschen geworden. Diese Spinozistische Unsterblichkeitslehre rückt an die des Aristotelismus in ihrem weiteren Ausbau noch näher heran. Die Ewigkeit der den menschlichen Geist konstituierenden göttlichen Idee schließt die Ewigkeit der Erkenntnisse in sich, die rein in dieser Idee gegründet sind. Während die empirische, inadäquate Erkenntnis des Menschen dem Bereich der vergänglichen Existenz angehört, entspringt die adäquate Erkenntnis dem ewigen Wesen des Geistes und hat an seiner Ewigkeit Anteil. Je mehr der Geist in dieser Form erkennt, ein um so größerer Teil von ihm gehört dieser ewigen Sphäre an und desto weniger hat er den Tod zu fürchten [RN692]. Wie im Aristotelismus ist auch hier die metaphysische Erkenntnis der ewige Teil des Bewußtseins, der um so umfassender ist, zu je reicherer Erkenntnis unser Geist gelangt.

Nur eine neue Wendung der bisher entwickelten Gedanken liegt in der Lehre von der erkennenden Gemeinschaft des Menschen mit Gott vor. Sie beruht für den Aristotelismus darauf, daß alle begriffliche Erkenntnis unseres Geistes aus den reinen immateriellen Intellekten und letztlich aus Gott stammt. Insbesondere die metaphysische Erkenntnis hat die ewige Welt des Geistes nicht nur zum Gegenstande, sondern beruht auf einer realen Verbindung unseres Geistes mit dieser Sphäre, die um so enger wird, je tiefer und umfassender diese Erkenntnis ist. Gott erkennen heißt von ihm ergriffen werden. Die Seligkeit der Erkenntnis wird so zur Seligkeit der Gottesgemeinschaft, die sich in der Erkenntnis vollzieht. Das ewige Fortleben des erkennenden Geistes ist ewige Gemeinschaft mit Gott und ewige Seligkeit solcher Gemeinschaft. Der Kurze Traktat Spinozas sieht ganz ebenso in der Vereinigung mit Gott das höchste Gut des Menschen und in der Erkenntnis das Mittel, zu diesem Gut und damit zugleich zur Unsterblichkeit zu gelangen [RN693]. Der amor dei intellectualis der Ethik Spinozas gibt denselben Gedanken mit den Ausdrucksmitteln seiner veränderten Erkenntnislehre wieder. Gott ist nicht mehr das äußere Objekt unserer Erkenntnis, sondern ihre letzte logische Voraussetzung, die innerste Grundlage unserer Vernunft selbst. Die intuitive Erkenntnis, welche die Idee Gottes als die letzte Gewißheit der Erkenntnis begreift, erzeugt darum nicht erst die Gemeinschaft des Geistes mit Gott, sondern beruht auf ihr und bringt sie unserem Geist zu Bewußtsein. Aber indem sie uns das Einssein unseres erkennenden Geistes mit Gott erschließt, führt sie uns zu derselben Seligkeit der Gottesgemeinschaft empor wie früher das Einswerden mit Gott. Auch für Spinoza fallen Freude der Erkenntnis und Gottesliebe zusammen. Die höchste Erkenntnis gewährt unserem Geiste die höchste Befriedigung, und weil die Wurzel dieser Erkenntnis die Idee Gottes ist, enthält das Glück des Erkennens die Liebe zur göttlichen Ursache unserer Erkenntnis in sich [R694]. Der Zusammenhang dieser Gedanken mit dem Aristotelismus reicht tiefer als nur in das Gebiet metaphysischer Doktrin. Das religiöse Grundgefühl, das Spinozas System durchdringt, bringt ihn den arabischen und jüdischen Aristotelikern des Mittelalters nahe. Der Pantheismus Spinozas hat seinen religiösen Sinn nicht darin, daß er die Natur als Ausdruck göttlichen Lebens empfindet. Als Ursache der Natur ist Gott nur das Prinzip des Seins schlechthin, und die religiöse Deutung dieses Seinsprinzips ist mehr latent als zu wirklicher Lebendigkeit entfaltet. Stark und unmittelbar offenbart sich das religiöse Empfinden Spinozas erst in dem Bewußtsein der Gemeinschaft des menschlichen Geistes mit dem göttlichen. Sein Pantheismus erwächst zu voller religiöser Lebendigkeit als Pantheismus der Erkenntnis, nicht als Pantheismus des Naturseins. Wie für den Aristotelismus wird für Spinoza die Erkenntnisfreude zum religiösen Grundaffekt, der sich auf Gott als den Ursprung und Inbegriff aller Wahrheit richtet.

Die Differenz, die beide Systeme trotz ihrer tiefen inneren Verwandtschaft trennt, die Differenz zwischen teleologischer und mechanistischer Metaphysik, erklärt es, daß sie den historischen Offenbarungsreligionen grundsätzlich anders gegenüberstehen. Die teleologische Metaphysik des Aristotelismus war eines Ausgleichs mit der Offenbarungsreligion fähig, der selbst bei ihren radikalsten Vertretern, wie Ibn Rošd, auf ehrlicher Überzeugung beruhte [R695]. Ihre mechanistische Umbildung bei Spinoza machte den Bruch mit der Offenbarungsreligion notwendig. Das ewige Hervorgehen der zweckvollen Ordnung der Welt aus Gott ließ sich mit dem monotheistischen Schöpfungs- und Vorsehungsglauben, die Vereinigung des erkennenden Geistes mit Gott ließ sich mit dem Unsterblichkeitsglauben soweit in Eins setzen, daß die religiösen Lehren als popularisierender Ausdruck der philosophischen Wahrheit gedeutet werden konnten. Zwischen Spinozas Lehre von Gott als dem Prinzip mathematischer Notwendigkeit und der monotheistischen Gottesidee, zwischen Spinozas Auffassung vom menschlichen Geist als einem Glied in dem notwendigen Zusammenhang des göttlichen Denkens und dem Glauben der Offenbarungsreligionen an die ewige Bestimmung der Menschenseele lag eine unüberbrückbare Kluft. Für den Aristotelismus war die Offenbarung eine Realität, wenn sie auch dem notwendigen Zusammenhange der Welt eingegliedert wurde. Die allgemeine Mitteilung der Erkenntnis vom göttlichen Geist an den menschlichen konnte eine Steigerung erfahren, die das Faktum der Prophetie erklärte. Für Spinoza gab es keine andere Beziehung zwischen göttlichem und menschlichem Geist als das logisch-notwendige Hervorgehen des die menschliche Erkenntnis konstituierenden Ideenzusammenhanges aus Gott. Mit dem Offenbarungsbegriff konnte der Aristotelismus auch den Begriff der göttlichen Gesetzgebung bejahen, da er das Sittengesetz zwar dem theoretischen Endzweck des Menschen unterordnete, aber doch in seinem Bestande anerkannte, während für Spinoza kein anderes Gesetz von Gott ausgeht als das ewige Gesetz der Natur. Wohl verwendet auch Spinoza gelegentlich die Argumente, mit denen die mittelalterliche Philosophie den Gottesbegriff der historischen Überlieferung in den ihren überleitet: wie die mittelalterlichen Anhänger der Weltewigkeit lehren, daß der ewigen Vollkommenheit Gottes nur ein ewiges, nicht ein zeitliches Wirken würdig ist, findet er es in seinem Kurzen Traktat der göttlichen Güte unwürdig, eine endliche statt einer unendlichen Welt hervorzubringen, und identifiziert ganz im Sinne des Mittelalters die göttliche Vorsehung mit dem gesetzmäßigen Zusammenhang der Dinge [R696]. Noch in seiner Ethik bedient er sich in seiner Polemik gegen die Teleologie der Argumente, mit denen der mittelalterliche Aristotelismus die Vorstellung zurückweist, daß das Wirken Gottes von Willensmotiven bestimmt ist und auf die Verwirklichung gewollter Zwecke ausgeht [R697]. Aber für Spinoza dienen diese Argumente nur dazu, den überlieferten Gottesbegriff von innen heraus zu zersetzen, nicht ihn so umzubilden, daß er ihn mit dem seinen versöhnen kann.

Die in Spinozas systematischen philosophischen Schriften nur im Vorübergehen angedeutete philosophische Kritik der Offenbarungsreligion wird in seinem Theologisch-politischen Traktat eingehend vollzogen, verdunkelt freilich durch die gewollte Zweideutigkeit, mit der das Werk geschrieben ist. Spinoza gibt sich den Anschein, an den göttlichen Ursprung der Bibel zu glauben und nur ihren Mißbrauch durch die jüdische und christliche Theologie zu bekämpfen. So identifiziert er sich scheinbar mit der biblischen Lehre, wie er umgekehrt seine eigene Kritik der biblischen Vorstellungen im Namen der Bibel vorträgt. Aber er macht es nicht allzu schwer, diese Zweideutigkeit zu durchschauen und seine eigene Anschauung zu erkennen. Schon sein scheinbares Bekenntnis zu dem göttlichen Ursprung der Bibel ist so gefaßt, daß sich in ihm der Gedanke von der philosophischen Unmöglichkeit des Offenbarungsbegriffs in durchsichtiger Verhüllung ausspricht. Die übernatürliche Erleuchtung des Propheten wird zu der natürlichen, allgemein menschlichen Erleuchtung unseres Geistes in ausschließenden Gegensatz gestellt. Statt die prophetische Erleuchtung mit der mittelalterlichen Philosophie aus den allgemeinen Erkenntnisbedingungen zu erklären, behauptet Spinoza, daß ihre Möglichkeit die Grenzen des Verstandes schlechthin überschreitet und daß wir uns darum in ihrer Beschreibung allein an die Aussagen der Bibel zu halten haben [R698]. Diese Behauptung der absoluten Übernatürlichkeit der Prophetie ist mit der Behauptung ihrer philosophischen Unmöglichkeit identisch. Daß dies der eigentliche Sinn der Sätze Spinozas ist, wird in seiner Kritik des Wunderbegriffes evident, die mit einer Parallelisierung von Wunder und Prophetie beginnt. In der Wunderkritik läßt er die scheinbare Akkomodation an die biblischen Vorstellungen fallen und argumentiert rein aus den Voraussetzungen seines Systems heraus. Das Wunder als ein Vorgang, der die Ordnung der Natur durchbricht, ist unmöglich, weil diese Ordnung mit unverbrüchlicher Notwendigkeit aus dem Wesen Gottes folgt. Scheinbar nähert sich Spinoza der biblischen Gottesvorstellung, wenn er die Naturgesetzmäßigkeit auf den ewigen Willen oder Ratschluß Gottes zurückführt, aber er setzt sogleich den Willen Gottes mit seinem Verstande in Eins und läßt klar erkennen, daß der Begriff des göttlichen Ratschlusses nur eine bildliche Wendung für das logische Hervorgehen des Naturgesetzes aus dem göttlichen Wesen ist. Nur aus der gesetzmäßigen Ordnung der Dinge können wir Gott erkennen, ein Vorgang, der ihr widerstreitet, müßte unsere Gottesgewißheit erschüttern, und selbst ein Geschehen, dessen gesetzmäßige Erklärung uns nur wegen der Begrenztheit unseres Verstandes unmöglich ist, kann zu unserer Gotteserkenntnis nichts beitragen [R699]. Von dieser Kritik des Wunderbegriffs wird die Prophetie unmittelbar mitbetroffen; beide Voraussetzungen der Offenbarungsreligion werden durch den Gottesbegriff der Philosophie aufgehoben. Die Fiktion der Übereinstimmung mit der Bibel führt Spinoza hier nur in der Form durch, daß er die Unmöglichkeit einer Durchbrechung der Naturgesetze für die eigene Lehre der Bibel erklärt und aus ihr selbst den Wunderbegriff ausschaltet [R700]. Das Material dazu bot ihm die rationalistische Bibelerklärung des Maimonides und seiner Nachfolger, die er im Prinzip ablehnt, aber da unbekümmert benutzt, wo er sie zur Selbstauflösung des Offenbarungsglaubens verwenden kann.

Mit denselben Argumenten wie den Wundergedanken beseitigt Spinoza auch den Gedanken einer göttlichen Gesetzgebung. Was aus Gott hervorgeht, ist ewige und notwendige Wahrheit, kein Gebot, das nach dem Willen des Menschen befolgt oder durchbrochen werden kann. Gott ist deshalb nur in dem Sinne Ursprung der Sittlichkeit, daß die in ihm gegründete ewige Ordnung der Natur an bestimmte Handlungen heilsame, an andere schädliche Folgen knüpft und uns damit zu einer bestimmten Handlungsweise anleitet. Nur wer diesen Zusammenhang nicht erkennt, sieht in der Handlungsweise, die auf die Herbeiführung heilsamer Folgen gerichtet ist, ein ihm gegebenes Gebot. Nur solche Einsichtlosigkeit kann aus Gott, dem Prinzip der Naturgesetze, den Gesetzgeber der Offenbarungsreligion machen [R701]. Auch hier hält Spinoza äußerlich den Zusammenhang mit der Offenbarungsreligion aufrecht. Die eigentliche Offenbarung Gottes sei ewige Wahrheit gewesen und nur durch den Unverstand ihrer Empfänger in ein Gebot des Handelns umgewandelt worden. Die mangelhafte Erkenntnis Adams habe aus der ihm offenbarten Wahrheit von den Folgen seines Handelns ein Gebot gemacht. Aus der gleichen Unkenntnis heraus habe das Volk Israel und mit ihm seine Propheten, unter Einschluß von Mose, die ihnen offenbarte Wahrheit zum Gesetz mißdeutet [R702]. Die angebliche, von allen Propheten mißdeutete Offenbarung ist indessen wiederum nur der theologisierenden Redeweise des Traktats zuzurechnen. Von sachlichem Belang ist allein die Kritik an der prophetischen Lehre von dem gesetzgebenden Gotte selbst. Sie hat in dem mangelhaften Denken der Propheten ihren Ursprung, und mit ihr wird die Offenbarungsreligion überhaupt, für die der Gedanke der göttlichen Gesetzgebung fundamental ist, in den Bereich volkstümlichen Vorstellens verwiesen. Dieser sachlichen Beurteilung der Offenbarungsreligion entspricht die psychologische Charakterisierung ihrer Träger, der Propheten. Während nach Maimonides für die prophetische Inspiration die Vereinigung eines vollkommenen Intellekts mit vollkommener Phantasie erforderlich ist, macht Spinoza die Imagination allein zum Organ der Prophetie und schreibt den Propheten einseitige imaginative Begabung zu [R703]. Er setzt sie damit etwa an die Stelle, die bei Maimonides die Wahrsager einnehmen. Seiner Darstellung nach ist die Imagination das Organ, durch das die Propheten die Offenbarung Gottes empfangen. Seine wirkliche Meinung ist, daß ihre Anschauungen von Gott der Stufe imaginativen Vorstellens angehören. Offenbarungsreligion verhält sich zu Philosophie wie Imagination zu wahrer begrifflicher Erkenntnis.

Danach kann kein Zweifel an dem Sinn der Scheidung von Religion und Philosophie sein, die der Theologisch-politische Traktat vornimmt. Sie hat nichts mit den modernen Versuchen gemeinsam, religiöses und wissenschaftliches Bewußtsein gegeneinander abzugrenzen. In der metaphysischen Erkenntnis und ihrer alleinigen Wahrheit findet für Spinoza auch das religiöse Bedürfnis seine tiefste Befriedigung. Die Scheidung von Philosophie und Glauben ist vielmehr die zwischen philosophischer und volkstümlicher Gottesauffassung und Sittlichkeit. Der Glaube in diesem Sinne umfaßt nicht den ganzen Inhalt der Offenbarungsreligion. Er beschränkt sich auf die sittlichen Forderungen der Bibel und die zu ihrer Begründung notwendigen Vorstellungen von Gott und seinem Verhältnis zum Menschen und scheidet sowohl das Zeremonialgesetz des Alten Testamentes, dem Spinoza nur politische Bedeutung für das jüdische Staatswesen zuspricht, wie die spezifisch christlichen dogmatischen Vorstellungen des Neuen Testamentes aus sich aus. Wort Gottes ist die Bibel, sofern sie diese allgemein menschliche Religion in sich enthält. Die so verstandene Religion ist eine Lehre des Gehorsams, d. h. der Erfüllung der sittlichen Vorschriften als göttlicher Gebote, nicht eine Lehre der Wahrheit. Sie zielt auf Frömmigkeit, nicht auf Erkenntnis ab, und ihre religiösen Grundvorstellungen sind »fromme«, aber nicht »wahre« Lehren, die nur danach zu beurteilen sind, ob sie ihren Zweck, die Erziehung zur Frömmigkeit, erfüllen [R704]. Das Verhältnis dieser volkstümlichen Religion zur philosophischen Gotteserkenntnis ist dem von exoterischem und esoterischem Sinn der Offenbarung bei den mittelalterlichen Aristotelikern analog, nimmt bei Spinoza aber einen grundsätzlich anderen Charakter an. Auch bei den arabischen Aristotelikern und abgeschwächt bei Maimonides ist die Religion für die Menge Erfüllung des göttlichen Gebotes, für den Philosophen Gotteserkenntnis, der moralische Religionsbegriff die populäre Vorstufe des spekulativen. Jedoch bei ihnen umfaßt die ernstlich geglaubte Offenbarung beide Religionsformen, während bei Spinoza der spekulative Religionsbegriff allein der Philosophie zugewiesen wird und der Bibel nur der volkstümlich-moralische zufällt. Die spekulative Wahrheit ist ihr fremd, weil sie nach der Meinung Spinozas, die sich auch hier in die Sprache des Offenbarungsglaubens verhüllt, selbst das Produkt volkstümlichen Denkens ist. Aber sie enthält in ihrer Gehorsamslehre die höchste Form sittlichen und religiösen Bewußtseins, die dem Volke erreichbar ist, und ist um dieses ihres religiösen Kernes willen von unersetzlicher Bedeutung. Das System Spinozas kennt keine andere Religion als die erkennende Gottesliebe des Philosophen, keine andere Sittlichkeit als die Überwindung der Leidenschaften durch die Aktivität der erkennenden Vernunft und schließt damit das Volk, dem die philosophische Erkenntnis verschlossen ist, auch von Religion und Sittlichkeit aus. Die volkstümliche Religion und Sittlichkeit hat in diesem System keinen logischen Ort [R705]. Spinoza selbst hebt hervor, die Vernunft vermöge nicht einzusehen, daß die Menschen durch bloßen Gehorsam selig werden können; in Wirklichkeit ist von seinen Voraussetzungen aus die Möglichkeit einer Sittlichkeit, die nicht in der Erkenntnis gegründet ist, nicht nur unbeweisbar, sondern steht zu ihnen in direktem Widerspruch. Die Verweisung der volkstümlichen Religion und Sittlichkeit an die Offenbarung ist für Spinoza das Mittel, diese Lücke des Systems zu verhüllen und den Widerspruch zu verdecken, der zwischen der Konsequenz des Systems und der auch von Spinoza anerkannten Wirklichkeit einer Sittlichkeit ohne philosophische Grundlage besteht. Die Intellektualisierung des sittlichen und religiösen Bewußtseins war bei Spinoza zu ihrer letzten Schärfe gesteigert. So war es unvermeidlich, daß die Unmöglichkeit, das eigene Leben der Religion und Sittlichkeit von den Voraussetzungen dieses Intellektualismus aus zu begreifen, bei ihm zutage treten mußte.


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