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4. Der Aristotelismus und seine Gegner

a) Gottesbegriff und Weltbegriff im Aristotelismus und in der Offenbarungsreligion

Der Neuplatonismus wird in der jüdischen Religionsphilosophie um die Mitte des zwölften Jahrhunderts vom Aristotelismus abgelöst. Bei Abraham ibn ʿEzra war diese Wendung bereits erkennbar, und die Polemik Jehuda Halewis hatte die Philosophie in ihrer Aristotelischen Fassung zum Gegenstande. Das erste Werk des jüdischen Aristotelismus, »der erhabene Glaube« des Abraham ibn Daud ist allerdings erst mehrere Dezennien nach dem Kuzari erschienen. Offenbar aber hätte Jehuda Halewi seine Polemik nicht gegen das Aristotelische System gerichtet, wenn es nicht zu seiner Zeit schon Anhänger in jüdischen Kreisen gehabt hätte. Der jüdische Aristotelismus muß älter sein als seine literarische Bezeugung. Dem Neuplatonismus gegenüber stellt er nichts schlechthin Neues dar. Der islamische und der jüdische Neuplatonismus hatten über das schon in dem ursprünglichen neuplatonischen System enthaltene Maß hinaus mannigfache Aristotelische Elemente in sich aufgenommen, und stärker noch war das Aristotelische System bei seinen islamischen Anhängern neuplatonisch umgebildet worden. Seine metaphysische Struktur hatte sich durch die Aufnahme des Emanationsgedankens grundlegend gewandelt. Die Welt der begrifflichen Formen stellte sich nunmehr als die Entfaltung eines einheitlichen Formprinzips dar, und indem anfangs auch die Materie als Glied der Emanationsreihe aufgefaßt wurde, trat an Stelle des Aristotelischen Dualismus eine rein monistische Weltkonzeption [R358]. Mit der Metaphysik des Neuplatonismus drang auch seine religiöse Lebensanschauung in das Aristotelische System ein. Das Aristotelische Ideal der Eudämonie des Erkennens empfing eine seinem ursprünglichen Sinn fremde religiöse Deutung, die als das wahre Ziel der Erkenntnis die Erfassung der übersinnlichen Welt ansah und aus dem in sich ruhenden Glück des Erkennens die Seligkeit der durch die Erkenntnis vermittelten Verbindung mit Gott machte [R359]. Diese schon bei den neuplatonischen Aristoteleserklärern der Antike angebahnte Entwicklung wurde im islamischen Mittelalter zu allseitiger Durchführung gebracht.

Der Aristotelische Untergrund des Systems aber behauptete in alledem doch sein Recht, und seine ursprünglichen Motive konnten wohl zurückgedrängt, aber nie ganz zum Schweigen gebracht werden. Nicht allein, daß die neuplatonischen Anschauungen eine veränderte begriffliche Fassung erhielten, auch sachlich blieben die Aristotelischen Ideen neben ihnen bestehen. Nur auf einige wenige religionsphilosophisch besonders wichtige Punkte kann hier andeutend hingewiesen werden. Im Verlauf der Entwicklung wurde die Ausdehnung des Emanationsprinzips auf die Materie wieder aufgegeben und der ursprüngliche Dualismus von Materie und Form wieder hergestellt, so daß Gott nur noch der Ursprung der Formwesenheiten war und der Weltbildungsprozeß sich als die Formung der Materie durch Gott darstellte. Gott selbst wurde von Anfang an mit Aristoteles als das sich selbst denkende höchste Denken bestimmt [R360] – zunächst in einem niemals ganz geglückten Ausgleich mit der neuplatonischen Idee des über das Denken erhabenen göttlichen Ureinen –, und damit trat das die Aristotelesinterpretation bis in die Gegenwart beherrschende Problem auf, ob und inwieweit in dem Wissen Gottes von sich selbst auch ein Wissen der aus ihm hervorgehenden Welt enthalten sei. Die menschliche Seele wurde aus der von dem Körper ihrem Wesen nach unabhängigen Emanation der Allseele zur Form des Körpers [R361], und im Gefolge dieser Definition erneuten sich die alten Schwierigkeiten der Aristotelischen Unsterblichkeitslehre. Die Erkenntnislehre kehrte von der Platonischen Theorie der Anamnesis, deren metaphysische Seite sich im Neuplatonismus erhalten hatte, zur Aristotelischen Abstraktionstheorie zurück [R362], und wenn sie auch durch die Vorstellung der Erleuchtung des passiven menschlichen Intellekts durch den aktiven kosmischen das menschliche Denken zugleich in einen transzendenten Zusammenhang hineinstellte und diesen Erleuchtungsgedanken mit der Abstraktionslehre nie zu wirklicher Einheit zu bringen vermochte, so blieb das Denken doch fester als im Neuplatonismus an seine sinnlichen Voraussetzungen gebunden. Diese veränderte Auffassung der Erkenntnis machte sich auch in einem veränderten Aufbau des Systems geltend, das die logischen und naturwissenschaftlichen Voraussetzungen der Metaphysik wieder energisch betonte und nur von ihnen aus den Aufstieg zur metaphysischen Erkenntnis für möglich erachtete. Durch alle religiösen Umbildungen schlug auch der intellektualistische Zug des Aristotelischen Lebensideals bald stärker bald schwächer hindurch. Die Seligkeit der Gemeinschaft mit Gott war zu gutem Teile doch Anteil an der Eudämonie des göttlichen Erkennens [R363].

Die meisten dieser Züge ließen zugleich den Abstand gegenüber den Lehren der Offenbarungsreligion schärfer hervortreten. Aber auch wo die Spannung als solche schon im Neuplatonismus vorhanden war, machte sie sich bei der festeren, schulmäßigen Durcharbeitung der Begriffe im Aristotelismus deutlicher bemerkbar als im Neuplatonismus, zumal als in der popularisierten und abgeschwächten Form, in der dieser in der islamischen Welt zumeist verbreitet war. Kein Wunder, daß darum auf die systematische Darstellung des Aristotelismus durch Ibn Sina Gazalis Kampf gegen die Philosophie gefolgt war, und daß ebenso Jehuda Halewi die Aristotelische Philosophie als den eigentlichen Gegner der Offenbarungsreligion bekämpft hatte. Der Gegensatz des philosophischen Weltbildes und der religiösen Lehre war damit klar ausgesprochen. Der islamische Aristotelismus antwortete in Ibn Rošd, indem er das Aristotelische System radikaler als je zuvor durchführte. Die jüdischen Aristoteliker bemühten sich, auf dem Boden des Aristotelischen Systems die Gegensätze auszugleichen. War bisher eine stillschweigende Angleichung religiöser und philosophischer Weltansicht vorgenommen worden, so trat nun ihr Verhältnis zueinander in das Zentrum des philosophischen Bewußtseins. Die ganze philosophische Arbeit ist von dieser Problemstellung beherrscht. Es ist darum hier der Ort, ehe wir den weiteren Verlauf dieser Arbeit betrachten, die Problemlage als solche in großen Zügen darzulegen. Dabei ist es unvermeidlich, auf früher bereits Berührtes in systematischem Zusammenhange noch einmal zurückzukommen.

Die Problemlage ist darum sehr kompliziert, weil die beiden einander gegenüberstehenden geistigen Welten ebenso starke Berührungen wie Gegensätze aufweisen und weil beides sich nicht etwa auf einzelne Lehrinhalte verteilt, sondern Übereinstimmung und Gegensatz das Ganze beider Gedankenwelten betreffen. Die Philosophie des Aristotelismus und des Neuplatonismus stellte sich von einer Seite aus gesehen als durchgreifende Bestätigung der Grundgedanken des religiösen Monotheismus dar. Sie lehrte einen einzigen Gott als das höchste Prinzip der Wirklichkeit. War der Gott des Aristoteles als der erste Beweger noch nicht im vollen Sinne die höchste Weltursache geworden, so hatte der Neuplatonismus sein göttliches Eines zum Urquell alles Seins gemacht und der emanatistisch umgebildete Aristotelismus war ihm darin gefolgt. Sowohl die Sphärengeister des Aristoteles wie die Formen der irdischen Welt und zunächst auch die Materie wurden auf Gott zurückgeführt, in ihm hatte alle Kausalität ihren Ursprung. Die Gottesbeweise der Philosophie stellten so die wissenschaftliche Rechtfertigung des monotheistischen Gottesgedankens dar. Schon in der Beweisführung des Kalam sind Argumente griechischer Philosophie verwertet, späterhin werden sie direkt übernommen. Dieselbe wissenschaftliche Rechtfertigung wird dem religiösen Glauben an eine zweckmäßige Ordnung der Dinge zuteil. Die Aristotelische Welterklärung betrachtet alles Geschehen unter teleologischem Gesichtspunkte. Sie führt alles Geschehen auf die Formen der Dinge zurück, die sie als zwecktätige Kräfte versteht. Diese immanente Zweckordnung der Wirklichkeit wird vom Neuplatonismus und dem nach seinem Muster umgebildeten Aristotelismus in eine transzendente verwandelt. Indem alle Formen aus Gott abgeleitet werden, wird der immanente Zweckzusammenhang der Dinge zur Wirkung der obersten göttlichen Zweckursache, die Vielheit der Einzelzwecke zu Gliedern des einen, auf Gott zurückweisenden Zweckzusammenhanges. In der Zweckmäßigkeit der Welt offenbart sich der Philosophie wie der Religion die Vollkommenheit ihres göttlichen Ursprunges. In Übereinstimmung mit dem religiösen Vorsehungsglauben lehrt auch die wissenschaftliche Weltansicht, daß die in Gott gegründete Weltordnung das Wohl aller Geschöpfe verwirklicht. Dem Vorsehungsgedanken kommt diese Ansicht dadurch noch näher, daß in dem ständigen Einströmen der Formen in die Welt die dauernde Abhängigkeit ihres Zweckzusammenhanges von Gott erhalten bleibt [R364].

Diese Grundauffassung der Wirklichkeit findet dann ihre spezielle Anwendung auf den Menschen. Die religiös wichtigste Konsequenz liegt hier in der Auffassung des Verhältnisses von Körper und Seele. Die Unterordnung des Körpers unter die Seele ist dem Neuplatonismus und dem Aristotelismus gemeinsam. Der Neuplatonismus führt den Gedanken der Selbständigkeit der Seele am bestimmtesten und einfachsten durch, wenn er die Einzelseele als Ausfluß der Allseele betrachtet und sie substanziell vom Körper unterscheidet. Die Aristotelische Lehre von der Seele als dem Formprinzip des Körpers schließt diesen grundsätzlichen Dualismus aus, aber für den denkenden Geist wird auch hier die Unabhängigkeit vom Körper behauptet, und der sich aus dem neuplatonischen Seelenbegriff unmittelbar ergebende Unsterblichkeitsgedanke wird so auch von der Aristotelischen Seelenauffassung aus für den höchsten, denkenden Seelenteil begründet. Der religiöse Glaube an die Unsterblichkeit wird damit zu einem Gedanken der Wissenschaft, und ebenso wie die Gottesbeweise erscheinen auch die Beweise für die Unkörperlichkeit und Unsterblichkeit der Seele als wissenschaftliche Bestätigung der religiösen Wahrheit. Daran schließen sich zwei andere, nicht minder wichtige Konsequenzen an. Die erste betrifft den metaphysischen Zusammenhang des Geistes mit Gott. Der universale Zusammenhang der irdischen Welt mit dem formspendenden göttlichen Prinzip stellt sich für den menschlichen Geist als Erleuchtung durch den göttlichen Geist dar [R365]. Alle Erkenntnis wird als Aufnahme der aus der höheren Welt des Geistes stammenden begrifflichen Formen gedeutet; sie ist Anteilnahme des menschlichen Denkens an dem in der reinen Welt des Geistes in zeitloser Dauer verwirklichten Reich der Wahrheit. Der denkende Geist erzeugt die Wahrheit nicht, sondern empfängt sie, direkt von dem aktiven Intellekt, letztlich von Gott. Diesem Erkenntnisbegriff ordnet sich der religiöse Offenbarungsbegriff unmittelbar ein. Die zweite Konsequenz liegt auf ethischem Gebiet. Die metaphysische Auffassung vom Wesen des Menschen wird zur Grundlage eines Lebensideals, das sowohl in seiner neuplatonischen wie in seiner Aristotelischen Fassung dem religiösen Ethos verwandt erscheinen mußte. Die neuplatonische Ethik ist in sich selber religiös bestimmt. Sie macht es zur Aufgabe des Menschen, sich von den Fesseln der Sinne zu befreien und in sittlicher und geistiger Läuterung zu seiner überirdischen Heimat emporzustreben. Der Aristotelischen Ethik ist dieser Zug fremd, doch auch ihr wissenschaftlicher Idealismus verlangt mit der Religion die Zucht des Willens und die Herrschaft des Geistes über die Begierde. Die religiöse Umdeutung dieses Idealismus ergibt dann ein dem Neuplatonismus verwandtes Resultat. Auch die Forderungen der geoffenbarten Sittlichkeit finden so ihre wissenschaftliche Begründung, und wie in der Lehre der religiösen Tradition wird an die Erfüllung der sittlichen Forderungen das jenseitige Heil geknüpft. Der ganze Zusammenhang der religiösen Ideen hat so in der Philosophie seine genaue Parallele.

An demselben Ideenzusammenhange aber offenbart sich ein ebenso durchgreifender Gegensatz. Mag der Gottesbegriff der Philosophie im neuplatonischen Sinne als der der höchsten Einheit oder Aristotelisch als der des höchsten Denkens gefaßt werden, in beiden Fällen ist er von dem persönlichen Gott der monotheistischen Religionen, dem Gott des Willens und der Sittlichkeit, gleich verschieden. Wenn für das Bewußtsein des Mittelalters die Tiefe dieses Unterschiedes in der Auffassung des göttlichen Wesens selbst lange verborgen blieb, wenn die jede Bestimmtheit des Begriffs hinter sich lassende Transzendenz des neuplatonischen Einen mit der allem Geschöpflichen unvergleichbaren Erhabenheit des biblischen Gottes gleichgesetzt wurde, so war die Differenz in der Auffassung der göttlichen Kausalität schwerer überbrückbar. In dem System der Emanation war Gott das oberste Kraftprinzip, das sich in die Fülle der Einzelkräfte entfaltete. Er war Weltursache nicht als schöpferischer Wille, sondern als die Urkraft, aus der die Mannigfaltigkeit der Einzelkräfte mit Notwendigkeit entsprang [R366]. Die Zweckordnung der Wirklichkeit war der Ausdruck dieses Kraftzusammenhanges, die zwecktätigen Formen waren die Kräfte, welche diese Ordnung realisierten. Sie waren die Repräsentanten des gesetzlichen Zusammenhanges des Geschehens, der sich in strenger Kontinuität von Gott bis zu den untersten Stufen der sinnlichen Wirklichkeit erstreckte. Nur soweit dieser generelle gesetzliche Zusammenhang der Dinge reichte, reichte auch die göttliche Fürsorge für sie. Von göttlicher Providenz konnte hier nur im Sinne einer in Gott gründenden gesetzmäßigen Zweckhaftigkeit des Geschehens gesprochen werden.

Dem entspricht ganz die Auffassung des Menschen, die konsequent aus diesem Zusammenhange heraus konstruiert wird. Die Seele des Menschen wird, gleichviel ob in neuplatonischer oder in Aristotelischer Fassung, als eine besondere Art der aus der höheren Welt stammenden Formkräfte betrachtet, und ihr Schicksal ist durch die ihrem Wesen entsprechende Gesetzmäßigkeit vorgezeichnet. Am deutlichsten wird dies in der Lehre der Aristoteliker von der aus einer bestimmten Erkenntnisstufe resultierenden Unsterblichkeit des erworbenen Intellekts [R367]. Hier werden zugleich auch die Konsequenzen auf ethischem Gebiet klar sichtbar. Die Unsterblichkeit ist die notwendige Folge der erreichten Erkenntnishöhe, sie ist unmittelbar intellektuell, nicht moralisch bedingt. Die sittliche Vervollkommnung dient dem letzten intellektuellen Ziel, sie ist Mittel, nicht Selbstzweck. Das gilt für den reinen Neuplatonismus nicht in gleicher Strenge, aber auch hier hat das sittliche Tun wesentlich kathartische Bedeutung und ermöglicht durch sie die Rückkehr der Seele in die intelligible Welt. Besonders wichtig ist die daraus resultierende Deutung der Beziehung des Menschen zu Gott. Auch sie verliert den persönlichen Charakter und ordnet sich dem allgemeinen Gesetz des Weltzusammenhanges ein. Der von Gott bis in die irdische Welt hinabreichende Wirkungszusammenhang bindet die dazu befähigte Seele an Gott, indem er sie zu der ihm unmittelbar entspringenden geistigen Welt emporhebt. Eben dieser Wirkungszusammenhang vermittelt auch die prophetische Erleuchtung. Aus der Sendungsprophetie wird die gesetzmäßig bestimmte Einstrahlung des Wissens in den Geist des Propheten [R368]. Das ist gewiß nicht nur Metaphysik, sondern auch Religion, aber Religion entweder der Mystik oder der Kontemplation, nicht mehr die personalistische Religion des Monotheismus.

Im Mittelpunkt dieser Weltkonzeption steht der Begriff des dynamischen Wirkungszusammenhanges, der eine teleologische und zugleich gesetzmäßige Ordnung des Geschehens begründet und in ihr Naturgesetzmäßigkeit und Erkenntnisgesetzmäßigkeit zu systematischer Einheit verbindet. Ihr Repräsentant ist insbesondere der Begriff der Form, die von ihrem Aristotelischen Ursprunge her zugleich Begriff und wirkende Kraft ist. Wird das Geschehen damit zur Verwirklichung der Begriffe, so wird der Zusammenhang der Begriffe zugleich ein Wirkungszusammenhang. Beide Gesichtspunkte verknüpfen sich in der Emanationsidee, die in Einem Entfaltung der Begriffe aus ihrem letzten Prinzip und der Kräfte aus einer letzten Kraftquelle ist. Zwischen beiden wird die Beziehung noch enger geknüpft durch eine dritte, abermals im Formbegriff fundierte Zusammenhangsreihe. Eine besondere, aber grundlegend wichtige Ausprägung des Formbegriffs ist die Form als denkender Geist. Diese in der Lehre von der Identität des Denkens und des Gedachten begründete Auffassung des Intellekts bietet die Möglichkeit, den ideellen Zusammenhang der Begriffe im Sinne eines realen Denkzusammenhanges zu interpretieren. Der Emanationsprozeß wird so zu einer Abfolge intellektueller Wesenheiten, von denen jede denselben Begriffsgehalt in immer zunehmendem Auseinandertreten in die Vielheit seiner Elemente in sich enthält. So wird insbesondere bei den islamischen Aristotelikern der Emanationsprozeß gedeutet. Diese denkenden Wesenheiten sind, von der anderen Seite gesehen, dynamische Potenzen. Kraft ihrer dynamischen Energie, die zunächst die eine von ihnen aus der anderen hervorgehen läßt, teilen sie auch der Körperwelt die Formkräfte mit und lassen dieselben Formen als Begriffe gesehen in das menschliche Denken eingehen [R369]. Man versteht es so, wie alle Seiten des Wirklichkeitszusammenhanges als Manifestationen des göttlichen Formprinzips erscheinen können.

Diese dynamische Gesetzlichkeit umgrenzt und definiert die natürliche Ordnung des Weltgeschehens, die nicht wie für den modernen Naturbegriff auf den immanenten Zusammenhang der empirischen Wirklichkeit beschränkt ist, sondern die übersinnliche Wirklichkeit bis zu Gott hinauf mit umschließt. Die Grenze zwischen Natürlichem und Übernatürlichem wird durch den Gegensatz zwischen dem notwendigen Kraftzusammenhange des Geschehens und dem freien, spontanen Walten Gottes bezeichnet. Darum kann der Glaube an Magie und Astrologie sich der »natürlichen« Weltdeutung widerspruchslos einfügen, während das Wunder in seinem strikten Sinne aus ihr ausgeschlossen ist. Die radikale Beschränkung auf die natürliche Welterklärung kennzeichnet das, was das spätere Mittelalter als Freidenkertum ansieht. Gottesleugner, wie die früheren Dahrîja, spielen in der Philosophie des späteren Mittelalters keine Rolle; die Gottesbeweise der Aristotelischen Philosophie haben sie wissenschaftlich erledigt. Freigeistigkeit heißt jetzt Negierung der übernatürlichen Sphäre, welche die Offenbarungsreligionen jenseits der in Gott gegründeten natürlichen Ordnung annehmen. Dieser Freigeistigkeit gilt der Kampf, den das Judentum und das Christentum in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters gegen die Weltanschauung des Unglaubens führen. In ihrer extremsten Form negiert diese Richtung die Offenbarungsreligion als solche. Daneben gibt es die Tendenz, die Offenbarungsreligionen selbst dieser Anschauung gemäß zu interpretieren, sie so zu deuten, daß sie innerhalb der Grenzen der natürlichen Weltansicht verbleiben. Die früher geschilderte Parallelität religiöser und philosophischer Weltansicht zeichnet die Linien vor, auf denen ein solcher Versuch sich zu bewegen hatte. Er bestand in nichts anderem als in der allseitigen Überführung der Teleologie des Willens in die Teleologie der dynamischen Naturgesetzmäßigkeit. Die innere Verwandtschaft beider Auffassungen wurde so stark empfunden, daß jedes Bewußtsein willkürlicher Umdeutung fehlte. Man glaubte zu deuten, nicht umzudeuten. Die Geltung des Offenbarungsgedankens selbst war durch den natürlichen Offenbarungsbegriff der Philosophie gewährleistet. Die geschichtliche Offenbarung wurde in dieser Form anerkannt. Die formale Möglichkeit, sie der philosophischen Weltansicht anzupassen, bot der Gedanke, daß sie ihrem Wortsinne nach für die Menge berechnet sei und sich ihrem Vorstellungskreise anpasse, hinter ihm aber den eigentlichen für die Denkaristokratie der Philosophen berechneten tieferen Sinn verberge. Personalistisch-übernatürliche Auffassung der religiösen Ideen war ihre exoterische Form, dynamisch-natürliche ihr esoterischer Sinn [R370].

Diesen Weg hatten die islamischen Aristoteliker von Anfang an, wenn auch nicht durchweg mit gleicher Folgerichtigkeit, beschritten und die Lehren des Islam durchgehend dem Aristotelischen System, wie sie es verstanden, angepaßt. Die Gottesvorstellung des Islam deuteten sie gemäß ihrer bald mehr neuplatonisch, bald mehr Aristotelisch bestimmten Gottesidee, die Lehre von der Weltschöpfung gemäß ihrer Theorie von dem ewigen Hervorgehen der Welt aus Gott, die Allwissenheit Gottes als sein Wissen von der in ihm gründenden Formgesetzlichkeit der Dinge, den Vorsehungsglauben als die Lehre von einer generellen Zweckmäßigkeit des Seins. Ebenso wurden der Offenbarungs- und der Unsterblichkeitsglaube den entsprechenden philosophischen Vorstellungen angepaßt. Dabei waren die islamischen Denker freilich bemüht, den religiösen Vorstellungen soweit wie irgend möglich nahezukommen und aus den philosophischen Begriffen nach dieser Richtung hin herauszuholen, was sie irgend hergeben wollten. Die Beschränkung des göttlichen Wissens auf die allgemeine Formgesetzlichkeit der Dinge sollte, wie z. B. Ibn Sina eingehend ausführt, das Wissen von den Einzeldingen nicht etwa ausschließen. Sie waren in dem Wissen von der allgemeinen Gesetzmäßigkeit des Seins mitumfaßt, wenn auch nur als Glieder des Gesamtzusammenhanges, und man bemühte sich, diesen Gedanken so auszubauen, daß dem göttlichen Wissen auch nicht ein Staubkorn verborgen blieb [R371]. Ähnlich dürfte man auch versucht haben, dem Vorsehungsglauben so weit wie möglich gerecht zu werden, und es ist anzunehmen, daß die jüdischen Philosophen, welche die natürliche Vorsehung beim Menschen auf das Einzelindividuum ausdehnen, islamischen Vorbildern folgen [R372]. Selbst für den Wunderbegriff wurde von Ibn Sina insofern wenigstens eine teilweise Rechtfertigung gegeben, als denjenigen Menschen, die, wie die Propheten, mit der Welt des Geistes in einem unmittelbaren Zusammenhange standen, durch diese Verbindung besondere Kräfte zuwachsen sollten, die sie zu außerordentlichen, den Bereich des allgemein Menschlichen überschreitenden Wirkungen befähigten [R373]. Ibn Sina gewann auch dem Aristotelischen Seelenbegriff eine solche Deutung ab, daß er die substanzielle Verschiedenheit von Seele und Körper ergab, so daß die Unsterblichkeit nicht auf den erworbenen Intellekt eingeschränkt zu werden brauchte, sondern der Seele als solcher zugeschrieben werden konnte [R374]. Damit nicht genug, scheinen die Aristoteliker manchmal selbst das Grundprinzip der philosophischen Weltansicht zugunsten der religiösen aufzugeben oder ihr interpretatorisch anzupassen. Alfarabi verteidigt den Aristoteles ausführlich gegen den Vorwurf, die Ewigkeit der Welt zu lehren. Wenn er eine zeitliche Entstehung der Welt ablehne, so heiße das nur, daß das Weltganze nicht wie die Einzeldinge in der Zeit entstanden, sondern durch einen unzeitlichen Schöpfungsakt hervorgebracht sei, und daß erst innerhalb der bereits gegebenen Welt von einem zeitlichen Nacheinander gesprochen werden könne [R375].

Man versteht es bei solchem Entgegenkommen gegen die religiösen Lehren zunächst nicht, wie den Aristotelikern von Gazali und Jehuda Halewi die grundsätzliche Bestreitung der Glaubenslehren vorgeworfen werden kann [R376], und wenn man selbst bei diesen Gegnern der Philosophie mit einer tendenziösen Beurteilung derselben rechnen will, so versagt diese Auskunft doch bei den jüdischen Aristotelikern, denen gewiß jedes Interesse fehlte, die Kluft zwischen Aristotelismus und Religion absichtlich zu erweitern. Auch Maimonides aber betrachtet die Lehre von der Ewigkeit der Welt als zweifellose Lehre des Aristotelismus und beruft sich dafür gerade auf Alfarabi [R377]. Seine Deutung des Aristotelismus stimmt nicht nur an diesem einen Punkte mit der der Antiaristoteliker überein. Wir finden dasselbe bei seiner Darstellung der Aristotelischen Lehre vom göttlichen Wissen, und ebenso ist seine Wiedergabe der Theorie von dem rein natürlichen Charakter der Prophetie weit präziser und eindeutiger, als sie uns bei den islamischen Aristotelikern entgegentritt [R378]. Das kann seinen Grund nur darin haben, daß er von allen Akkomodationen und Verschleierungen des philosophischen Standpunkts abstrahiert und ihn gemäß der eigentlichen Meinung der Aristoteliker darstellt. Daß es an solchen Akkomodationen bei ihnen nicht gefehlt hat, ist klar genug. Selbst Ibn Rošd, der radikalste unter ihnen, verschmäht sie nicht. Im Kreise der Philosophie selbst wußte man, was von ihnen zu halten war. Maimonides und ebenso die folgenden jüdischen Aristoteliker haben auf sie keine Rücksicht genommen. Sie faßten den Aristotelismus in seinem eigentlichen Sinne und begriffen, wie er nach seinen Prinzipien den Islam interpretierte. Mit dieser Position setzten sie sich auseinander. Es war ihnen nicht darum zu tun, den Gegensatz von Philosophie und Offenbarungsreligion zu verschleiern. Sie stellten das Problem in seiner vollen Schärfe und suchten nach einer Lösung, die den Gegensatz von innen heraus überwand.

b) Abraham ibn Daud

Der erste jüdische Aristoteliker Abraham ibn Daud aus Toledo (um 1180 als Märtyrer gestorben) läßt die im vorhergehenden besprochenen Probleme noch nicht in ihrer Schärfe erkennen. Sein »Erhabener Glaube« erweckt den Eindruck, daß zwischen dem Judentum und der Aristotelischen Philosophie volle Harmonie besteht. In energischem Rationalismus lehrt er, daß die wahre Philosophie ganz mit der Religion in Einklang steht, und daß nur diejenigen, denen es an der Kraft fehlt, mit der einen Hand das Licht der Religion, mit der anderen das der Wissenschaft festzuhalten, das Licht des Glaubens erlöschen lassen, wenn sie das der Wissenschaft entzünden [R379]. Es ist für ihn der höchste Ruhm des Judentums, daß die Wahrheit, die sich die Wissenschaft in langer und mühsamer Arbeit erringen mußte, in ihm als das gemeinsame Besitztum des ganzen Volkes von jeher gegeben ist [R380]. Diese grundsätzliche Behauptung der vollen Übereinstimmung von religiöser und wissenschaftlicher Wahrheit bedeutet für ihn konkret die Übereinstimmung der jüdischen Lehre mit dem Aristotelismus in der Form, die ihm die arabischen Aristoteliker gegeben hatten, unter denen er sich insbesondere an Ibn Sina engstens anschließt. Seine Philosophie ist zum größten Teil nur eine klare und durchdachte, aber ganz in den gegebenen Bahnen verbleibenden Darstellung der Grundlehren Ibn Sinas. Die Seiten des Systems, die es zu der monotheistischen Religion in Gegensatz bringen, vor allem die Lehre von der Emanation der Welt aus Gott, scheidet er nach Möglichkeit aus, ohne auf den Gegensatz tiefer einzugehen. Ähnlich wie es die Mehrzahl der jüdischen Neuplatoniker getan hatte, gleicht er die philosophischen Theoreme und die religiösen Vorstellungen stillschweigend aneinander an und umgeht ihre Differenzen mehr, als daß er sie sachlich erledigt. Nachdem Maimonides die von Ibn Daud unberücksichtigt gelassenen Probleme in den Mittelpunkt der philosophischen Diskussion gestellt hatte, war es kein Wunder, daß dessen Werk stark in den Hintergrund trat. Maimonides selbst hat es vielleicht an einigen Punkten von untergeordneter Bedeutung benutzt [R381], auf den weiteren Gang der philosophischen Entwicklung hat es keinen Einfluß geübt, und der Nachruhm Ibn Dauds gründet sich wesentlich auf sein vielgelesenes Geschichtswerk, das »Buch der Überlieferung« (Sefer Ha-Qabbala). Erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts ist der 1161 verfaßte »Erhabene Glaube«, dessen arabisches Original verloren gegangen ist, zweimal ins Hebräische übersetzt worden. Die eine, bisher ungedruckte, Übersetzung trägt den Titel »Emuna Nissaa«, die andere, 1852 zuerst gedruckte, den Titel »Emuna Rama«. Auch diese Übersetzungen haben dem Buche keine stärkere Beachtung zu verschaffen vermocht.

Abraham Ibn Daud behauptet sein Werk geschrieben zu haben, um die in der Frage der Willensfreiheit bestehenden Schwierigkeiten zu lösen, deren Aufhellung eine Darlegung der wichtigsten metaphysischen und religionsphilosophischen Grundwahrheiten erfordere [R382]. Das Buch selbst läßt von dieser zentralen Bedeutung des Freiheitsproblems nichts erkennen. Die Freiheitslehre ist in ihm nur eine von den religionsphilosophischen Grundlehren, denen allen das gleiche Interesse zugewandt wird. Der Behandlung der religionsphilosophischen Probleme geht eine ausführliche Darstellung der für den Aufbau der Religionsphilosophie notwendigen Prinzipien der Aristotelischen Physik und Metaphysik voran. Die Erörterung der allgemeinen Prinzipien der Naturphilosophie, die Lehre von Materie, Form und Bewegung, dient vornehmlich dem Aufbau der Gottesbeweise, die sehr ins Einzelne gehende Psychologie dem Beweise für die Unsterblichkeit der Seele und ihre Beziehung zu den immateriellen Wesenheiten.

Die Beweisführung für das Dasein Gottes ist ganz die des islamischen Aristotelismus. Sie beginnt mit dem Aristotelischen Beweis für das Dasein des ersten Bewegers. Jede Bewegung setzt eine bewegende Ursache voraus, die von dem bewegten Gegenstande verschieden ist, und wegen der Unmöglichkeit einer unendlichen Kausalreihe muß es ein erstes Prinzip der Bewegung geben. Dieser unbewegte Beweger ist von unendlicher Kraft, und da alle Körper und die ihnen innewohnenden Kräfte endlich sind, involviert seine Unendlichkeit zugleich seine Unkörperlichkeit [R383]. Daran schließt sich der von Alfarabi und Ibn Sina entwickelte Beweis, daß das an sich blos mögliche Sein der Dinge in einem Wesen von notwendiger Existenz seinen Ursprung haben muß. So wie Ibn Daud diese in der späteren jüdischen Religionsphilosophie ständig wiederkehrende Beweisführung im Anschluß an seine islamischen Vorbilder gibt, geht in ihr der begriffliche Schluß von dem möglichen auf das notwendige Sein mit dem kausalen Schluß auf eine erste Weltursache ineinander, und der eigentliche Nerv der Beweisführung scheint in dem Gedanken zu liegen, daß die Reihe der Ursachen auf eine erste Weltursache zurückführen muß. Unter den Dingen von bloß möglicher Existenz werden nach der Definition Ibn Dauds solche Dinge verstanden, die ihr Dasein einem anderen verdanken und mit deren Existenz daher auch die ihrer Ursache gesetzt ist. Wie in der ursprünglichen Aristotelischen Beweisführung muß der Gedanke der Unmöglichkeit einer unendlichen Kausalreihe zu Hilfe genommen werden, um ein Wesen zu erschließen, dessen Dasein unverursacht ist. Diese ursachlose Existenz wird als notwendige Existenz bezeichnet [R384]. Von dem ursprünglichen Aristotelischen Beweisgang unterscheidet sich diese Argumentation nur dadurch, daß sie statt auf eine erste Ursache der Bewegung auf eine erste Ursache des Daseins der Dinge schließt. Wenn der rein begriffliche Schluß vom möglichen auf das notwendige Dasein demgegenüber auch nicht zu selbständiger Entfaltung kommt, so ist doch auch er in den Ausführungen Ibn Dauds implizite enthalten. Neben der Auffassung des Möglichkeitsbegriffs, nach der er nur ein anderer Ausdruck für die Verursachtheit eines Dinges ist, findet sich auch die andere, nach der diejenigen Dinge eine bloß mögliche Existenz haben, deren Wesen es unbestimmt läßt, ob sie existieren oder nicht. Ein Wesen von notwendiger Existenz ist demgegenüber ein solches, durch dessen Wesen seine Existenz mitgesetzt ist [R385]. Diese Fassung beider Begriffe ist auf den rein begrifflichen Schluß von der Möglichkeit auf die Notwendigkeit angelegt. Wären alle Dinge von bloß möglicher Existenz, so könnte es keine Wirklichkeit geben. Es gibt nur eine Wirklichkeit, weil ein Sein vorhanden ist, dessen Wesen zugleich die Existenz in sich schließt. In dieser Forderung, daß im obersten Weltgrunde Wesenheit und Existenz notwendig zusammengehören, ist das Motiv des ontologischen Gottesbeweises offensichtlich enthalten, nur bleibt hier Postulat, was in ihm abzuleiten versucht wird.

Diese Weiterbildung des ursprünglichen Aristotelischen Beweises macht, wie bereits bemerkt, aus dem ersten Beweger der Welt die Ursache für das Dasein der Wirklichkeit. Wenn der Aristotelische Gott eine Welt neben sich hat, die von ihm nur in Bewegung gesetzt wird, so ist nunmehr das Sein der Dinge von Gott verursacht. Auch die Einzigkeit Gottes kann jetzt erst mit voller Strenge bewiesen werden. Der Beweis für den ersten Beweger führt nicht notwendig auf eine einzige letzte, immaterielle Ursache der Bewegung hin. Wird für jede Himmelssphäre eine immaterielle Bewegungsursache angenommen, so stehen diese immateriellen Wesenheiten selbständig neben Gott, der nur als die oberste dieser Bewegungsursachen eine Suprematie besitzt. Aus dem Gedanken der notwendigen Existenz Gottes dagegen wird seine Einzigkeit streng ableitbar. Es kann, wie Ibn Daud im Anschluß an Ibn Sina zeigt, nur ein Wesen von notwendiger Existenz geben, alle übrigen Wesen, die immateriellen so gut wie die materiellen, haben in ihm ihren Ursprung [R386]. Auch die Sphärengeister sind ihrem Wesen nach von bloß möglicher Existenz und werden erst durch Gott wirklich. Dadurch ist in ihnen auch eine Vielheit von Momenten gesetzt. Es verbindet sich in ihnen die aus ihrem Wesen entspringende mögliche Existenz mit der ihnen von Gott verliehenen Notwendigkeit des Seins [R387]. Schlechthin einfach kann nur ein Wesen von absolut notwendiger Existenz sein. Diesem aber muß schlechthinnige Einfachheit zukommen, denn jede Mehrheit von Bestimmungen in ihnen würde voraussetzen, daß die in seinem Wesen enthaltenen Momente von einer höheren Ursache vereinigt worden sind, und würde damit die Notwendigkeit seines Seins aufheben.

Diese Umbildung der Aristotelischen Gottesvorstellung zu dem Gedanken der einzigen Weltursache führt bei den islamischen Aristotelikern keineswegs zu der Vorstellung des Schöpfergottes, wie er von Judentum und Islam gelehrt wird. Es ist früher bereits dargelegt worden, daß sie die Emanationstheorie des Neuplatonismus in ihr System aufnehmen. Sie führen sie freilich in eigentümlich abgewandelter Form durch, indem sie an Stelle der neuplatonischen Folge von Intellekt, Seele und Natur die immateriellen Sphärengeister und den ihre Reihe beschließenden, die irdische Welt leitenden aktiven Intellekt setzen und aus jedem der Sphärengeister außer dem ihm folgenden auch eine Sphäre mit ihrer Seele hervorgehen lassen, ohne daß jedoch das Prinzip der Emanation durch diese Abwandlung seiner Durchführung berührt wird. Ibn Daud gibt diese Emanationstheorie genau wieder, lehnt ihren Versuch, das Hervorgehen der Sphärengeister und der Himmelssphären selbst aus Gott zu erklären, jedoch schließlich ab. Eher kann er sich mit der emanatistischen Erklärung des Entstehens der irdischen Welt aus der überirdischen und den sie leitenden Intelligenzen befreunden [R388], während er an anderer Stelle Himmel und Erde als unmittelbare Schöpfungen Gottes ansieht und nur für das Weltgeschehen im Einzelnen das Wirken Gottes durch die Sphärengeister vermittelt sein läßt [R389]. Auch die Ablehnung der universalen Emanationstheorie erfolgt jedoch nicht aus prinzipiellen Gründen; an dieser entscheidenden Stelle ist vielmehr der eingangs hervorgehobene Mangel einer grundsätzlichen Stellungnahme zu den Differenzpunkten zwischen Aristotelismus und jüdischer Religion mit besonderer Deutlichkeit fühlbar. Er weist die Theorie zurück, weil er sie für unbewiesen hält, und wirft ihr vor, über die Grenzen menschlicher Erkenntnis hinausgehen und sich darum in Willkürlichkeit zu verlieren. Wie die Welt aus Gott hervorgegangen sei, vermöge der Geist des Menschen nicht zu erfassen, und es sei ein Verkennen seiner Fähigkeit, wenn er in das letzte Geheimnis des Weltursprungs eindringen wolle. Wir können nur die gegebene Ordnung des Seins feststellen und zeigen, wie innerhalb ihrer aus den überirdischen Wesenheiten das irdische Geschehen hervorgeht, müssen aber darauf verzichten, diese Ordnung selbst abzuleiten [R390]. Nirgends aber läßt Ibn Daud erkennen, daß die grundsätzliche Auffassung des göttlichen Wirkens in Frage steht, daß die Lehre von dem mittelbaren Hervorgehen der Welt aus Gott ihren Sinn darin hat, den Zusammenhang von Welt und Gott als einen notwendigen zu begreifen, während die von ihm angenommene biblische Vorstellung einer unmittelbaren Hervorbringung der Welt durch Gott dies Hervorbringen als freies Schaffen Gottes versteht. Die Grenze von Emanations- und Schöpfungstheorie verwischt sich für ihn noch weiter dadurch, daß er, ähnlich wie Ibn ʿEzra, die Sphärengeister für ewig hält und nur für die körperliche Welt eine zeitliche Entstehung annimmt [R391]. Diese Verwischung des grundsätzlichen Unterschiedes zwischen dem Emanations- und dem Schöpfungsbegriff läßt die Emanationstheorie der arabischen Aristoteliker nur als den Versuch eines seine Grenzen überschreitenden Rationalismus erscheinen, weiter in das Geheimnis der Weltentstehung einzudringen, als die Natur unseres Verstandes es gestattet, und es genügt, diese Grenzüberschreitung des Denkens zu beseitigen, um die volle Harmonie zwischen biblischer und Aristotelischer Weltentstehungslehre herzustellen.

Aus der sehr ins Einzelne hinein entwickelten Psychologie Ibn Dauds ist nur seine wiederum ganz dem Ibn Sina folgende Auffassung vom Wesen der Seele grundsätzlich bedeutsam. Mit Ibn Sina übernimmt er die Aristotelische Definition der Seele als Entelechie eines natürlichen organischen Körpers [R392]. Ihre Begründung vollzieht sich in der Kritik der materialistischen Seelentheorien, welche die Seele als ein Akzidenz des Körpers auffassen oder sie, wie es die Mediziner in schärferer Durchbildung dieser Anschauung tun, aus einer Mischung der im Körper vereinigten Elemente ableiten. Die seit Isaak Israeli und Saʿadia in der jüdischen Religionsphilosophie heimische Polemik wird von Ibn Daud sehr viel eindringender geführt als von seinen jüdischen Vorgängern. Wenn auch, wie er anerkennt, ein bestimmtes Mischungsverhältnis der in einem Körper vereinigten Elemente notwendige Voraussetzung alles organischen Lebens ist, so kann dieses doch niemals aus einer bloßen Mischung anorganischer Substanzen abgeleitet werden.

Die sich im Aufbau und der Struktur des Organismus offenbarende wunderbare Zweckmäßigkeit kann nicht das Produkt einer Mischung von Elementen sein, die einer rein mechanischen Gesetzmäßigkeit gehorchen, sondern setzt ein nichtstoffliches, zweckmäßig bildendes Prinzip voraus [R393]. Wäre der Organismus ein bloßes Mischungsprodukt, so könnte er, wenn auch in anderer Zusammensetzung und Abmessung, nur dieselben Eigenschaften aufweisen, die bereits in seinen Elementen vorhanden sind. Die Tatsache, daß in ihm vollkommen neue Eigenschaften auftreten, zeigt, daß zu seinen materiellen Elementen ein immaterielles Prinzip hinzutritt, in dem diese Eigenschaften ihren Ursprung haben. Die Seele wird damit, dem Sinne der Aristotelischen Definition ganz gemäß, als das Prinzip organischen Lebens bestimmt. Für die rationale Seele des Menschen wird in einem noch prägnanteren Sinne die Unabhängigkeit vom Körper nachgewiesen. Die Gegenstände unseres Denkens, die Begriffe, sind wegen ihrer Allgemeinheit von allem stets individuellen körperlichen Sein wesensmäßig verschieden. Jeder Begriff erstreckt sich auf eine Unendlichkeit möglicher Fälle und ist darum in sich ein Unendliches, während alles körperliche Sein endlich ist. Es ist ebenso eine unteilbare Einheit, während alle körperliche Wirklichkeit teilbar ist. Die Erkenntnis des Begriffs kann darum nicht mit Hilfe körperlicher Organe vollzogen werden, sondern setzt ein unkörperliches Substrat voraus [R394]. Dasselbe ergibt sich aus der Tatsache des Selbstbewußtseins. Die Sinne erkennen nur ihren Gegenstand, aber nicht sich selbst. Das Denken, zu dessen Wesen es gehört, nicht nur seine Gegenstände, sondern auch sich selbst zu erfassen, kann darum an kein körperliches Organ gebunden sein [R395]. Die denkende Seele des Menschen ist daher in ihren Funktionen und in ihrem Sein vom Körper unabhängig. Wie bei Aristoteles, der darin der fast durchgehenden Tendenz der griechischen Philosophie folgt, beschränkt sich diese Unabhängigkeit der Seele vom Körper auf das denkende Bewußtsein im strengen Sinne. Die seit Descartes in der modernen Philosophie heimische Scheidung des Bewußtseins als solchen vom Körper liegt dieser Auffassung fern. Das sinnliche Bewußtsein, das körperliche Dinge zu seinem Gegenstande hat, wird von den sonstigen Funktionen des organischen Lebens nicht grundsätzlich geschieden. Die Trennungslinie zwischen Körperlichem und Unkörperlichem wird vielmehr durch das auf nichtsinnliche Objekte bezogene Denken bezeichnet. Aus der Immaterialität der Denkseele folgt unmittelbar ihre Unsterblichkeit. Da sie ihrem Wesen nach vom Körper unabhängig ist, wird sie von dessen Tod nicht berührt [R386]. Diese strenge Scheidung der Denkseele vom Körper ist freilich mit dem Aristotelischen Begriffe der Seele als der Form des Körpers schwer vereinbar. Form und Materie gehören nach Aristoteles streng zusammen, und da die Denkseele ein Teil der als Form des menschlichen Körpers definierten Seele ist, bleibt es unverständlich, wie sie unabhängig vom Körper zu existieren imstande ist. Diese in allen Fassungen der Aristotelischen Lehre vom Intellekt auftretende Schwierigkeit wird von Ibn Sina und gleich ihm von Ibn Daud dahin beantwortet, daß wir nicht berechtigt seien, die Erfahrung, nach der die Form eines Dinges nicht unabhängig von diesem Dinge zu existieren vermag, über den Kreis der beobachteten Fälle hinaus auszudehnen [R397]. Das Aristotelische Prinzip von der notwendigen Korrelation von Materie und Form wird zu einer Induktionswahrheit degradiert, die für die Seele trotz ihres Formcharakters nicht gilt. Auf dem Boden der Aristotelischen Psychologie wird so eine substanzielle Unsterblichkeit der Einzelseele behauptet. Im Gegensatz zu der Lehre von der Unsterblichkeit des erworbenen Intellekts wird der denkenden Seele als solcher die Unsterblichkeit zugesprochen, und damit der volle Anschluß an den religiösen Unsterblichkeitsglauben erreicht. Die Auffassung der Seele als individueller Einzelsubstanz schließt auch die neuplatonische Lehre, welche die Einzelseele zu einem Teile der Universalseele macht, aus und führt Ibn Daud zur Ablehnung der im Neuplatonismus heimischen Anschauung von der Präexistenz der menschlichen Seele [R398].

In anderer Form wird jedoch auch für ihn die Psychologie zum Ausgangspunkt des Nachweises der Existenz überindividueller geistiger Substanzen. Der menschliche Intellekt besitzt ursprünglich nur die Fähigkeit zum Erkennen. Er ist von Hause aus potenzieller Intellekt, erst durch den Erwerb der Erkenntnis wird das Denken aus der Potenzialität in die Aktualität überführt. Wenn unser Denken die ersten axiomatischen Grundlagen der Erkenntnis gewinnt, wird es zum aktuellen, wenn die weiteren Erkenntnisse hinzutreten, zum erworbenen Intellekt. Der Übergang von der Potenzialität zur Aktualität aber setzt überall ein bewegendes Prinzip voraus, das in diesem Falle ein Intellekt sein muß, der die Erkenntnis bereits aktuell besitzt, die in uns erst zur Wirklichkeit werden soll. So gelangen wir zu der Annahme eines »aktiven Intellekts«, der in allen Menschen den Übergang von der Potenzialität zu der Aktualität des Denkens bewirkt [R399]. Mit den arabischen Aristotelikern folgt Ibn Daud der Lehre des Alexander von Aphrodisias, die den aktiven Intellekt des Aristoteles aus der Einzelseele herausverlegt und zu einem kosmischen Intellekte macht, nur daß sie ihn nicht wie Alexander mit dem göttlichen Intellekt identifizieren, sondern ihn als den niedersten in der Reihe der immateriellen Wesenheiten auffassen und denjenigen Intellekt in ihm sehen, der den irdischen Wesen ihre Form verleiht. Das Erkennen des Menschen vollzieht sich derart, daß die Begriffe aus dem aktiven Intellekt in den Einzelintellekt einströmen. Es ist ein Anteilnehmen an der einen Welt der Wahrheit, die in ihm in zeitloser Aktualität verwirklicht ist. Die übrigen immateriellen Wesenheiten werden als die bewegenden Ursachen der Sphärenbewegung deduziert, und durch diese Verbindung von psychologischer und astronomischer Ableitung wird die neuplatonische Lehre von den Mittelwesen dem Aristotelischen System in abgewandelter Form eingegliedert [R400].

Als die höchste Form der Erleuchtung des menschlichen Geistes durch den aktiven Intellekt hatten schon die islamischen Aristoteliker die Prophetie aufgefaßt. Diese natürliche Erklärung der Prophetie macht Ibn Daud sich zu eigen und betont eindringlich, daß die prophetische Offenbarung nicht unmittelbar von Gott, sondern von den geschaffenen Intellekten, insbesondere von dem aktiven Intellekt ausgeht [R401]. Die Besonderheit der prophetischen Erkenntnis sieht er darin, daß in ihr nicht, wie in der wissenschaftlichen, die allgemeine begriffliche Ordnung der Dinge, sondern ein Wissen von der Zukunft mitgeteilt wird. Auch das Organ der prophetischen Offenbarung ist indessen für ihn der Intellekt. Während später Maimonides die Besonderheit der prophetischen Offenbarung darin sieht, daß sie sich auf Phantasie und Intellekt gleichmäßig erstreckt, sieht Ibn Daud in der Phantasie nur eine Störung der Reinheit der prophetischen Offenbarung und stellt die Prophetie um so höher, je freier sie von allen verwirrenden Zutaten der Phantasie ist [R402]. Doch wird bei ihm so wenig wie bei den arabischen Aristotelikern, welche ähnliche Anschauungen vertreten, dieser Standpunkt konsequent durchgeführt. Er spricht davon, daß die geistigen Wesen sich dem Auffassungsvermögen der Menschen anpassen und ihm in sinnlicher Gestalt erscheinen, setzt also voraus, daß es neben den willkürlichen Zutaten der menschlichen Phantasie ein im Wesen des Offenbarungsaktes selbst gelegenes sinnliches Moment gibt [R403]. Die Differenz der natürlichen Auffassung der Prophetie von dem biblischen Gedanken der Sendungsprophetie verwischt sich bei ihm stark. Auch die islamischen Aristoteliker hatten sich in der Darstellung der sozialen und religiösen Funktion des Propheten dem Sendungsgedanken genähert. Wenn sie aber in dem Auftreten des Propheten die Wirkung der generellen Vorsehung sahen, die dafür Sorge trägt, daß in der Menschheit die ihr nötigen prophetischen Gesetzgeber und Lehrer erscheinen [R404], so überträgt Ibn Daud dasselbe ganz in die Sprache der Sendungsprophetie, indem er lehrt, daß Gott mit Rücksicht auf diejenigen, die zu eigener Erkenntnis nicht befähigt sind, auserwählte Menschen dazu bestimmt, ihnen seine Gebote mitzuteilen und sie zu einem vollkommenen Leben anzuleiten [R405]. So erscheint nicht nur in seiner Darlegung der Bedingungen des wahren Propheten dieser ganz als der Gottesgesandte, er kann schließlich die durchaus auf den universalen Charakter der Prophetie abgestellte Offenbarungstheorie der Aristoteliker mit dem Gedanken Jehuda Halewis verbinden, daß die Prophetie im eigentlichen Sinne auf Israel beschränkt und an das Heilige Land gebunden ist [R406].

Grundsätzlich entfernt er sich von den islamischen Aristotelikern in der Frage der Willensfreiheit. Diese hatten den Prädestinationsgedanken des Islam in eine philosophische Theorie von der strengen Determiniertheit des menschlichen Handelns umgebildet [R407]. Ibn Daud hält im Sinne der jüdischen Lehre an der Freiheit des menschlichen Wollens fest. Während aber die älteren jüdischen Religionsphilosophen die Allwissenheit Gottes auch auf die freien Handlungen des Menschen ausgedehnt und behauptet hatten, die Freiheit der menschlichen Entscheidungen werde dadurch nicht beeinträchtigt, daß Gott ihr Ergebnis vorher wisse, nimmt er das menschliche Handeln, in offenbarem Anschluß an Alexander von Aphrodisias, von dem göttlichen Vorherwissen aus und behauptet, daß Gott dem Handeln des Menschen gegenüber wie seine Allmacht so auch seine Allwissenheit eingeschränkt hat [R408].

Die nur sehr fragmentarisch entwickelte Ethik Ibn Dauds verschmilzt, ähnlich wie es vor ihm schon eine Anzahl islamischer und jüdischer Philosophen getan hatte, Platonische und Aristotelische Elemente. Die als Anweisung zur Glückseligkeit aufgefaßte praktische Philosophie im weitesten Verstande umfaßt wie bei Aristoteles Ethik, Ökonomik und Politik. Die Ethik wird als Tugendlehre entwickelt. Sie verbindet die Platonische Bestimmung der Tugend als des rechten Verhältnisses der Seelenteile zueinander mit der Aristotelischen Lehre von der Tugend als der rechten Mitte und deutet so die Platonischen Kardinaltugenden zugleich Aristotelisch als die Mitte zwischen den extremen Verhaltungsweisen der Seele [R409]. Diese Ethik wird mit der der Tora identifiziert. Der ganze Inhalt der praktischen Philosophie ist in der Tora in höchster Vollendung enthalten, und in der biblischen Gesetzgebung hat dieser rationale Teil die weitaus überwiegende Bedeutung. Ibn Daud beruft sich ausführlich auf die prophetische Polemik gegen den Opferkultus, um zu zeigen, daß die Bibel selbst den kultischen und ritualen Gesetzen einen weit geringeren Wert zuschreibt als den sittlichen. Er deutet sie als Mittel für die höheren, ethischen Forderungen der Bibel und schreibt ihnen selbständige Bedeutung nur insofern zu, als gerade ihr irrationaler Charakter Gelegenheit gibt, den unbedingten Gehorsam gegen das göttliche Gebot zu beweisen [R410]. Bei dem konkreten Nachweis der Identität philosophischer und biblischer Sittlichkeit entfernt er sich allerdings weit von seinem philosophischen Ausgangspunkt. Er lehrt eine religiöse Ethik der Gottesliebe und der Ehrfurcht, die mit den Grundbegriffen seiner Tugendlehre nur sehr äußerlich zusammenhängt. Ähnliche Spannungen weist auch die in Ökonomik und Politik enthaltene Gemeinschaftsethik auf. Philosophisch wird sie rein utilitaristisch konstruiert, während ihre religiöse Grundlage in dem Gebot der Nächstenliebe liegen soll [R411].

Das höchste Ziel des Menschen aber liegt außerhalb des ethischen Gebietes. Der nach unten gerichteten praktischen Seite des Vernunftvermögens, welche die niederen Seelenteile sittlich leitet und bestimmt, ist die nach oben gewandte theoretische Vernunft, die von den geistigen Wesenheiten die Erkenntnis empfängt, übergeordnet. In ihr liegt das Ziel des Menschen. Dieses Aristotelische Ideal der Erkenntnis als der eigentlichen menschlichen Vollkommenheit empfängt indessen dadurch einen veränderten religiösen Sinn, daß alle Erkenntnis dem letzten Ideal der Gotteserkenntnis untergeordnet wird. Die empirischen Wissenschaften sind nur Vorstufen für die Metaphysik, die in der Erkenntnis Gottes ihren eigentlichen Inhalt hat. Die Erkenntnis Gottes und die in ihr gegründete Gottesliebe bilden die Bestimmung des Menschen, der in ihnen seine Vollendung und Glückseligkeit erlangt [R412].

c) Moses Maimonides

Die geistigen Welten, deren Gegensatz sich bei Ibn Daud verhüllt und abgestumpft hatte, will Maimonides zu innerlichem Ausgleich bringen. Er setzt die Kraft eines durchdringenden, weitausgreifenden Denkens daran, den Aristotelismus auf den Boden des Judentums zu verpflanzen. Aber während die Philosophie Ibn Dauds den Eindruck macht, als sei Ġazalis und Jehuda Halewis Auseinandersetzung mit dem Aristotelismus eindruckslos an ihm vorübergegangen, stellt Maimonides den Gegensatz zwischen dem Aristotelismus und der biblischen Offenbarungsreligion mit voller Schärfe heraus, um ihn in einer wirklichen Synthese zu überwinden. Durch diese große Leistung ist er zu dem philosophischen Führer des späteren jüdischen Mittelalters geworden. Die von ihm gestellten Probleme sind von seinen Nachfolgern immer aufs Neue aufgenommen worden. Sie haben sich mit seinen Lösungen nicht begnügt, sondern die Einheit von Religion und Philosophie auf anderen Linien zu erreichen oder den Aristotelismus grundsätzlich zu überwinden gesucht. Aber diese sich durch drei Jahrhunderte hindurchziehende Entwicklung ist ganz von Maimonides beherrscht. Er hat nicht nur die Grundlage für die weitere philosophische Arbeit geschaffen, sein Werk bleibt in ihrem Fortgange in aktueller Gegenwärtigkeit lebendig. Die Arbeit an den von ihm gestellten Problemen knüpft bis über das Ende des Mittelalters hinaus, bald in kritischer Weiterführung seiner Position, bald in grundsätzlichem Gegensatz zu ihr, an ihn an. Sein Einfluß greift über den Kreis des Judentums hinaus. Die Begründer des christlichen Aristotelismus, Albertus Magnus und Thomas von Aquino, finden bei ihm den Weg zum Aufbau eines theistischen Aristotelismus vorgezeichnet, und bis tief in die ersten Jahrhunderte der Neuzeit hinein läßt sich seine Wirkung auf die christliche Philosophie verfolgen [R413].

Die Größe des Maimonides liegt nicht darin, daß er vollkommen neue Motive in die Gedankenentwicklung eingeführt hat [R414]. In seiner Auffassung des Aristotelischen Systems fußt er ganz auf den islamischen Aristotelikern Alfarabi und Ibn Sina. In der Kritik des Aristotelismus waren ihm Ġazali und Jehuda Halewi vorangegangen. Exegetisch und z. T. auch sachlich ist er den älteren jüdischen Rationalisten in manchen Einzelheiten verpflichtet. Wie allen Denkern, deren Kraft in der Synthese überlieferten Gedankengutes liegt, ist auch ihm die Originalität abgesprochen worden. Aber es gibt auch eine Originalität schöpferischer Synthese, und sie war Maimonides in hohem Maße zu eigen. Zwischen dem emanatistischen System der arabischen Aristoteliker und dem extremen Voluntarismus etwa Ġazalis geht er seinen eigenen, selbstgebahnten Weg, den er in reifer, durchdachter Bearbeitung aller gegebenen Denkmotive gefunden hat. Ein solcher Weg mag auch von anderen gesucht worden sein, sein Werk war es, die sich aus der gedanklichen Lage seiner Zeit ergebenden Fragestellungen in klassischer Reife durchzubilden und zu bewältigen.

Maimonides (Mose ben Maimon 1135-1204) ist in Cordova geboren, wo sein gelehrter Vater dem Rabbinatskollegium angehörte. Als Cordova 1148 von den Almohaden erobert wurde, verließ Maimon mit seiner Familie die Stadt, wie es scheint, um dem von den fanatischen Eroberern ausgeübten Glaubenszwange zu entgehen, lebte ein Jahrzehnt in verschiedenen Städten Südspaniens und siedelte 1159 nach Fez in Nordafrika über. Was ihn veranlaßt hat, hierhin auszuwandern, wissen wir nicht; denn auch Fez stand unter der Herrschaft der Almohaden, und Maimon konnte mit seinen Angehörigen das Judentum nur im Verborgenen ausüben, wenn es auch sehr unwahrscheinlich ist, daß sie, wie dem Maimonides später nachgesagt wurde, zum Schein den Islam angenommen haben. Erst 1165 gelang es ihnen, das Almohadenreich zu verlassen. Maimonides ließ sich in Fostat bei Kairo in Ägypten nieder, wo er zunächst an dem Juwelengeschäft eines Bruders beteiligt war, sich nach dessen Tode aber dem ärztlichen Berufe widmete. Seine hervorragende talmudische Gelehrsamkeit machte ihn, noch ehe er ein offizielles Amt bekleidete, zum geistigen Führer der ägyptischen Juden. Später wurde ihm die Würde des Nagid, d. h. des Oberrichters und politischen Oberhauptes der ägyptischen Juden übertragen.

Der universale Geist des Maimonides umspannte den ganzen Umfang des damaligen Wissens und hat auf weit auseinanderliegenden Gebieten Werke von höchster Bedeutung geschaffen. Er war ein fruchtbarer medizinischer Schriftsteller und zeigt sich in seinen vielgelesenen Arbeiten als ein Forscher von kritischer Schärfe und selbständigem Urteil, wenn er auch durchaus auf dem Boden der medizinischen Tradition verbleibt [R415]. Von ungleich größerer Bedeutung sind seine talmudischen Werke, welche die Methode damaliger Wissenschaft auf das talmudische Gebiet übertragen und dem Talmudstudium dadurch eine ganz neue Gestalt gegeben haben. Sein in arabischer Sprache geschriebener Kommentar zur Mišna gibt in übersichtlicher Klarheit alles zum Verständnis des Textes Erforderliche und schickt bei komplizierten Materien der Einzelinterpretation eine zusammenfassende Darstellung der grundlegenden Begriffe und Normen voran. Auf der Höhe seiner Meisterschaft zeigt ihn sein hebräisch geschriebener Gesetzeskodex, der den Namen Mišne Tora (Wiederholung des Gesetzes) trägt. Er stellt zum erstenmal das ganze jüdische Religionsgesetz systematisch dar, trägt den unübersehbaren Stoff aus den Diskussionen des Talmud in erschöpfender Vollständigkeit zusammen und ordnet ihn nach einem bis ins Einzelne hinein durchdachten Plan. Neben begeisterter Anerkennung fand das Werk zunächst auch scharfen Widerspruch. Man tadelte an ihm, daß es die religionsgesetzlichen Bestimmungen zusammenstellte, ohne ihre Quellen anzugeben, und die Kontroversen des Talmud entschied, ohne diese Entscheidung zu begründen, und warf ihm vor, daß er durch sein Werk den Talmud verdrängen wolle. Trotz dieses Widerspruchs aber hat das großartige Werk sich schnell durchgesetzt, hat besonders bei den spanischen und orientalischen Juden maßgebende Autorität erlangt und ist zur Grundlage aller späteren Kodifikationen des jüdischen Religionsgesetzes bis zum Šulḥan ʿAruk hin geworden.

Das philosophische Erstlingswerk des Maimonides ist eine nur in hebräischer Übersetzung erhaltene kurze Erläuterung der wichtigsten logischen Termini. Sie ist schon in seinem sechzehnten Lebensjahre verfaßt und kann auf selbständige Bedeutung keinen Anspruch machen. Viele Dezennien hindurch hat er kein selbständiges philosophisches Werk mehr verfaßt und philosophische Fragen nur in seinen medizinischen und besonders in seinen talmudischen Werken berührt. In der Einleitung zu seinem Mišnakommentar, welche die historischen und dogmatischen Voraussetzungen des talmudischen Religionsgesetzes behandelt, greift er wiederholt in philosophisches Gebiet hinüber, dem Kommentar zu den Pirqe Abot, einer Sammlung ethischer Sentenzen der Mišnalehrer, schickt er eine systematische Darstellung der Grundlagen der Ethik voraus und im Anschluß an eine Mišnastelle (Sanhedrin X, I), die den Anhängern verschiedener ketzerischer Anschauungen die ewige Seligkeit abspricht, gibt er eine Zusammenstellung der allgemeinverbindlichen Lehren des Judentums, die als Ausgangspunkt aller späteren Versuche, eine Dogmatik des Judentums zu entwickeln, außerordentlich folgenreich geworden ist. Ebenso eröffnet er seinen Gesetzeskodex mit einer allgemeinverständlich gehaltenen Darstellung der Grundlehren des jüdischen Glaubens und der jüdischen Ethik, einer volkstümlichen und den herkömmlichen religiösen Vorstellungen nach Möglichkeit angepaßten Zusammenfassung seiner Religionsphilosophie. Erst 1190 hat er sein religionsphilosophisches Hauptwerk, den »Führer der Schwankenden« (Dalalat al-Ḥairin, hebr. More Nebukim) veröffentlicht.

Wie schon der Titel des Werkes ausdrückt, will er den zwischen Philosophie und Offenbarung scheinbar bestehenden Gegensatz ausgleichen und den durch ihn entweder an der Religion oder an der Philosophie Irregewordenen zum Führer werden. Aber wenn er die Einheit von Religion und Philosophie herstellen will, so bedeutet das für ihn nicht den Ausgleich zweier an sich entgegengesetzter Mächte. So scharf er die Gegensätze zwischen dem Judentum und der Aristotelischen Schulphilosophie durchschaut, so ist ihm doch die Philosophie als solche keine der Religion fremd und äußerlich gegenüberstehende Macht, bei der es sich nur um die Aufgabe des Ausgleichens und Anpassens handelt. Zwischen Philosophie und Offenbarung besteht vielmehr ein Verhältnis wesenhafter Identität, und sie herauszustellen ist sein eigentliches Anliegen. Die Überzeugung von der Einheit dieser beiden Wahrheitsformen beherrscht seit Saʿadia die jüdische Religionsphilosophie, und Maimonides ist in ihr mit seinen jüdischen Vorgängern ganz eins. Aber es handelt sich für ihn nicht nur um die Deckung des objektiven Gehalts der Offenbarungslehre und der philosophischen Erkenntnis. Die Philosophie allein ist für ihn das Mittel, sich den Gehalt der Offenbarung innerlich anzueignen. Der religiöse Glaube ist für ihn eine Form des Wissens [R416]. Das historische Wissen des Traditionsglaubens kommt an seinen Gegenstand nur äußerlich und mittelbar heran; nur dem philosophischen Wissen ist es möglich, die Gegenstände des Glaubens unmittelbar zu ergreifen. Indem der Intellektualismus dieses Glaubensbegriffs die Stufen philosophischen Wissens zugleich zu Stufen religiöser Gewißheit macht, bindet er die religiöse Verinnerlichung an die philosophische Vertiefung [R417]. Die Philosophie hat die Religion nicht nur zu ihrem Gegenstande, sie ist vielmehr das zentrale Element der Religion selbst; sie ist, wie sich weiter zeigen wird, der Weg, der uns zu Gott hinführt. So sieht Maimonides seine philosophische Aufgabe zugleich als eine religiöse, und das Pathos dieses religiösen Rationalismus ist der Grundton des More Nebukim.

Diese rationalistische Grundüberzeugung des Maimonides gewinnt freilich durch seine in der Einleitung zum More dargelegte Auffassung von der Natur der metaphysischen Erkenntnis eine eigentümliche Färbung. Die Gegenstände der Metaphysik und die an sie angrenzenden Prinzipien der Naturwissenschaft sind uns nicht in derselben Weise bekannt wie die Tatsachen der empirischen Wirklichkeit. Wir vermögen sie nicht wie diese in dauernder Klarheit festzuhalten, die metaphysische Wahrheit leuchtet uns nur in vereinzelten Momenten blitzartig auf, um unserem Geist bald wieder zu entschwinden. Philosophische und prophetische Erkenntnis hat diesen Charakter momentaner Erleuchtung gemeinsam, und ihm entspricht auch hier wie dort die Darstellung der metaphysischen Wahrheit. Wenn die Propheten sie nur bildlich und gleichnishaft darstellen, so hat das, unabhängig von der Rücksicht auf die Menge, Welche die Wahrheit in ihrer reinen Gestalt nicht zu erfassen vermag, seinen Grund in der Natur dieser Wahrheit selbst, die sich einer planen, begrifflichen Explikation entzieht. Die Philosophie hat eine solche Darstellung zwar versucht, aber auch ihr hat die Natur des Gegenstandes verwehrt, dieselbe wissenschaftliche Deutlichkeit zu erreichen wie andere Wissensgebiete [R418]. Diese Auffassung der metaphysischen Erkenntnis als momentaner Intuition, die sich ähnlich auch bei islamischen Aristotelikern, insbesondere Ibn Ṭofail findet, macht es verständlich, wie Maimonides Metaphysik und Naturwissenschaft mit den Geheimwissenschaften des Talmud vom göttlichen Thronwagen und dem Schöpfungswerk identifiziert [R419]. Man versteht es auch, daß die Intuition des Propheten eine erhöhte Form der philosophischen ist. In auffälligem Gegensatz steht dieser letztlich wohl auf neuplatonische Mystik zurückgehende Erkenntnisbegriff zu der mit höchster Klarheit durchgeführten Form metaphysischer Deduktion, die Maimonides in seinem Werk verwirklicht. Die Aristotelische Idee strenger begrifflicher Deduktion bestimmt nicht nur die Form seines Denkens und seiner Darstellung, auch für sein Bewußtsein ist die Wahrheit der Metaphysik vorherrschend als wissenschaftliche Wahrheit bestimmt. Aber damit verbindet sich das andere Bewußtsein, daß ein Letztes und Tiefstes dem rein diskursiven Denken nicht zugänglich ist, ohne daß es im Einzelnen deutlich wird, wie sich im metaphysischen Erkennen Begriff und Intuition verschlingen oder wo sie in einander übergehen. Das Verhältnis von Philosophie und Religion wird durch diese überbegriffliche Seite der Erkenntnis, grundsätzlich wenigstens, nicht geändert, denn auch diese Seite des Erkennens ist prophetischer und philosophischer Erkenntnis gemeinsam. Auch die Prophetie schließt die begriffliche Erkenntnis der Philosophie in sich, und das diskursive Denken der Philosophie schlägt in die blitzartige Erleuchtung des Intellektes um, die freilich graduell hinter der prophetischen zurückbleibt. Gerade weil die Philosophie beide Momente in sich vereinigt, ist sie mit der Religion wesenseins und das einzige uns zu Gebote stehende Mittel, die Gegenstände des Glaubens direkt zu erfassen [R420].

Um die Einheit religiöser und philosophischer Wahrheit aufzuweisen, muß Maimonides die Umbildung des Aristotelismus vornehmen, die seine wichtigste philosophische Leistung ist. Bevor er aber zu dem Punkte kommt, an dem sich die Wege scheiden, geht er ein großes Stück mit der überlieferten Form des Aristotelismus zusammen. Das Dasein Gottes beweist Maimonides ganz mit den Mitteln des Aristotelismus. Während der Kalam zunächst die zeitliche Entstehung der Welt bewiesen hatte, um dann auf das Dasein eines Weltschöpfers zu schließen, will Maimonides den Nachweis des Daseins Gottes von der strittigen Frage, ob die Welt ewig oder zeitlich entstanden ist, unabhängig machen und geht bei seinen Gottesbeweisen hypothetisch von der Weltewigkeit aus, um zu zeigen, daß auch unter dieser Voraussetzung die Existenz Gottes gewiß ist [R421]. Die Beweise des Kalam lehnt er als tendenziöse Scheinbeweise in rücksichtsloser Kritik ab und will selber den Boden der strengen Wissenschaft, d. h. der Aristotelischen Metaphysik, nicht verlassen. Die Beweisführung ist im wesentlichen mit der bereits von Ibn Daud her bekannten identisch, wenn sie auch mit ungleich größerer Feinheit durchgebildet ist. Auch Maimonides beginnt mit dem Aristotelischen Beweise für das Dasein eines ersten unbewegten Bewegers und schließt an ihn den der islamischen Aristoteliker, daß das an sich bloß mögliche Dasein der Dinge ein Wesen von notwendiger Existenz voraussetzt. Zwei weitere Beweise bringen nichts grundsätzlich Neues. Der eine, in seinem Kern bereits bei Aristoteles vorhandene, schließt aus der Tatsache, daß es neben Dingen, die zugleich bewegen und bewegt sind, auch solche gibt, die nur bewegt sind, ohne zu bewegen, rein formalistisch, es müsse auch ein Wesen geben, das nur bewegt, ohne bewegt zu sein. Der andere geht, statt von der Tatsache der Bewegung der Dinge, von ihrem Übergang aus der Potenzialität in die Aktualität aus, der ein außerhalb des sich verändernden Dinges liegendes aktualisierendes Prinzip voraussetzt. Aus der Unmöglichkeit einer unendlichen Kausalreihe wird, ganz analog wie im ersten Beweise auf einen ersten Beweger, hier auf ein erstes aktualisierendes Prinzip geschlossen, das von jeder Potenzialität frei, also immaterieller Art sein muß [R422]. Wie bei Ibn Daud wird auch bei Maimonides der Ursprung des Weltganzen aus Gott nur durch den Schluß aus der Möglichkeit der Dinge erwiesen. Aus dem Weltbeweger des ersten Arguments wird in diesem Beweise der Grund des Seins der Dinge. Gleich der Körperwelt haben auch die immateriellen Beweger der Himmelssphären ihren Ursprung in Gott, weil es nur ein einziges Wesen von notwendiger Existenz geben kann und weil allgemein bei immateriellen Wesenheiten eine Vielheit nur derart möglich ist, daß eines die Ursache des anderen ist [R423]. Der Schluß von dem bloß möglichen Sein der Dinge auf ein ihnen zugrunde liegendes notwendiges Wesen tritt in seiner Eigenart reiner und schärfer heraus als bei Ibn Daud, bei dem er mit dem Gedanken, daß die Reihe der Ursachen in eine erste Ursache auslaufen müsse, ineinanderging. Maimonides schließt auf einen seinem Wesen nach notwendigen Weltgrund nicht aus der Unmöglichkeit einer unendlichen Ursachenreihe, sondern zeigt, daß die Welt nicht sein könnte, wenn es nicht ein Sein gäbe, dessen Wesen die Nichtexistenz ausschließt. Dieser positive Begriff der notwendigen Existenz findet seine prägnanteste Fassung in dem von Ibn Sina übernommenen Gedanken, daß die Existenz, die bei allen anderen Gegenständen als eine akzidenzielle Bestimmung zum Wesen hinzutritt, bei Gott mit dem Wesen eins ist [R424]. Dieser oberste Grund alles Seins ist von schlechthinniger Einfachheit; denn jedes Wesen, das eine Mehrheit von Bestimmungen besitzt, hat diese Bestimmungen und ihre Vereinigung zur Voraussetzung und hört dadurch auf, ein Letztes zu sein [R425].

Damit ist der Begriff von Gott als dem schlechthin einfachen Wesen erreicht, der jede positive Bestimmung Gottes unmittelbar ausschließt. An dieser zentralen Stelle folgt Maimonides ganz der Tradition, die vom Neuplatonismus her in den islamischen Aristotelismus eingedrungen ist. Sein Gottesbegriff ist da, wo er ihn systematisch expliziert, seiner formalen Struktur nach mit den neuplatonischen identisch, und er geht in der Konsequenz, mit der er ihn durchführt, noch über seine islamischen Vorbilder hinaus. Seine berühmte Behandlung der Lehre von den göttlichen Attributen ist die energischste und durchgearbeitetste Fassung dieser Theorie, welche die islamische und jüdische Philosophie besitzt. Maimonides lehrt im Prinzip nichts anderes, als was auch schon eine Reihe seiner jüdischen Vorgänger vertreten hatte, aber er ist durch die begriffliche Schärfe und die in die Tiefe dringende systematische Konsequenz, mit der er die gegebenen Grundgedanken durchführt, zu ihrem klassischen Vertreter in der jüdischen Philosophie geworden. Was ihn zu der Übernahme des neuplatonischen Gottesbegriffs veranlaßt, ist ersichtlich die scheinbar unentrinnbare formale Konsequenz, mit der der Neuplatonismus den Gedanken der abstrakten Einheit entwickelt und auf die Gottesvorstellung überträgt. Dieser Begriff der Einheit schließt jede Mannigfaltigkeit aus, die begrifflicher Bestimmungen so gut wie die realer Teile. Was eine Mehrheit begrifflicher Momente aufweist, ist aus ihnen zusammengesetzt und kein wahrhaft Eines mehr. Zugleich aber schien die religiöse Forderung, den Gottesbegriff von jeder sinnlichen Trübung zu befreien, hier ihre radikalste Erfüllung zu finden. So ist für Maimonides diese Umbildung der Gottesvorstellung nicht eine Konzession an die Wissenschaft, sondern die philosophische Sublimierung des Gottesgedankens ist für ihn eine religiöse Forderung, sie allein kann den wahren Sinn der religiösen Idee des einen Gottes erfassen.

Der kritische Teil der Attributenlehre des Maimonides, der Nachweis der Unmöglichkeit positiver Attribute Gottes, ist im Grunde nur die Entfaltung der in dem dargelegten Gottesbegriff enthaltenen Konsequenzen. Die schlechthinnige Einfachheit Gottes schließt jede Aussage über ihn aus, so gewiß jede Aussage kraft der Zweiheit von Subjekt und Prädikat die Verknüpfung einer Mehrheit begrifflicher Bestimmungen involviert. Dieser einfache Grundgedanke wird zu voller Evidenz gebracht, indem er an den verschiedenen Möglichkeiten positiver Aussagen über Gott konkret erläutert wird. Die Eigenschaften, die wir Gott zuschreiben, können nicht von seinem Wesen verschieden sein, da sonst durch die Vereinigung von Wesen und Eigenschaften eine Vielheit in Gott gesetzt wäre [R426]. Sie können ebensowenig dem göttlichen Wesen angehören, da sonst dieses Wesen selbst eine Mehrheit von Bestimmungen in sich enthielte. Eine Bestimmung des göttlichen Wesens ist weder im Sinne einer strengen Definition, d. h. einer Zurückführung des definierten Begriffs auf seine Bedingungen, die nur bei einem bedingten Wesen, noch durch Angabe einzelner Wesensmerkmale, die nur bei einem zusammengesetzten Wesen stattfinden kann, möglich [R427]. Jede positive Aussage über das göttliche Wesen kann also über die Tautologie, daß Gott Gott ist, nicht hinausführen. Die Auskunft des Kalam, daß Gott Attribute besitze, die aber mit seinem Wesen eins seien, weist Maimonides als eine verhüllte Form zurück, Gott positive Eigenschaften zuzuschreiben [R428]. Selbst die formalen Bestimmungen der Einheit und Existenz können nicht als positive Eigenschaften Gottes anerkannt werden, da bei Gott beide mit dem Wesen eins sind und nicht als etwas von ihm Abzusonderndes zu ihm hinzutreten [R429]. Gott kann auch nicht durch Relationen zwischen ihm und den Dingen bestimmt werden. Wenngleich die Annahme solcher Relationen die Einheit Gottes nicht berührt, so schließt doch die absolute Verschiedenheit des Wesens Gottes von dem aller anderen Dinge jede Relation des Vergleichs, die in sich allein ruhende Selbständigkeit seines Seins jede Seinsbeziehung zwischen ihm und den Dingen aus. Die einzige positive Aussage, die wir über Gott machen können, besteht in der Angabe der von Gott ausgehenden Wirkungen. Da wir Gott als die oberste Ursache des Seins erkennen, ihn allein so erkennen können, muß diese letzte Kategorie von Aussagen möglich bleiben [R430].

Aus dieser Ablehnung jeder positiven Erkenntnis Gottes ergibt sich die Notwendigkeit, die in der Bibel enthaltenen Aussagen über Gott ihrem wahren Sinne nach zu interpretieren. Maimonides geht auch hier denselben Weg wie seine jüdischen und islamischen Vorgänger, wenn er die positiven Aussagen der Bibel über Gott teils als positive Ausdrucksform für Aussagen, die ihrem Wesen nach negativer Natur sind, teils als Aussagen nicht über das Sein, sondern über das Wirken Gottes versteht. Aber die überlegene Kraft in der Durchführung des Prinzips zeigt sich hier auf ihrem Höhepunkte. Die Aufgabe, die hier zu lösen ist, ist nicht bloß, wie es auf den ersten Blick erscheinen kann, eine exegetische, sondern eine eminent philosophische. Es gelangt hier zur Bestimmung, was trotz der Unmöglichkeit positiver Aussagen über Gott doch von ihm wißbar ist. Für die Lehre von den Attributen der Wirkung ist bereits in dem vorhin Gesagten die Grundlage gelegt. Um sie ganz aufzubauen, bedarf es nur noch der Hinzufügung, daß die Mannigfaltigkeit der Wirkungen keinerlei Vielheit in dem wirkenden göttlichen Prinzip voraussetzt; es ist dasselbe einfache göttliche Wesen, von dem die unendliche Fülle göttlichen Wirkens ausgeht. Die verschiedenen Seiten dieses Wirkens werden durch die Attribute der Wirkung bezeichnet. In diese Kategorie gehören auch die im engeren Sinne anthropomorphen Aussagen über Gott; nicht nur der Zorn, auch die Liebe und das Erbarmen Gottes beschreiben nur sein Wirken [R431]. Die Lehre von den negativen Attributen hat zu zeigen, daß diejenigen Aussagen über Gott, die sich auf sein Wesen beziehen, ihrer wirklichen logischen Bedeutung nach negativer Natur sind. Sie beantwortet zugleich aber auch die Frage nach dem Erkenntniswert solcher rein negativer Erkenntnis. Maimonides zeigt, daß es im Bereich der empirischen Erkenntnis möglich ist, ein Objekt mit fortschreitender Genauigkeit dadurch zu erfassen, daß immer mehr Bestimmungen von ihm ausgeschlossen werden. In der empirischen Welt, die in ein überschaubares Bereich von Gattungen und Arten zerfällt, führt die Reihe der Exklusionen schließlich zu einer positiven Bestimmung hin. Bei Gott ist das ausgeschlossen, aber auch bei ihm wächst unsere Erkenntnis, je mehr es uns gelingt, falsche, unangemessene Bestimmungen von ihm fernzuhalten und seine Verschiedenheit von jeder anderen Art des Seins zu begreifen. Die spezifische Funktion dieser negativen Erkenntnis liegt darin, alle Unvollkommenheiten aus der Gottesvorstellung auszuscheiden. Wir erkennen Gott durch die Negation der Privationen: wir unterscheiden ihn von der Gesamtheit der Körperwelt durch das Prädikat der Unkörperlichkeit, von der Gesamtheit des Seins überhaupt durch das Prädikat der Ursachlosigkeit, das sich hinter dem positiven Attribut der Ewigkeit verbirgt. Die durchgehende Interpretation aller Aussagen über das göttliche Wesen in diesem Sinne greift über eine Deutung der spezifisch religiösen Bestimmungen Gottes in der Bibel weit hinaus. Selbst die letzten philosophischen Elemente des Gottesbegriffs verlangen eine veränderte Auffassung. Existenz und Einheit, die bei Gott mit seinem Wesen identisch sind, können nicht als gesonderte, positive Attribute von ihm ausgesagt werden. Wenn wir ihn als existierend bezeichnen, sprechen wir ihm nur das Nichtsein, wenn wir ihn eins nennen, nur die Vielheit ab [R432]. Die Theorie der Attribute vollendet sich, indem beide Seiten, die Lehre von den Wirkungsattributen und den negativen Attributen, ineinandergreifen. Um Gott als die selbstgenugsame Ursache alles Seins zu bestimmen, müssen wir sein Wesen über alle Unvollkommenheiten erheben, die sein Wirken beeinträchtigen könnten. Das Prädikat der Allmacht hat als Wesensprädikat die negative Bedeutung, jede Ohnmacht von Gott auszuschließen, aber es besagt zugleich positiv, daß die höchste und vollkommenste Wirkung von Gott ausgehen kann. Kraft seines schlechthin einfachen Wesens ist Gott die Ursache der vollkommensten Wirkung. Die Tatsache dieses Wirkens können wir positiv feststellen, ihren Ursprung in dem göttlichen Wesen dagegen nur dadurch bezeichnen, daß wir jede Unvollkommenheit des Wirkens von ihm ausschließen. In gleicher Weise verbinden sich diese beiden Momente im Begriffe der göttlichen Allwissenheit. Er schließt jede Unwissenheit von Gott aus und bestimmt damit das göttliche Wesen so, daß es als Ursache sinnvollen und planmäßigen Wirkens gedacht wird [R433]. So stellt sich Gott als die ihrem Wesen nach unfaßbare Ursache des vollkommensten Wirkens dar, und Maimonides kann als das letzte Resultat seiner Analyse die Feststellung ansehen, daß wir von Gott nichts als die Tatsache seiner Existenz zu erfassen vermögen.

Wieweit Maimonides im Aufbau seines Systems an diesem Gottesbegriffe festhält, kann hier noch nicht erörtert werden. Aber bereits in der systematischen Entwicklung des Gottesbegriffes selbst findet sich ein Lehrstück, das von dem so scharf durchgearbeiteten Neuplatonismus dieser Theologie befremdlich absticht. Maimonides legt den Aristotelischen Begriff von Gott als dem höchsten Denken eingehend dar und zeigt, daß die in allem aktuellen Denken vorhandene Identität von Denken, Denkendem und Gedachtem gestattet, Gott das Denken zuzuschreiben, ohne damit die Einheit seines Wesens zu gefährden [R434]. Er zeigt späterhin ausführlich, daß das Wissen Gottes sich auf alle Einzelheiten der Welt erstreckt, und wenn er hier auch den äußeren Anschluß an seine Attributenlehre herzustellen sucht, indem er lehrt, dieses mit dem Wesen Gottes identische Wissen habe mit dem unseren nur den Namen gemeinsam, so spricht er doch in Wahrheit hier Gott ein Wissen zu, das bei aller Wesensverschiedenheit von dem unseren doch Wissen bleibt [R435]. Es scheint zunächst, als ob der Aristotelische Gottesbegriff hier ganz unvermittelt neben dem neuplatonischen steht, der wie alle positiven Attribute auch das des Wissens von Gott ausschließt. Allein mitten in der Polemik gegen die positiven Attribute spricht Maimonides davon, daß Gott seine Geschöpfe kennt, und selbst da, wo er die Allwissenheit Gottes negativ dahin interpretiert, daß sie nur das Nichtwissen von Gott negiert, fährt er fort, daß in dieser Negation des Nichtwissens Bewußtsein gesetzt sei [R436]. Es ist undenkbar, daß Maimonides in einem Gedankenzusammenhang von einer Gottesvorstellung in eine ganz andere übergeht. In Wirklichkeit liegt hier auch kein Wandel seiner Anschauungen vor, sondern bei aller Schärfe, mit der er formal die neuplatonische Gottesvorstellung begründet, hat er sich ihren Gehalt doch von Anfang an nicht zu eigen gemacht. Die neuplatonische Gottesvorstellung selbst darf freilich nicht allein nach ihrer begrifflich formalen Struktur beurteilt werden. Auch wenn sie jede Möglichkeit logischer Bestimmung des göttlichen Wesens negiert, ist sie doch von dem Bewußtsein getragen, daß dieser negativen Form der Gotteserkenntnis ein Gehalt von höchster Positivität zugrunde liegt. Gerade wenn selbst das Sein und die Einheit Gottes negativ gedeutet werden, wird dies vollkommen evident. Wenn Plotin und in anderer Wendung die islamische Philosophie Gott noch über das Sein hinausheben, so sollen nur die Schranken des Seinsbegriffs damit von ihm ausgeschlossen werden. Um bei der von Maimonides angenommenen Form des Gedankens zu bleiben: wir können Gott das positive Prädikat des Seins nicht zuschreiben, weil bei ihm nicht wie bei allem anderen Seienden Sein und Wesen auseinanderfallen, sondern weil sein Wesen das Sein in sich schließt. Wenn wir uns deshalb mit der negativen Aussage begnügen müssen, die Gott das Nichtsein abspricht, so liegt doch in dieser negativen Aussage, daß Gottes Wesen das in höchster Form in sich enthält, was wir sonst als Sein bezeichnen. Ebenso wird Gott, noch über Plotin hinausgehend, die Einheit nur darum nicht positiv zugesprochen, weil er kraft seines Wesens in einem strengeren Sinne eins ist als das positive Attribut der Einheit bezeichnen kann. Den gleichen Gesichtspunkt wendet Maimonides auch auf das Prädikat des Wissens an. Daß wir Gott das Wissen nicht als positives Attribut beilegen, bedeutet für ihn nicht, was es für Plotin bedeutet hat, daß das Bewußtsein schlechthin Gott nicht zukommt. Wir negieren von Gott auch das Nichtwissen und drücken damit aus, daß er kraft der schlechthinnigen Einheit seines Wesens in einem höchsten und absoluten Sinn wissend ist, für den das positive Attribut des Wissens nicht ausreicht. Darauf zielt Maimonides wohl auch hin, wenn er sich einmal die Formel des Kalam zu eigen macht: Gott wisse, aber nicht durch Wissen, und sei mächtig, aber nicht durch Macht [R437]. Die der neuplatonischen Gotteslehre zugrunde liegende Idee, durch die Ausschließung jeder begrifflichen Bestimmtheit auf die höchste Fülle des Seins hinzuweisen, wird von Maimonides verwendet, um dieses höchste Sein zugleich auch als höchstes Bewußtsein zu fassen. Wir können die absolute Vollkommenheit Gottes logisch nur durch den Ausschluß aller Unvollkommenheiten bezeichnen. Aber Maimonides hat das Bewußtsein, daß diese Vollkommenheit alles umfaßt, was wir Gott nicht als selbständiges Attribut zusprechen dürfen, und daß die negative Form der Gotteserkenntnis ihren Gehalt unangetastet läßt. Gewiß bleibt es bei alledem noch eine Inkonsequenz, wenn mit der Aristotelischen Vorstellung von Gott als dem höchsten Denken nun auch das Denken im positiven Sinne wieder in die Gottesvorstellung aufgenommen wird. Aber man versteht jetzt, wie diese Inkonsequenz möglich ist, und zugleich, wie Maimonides und wie ähnlich schon die älteren jüdischen und islamischen Denker in dem Gottesbegriff des Neuplatonismus den wissenschaftlichen Ausdruck für ihren Gottesglauben erblicken konnten [R438].

Der sittliche Gottesbegriff der Bibel ist damit freilich noch nicht erreicht. Maimonides kann ihn in seiner Gotteslehre nur unterbringen, indem er die sittlichen Eigenschaften Gottes nicht als Aussagen über das Wesen, sondern über das Wirken Gottes versteht. Die sittlichen Attribute Gottes sind ein Teil der Attribute des Wirkens, die als einzige positive Form der Aussage über Gott zulässig sind. Aber an dieser Stelle, an der er den sittlichen Gottesbegriff der Bibel dem neuplatonischen unterordnet, schlägt seine Betrachtungsweise in eigentümlicher Weise um, wenn er den Gedanken dahin wendet, daß wir uns mit der Erkenntnis des göttlichen Wirkens getrost begnügen können, weil der Sinn aller Erkenntnis Gottes nicht in der theoretischen Erfassung seines Wesens, sondern in der Erkenntnis seines sittlichen Wirkens liegt, die uns das Vorbild der Sittlichkeit offenbart [R439]. Aber so gewiß der sittliche Gottesgedanke des Judentums sich in dieser Auffassung vom Sinn der Gotteserkenntnis sein Recht verschafft, so reicht er doch nicht aus, um die Gotteslehre von sich aus durchzugestalten, sondern muß sich mit dem Ort begnügen, den ihm die neuplatonische Gottesvorstellung freiläßt.

Die Stelle, an der Maimonides seine prinzipielle Auseinandersetzung mit dem Aristotelismus vollzieht, ist die Schöpfungslehre. In seiner Kritik der Aristotelischen Lehre von der Ewigkeit der Welt hebt er mit sicherer Bestimmtheit hervor, daß ihr grundsätzlicher Gegensatz zu der jüdischen Schöpfungslehre nicht die Frage betrifft, ob die Welt ewig ist oder einen zeitlichen Anfang hat, sondern die, ob sie notwendig aus Gott folgt oder frei von ihm geschaffen ist [R440]. Der Begriff der freien Schöpfung ist für ihn allerdings an die zeitliche Entstehung der Welt gebunden, und in dem Versuch, das ewige Hervorgehen der Welt aus Gott als ein ewiges Wirken des göttlichen Willens zu begreifen, sieht er nur eine Verschleierung des Gegensatzes zwischen notwendigem Folgen und freiem Schaffen [R441]. Von diesem Gegensatze hängt es ab, ob Gott die Welt als ihr souveräner Herr nach seinem Willen gestaltet, oder ob er an die ewigen Ordnungen der Welt unverbrüchlich gebunden ist. Maimonides' Behandlung des Problems ist von dem Gedanken geleitet, an die Stelle des Aristotelischen Systems der Notwendigkeit ein System der Freiheit zu setzen, das der Souveränität Gottes und damit dem voluntaristischen Charakter der jüdischen Gottesvorstellung entspricht.

Die von ihm bekämpfte Theorie von der Weltewigkeit hat die ursprüngliche Aristotelische Vorstellung von einer ewig neben Gott stehenden Welt in den Gedanken einer von Ewigkeit her aus Gott hervorgegangenen Welt umgebildet. Die von Maimonides bekämpfte Fassung der Theorie hat, soweit seine in diesem Punkte nicht ganz deutliche Darstellung erkennen läßt, mit dem Aristotelischen Dualismus auch insofern gebrochen, als sie die Materie nicht als ein selbständiges Prinzip neben Gott stellt, sondern sie mit in die Emanationsreihe einbezieht. Gleichwohl verwertet sie gegen die Annahme einer zeitlichen Weltentstehung die auf den dualistischen Voraussetzungen des Aristoteles beruhenden Argumente, die dem Naturbegriff entnommen sind. Nach Aristoteles kann z. B. die Bewegung nicht als entstanden gedacht werden, weil das Entstehen der Bewegung als ein Übergang von der Potenzialität zur Aktualität selbst eine Bewegung ist, der angeblich ersten Bewegung also eine andere vorangehen müßte, für die wiederum dasselbe gilt, so daß sich ein unendlicher Regreß ergibt. Ebenso ist ein Werden der Materie nicht möglich, weil nach der Aristotelischen Theorie des Werdens die Materie Voraussetzung alles Werdens ist, so daß dem Entstehen der angeblich ersten Materie eine andere vorangehen müßte [R442]. Mit dieser von den Bedingungen des Naturgeschehens ausgehenden Reihe von Argumenten verbinden die islamischen Aristoteliker eine von dem Neuplatoniker Proklos herrührende andere, die aus dem Begriff des göttlichen Wirkens ableitet, daß es als ewig gedacht werden muß. Hätte das Schaffen Gottes einen Anfang, so wäre er aus der Möglichkeit des Wirkens in die Aktualität übergegangen. Mit der unveränderlichen Aktualität Gottes ist nur eine Ewigkeit seines Wirkens vereinbar. Seinem Kern nach fällt damit der weitere Beweis zusammen, daß nur ein Wesen, dessen Wirken von äußeren Bedingungen abhängt, zu einer Zeit wirkt, zu anderer nicht. In Gott, dessen Wirken von keinen äußeren Bestimmungsgründen verursacht wird, sondern seinen Grund allein in der Notwendigkeit seines eigenen Wesens hat, muß das Wirken so ewig wie das Wesen sein. Die in dieser Beweisführung deutlich hervortretende Tendenz, durch eine dialektische Zersetzung des Begriffs des göttlichen Wollens dieses in ein notwendiges Wirken überzuführen, offenbart sich noch klarer in dem Gedanken, daß es der göttlichen Weisheit gemäß ist, die Welt in höchstmöglicher Vollkommenheit hervorzubringen, daß dieses Maximum der Vollkommenheit aber nur in einer ewigen Welt verwirklicht sein kann [R443].

Maimonides wendet gegen beide Argumentationsreihen ein, daß sie die Bedingungen und Gesetze, die für das Werden innerhalb der Welt gelten, auch auf das Verhältnis der Welt zu Gott übertragen, ohne zu fragen, ob ihnen ein solcher absoluter Geltungswert zukomme. Die von Aristoteles selbst herstammenden Beweise widerlegen die zeitliche Entstehung der Welt, indem sie zeigen, daß alles Werden an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, die darum selbst nicht geworden sein können. Das ist für alles Werden innerhalb der Welt unwiderleglich richtig, aber es beweist nichts für die Frage nach dem Werden des Weltganzen selbst. Wer die Welt als entstanden denkt, denkt ihr Entstehen nicht so wie das natürliche Entstehen der Dinge in ihr, und es ist eine petitio principii, wenn man auf das Problem des Weltentstehens die Gesetze des innerweltlichen Werdens anwendet, mit denen ein absolutes Entstehen selbstverständlich unvereinbar ist. Maimonides nimmt dieser Kritik ihre prinzipielle Schärfe, wenn er sie auch dahin formuliert, daß die für das bereits gewordene Sein gültigen Bedingungen nicht auf das Werden desselben übertragen werden dürfen, und dies durch das Beispiel verdeutlicht, daß die Lebensbedingungen des Embryos ganz andere sind als die des fertigen Menschen [RN444]. Aber seine Intention wird durch diese unzureichende Formulierung nicht berührt. Sie wendet sich gegen den Dogmatismus, der die immanente Gesetzmäßigkeit der Natur absolut setzt und ohne Prüfung auf das Verhältnis des Weltganzen zu Gott überträgt. Denselben Fehler findet er auch in dem Versuch, von dem Begriff des göttlichen Willens aus zum ewigen Hervorgehen der Welt aus Gott zu gelangen. Der absolute Wille Gottes wird in diesem Versuch denselben Gesetzen der Motivation unterworfen, die für unseren bedingten Willen gelten. Nur für einen Willen, der von äußeren Impulsen angetrieben wird und auf äußere Ziele gerichtet ist, kann es gelten, daß er je nach dem Auftreten solcher bestimmenden Momente einem zeitlichen Wandel unterworfen ist. Gegenüber dem absoluten Willen Gottes, auf den kein äußeres Motiv einwirken kann, ist die Frage unberechtigt, was ihn veranlaßt, zu einer Zeit zu wirken, zu einer anderen nicht. Er bleibt derselbe, auch wenn er kraft seiner Spontaneität einen bestimmten Zeitpunkt seines Wirkens wählt. Das notwendige Hervorgehen der Welt aus Gott läßt sich nur beweisen, wenn man die Gesetze innerweltlicher Notwendigkeit auch auf Gott ausdehnt [RN445].

Seine Kritik an der gegnerischen Beweisführung unterstützt Maimonides durch einen tiefdringenden Nachweis der Schwierigkeiten, in welche die Emanationstheorie sich verwickelt. Der Grundgedanke seiner sehr ins Einzelne der damaligen Naturauffassung eingehenden Beweisführung ist der, daß die Emanationstheorie der Aristoteliker nicht, wie sie es ihrem Wesen nach müßte, imstande ist, über den Grund der konkreten Bestimmtheit des Wirklichen Rechenschaft abzulegen. Maimonides erkennt an, daß es Aristoteles gelingt, die gegebene Ordnung der sublunaren Welt durch deren Abhängigkeit von der Welt der Himmelssphären zu erklären. Daß die allen Körpern der irdischen Welt gemeinsame Materie eine Reihe verschiedener Formen annimmt und daß die so entstehenden Körper in bestimmter Ordnung aufeinanderfolgen, läßt sich mit allen weiteren daraus folgenden Komplikationen aus dem Einfluß der Himmelssphären ableiten. Eine analoge Mannigfaltigkeit aber besteht in der Welt der Himmelssphären selbst. Trotzdem auch sie eine und dieselbe Grundmaterie besitzen, weisen sie sowohl in bezug auf die zu den einzelnen Sphären gehörigen Gestirne wie in bezug auf Richtung und Schnelligkeit der Bewegung eine Fülle von Verschiedenheiten auf. Auch hier erhebt sich die Frage, was die gleiche Materie bestimmt hat, sich zu so verschiedenen Gestaltungen zu differenzieren oder, wie die Frage im Sinne des Aristotelischen Systems zu stellen ist, so verschiedene Formen anzunehmen. Die Frage verschärft sich noch dadurch, daß in dieser Mannigfaltigkeit keine rationale Ordnung erkennbar ist, daß z. B. Sphären von schneller und von langsamer Bewegung ohne erkennbare Ordnung miteinander abwechseln [RN446]. Wir stehen hier vor einer Mannigfaltigkeit letzter Gegebenheiten, für die es innerhalb der Körperwelt keine weitere Ursache mehr geben kann. Maimonides zeigt weiter, daß diese Mannigfaltigkeit auch nicht durch den Rückgang auf die in der Emanationsreihe der Aristoteliker vorhergehenden immateriellen Wesenheiten erklärbar ist. Wenn, wie es die Emanationstheorie lehrt, aus einem einfachen Wesen immer nur ein einfaches hervorgehen kann, so muß auch das letzte Glied einer solchen Reihe wieder ein einfaches Wesen sein. Wie aus diesen einfachen Wesenheiten überhaupt körperliche Gegenstände wie die Himmelssphären emanieren, wie vollends aus diesen einfachen Vernunftwesen außer den Sphären noch die an ihnen befestigten Gestirne hervorgehen können, ist an sich schon unerklärlich. Am allerwenigsten aber kann man verstehen, wie auf dem Wege einer solchen Emanation die rational völlig unbegreifbare Mannigfaltigkeit im Aufbau der Himmelssphären sich ergeben soll. Lediglich als Setzung des göttlichen Willens ist diese gegebene Ordnung des Himmels erklärbar [RN447].

Maimonides hebt selber die Verwandtschaft dieser Beweisführung mit einem der Schöpfungsbeweise des Kalam hervor. Nach dem Kalam läßt sich die gegebene Bestimmtheit der Welt in allen ihren Teilen von der Farbe einer Blüte bis zur Gestalt der Gestirne nicht als notwendig begreifen. Jedes Ding könnte ebensogut anders sein als es tatsächlich ist. Daß es gerade eine bestimmte Beschaffenheit hat, kann nur das Werk eines freien Willens sein, der eben diese von allen Möglichkeiten ausgewählt hat [RN448]. Ġazali verdeutlicht diesen Gedanken speziell auch durch die Verschiedenheit der Gestirnbewegungen. Auch der Beweis des Maimonides, daß der Übergang von den immateriellen Wesenheiten zu den Himmelskörpern der Emanationstheorie nicht geglückt ist, ist ähnlich schon von Ġazali geführt worden. Man hat darum der Beweisführung des Maimonides die Selbständigkeit abgesprochen [RN449]. In Wirklichkeit zeigt ein genauerer Vergleich mit dem Kalam, daß das Ziel und der Sinn der Beweisführung bei Maimonides durchaus andere sind. Schon der Begriff der Zufälligkeit, von dem aus er argumentiert, unterscheidet sich grundsätzlich von dem des Kalam. Für ihn ist nicht die Bestimmtheit jedes einzelnen Seins eine zufällige, weil wir uns an ihrer Stelle auch eine beliebige andere denken könnten; die Welt ist für ihn ein gesetzmäßig zusammenhängendes Ganze, und ihre gesetzmäßige Verfassung, nicht die bloße Denkbarkeit, ist das Kriterium dafür, was in ihr möglich ist und was nicht. Seine Frage konzentriert sich darum auf die letzten Bedingungen des Weltgeschehens, von denen alles Weitere in gesetzmäßiger Ordnung abhängt. Auch in bezug auf sie aber schließt er nicht aus der Tatsache ihrer Zufälligkeit als solcher auf ihre Abhängigkeit von einer göttlichen Willenssetzung. Die logische Unableitbarkeit dieser Bedingungen ist ihm vielmehr unmittelbar nur ein Argument gegen die Emanationstheorie. Die Theorie der Emanation verlangt, daß die Welt sich logisch deduzieren läßt. Wenn die Körperwelt, oder zunächst ihr Ausgangspunkt in den Himmelssphären, notwendig aus den reinen intellektuellen Wesenheiten hervorgeht, so muß auch ihre Verfassung sich rational verstehen lassen. Die Unableitbarkeit des Faktischen ist unmittelbar nur die Widerlegung des Rationalismus der Emanationslehre. Erst unter der Voraussetzung, daß die Welt ihren Ursprung in Gott hat, folgt weiter, daß ein freier göttlicher Willensakt ihr ihre Gestalt gegeben hat.

Maimonides spricht dieser Beweisführung keine strikte logische Stringenz zu. Wenn er auch die Gründe für die Erschaffenheit der Welt für stärker hält als die für die Weltewigkeit, so scheint ihm doch eine zwingende logische Entscheidung weder nach der einen noch nach der anderen Seite hin möglich. Bei dieser Sachlage darf das religiöse Interesse den Ausschlag geben, das den naturüberlegenen Gott fordert. Der natürlichen, dynamischen Zweckgesetzmäßigkeit der Dinge ist die Zweckordnung des göttlichen Wollens übergeordnet. Die natürliche Zweckordnung, der dynamische Zusammenhang des Geschehens, wird von Maimonides nicht negiert, sondern nur auf die innerweltliche Sphäre eingeschränkt. Das Geschehen innerhalb der gegebenen Welt folgt dieser Ordnung. Ein ständiger Prozeß der Emanation verbindet die Welt von den höchsten immateriellen Wesenheiten bis zu den irdischen Körpern und ist das Medium der natürlichen göttlichen Weltregierung. Selbst bei der Weltentstehung kommt dem Emanationsprinzip eine eingeschränkte Bedeutung zu, da die immateriellen Substanzen, deren Verschiedenheit nur auf ihrer gegenseitigen Bedingtheit beruhen kann, eine aus der anderen hervorgegangen sein müssen. Aber die Weltschöpfung als Ganzes ist ein Akt des freien göttlichen Willens, und die natürliche, notwendige Teleologie der immanenten Weltordnung bleibt dauernd der freien Bestimmung Gottes untergeordnet.

Daß der damit wiederhergestellte Personalismus der Gottesvorstellung die Schranken des der Attributenlehre zugrunde liegenden Gottesbegriffs auch nach der Interpretation sprengt, die diesem von uns gegeben wurde, kann hier nur angedeutet werden. Wichtiger ist es, die Konsequenzen des neugewonnenen Standpunktes ins Auge zu fassen. Er enthebt Maimonides der Notwendigkeit, die religiösen Vorstellungen vom Wirken Gottes und seinem Verhältnis zur Welt im Sinne des teleologischen Kraftzusammenhanges der Wirklichkeit »natürlich« zu deuten und sie ins unpersönlich Dynamische umzubiegen. Er hat die Möglichkeit, ihnen ihren ursprünglichen Sinn zurückzugeben. Aber er macht von dieser Möglichkeit doch nur einen sorgfältig abgewogenen Gebrauch. Wo er mit der natürlichen Deutung der religiösen Vorgänge auskommen kann, ohne ihren religiösen Gehalt preiszugeben, macht er sich diese Deutung zu eigen, und er ist darauf bedacht, daß die Anerkennung des naturüberlegenen Wirkens Gottes nicht zum Mittel wird, den Weltzusammenhang ständig zu durchbrechen. Von dieser Tendenz gibt seine Stellung zum Wunder deutliches Zeugnis. Durch die Zerstörung des Aristotelischen Systems der Notwendigkeit hat er die Möglichkeit des Wunders gesichert, aber er ist doch weit entfernt, zu der naiven Haltung des Volksglaubens zurückzukehren. Am weitesten entfernt er sich von ihr in seinem Kommentar zur Mišna. Hier lehrt er, daß die Disposition zu den Wundern bereits bei der Schöpfung in die Natur gelegt wurde, und daß ebenso wie das regelmäßige Naturgeschehen auch die außerordentlichen Ereignisse, die aus dieser regelmäßigen Ordnung nicht ableitbar sind, auf Grund der in der Schöpfung der Natur gegebenen Verfassung aus dem immanenten Gange des Geschehens folgen [RN450]. An dieser radikalen Theorie, die jedes Eingreifen Gottes in den Gang der Natur ausschließt, scheint der More Nebukim nicht mehr festzuhalten, sondern ein Eingreifen Gottes in den Gang der Natur anzuerkennen, aber er sieht in ihm nicht eine nachträgliche Durchbrechung der Naturordnung, sondern einen Bestandteil des ursprünglichen göttlichen Weltplanes [R451]. Einen großen Teil der biblischen Wundererzählungen, insbesondere diejenigen, die, wie das Reden der Schlange im Paradies oder der Eselin Bileams, mythologischen oder märchenhaften Charakter tragen, deutet er mit mannigfaltigen Mitteln ganz hinweg, sei es, daß er die Bibelstellen allegorisch auslegt, sei es, daß er in den Vorgängen nur Erlebnisse der prophetischen Phantasie erblickt.

Vollkommen im Einklange mit dem religiösen Glauben an die Allwissenheit Gottes ist seine Lehre vom göttlichen Wissen. Er beschränkt das göttliche Wissen nicht mit den islamischen Aristotelikern auf die allgemeine Formgesetzmäßigkeit der Dinge und läßt die Einzeldinge nicht bloß als Glieder dieser Formgesetzmäßigkeit von ihm erfaßt werden, sondern spricht Gott ein unmittelbareres Wissen auch von den Einzeldingen zu. Als der Schöpfer der Welt kennt Gott sie in all ihren Einzelheiten, und wenn wir uns auch von einem Wissen, das eine unendliche Menge von Objekten umfaßt und trotz des Wechsels seiner Gegenstände unverändert dasselbe bleibt, keine Vorstellung machen können, so ist das kein Einwand gegen die Möglichkeit eines solchen Wissens in Gott, bei dem das Wissen mit dem Wesen eins ist und mit dem unseren nur den Namen gemeinsam hat [R452]. Aus dieser veränderten Auffassung des göttlichen Wissens zieht Maimonides nicht die vollen Konsequenzen für den Vorsehungsbegriff. Dieser Begriff hatte innerhalb des Aristotelismus die stärkste Umbildung erfahren. Für ihn fällt, wie früher dargelegt, die göttliche Vorsehung mit der natürlichen Zweckordnung der Welt zusammen, deren Träger die gattungsmäßigen Wesenheiten der Dinge sind, und beschränkt sich demgemäß auf die allgemeine Ordnung der Dinge. Maimonides erkennt, daß mit dieser rein generellen Vorsehung der religiöse Sinn des Vorsehungsgedankens verloren ist. Ohne individuelle Vorsehung ist ein gerechtes göttliches Walten nicht möglich. Aber er kehrt nicht ganz zu dem ursprünglichen Sinn des Vorsehungsgedankens zurück. Für die untermenschliche Welt genügt ihm die generelle Vorsehung, nur für den Menschen nimmt er die individuelle Vorsehung an. Auch diese aber will er natürlich erklären. Das Mittel dazu findet er, wie schon vor ihm Abraham ibn ʿEzra, in der Lehre von der sich in der Erkenntnis vollziehenden Verbindung des Menschen mit der intelligiblen Welt und letztlich mit Gott. Durch diese Verbindung wird dem Menschen die Leitung zuteil, in der Gott sein Schicksal gestaltet. Gott warnt ihn vor den ihn bedrohenden äußeren Gefahren und läßt ihm so seinen Schutz zuteil werden [R453]. Die Vorsehung Gottes bedeutet also kein Eingreifen in den äußeren Lauf der Natur, sie wird ganz in das Innere des Menschen verlegt und beruht auch hier auf dem natürlichen Zusammenhange von menschlichem und göttlichem Geiste. Diese natürliche Deutung der Vorsehung erreicht freilich ihr Ziel nur unvollkommen. Gemäß dem intellektuellen Charakter der Verbindung von Mensch und Gott hängt die Festigkeit dieser Verbindung von der Erkenntnisstufe des einzelnen Menschen ab. Statt sittlicher werden es intellektuelle Faktoren, die über das Walten der göttlichen Vorsehung entscheiden [R454].

Anerkennung und Begrenzung der Position des Aristotelismus verbindet Maimonides in seiner Theorie der Prophetie. Das Phänomen der Prophetie als solches beruht auch für ihn auf dem natürlichen Zusammenhange des menschlichen Geistes mit dem aktiven Intellekt [R455]. Seine Besonderheit ergibt sich nur daraus, daß bei den Propheten die Einwirkung des aktiven Intellekts eine umfassendere und höhere ist als in der gewöhnlichen Erkenntnis. Während die Einwirkung des aktiven Intellekts sich in der theoretischen Erkenntnis auf den Intellekt allein erstreckt, während sie andrerseits bei der Wahrsagung, dem Wahrtraum, aber auch bei der Inspiration des Politikers allein die Phantasie ergreift, umfaßt sie bei dem Propheten Intellekt und Phantasie gleichmäßig, weil bei ihm die natürliche Veranlagung nach beiden Richtungen hin vorhanden ist [R456]. Wenn auch das Ineinandergreifen dieser beiden Seiten der prophetischen Inspiration psychologisch nicht zu voller Klarheit gebracht wird, so kann doch an dem Sinn der Theorie kein Zweifel sein. Die intellektuelle Seite des Prozesses ist bei dem Propheten dieselbe wie bei dem Philosophen, weil es dieselbe Wahrheit ist, die beide erfassen. Die Identität von Offenbarungs- und Vernunftwahrheit spricht sich psychologisch darin aus, daß der Prophet zugleich Philosoph und daß in der prophetischen Inspiration die philosophische enthalten ist. Die imaginative Seite des Prozesses erklärt erstens die auf bestimmte Einzeltatsachen gehende prophetische Weissagung, zweitens die bildhafte und symbolische Form, in der auch die begriffliche theoretische Wahrheit in der prophetischen Rede verkündet wird [R457]. Diese Form der prophetischen Darstellung hat ihre teleologische Bedeutung darin, daß sie dem Fassungsvermögen des Volksganzen angepaßt ist, ihr psychologischer Grund aber liegt in der Eigenart der prophetischen Anlage. Damit wird freilich die Konsequenz nahegelegt, daß der spekulative Gehalt der prophetischen Offenbarung hier in einer inadäquaten Form dargestellt wird, und für die letzte religiöse Wahrheit scheint so die Philosophie mit ihrer rein begrifflichen Darstellungsform die Suprematie über die Prophetie zu erlangen. Das entspricht indessen der wirklichen Meinung des Maimonides nicht. Der Prophet steht auch spekulativ über dem bloßen Philosophen, weil sich in ihm die Erkenntnis zu einer intuitiven Höhe steigert, die über die Grenzen des diskursiv Erfaßbaren hinausführt [R458], und der Unterschied der Darstellungsformen selbst verliert dadurch seine grundsätzliche Bedeutung, daß die letzte metaphysische Wahrheit auch in der Philosophie, wie bereits früher dargelegt wurde, nur eine andeutende Darstellung findet.

Diese natürliche Theorie der Prophetie wird von Maimonides nach zwei Seiten hin eingeschränkt. Generell lehrt er, daß der göttliche Wille auch denjenigen, welche die Anlage zur Prophetie haben und auf Grund ihrer natürlichen Voraussetzungen zu ihr gelangen müßten, die prophetische Inspiration versagen kann [R459]. In der paradoxen Form, nicht das Eintreten, sondern das Ausbleiben der Prophetie auf einen göttlichen Willensakt zurückzuführen, gewinnt Maimonides so den Gedanken der Sendungsprophetie zurück. Bedeutsamer noch ist die zweite Einschränkung. Die natürliche Erklärung der Prophetie gilt für alle Propheten der Bibel, mit Ausnahme des Mose. Die Aussagen der Bibel, welche die Überlegenheit des Mose über alle anderen Propheten hervorheben, sollen nach ihm keinen graduellen, sondern einen prinzipiellen Unterschied zwischen ihnen lehren [R460]. Die Prophetie des Mose ist ein Phänomen sui generis, das der Sphäre des Natürlichen schlechthin entrückt ist und ganz auf dem übernatürlichen Wirken Gottes beruht. Damit wird zugleich der biblischen Religion ihre durch die natürliche Deutung der Prophetie bedrohte Sonderstellung gesichert. Wird die Prophetie zu einer natürlich erklärbaren Tatsache gemacht, so wird sie auch zu einer universalen Tatsache, und die Mannigfaltigkeit der verschiedenen geschichtlichen Religionen hat, wie es die islamischen Aristoteliker in der Tat lehren, den Offenbarungscharakter gemeinsam. Nur der relative Unterschied höherer und niederer Offenbarungsstufe ist unter diesen Voraussetzungen zwischen ihnen möglich. Um diese mit dem Absolutheitsanspruch der biblischen Religion unvereinbaren Konsequenzen zu vermeiden, hebt Maimonides die Prophetie des Mose aus der Reihe der sonstigen prophetischen Erscheinungen heraus. So wie sie nicht der höchste Repräsentant einer Gattung, sondern ein schlechthin einzigartiges Phänomen ist, ist auch die von Mose geoffenbarte Religion mehr als die höchste unter einer Vielheit von Offenbarungen; sie ist die geoffenbarte Religion schlechthin, die, wie sich in spezieller Zuspitzung des Gedankens gegen die Ansprüche des Islam ergibt, durch keine spätere Offenbarung mehr aufgehoben werden kann [R461].

Durch seine veränderte Auffassung des göttlichen Schaffens sieht sich Maimonides vor ein Problem gestellt, das auf dem Boden des strengen Aristotelismus keinen Platz hatte: die Frage nach dem Schöpfungszweck. Auch der Aristotelismus faßt die Welt teleologisch auf und sieht in allem Geschehen das Walten einer immanenten Zweckmäßigkeit. Aber er kann, wie Maimonides scharf darlegt, nach einem letzten Zweck der Schöpfung nicht fragen, weil die Welt für ihn nicht Schöpfung eines Willens, sondern notwendige Wirkung Gottes ist [R462]. Auf dem Boden der Schöpfungstheorie scheint die Frage unvermeidbar. Allein die tiefere Untersuchung des Problems führt zu dem Ergebnis, daß die Frage sich auch vom Standpunkte der Schöpfung aus aufhebt. Wäre, wie man gewöhnlich annimmt, das Dasein des Menschen der Endzweck der Schöpfung, so hätte die Welt als Ganzes nur insoweit einen Zweck, als sie unerläßliche Voraussetzung für das Dasein des Menschen ist. Da aber leicht einzusehen ist, daß für die Existenz des Menschen ein großer Teil des Kosmos entbehrlich ist, so hätte dieser keinen Zweck mehr. Die anthropozentrische Weltauffassung, gegen die schon die Tatsache spricht, daß die Wesen der Himmelswelt auf einer weit höheren Stufe stehen als der Mensch, wird von Maimonides mit aller Schärfe zurückgewiesen. Wenn dieser Gesichtspunkt es lediglich verbietet, ein bestimmtes Einzelwesen, wie den Menschen, zum Zweck des Weltganzen zu machen, so wird die Frage nach einem letzten Zwecke der Schöpfung grundsätzlich durch die andere Erwägung aufgehoben, daß diese Frage notwendig zu einem unendlichen Regreß führen muß. Betrachten wir etwa das Dasein des Menschen als den letzten Zweck der Schöpfung, so erhebt sich notwendig die Frage, welchen Zweck es denn hat, daß der Mensch existiert, und auch gegen die Antwort, daß er existiert, um Gott zu verehren, erhebt sich dieselbe Frage aufs neue. Wir haben auf sie keine andere Antwort als die, daß Gott es so will, d. h. es gibt keinen außerhalb des göttlichen Willens liegenden Zweck der Welt, weil der göttliche Wille durch keinen außer ihm liegenden Bestimmungsgrund bestimmt sein kann [R463]. Der Wille Gottes aber hat die Welt als Ganzes gewollt, und wenn man auch im Einzelnen sagen kann, daß bestimmte Wesen als notwendige Voraussetzungen für das Dasein anderer geschaffen worden sind, so gilt doch grundsätzlich, daß alle Teile der Welt gleich ursprünglich von dem göttlichen Willen beabsichtigt sind. Sie sind Selbstzwecke, ohne darum Endzwecke zu sein. Maimonides nähert sich damit dem Voluntarismus der Ašʿariten, der den göttlichen Willen über alle außer ihm liegenden Ziele und Maßstäbe hinaushebt, aber er bemüht sich, seine Position gegen den reinen Irrationalismus der ašʿaritischen abzugrenzen. Die Ašʿariten lehnten nicht nur einen letzten Zweck des Weltganzen ab, sie wiesen ebenso jede immanente Teleologie zurück. Selbst innerhalb des Organismus lehnten sie die teleologische Fragestellung, nach der die einzelnen Organe um bestimmter Funktionen willen geschaffen sind, ab und führten die Beschaffenheit jedes Organes allein auf eine göttliche Willenssetzung zurück [R464]. Diese Aufhebung der immanenten Zweckmäßigkeit der Dinge hält Maimonides für eine unerträgliche Herabsetzung Gottes, dessen Handlungen vollkommen sinnlos würden, wenn sie nicht auf einen Zweck, und zwar einen in sich bedeutsamen Zweck, gerichtet wären. Der Wille Gottes darf nicht als bloße Willkür gedacht werden, er ist von der göttlichen Weisheit geleitet, welche die Welt in der größtmöglichen Vollkommenheit hervorgebracht hat. Maimonides expliziert den Gedanken weiter dahin, daß Gott alles, dessen Dasein möglich ist, geschaffen habe, weil das Dasein an sich ein Gut sei [R465]. Wenn dieses Resultat auch mit dem früheren in der Anerkennung der immanenten Zweckmäßigkeit der Dinge und in der Annahme, daß Gott die Dinge um ihrer selbst willen geschaffen habe, zusammenstimmt, so besteht doch zwischen den beiden dargelegten Gedankenreihen selbst ein kaum ausgleichbarer Widerspruch. Muß das Handeln Gottes, um nicht sinnlos zu erscheinen, auf einen Zweck gerichtet sein, so ist es nicht möglich, bei dem immanenten Zweck stehenzubleiben. Der Sinnhaftigkeit des göttlichen Handelns wird erst dann genügt, wenn die Welt nicht nur in ihrer Beschaffenheit zweckmäßig geordnet, sondern wenn auch ihr Dasein als sinnvoll, und das heißt zweckmäßig, verstehbar ist. Andernfalls ergibt sich das paradoxe Resultat, daß das Dasein der Welt dem bloßen göttlichen Willen, ihre Bestimmtheit der Weisheit Gottes zuzuschreiben ist. Maimonides selbst wird über diesen Standpunkt hinausgedrängt, wenn er das Sein als ein Gut bezeichnet, das durch die Erschaffung der Welt verwirklicht wird. Damit ist ein Wertbegriff gesetzt, der es ermöglicht, dem Schaffen Gottes einen Zweck zuzusprechen. Aber damit ist zugleich der Standpunkt preisgegeben, nach dem bei jedem supponierten Weltzweck immer wieder die Frage nach dem Zweck dieses Zwecks zu stellen ist, die erst im göttlichen Willen zur Ruhe kommt. Die Forderung, daß das göttliche Tun als sinnhaft verstehbar sein müsse, drängt auf den Begriff eines in sich beruhenden letzten Wertes hin, der durch die Bestreitung eines letzten Weltzweckes negiert worden ist. Ein Ausgleich beider Tendenzen in dem Gedanken einer Sinnhaftigkeit, die nicht außerhalb Gottes liegt, sondern in seinem Wesen gegründet ist, mag Maimonides vorgeschwebt haben, ohne daß er ihn jedoch zu formulieren vermochte [R466].

Schon diese Ausführungen über den Weltzweck lassen erkennen, daß mit dem Personalismus der Gottesvorstellung nicht auch ihr ethischer Charakter gegeben ist. Auch von anderer Seite her bestätigt es sich, daß Maimonides auf dem Gebiete der religiösen Wertlehre nicht denselben Anschluß an das biblische Judentum gefunden hat, wie in den Problemen der religiösen Metaphysik. In seiner Auffassung von den letzten Zielen des menschlichen Daseins bleibt er ganz in der Nähe des Aristotelismus und setzt an Stelle der sittlichen Religiosität der Bibel eine kontemplativ bestimmte. Unter den verschiedenen Arten menschlicher Vollkommenheit steht die sittliche zwar über der Vollkommenheit der äußeren Lebensverhältnisse und der Körperbeschaffenheit, aber auch sie betrifft den Menschen noch nicht im Kern seines Menschentums. Denn die Bedeutung der sittlichen Vollkommenheit liegt nur in ihrem Nutzen für die menschliche Gemeinschaft und schwindet demnach, wenn wir den Menschen aus der Gemeinschaft gelöst denken. Dem eigenen Wesen des Menschen gehört nur seine geistige Vollkommenheit zu, und nur insoweit, als die Sittlichkeit zur Erreichung der geistigen Vollkommenheit nötig ist, hat sie für den Menschen selbst Bedeutung [R467]. In charakteristischem Unterschied von Saʿadia, der der Offenbarung einen rein sittlichen Sinn zugeschrieben hatte, sieht Maimonides den Unterschied des göttlichen Gesetzes von dem menschlichen darin, daß es sich nicht damit begnügt, für die äußere Wohlfahrt der Menschen zu sorgen und ihr Verhalten gegeneinander zu regeln, sondern sie zur Erkenntnis der Wahrheit anleitet und ihren Geist erleuchtet. Die Sittlichkeit wird dabei nur von ihrer sozialen Funktion aus betrachtet [R468]. Darüber hinaus ist sie noch das Mittel, das dem Menschen die Freiheit von der Macht der Sinne gibt, ohne die seine Vernunft nicht zu voller Entfaltung kommen kann. Sie ist nur darum für ihn notwendig, weil er sein wahres Wesen im Kampf gegen die Sinnlichkeit behaupten muß [R469].

Das alles entspricht der Auffassung des Aristoteles von der Erkenntnis als der höchsten Vollkommenheit und der höchsten Seligkeit des Menschen. Es geht insofern noch über sie hinaus, als die sittlichen Tugenden bei Aristoteles den dianoetischen zwar untergeordnet sind, aber doch einen selbständigen Wert behalten. Allein die Aristotelische Lehre von der Eudämonie des Erkennens hat, wie oben dargelegt, schon bei den islamischen Aristotelikern unter dem Einfluß des Neuplatonismus und der ihm nahestehenden alten Aristoteleserklärer einen religiösen Inhalt gewonnen, der dem Aristoteles selbst fremd ist. In ihm liegt der eigentliche Sinn des Gedankens für Maimonides. Er offenbart sich zunächst darin, daß alle unsere Erkenntnis letztlich auf Gott gerichtet ist. Die Erkenntnis der Natur ist nur Vorstufe der metaphysischen Erkenntnis, deren höchster und eigentlicher Gegenstand Gott ist. Da ferner aber in der Erkenntnis die Wahrheit dem menschlichen Intellekt aus dem Reiche der rein geistigen Wesenheiten zuströmt, ist sie das Band zwischen Mensch und Gott [R470]. Die in ihr gestiftete Gemeinschaft mit Gott gehört nicht dem Bereich subjektiven Erlebens an, sondern ist ein Faktum von metaphysischer Wirklichkeit. Die Erkenntnis schenkt dem Menschen das Glück dieser direkten Verbundenheit mit Gott, in ihr entspringt das Gefühl der Gottesliebe und die Beseligung der Gottesnähe. Aus der Eudämonie des Erkennens wird die Seligkeit der Gemeinschaft mit Gott. Diese Verbundenheit mit Gott wird für Maimonides niemals zum mystischen Einswerden mit ihm, und auch die spezifische Gefühlsbetonung der Mystik ist der ernsten Gehaltenheit seines Wesens fremd. Aber bei aller Geschiedenheit von eigentlicher Mystik ist seiner Frömmigkeit der kontemplative Charakter deutlich aufgeprägt. Sie hat ihr Höchstes in der Beseligung der Gottesschau. Alles innerweltliche Leben hat für sie nur einen relativen Wert. Maimonides kennt keine Askese, die den Menschen seiner Aufgabe in der Welt entzieht. Aber er will doch den Anteil an allen äußeren Dingen auf das unbedingt Nötige beschränkt wissen und sieht ähnlich wie Baḥja das höchste, freilich nur von Mose und den Patriarchen erreichte Ideal darin, bei aller äußeren Tätigkeit, bei allem Verkehr mit den Menschen, doch innerlich ganz auf Gott gerichtet zu sein und stets mit ihm verbunden zu bleiben [R471].

Die Erkenntnis ist für ihn auch die Voraussetzung der Unsterblichkeit. Er schließt sich der Lehre von der erworbenen Unsterblichkeit an, nach der nur die in der Erkenntnis bewirkte Aktualisierung der menschlichen Denkkraft zur Unsterblichkeit führt [R472]. Aus der Unsterblichkeit der Seele wird die des erkennenden Geistes. Auch dieser metaphysische Gedanke hat einen religiösen Sinn: die in der Erkenntnis gewonnene Gemeinschaft mit Gott verleiht dem Menschen das ewige Leben. Ähnlich wie es uns schon bei anderen jüdischen Denkern entgegengetreten ist, bricht auch bei Maimonides der sittliche Charakter jüdischer Religiosität wieder durch. Das Schlußkapitel des More Nebukim, das die Stufen der menschlichen Vollkommenheit aufzählt und als die höchste unter ihnen die Vollkommenheit der Erkenntnis bezeichnet, sieht den Inhalt der höchsten Gotteserkenntnis darin, daß wir das sittliche Wirken Gottes begreifen und dadurch dazu gelangen, dieses Wirken Gottes zum Vorbild in unserem Tun zu nehmen [R473]. Die früher der Erkenntnis untergeordnete Sittlichkeit wird hier zum letzten Sinn und Ziel der Gotteserkenntnis. Es ist derselbe Umschlag vom Theoretischen ins Ethische, den Maimonides auch in der Lehre vom Wesen Gottes vollzogen hat, wenn er in der Beschränkung unserer Gotteserkenntnis auf das Wirken Gottes keine Beeinträchtigung ihres Sinnes sieht, weil dieser eben darin besteht, uns in der Erkenntnis des göttlichen Wirkens das Vorbild der Sittlichkeit zu geben. Aber es bleiben isolierte Stellen, in denen er in dem sittlichen Sinn der Gotteserkenntnis ihr eigentliches Wesen sieht und so den sittlichen Gottesgedanken des Judentums zur Geltung zu bringen sucht. An so bedeutsamem Orte dieses Motiv auch hervortritt, so bleibt doch die beherrschende Grundkraft in Maimonides die kontemplative Religiosität, die ihn mit seinen philosophischen Quellen verbindet, und es geht nicht an, von jenen vereinzelten Ansätzen aus das Ganze seiner Lehre zu bestimmen.

Wir haben in der Darstellung der religiösen Grundideen der talmudischen Literatur die Ansatzpunkte für die Auffassung des Maimonides kennengelernt. Seine philosophische Intellektualisierung der Religion kann sich darauf berufen, daß der Talmud dem Studium der Tora einen selbständigen religiösen Wert beilegt. Unmittelbarer noch haben die Schilderungen des Talmuds von der Seligkeit der Gottesschau im künftigen Leben dem Maimonides wie schon seinen Vorgängern die Aufnahme der religiösen Ideale des Neuplatonismus und des Aristotelismus erleichtert. Gleichwohl bleibt die von der Philosophie ausgehende Intellektualisierung der Religion und der grundsätzlich kontemplative Charakter des religiösen Ideals etwas völlig Neues. Diese Umbiegung der letzten religiösen Motive ist nur möglich, weil die innere Haltung einer Religion etwas viel weniger Greifbares ist als ihre Ausprägung in metaphysischen Lehren. Die Differenz des Schöpfergottes der Bibel von dem die Welt mit Notwendigkeit aus sich entlassenden Gott des Aristotelismus hat Maimonides mit Klarheit durchschaut. Den nicht in bestimmten Doktrinen festgelegten Sinn der sittlichen Gemeinschaft des Menschen mit Gott, wie sie das Judentum lehrt, hat er von der im Aristotelismus gelehrten Gemeinschaft des erkennenden Geistes mit Gott nicht zu scheiden vermocht.

Diese Intellektualisierung der Religion gibt nur dem engen Kreise der Wissenden vollen Anteil an den religiösen Gütern. Schon innerhalb des Islam hatte sich das Problem ergeben, die Exklusivität dieses Religionsbegriffs mit dem Charakter des Islam als Volksreligion auszugleichen. Es war zu einer Scheidung esoterischer Bildungsreligion und exoterischer Massenreligion gekommen, die Ibn Rošd, der Zeitgenosse des Maimonides, am rücksichtslosesten durchführte. Die Scheidung zwischen esoterischer und exoterischer Form der Religion ist auch dem Maimonides nicht fremd; der mit der philosophischen Wahrheit identische tiefere Sinn der Bibel ist auch nach ihm den Wissenden allein vorbehalten, und ähnlich wie der islamische Philosoph hält er es für unzulässig, ihn der Menge zu enthüllen [R474]. Selbst von der Formel Ibn Rošds, daß die Religion für die Menge Sittlichkeit, für die Auserwählten Erkenntnis sei, ist er nicht allzuweit entfernt. Aber er weiß zu gut, daß das Judentum sich an alle seine Bekenner gleichmäßig wendet, um die Scheidung zwischen den Wissenden und der Menge mit dem Rigorismus Ibn Rošds durchzuführen. Auch die Menge ist nicht schlechthin von der religiösen Wahrheit ausgeschlossen. Die Tora, die den Geist ganz Israels erleuchten will, hat gewisse einfache Grundwahrheiten der Religion, insbesondere die Erkenntnis von der Unkörperlichkeit Gottes, die Läuterung des Gottesgedankens von allen sinnlichen Trübungen, für alle bestimmt, und es ist nicht nur erlaubt, sondern geboten, sie allgemein bekanntzumachen. Die bildliche Auffassung der Anthropomorphismen der Offenbarung, die nach Ibn Rošd der Menge nicht mitgeteilt werden darf, muß nach Maimonides auch dem Niedrigsten eingeschärft werden [R475]. Dadurch will er, wie es scheint, auch die härteste Konsequenz seines Intellektualismus, die Einschränkung der Unsterblichkeit auf die Philosophen, vermeiden. Durch das Minimum von Erkenntnis, zu dem jeder Angehörige des Judentums Zugang hat, gewinnt ganz Israel Anteil am jenseitigen Leben.

Dieses Erkenntnisminimum hat Maimonides in seinem Kommentar zur Mišna in den früher erwähnten dreizehn allgemeinverbindlichen Glaubenslehren des Judentums zusammengefaßt [R476]. Die allgemeingültigen Glaubenswahrheiten sind: 1. Es gibt einen Gott. Er ist 2. einzig, 3. unkörperlich, 4. ewig. 5. Er allein darf angebetet werden. 6. Es gibt eine Prophetie. 7. Mose ist der größte aller Propheten. 8. Die durch ihn gegebene Tora ist göttlichen Ursprungs. 9. Sie ist von ewiger Geltung. 10. Gott, kennt alle Taten des Menschen, 11. belohnt und bestraft sie. 12. Er schickt den messianischen Erlöser. 13. Er läßt die Toten auferstehen. Dieser Versuch, den Glaubensinhalt des Judentums dogmatisch festzulegen, unterscheidet sich von den gelegentlich schon bei älteren jüdischen Denkern vorkommenden Zusammenstellungen der Grundwahrheiten der jüdischen Religion grundsätzlich dadurch, daß er von der Anerkennung dieser Wahrheiten den Anteil am ewigen Leben abhängig macht. Über die seinen Ausgangspunkt bildende Mišnastelle, die den Vertretern bestimmter ketzerischer Meinungen den Anteil am ewigen Leben abspricht, geht Maimonides weit hinaus. Der Grund dieser Dogmatisierung des Judentums liegt offenbar darin, daß Maimonides in den von ihm für allgemeinverbindlich erklärten Grundwahrheiten, in denen sich freilich mit den rationalen Grundlagen des Judentums auch seine historischen Voraussetzungen verbinden, das Erkenntnisminimum sieht, das auch der philosophisch ungebildete Jude erreichen muß, um Anteil an der Wahrheit des Judentums zu haben. Erst die Anerkennung dieser Wahrheiten gibt dem Intellekt die Entwicklung, durch die er unsterblich wird. Es handelt sich nicht wie in der Mišna um Belohnung der Gläubigen oder Bestrafung der Ungläubigen, sondern um die innerlich notwendige Voraussetzungen für die Unsterblichkeit. Der religiöse Dogmatismus entspringt mit innerer Notwendigkeit aus dem philosophischen Intellektualismus.

Die Unterordnung des sittlichen Elementes der Religion unter das theoretische muß sich mit verstärkter Kraft für den religionsgesetzlichen Teil des Judentums geltend machen. Maimonides ist mit seinem innersten Wesen in dem talmudischen Judentum verwurzelt, er ist ebensosehr Talmudist, wie er Philosoph ist, und im Mittelpunkte seines praktischen Wirkens steht seine rabbinische Tätigkeit. Aber so tief sein religiöses Leben und sein religiöses Bewußtsein durch das biblische und talmudische Religionsgesetz bestimmt ist, in seiner Theorie der Religion weist er ihm eine ganz andere Stellung zu, als die naive jüdische Frömmigkeit. Das Gesetzesstudium, das für das ungebrochene talmudische Judentum das höchste Wissensideal ist, ordnet sich bei ihm dem philosophischen Wissen weit unter. In seinem berühmten Gleichnis vom Königspalast läßt er die Talmudkundigen, deren religiöse Überzeugung auf bloßem Traditionsglauben beruht, nur bis zu dem Palast gelangen, den Weg in ihn hinein findet nur der, dessen Glaube philosophisch begründet ist [R477]. Dem in weiten Kreisen, insbesondere der spanischen Juden, verbreiteten Ideal religiöser Bildung, für das der Talmud nur ein Teil des religiösen Wissens war und der Gipfel des Wissens in der Philosophie, der Königin der Wissenschaften lag, hat Maimonides, nicht als erster unter den jüdischen Philosophen, aber machtvoller als irgendeiner seiner Vorgänger, die theoretische Begründung gegeben.

Der göttlichen Gesetzgebung selbst spricht er in ausführlicher Untersuchung den Zweck zu, die physische und geistige Vervollkommnung des Menschen herbeizuführen. Der physischen Vervollkommnung des Menschen dienen, seiner allgemeinen Auffassung der Sittlichkeit gemäß, die sittlichen Gebote der Tora, indem sie ein geordnetes Gemeinschaftsleben herstellen und damit die Wohlfahrt des Volkes fördern. Der geistigen Vervollkommnung des jüdischen Volkes dienen die zur Einprägung der Glaubenswahrheiten bestimmten Sätze [R478]. Das Zeremonial- und Kultgesetz der Tora als Ganzes betrachtet er als Mittel für die Verwirklichung beider Zwecke. Dieser an sich in dem Judentum und der jüdischen Religionsphilosophie seit alters heimische Gedanke wird in völlig neuartiger Form von ihm durchgeführt. Er bleibt nicht bei der allgemeinen Behauptung eines solchen Zweckes stehen, sondern sucht ihn für die einzelnen Gesetze nachzuweisen. Einem Teil der biblischen Gesetze, wie der Einsetzung des Sabbats und der Feste, dem Gebote der Schaufäden und Gebetriemen, läßt sich ein rationaler Zweck leicht abgewinnen [R479]. Für die Gebote aber, bei denen das unmittelbar nicht möglich ist, bedient sich Maimonides der geschichtlichen Betrachtungsweise, um zum Ziele zu gelangen. Er versteht sie als Abwehrmittel gegen Anschauungen und Kultgewohnheiten des zur Zeit der Offenbarung herrschenden Heidentums und geht für die Opfergesetze noch darüber hinaus, indem er das Opfer als eine Konzession an die Denkweise des alten Israel betrachtet, dem unter dem Einfluß des Heidentums eine opferlose Gottesverehrung unvorstellbar war [R480]. In der Form, in der der Glaube an den göttlichen Ursprung des Gesetzes sie zuließ, ist damit die geschichtliche Erklärung der biblischen Gesetzgebung angebahnt, und Maimonides führt sie in strenger geschichtlicher Methodik durch, wenn er den Sinn der biblischen Gesetze aus ihrer Vergleichung mit den religiösen Anschauungen und Vorschriften des sabischen Schrifttums zu verstehen sucht, in dem er arabische Übersetzungen von Werken aus vormosaischer Zeit vor sich zu haben glaubt [R481]. Es tut der Bedeutung seines methodischen Prinzips keinen Eintrag, daß diese Literatur in Wirklichkeit erst in islamischer Zeit, wenn auch unter Benutzung alter Traditionen, entstanden ist. Auch diese trüben Quellen haben es ihm ermöglicht, im Einzelnen das Richtige zu treffen, und seine grundsätzlichen Gesichtspunkte sind durch den Einfluß, den sie im 17. Jahrhundert auf das Werk des englischen Theologen John Spencer »De legibus Hebraeorum ritualibus« geübt haben, für die moderne religionsgeschichtliche Betrachtung der biblischen Gesetzgebung höchst folgenreich geworden [R482]. Religiös gesehen aber nimmt diese geschichtliche Erklärung, wenn sie auch dazu bestimmt ist, die Weisheit der göttlichen Gesetzgebung nachzuweisen, einem großen Teil der biblischen Gesetze ihre aktuelle Bedeutsamkeit. Mit der aus der Praxis verschwundenen Opfergesetzgebung haben auch beträchtliche Teile der noch in Übung befindlichen Gesetze mit dem Untergang des alten Heidentums ihren ursprünglichen Sinn verloren. Grundsätzlich aber wird der Abstand zwischen dem letzten Zweck der Offenbarung und dem Religionsgesetz bei Maimonides ein ganz anderer als bei denjenigen Denkern, für die der letzte Zweck des göttlichen Gesetzes ein sittlicher ist. Die bei ihnen vorhandene Gleichartigkeit von Mittel und Zweck geht für Maimonides, dem das Sittliche selbst nur Mittel zu dem in Theorie und Kontemplation liegenden Endzweck der Religion ist, verloren. Das Zeremonialgesetz wird in großen Teilen nur ein Mittel für ein Mittel und rückt damit, nicht für das religiöse Bewußtsein des Maimonides, aber für seine Theorie, stark an die Peripherie der Religion.

An dieser Konsequenz wird noch einmal der geschichtliche Sinn der Leistung des Maimonides deutlich. Seine Theorie des Religionsgesetzes wollte den geistigen Gehalt der biblischen Gesetzgebung aufweisen. Aber diese Vergeistigung des Judentums deutete das Gesetz im Sinne der religiösen Wertlehre des Aristotelismus und legte ihm so einen in entscheidenden Punkten veränderten religiösen Sinn unter. Der theistische Aristotelismus des Maimonides hat dem Schöpfergott der Bibel seinen Platz innerhalb des philosophischen Weltbildes gegeben und damit metaphysisch eine wirkliche Synthese von biblischer Religion und Aristotelismus erreicht. Diese Leistung hat Maimonides für das spätere Mittelalter zu dem hohen Meister gemacht, der den jüdischen Glauben wissenschaftlich begründet hat, und innerhalb der Sphäre des philosophischen Rationalismus wurde auch seine Deutung des biblischen Gesetzes als philosophische Rechtfertigung der jüdischen Lehre empfunden. Aber dieser theistische Aristotelismus blieb in seinen religiösen Idealen eben doch Aristotelismus und trug diese Ideale, ohne sich der Verschiedenheit der religiösen Grundeinstellung bewußt zu werden, in das geschichtliche Judentum hinein. Der Widerstand, den das System des Maimonides in den Kreisen hervorrief, die ganz in der jüdischen Tradition lebten, findet hier seine Erklärung: das genuine Judentum fühlte, lange ehe es diesem Gefühl wissenschaftlichen Ausdruck zu geben vermochte, daß die wissenschaftliche Rechtfertigung der jüdischen Lehre eine tiefgreifende Umbildung ihres religiösen Gehaltes in sich schloß.

d) Der Kampf um die Philosophie in dem Jahrhundert nach Maimonides; die philosophische Wirkung des Maimonides und des Ibn Rošd

Der »Führer« des Maimonides hat sich mit überraschender Schnelligkeit durchgesetzt. Daran hat gewiß der Ruhm des Talmudisten Maimonides seinen Anteil, der auch seinem philosophischen Werk den Weg bahnte. Die begeisterte Zustimmung aber, die es bald nach seinem Erscheinen fand, hat ihren Grund darin, daß es die Antwort auf die Fragen gab, die nach dem Eindringen des islamischen Aristotelismus in jüdische Kreise überall die philosophisch Gebildeten bewegten. So trat das Buch sogleich in den Mittelpunkt des philosophischen Interesses und gab der philosophischen Arbeit Richtung und Direktive. Noch zu Lebzeiten des Maimonides veranlaßten seine Verehrer in der Provence, die der arabischen Sprache nicht mächtig waren, Samuel ibn Tibbon, das Werk ins Hebräische zu übersetzen. Diese Übertragung, der bald der Dichter Juda al-Ḥarizi eine zweite, flüssigere, aber weniger exakte, folgen ließ, hat das Werk auch über die im islamischen Kulturkreis lebenden Juden hinausgetragen. Südfrankreich und Italien nehmen von nun an an den philosophischen Studien Anteil. Aber die jetzt entstehende philosophische Literatur in hebräischer Sprache hat zunächst wenig selbständige Leistungen aufzuweisen. Auf allgemeinphilosophischem Gebiet besteht sie zumeist aus Bearbeitungen der Werke der islamischen Aristoteliker, und religionsphilosophisch ist sie ganz von dem übermächtigen Einfluß des Maimonides beherrscht. Sie verarbeitet in der Hauptsache sein Gedankengut und stellt es in mannigfachen Formen dar.

An der Philosophie des Maimonides aber entzündete sich zugleich ein leidenschaftlicher Streit um das Recht der Philosophie innerhalb des Judentums, der das ganze 13. Jahrhundert erfüllte. Die rationalisierende Umbildung der jüdischen Lehre in dem System des Maimonides erregte um so heftigeren Widerstand, weil sie außer dem Kreis der Philosophen im schulmäßigen Sinne auch eine breite Schicht philosophisch Gebildeter erfaßte und bei ihnen eine Art philosophischer Bildungsreligion erzeugte, die das jüdische Leben tief beeinflußte. Vielfach wurde der Streit durch radikale, weit über Maimonides hinausführende Tendenzen, die innerhalb seiner Anhängerschaft auftraten oder die man doch bei ihr zu finden glaubte, verschärft. Der eigentliche Gegenstand des Streites aber lag nicht in diesen radikalisierenden Konsequenzen, sondern in der philosophischen Rationalisierung des Judentums als solcher. Besonders in den Gemeinden Südfrankreichs und Spaniens kam es zu heftigen Kämpfen zwischen Maimonisten und Anti-Maimonisten, die ein Jahrhundert hindurch immer wieder aufflammten und das Judentum bis ins Innerste aufwühlten. Auf beiden Seiten kam es dazu, daß man den Gegner in den Bann tat, und auf dem Höhepunkt des Streites mischte sich selbst die christliche Kirche ein und verbrannte das ketzerische Werk des Maimonides.

Der äußere Verlauf dieser Kämpfe ist hier nicht zu verfolgen, aber die Gegensätze, um die sie sich bewegen, beleuchten die Stellung der Philosophie innerhalb der Geistesgeschichte des mittelalterlichen Judentums so bedeutsam, daß auch die Geschichte der jüdischen Philosophie an ihnen nicht vorübergehen kann. Maimonides selbst mußte sich bereits gegen den im Orient gegen ihn erhobenen Vorwurf verteidigen, daß er in den dogmatischen Abschnitten seines großen Gesetzeskodex den Auferstehungsglauben preisgegeben habe und nur die Unsterblichkeit der Seele lehre. Es war derselbe Vorwurf, der auch von der islamischen Orthodoxie gegen die Aristoteliker gerichtet wurde. Maimonides, der in seinem Kommentar zur Mišna den Auferstehungsglauben unter die Grunddogmen des Judentums aufgenommen hatte, vermochte die Beschuldigung leicht zurückzuweisen [R483]; aber es war doch charakteristisch, daß sie erhoben werden konnte. Daß Maimonides weder in seinem Gesetzeskodex noch in seinem Führer der Schwankenden das Auferstehungsdogma erwähnt, besagt gewiß nichts dafür, daß er den Standpunkt seines Mišnakommentars verlassen hat, aber es zeigt, daß der Auferstehungsgedanke für ihn nur ein auf Grund der Tradition anzuerkennendes Dogma, kein Bestandteil seines eigenen religiösen Bewußtseins war. Nicht nur der Auferstehungsglaube, die geschichtliche Zukunftshoffnung des Judentums als Ganzes trat für ihn hinter dem individuellen Fortleben des Geistes zurück, und so fest sein Glaube an den kommenden Messias ist, so deutlich ist es doch, daß nicht die messianische Erlösung, sondern das ewige Heil der Seele für ihn die eigentliche Zukunftshoffnung darstellt. Wie nah er den Zweifel an seine Anerkennung des Auferstehungsglaubens gelegt hatte, zeigt die Tatsache, daß kurz vor seinem Tode ein hervorragender, auch in den profanen Wissenschaften heimischer spanischer Gelehrter, Meïr ben Todros Abulafia, offenbar ohne von den Vorgängen im Orient zu wissen, in einem Briefe an die jüdischen Gelehrten der Provence dieselbe Anklage gegen Maimonides erhob und den freilich vergeblichen Versuch machte, eine Bewegung gegen ihn hervorzurufen [R484].

Erst in den dreißiger Jahren des 13. Jahrhunderts ging von Südfrankreich eine Bewegung aus, in der die Gegensätze mit äußerster Schärfe aufeinander stießen [R485]. Die Urheber des Streites, Salomo ben Abraham aus Montpellier und zwei seiner Schüler, die übrigens Maimonides als Talmudisten aufs Höchste bewunderten, standen der Philosophie zu fern, um die letzte Tiefe der Gegensätze begrifflich erfassen zu können. Was sie gegen die Gotteslehre des Maimonides einwandten, wird aus der erhaltenen Streitschriftenliteratur nicht recht deutlich. Sie verwahrten sich im Laufe des Streites dagegen, die reine Geistigkeit Gottes bestritten und Maimonides wegen seiner Verwerfung der Anthropomorphismen angegriffen zu haben, wollten doch aber die Vorstellung, daß Gott im Himmel throne, wörtlich genommen wissen [R486]. Ebenso stellten sie sich das Jenseits sinnlich vor und sahen eine Ketzerei des Maimonides darin, daß er alle derartigen Äußerungen des Talmud hinwegallegorisierte [R487]. Endlich nahmen sie an seiner Deutung der biblischen Gebote Anstoß [R488]. Noch schärfer wandten sie sich gegen die Anhänger des Maimonides in ihrer Umgebung, in deren Radikalismus sie die Konsequenz der Lehre ihres Meisters erblickten. Von Samuel ibn Tibbon, dem Übersetzer des More, behaupteten sie, er habe alle Erzählungen der Tora als Gleichnisse, ihre Gebote als bloße Anleitungen zur sittlichen Lebensführung bezeichnet [R489]. Wie es scheint, warfen sie den Anhängern der Philosophie auch vor, daß sie das Zeremonialgesetz nicht strikt befolgten. Es war diesen leicht, sich gegen solche Angriffe zu behaupten. Die Beschuldigungen gegen sie selbst wiesen sie als unwahr zurück, gegenüber den Einwendungen gegen Maimonides selbst konnten sie unschwer zeigen, daß er sich mit den angefochtenen Behauptungen im Einklänge mit Gelehrten von unbestrittener Rechtgläubigkeit befinde. Die von den Urhebern des Streites zu Hilfe gerufenen ausschließlich im Talmud lebenden Rabbiner Nordfrankreichs freilich standen einmütig gegen Maimonides. Sie gingen soweit, über seine Schriften den Bann zu verhängen, und erst als ihre südfranzösischen Bundesgenossen die Kirche zu Hilfe riefen, zog ein Teil von ihnen seine Unterschrift zurück. Für diejenigen dagegen, die dem Streit sachlich zu folgen vermochten, war die Überlegenheit der Maimonisten über ihre ursprünglichen Gegner klar. Allein diese fanden in Spanien Unterstützung bei Männern, die ihre Sache mit den Mitteln der Philosophie zu führen wußten und die Position des Maimonides grundsätzlich zu bekämpfen imstande waren. Insbesondere hob Juda Alfakar die Polemik auf philosophische Höhe. Der Versuch des Maimonides, die Bibel mit der Philosophie in Einklang zu bringen, bedeute in Wahrheit ihre Unterordnung unter die Philosophie. Habe doch Maimonides erklärt, er würde die Bibel im Sinne der Lehre von der Weltewigkeit gedeutet haben, wenn die philosophischen Beweise für diese Lehre sich als zwingend erwiesen hätten. Eine derartige Umdeutung der Bibel in einer Frage, in der ihre eigenen Aussagen ganz eindeutig seien, nur der Philosophie zu Liebe, sei schlechthin unzulässig. Von dem Wortsinn der Bibel dürften wir uns nur dann entfernen, wenn uns, wie bei den anthropomorphistischen Aussagen über Gott, andere Lehren der Bibel selbst dazu berechtigten; dagegen dürfe niemals die Tora den zweifelhaften und unsicheren Argumenten der Philosophie zum Opfer gebracht werden. In dem Versuche eines solchen Ausgleichs sah er eine Halbheit, die weder der Tora noch der Philosophie gerecht Werde. Mit großem Geschick wies er diese Halbheit in der Stellung des Maimonides zu den Wunderberichten der Bibel nach. Das Bestreben des Maimonides, einen Teil der biblischen Wunder hinwegzudeuten, bezeichnete er als zwecklos, solange er nicht alle Wunder aufheben könne. Dieselbe Halbheit warf er der Behauptung des Maimonides vor, daß die hohe Lebensdauer, welche die Bibel von den Menschen der ersten Geschlechter berichtet, damals nicht etwa die allgemeine gewesen, sondern auf die in der Bibel ausdrücklich genannten Personen beschränkt geblieben sei. Er bemerkt demgegenüber, daß es grundsätzlich keinen Unterschied mache, ob viele oder wenige Menschen diese Lebensdauer erreicht haben, da der Widerspruch gegen die naturwissenschaftlichen Anschauungen von der natürlichen Lebensfähigkeit des Menschen durch die Zahl solcher Fälle nicht geändert werde [R490]. Was von den Urhebern des Streites mehr instinktiv gefühlt als begrifflich erkannt war, wurde hier klar zum Ausdruck gebracht, und es tut dieser Bedeutung seiner Ausführungen keinen Eintrag, daß ihre Stärke mehr in der Kritik als in der positiven Darlegung eines eigenen Standpunkts liegt.

Als nach einigen schnell im Sande verlaufenen Angriffen auf die Philosophie die ersten Jahre des 14. Jahrhunderts noch einmal eine Erneuerung des Kampfes brachten, hatte die von Maimonides ausgegangene philosophische Aufklärung schon festen Fuß in den Gemeinden Südfrankreichs und Spaniens gefaßt. Die Popularisierung der Philosophie war noch erheblich weiter fortgeschritten als zu Beginn des 13. Jahrhunderts, und insbesondere hatte die philosophische Predigt und Bibeldeutung ihre Gedanken in die weitesten Kreise getragen. Die Stellung der Philosophie war auch durch die unbestrittene talmudische Autorität des Maimonides, die im Laufe des Jahrhunderts seinen Namen über allen Gegensatz der Parteien hinausgehoben hatte, eine sehr viel festere geworden. Auch die Gegner der Philosophie wollten in der Hauptsache nicht den Maimonides selbst, sondern den Mißbrauch treffen, der mit seiner Lehre getrieben wurde, sie wandten sich gegen ihre Popularisierung, die zu einer Verwirrung vor allem der Jugend führe, und ihr Ziel war darum, die Beschäftigung mit profanen Wissenschaften der Jugend zu verbieten und erst einem reiferen Alter zu gestatten. Eine extremere Richtung wollte freilich der Wissenschaft jedes Recht im jüdischen Leben streitig machen, und die sich mannigfach verschiebenden Kampffronten machen den Verlauf der Bewegung schwer überschaubar [R491]. Allein diese Komplikationen betreffen mehr die äußeren Hergänge als die letzten Gründe des Streites. Halten wir uns an diese, so treten vor allem zwei Punkte hervor. Man warf der philosophischen Aufklärung zunächst die schrankenlose Allegorisierung der Bibel vor, die sich schon bei den ersten Anhängern des Maimonides, dann aber immer fortschreitend auch auf die historischen Teile der Bibel ausgedehnt hatte. Als ein abschreckendes Beispiel solcher Allegorese galt es, wenn man in Abraham die Form und in Sara die Materie wiederfand [R492]. Freilich verwahrten sich die philosophischen Allegoristen dagegen, die historische Realität der biblischen Personen und Vorgänge aufzuheben. Sie wollten die allegorische Deutung nicht an Stelle des ursprünglichen geschichtlichen Sinnes setzen, sondern den an sich historischen Vorgängen nur eine tiefere Bedeutung abgewinnen. Aber sie fanden damit keinen Glauben, man schrieb ihnen die Tendenz zu, den historischen Gehalt der Bibel in ein Spiel abstrakter Begriffe aufzulösen. Grundsätzlicher noch war der zweite Kontroverspunkt. Die Ankläger der Philosophie betrachteten es als die verborgene Absicht der philosophischen Rationalisten, den Glauben an ein übernatürliches Wirken Gottes zu zerstören und die Wirklichkeit ganz dem notwendigen Walten des Naturgesetzes zu unterwerfen [R493]. Auch diesen Verdacht wiesen die Angegriffenen mit Entrüstung von sich, und die Schriften eines der am meisten angefeindeten damaligen Philosophen, des Lewi ben Abraham ben Ḥajjim aus Villefranche, zeigen, daß er von diesem Radikalismus weit entfernt war und über den Standpunkt des Maimonides nicht hinausging [R494]. Gewiß ist es zum guten Teil verketzernder Argwohn, der der philosophischen Aufklärung weit radikalere Tendenzen unterschiebt, als sie vertritt. Dieser Argwohn als solcher ist als Zeugnis für den Eindruck, den die philosophische Rationalisierung des Judentums machte, immerhin lehrreich genug. Daneben aber fehlte es in der Tat auch an solchen radikalen Tendenzen nicht. Die große Leistung des Maimonides hatte die Harmonie von Bibel und Aristotelismus nicht zu allseitiger Anerkennung gebracht. Die von ihm bekämpfte Form des Aristotelismus fand trotz Maimonides auch jüdische Anhänger, und am meisten wirkte in dieser Richtung der Einfluß Ibn Rošds, der zur selben Zeit, als Maimonides seine Philosophie abschloß, den von ihm bekämpften Tendenzen eine neue und in religiöser Beziehung radikalere Form gegeben hatte.

Die philosophische Literatur des 13. Jahrhunderts bedarf keiner eingehenderen Darstellung, da sie die Probleme, wie bereits gesagt, nicht nennenswert vorwärts bringt. Die teilweise noch in das Ende des 12. Jahrhunderts fallenden Schriften des Josef ben Jehuda ibn 'Aqnin (wohl identisch mit dem Lieblingsschüler des Maimonides Josef ben Jehuda, dem der More Nebukim gewidmet ist) verbleiben in ihrer allgemein philosophischen Haltung im wesentlichen auf dem Boden der Lehren Ibn Sinas und bieten auch religionsphilosophisch nicht viel Neues. Schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts dringt dann Ibn Rošd in die jüdische Philosophie ein, ohne daß aber die von ihm begründete neue Fassung des Aristotelismus zunächst zum Gegenstand systematischer Erörterung wird. Der Übersetzer des More Nebukim, Samuel ibn Tibbon, hat auch einige kleinere Abhandlungen Ibn Rosds ins Hebräische übersetzt und zieht ihn bei seiner eigenen philosophischen Bibeldeutung neben den älteren Philosophen ständig heran. Wie seine Abhandlung über Genesis I, 9 zeigt, die im Anschluß an diesen Bibelvers verschiedene kosmologische Fragen behandelt, führt er die philosophische Deutung von Bibel- und Talmudstellen sehr ins Einzelne, obwohl er im Gegensatz zu Maimonides erklärt, die Tora sei in erster Linie für das Volk geschrieben und berücksichtige nur sekundär auch die Philosophen. Sein Schwiegersohn Jakob Aanatoli übersetzte am Hofe Friedrichs II. den mittleren Kommentar Ibn Rošds zu einigen Büchern der Aristotelischen Logik ins Hebräische und kam dort auch mit den christlichen Gelehrten, die im Auftrage Friedrichs arbeiteten, besonders mit dem Übersetzer Michael Scotus in Berührung. Sein eigenes Werk »Die Unterweisung der Schüler« (Malmad ha-Talmidim), eine Sammlung von Vorträgen zum Pentateuch, ist mehr von kulturhistorischer als von philosophischer Bedeutung. Die allegorisierende Schriftauslegung ist in ihm schon weit vorgeschritten, bewegt sich aber im ganzen in dem Gedankenkreis des Maimonides. Deutlich geht aus dem Buche hervor, ein wie enger geistiger Zusammenhang damals die philosophische Aufklärung innerhalb der verschiedenen Religionen verband. Anatoli erweist sich nicht nur mit christlichen Verhältnissen wohl vertraut, er führt auch eine Reihe von Bemerkungen seines Mitarbeiters Michael Scotus an und erwähnt einige, an Maimonides anknüpfende, ganz in seinem Geiste gehaltene philosophische Bibelerklärungen Friedrichs II. [R495].

Auch die umfangreiche philosophische Literatur des ausgehenden 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts verbleibt zum überwiegenden Teil in den festgelegten Bahnen. Die zahlreichen Schriften des Šemṭob ibn Falaqera (gest. um 1290) verraten durchweg gründliche philosophische Gelehrsamkeit, hinter der jedoch seine Selbständigkeit weit zurückbleibt. In einem populär gehaltenen Dialog zwischen einem Freunde und einem Gegner der Philosophie sucht er die religiösen Bedenken gegen das philosophische Studium zu widerlegen, und in einer Reihe von Schriften gibt er einen kompendiarischen Überblick über die verschiedenen Gebiete der Philosophie. In mehreren kleineren derartigen Büchern hält er sich überwiegend an die älteren islamischen Aristoteliker; seine Schrift über die Seele z. B. läßt Ibn Rošds Lehre vom Intellekt ganz unberücksichtigt, während ein noch unveröffentlichtes größeres enzyklopädisches Werk sich in erster Reihe an Ibn Rošd anschließt [R496]. Sehr wertvoll ist sein Kommentar zum More Nebukim, in dem er oft auf die von Maimonides abweichenden Ansichten Ibn Rošds hinweist, es in der Regel allerdings bei der Gegenüberstellung der verschiedenen Meinungen bewenden läßt. Der bereits erwähnte Lewi ben Abraham ben Ḥajjim aus Villefranche (etwa 1250 bis 1315), der von den Feinden der Philosophie scharf angegriffen wurde, ging in Wirklichkeit in seiner grundsätzlichen Position über Maimonides nicht hinaus, hat freilich auch zu dessen Gedanken nicht viel eigenes hinzugebracht. Rücksichtsloser in seinem Rationalismus war Josef Caspi (1279 bis etwa 1340), der Verfasser zahlreicher philosophischer und exegetischer Schriften. Auch er hat den More Nebukim kommentiert und bemüht sich in seinem Kommentar wiederholt, die Abweichungen des Maimonides von den Theorien des Aristotelismus, insbesondere seine Polemik gegen die Lehre von der Weltewigkeit, als bloße Akkomodation an die hergebrachten religiösen Anschauungen darzustellen [R497].

Der italienische Philosoph Hillel ben Samuel (nach 1291 gestorben) ragt über seine Zeitgenossen durch philosophische Originalität nicht hervor. Aber sein Versuch, das von Maimonides nur gelegentlich berührte Problem der Unsterblichkeit systematisch zu behandeln, ist doch insofern von Bedeutung, als er an einem zentralen Punkte die Auseinandersetzung mit Ibn Rošds Deutung des Aristotelischen Systems eröffnet [R498]. Ibn Sinas Auffassung der Aristotelischen Lehre vom Intellekt und seiner Unsterblichkeit, die Ibn Daud unverändert übernommen hatte, war durch die islamischen Aristoteliker des Westens, vor allem durch Ibn Rošds kühne Theorie von der Einheit des Intellekts verdrängt worden. Nicht nur die von Ibn Sina gelehrte substanzielle Unsterblichkeit der Seele, sondern auch die Form individueller Unsterblichkeit, welche die Lehre von der Ewigkeit des erworbenen Intellekts ermöglichte, schien durch Ibn Rošd in Frage gestellt. So war es ein drängendes Problem, das Hillel ben Samuel in seiner Schrift »Die Vergeltung der Seele« (Tagmule-ha-Nefeš) in Angriff nahm. Freilich führte er den Kampf nicht mit eigenen Mitteln. Seine Vertrautheit mit der lateinischen Sprache, aus der er neben medizinischen Schriften auch das neuplatonische Buch »De causis« ins Hebräische übersetzt hat, ermöglichte es ihm, sich die Widerlegung Ibn Rošds durch Thomas von Aquino zunutze zu machen. Was er aus eigenem hinzugibt, ist hilflos genug, aber bei aller eklektischen Unsicherheit bleibt ihm das Verdienst, in der jüdischen Philosophie die Diskussion des Problems nach seinem damaligen Stande eröffnet zu haben.

Der Beweis für die Existenz und Substanzialität der Seele wird in der gemeinaristotelischen Form geführt. Das organische Leben setzt ein besonderes Lebensprinzip voraus, das, da es das Wesen der organischen Körper ausmacht, keine akzidenzielle Bestimmung der organischen Körper sein kann, sondern ihre substanzielle Form bilden muß. Diese allen Richtungen des Aristotelismus gemeinsame Auffassung der Seele ebenso wie die sich daraus ergebenden Konsequenzen ihrer Unbewegbarkeit und Unteilbarkeit entwickelt Hillel in engem Anschluß an Ibn Sina, vielfach in wörtlicher Übereinstimmung bald mit ihm, bald mit der von ihm beeinflußten Schrift des Dominicus Gundissalinus »De Anima« [R499]. Auch Hillels Definition der Seele, die den Aristotelischen Begriff der ersten Entelechie eines natürlichen organischen Körpers mit dem Begriff einer selbständigen formartigen Substanz und zugleich mit dem Begriff einer Emanation der rein geistigen Substanzen verbindet, ist trotz ihres neuplatonischen Einschlages nicht erheblich von Ibn Sina entfernt [R500].

Die von Ibn Rošd geschaffene neue Problemlage wird nach zwei Seiten von Hillel diskutiert. Einmal schreibt Hillel dem Ibn Rošd unter Berufung auf dessen Kommentar zu »De Anima« die Meinung zu, daß die Seele aller menschlichen Individuen eine und dieselbe ist und sich nur akzidenziell durch ihre Verbindung mit den verschiedenen menschlichen Körpern vervielfältigt. Späterhin bespricht er dann die bekannte Theorie Ibn Rošds von der Einheit des Intellekts in allen Menschen. In Wirklichkeit handelt es sich beide Male um dieselbe Theorie, da Ibn Rošd, auch wenn er von der Einheit der Seele spricht, nur ihren denkenden Teil meint, während ihr animalischer und vegetativer Teil an den Körper gebunden ist und an seiner Vielheit Anteil hat.

Nach Hillels Darstellung an der ersten Stelle beweist Ibn Rošd die Einheit der Seele daraus, daß die Form als das begriffliche Wesen der Dinge bei allen Individuen die gleiche ist, und bildet diesen Begriff der gemeinsamen Wesensform zu dem Gedanken einer allen einzelnen Individuen gemeinsamen Seele um. Gegen die Annahme einer Vielheit von Einzelseelen wendet er ein, daß diese weder als ewig noch als erschaffen gelten können; nicht als ewig, weil die Form eines Dinges nicht getrennt von ihrer Materie, die Seele also nicht vor dem Körper existieren kann, nicht als geschaffen, weil eine Entstehung der Form nicht möglich ist. Will man nicht zu dem Wunder einer Entstehung aus dem Nichts greifen, so müßte die Form entweder aus einer anderen Form oder aus der Materie geworden sein, was beides ihrem Begriff widerspricht. Da die Annahme Ibn Sinas, daß die Einzelseele zusammen mit dem Körper entsteht, sich so als unmöglich erweist, muß die Vielheit der Einzelseelen überhaupt aufgegeben werden [R501]. Hillel schließt sich dieser Beweisführung Ibn Rošds zunächst an und übernimmt damit auch sein Resultat von der Einheit der Seele in der menschlichen Gattung, um dann hinzuzufügen, daß aber aus dieser Universalseele eine Vielheit von Einzelseelen emaniere [R502]. Die Einwände Ibn Rošds gegen eine Entstehung der Seele sollen auf diesen Emanationsprozeß nicht zutreffen, trotzdem die Argumentation Ibn Rošds offenbar gerade gegen den Emanationsgedanken gerichtet ist. Von der Schwäche der Gegenargumentation abgesehen, bleibt es unerklärlich, warum Hillel sich zunächst die Theorie Ibn Rošds von der Einheit der Seele zu eigen macht, um dann mit einer bloßen Veränderung der Formulierung zu Ibn Sina zurückzukehren.

Unabhängig von dieser dem Ibn Rošd zugeschriebenen Lehre von der Einheit der Seele behandelt Hillel dann dessen Theorie von der Einheit des möglichen oder materiellen Intellekts in ihrer bekannten Form [R503]. Ibn Rošd will die Schwierigkeiten der Aristotelischen Lehre vom Intellekt dadurch lösen, daß er nicht nur, wie Alexander von Aphrodisias und die Gesamtheit der islamischen Aristoteliker, in dem aktiven Intellekt eine überindividuelle geistige Substanz sieht, sondern diese Deutung auch auf den möglichen Intellekt ausdehnt. Es gibt danach nur ein einheitliches, überindividuelles Denken, das sich bloß insoweit individualisiert, als die einzelnen menschlichen Individuen je nach ihrer besonderen Disposition in verschiedener Gestalt an ihm Anteil haben. In dieser Theorie wird, im Gegensatz zu der vorangegangenen Darstellung Hillels, die Individualität der Einzelseele vorausgesetzt, der Intellekt aber aus ihr herausgehoben, und da nur der denkende Teil der Seele unsterblich sein kann, die individuelle Unsterblichkeit wiederum vereitelt. In seiner Polemik gegen diese Theorie beruft sich Hillel auf die christlichen Gegner Ibn Rošds, aber er gibt nicht zu erkennen, daß er in Wirklichkeit nur den Traktat des Thomas von Aquino »De unitate intellectus contra Averroistas« ausschreibt. Das ganze Kapitel, insbesondere der ausführliche Nachweis, daß die Deutung Ibn Rošds durchaus gegen Sinn und Wortlaut des Aristoteles ist, ist ein Auszug aus Thomas. Die mehr exegetische als philosophische Beweisführung braucht im Einzelnen nicht besprochen zu werden. In dem Resultat weicht Hillel nur insofern von Thomas ab, als er lediglich den möglichen Intellekt als Bestandteil der Einzelseele ansieht, während er an der Überindividualität des aktiven Intellektes festhält. Für den der Einzelseele zugehörigen möglichen Intellekt aber macht er dasselbe sachliche Argument geltend, mit dem Thomas den hauptsächlichsten Einwand Ibn Rošds gegen die Zugehörigkeit des Intellekts zur Einzelseele zurückgewiesen hatte. Mit der Aristotelischen Definition der Seele als der Form des Körpers verträgt es sich schlecht, den nach Aristoteles vom Körper gänzlich unabhängigen Intellekt doch als Teil der Seele anzusehen. Diesen inneren Widerstreit der Aristotelischen Psychologie will Ibn Rošd dadurch beseitigen, daß er den Intellekt von der an den Körper gebundenen Seele abscheidet und ihn zu einer überindividuellen Substanz macht. Nach Hillel ist dies jedoch kein durchgreifendes Argument. Die Seele kann Form des Körpers sein und doch Kräfte besitzen, die vom Körper unabhängig sind [R504]. Damit gewinnt er auch die Möglichkeit, die Unsterblichkeit des erkennenden Seelenteils aufrechtzuerhalten, der, wie in seinem Wirken, so in seinem Sein, vom Körper unabhängig ist und dessen Untergang deshalb überdauern kann [R505]. In der komplizierteren Fassung, die Thomas dem Gedanken gegeben hatte, erneuert Hillel so den Versuch Ibn Sinas, auf dem Boden des Aristotelischen Seelenbegriffes die substanziale Selbständigkeit und Unvergänglichkeit der erkennenden Seele festzuhalten.

Es steht damit nicht in formalem Widerspruch, daß Hillel die Bestimmung des menschlichen Intellekts und die höchste Glückseligkeit des Menschen darin sieht, sich mit dem aktiven Intellekt zu verbinden und eins mit ihm zu werden [R506]. Auch bei Annahme einer substanzialen Selbständigkeit der Einzelseele ist diese Auffassung möglich. Aber nach ihrer ursprünglichen Intention führt sie die Ewigkeit des menschlichen Geistes nicht auf sein eigenes Wesen, sondern auf seine Vereinigung mit dem aktiven Intellekt zurück und versteht die Unsterblichkeit des Geistes als sein Eingehen in den universalen aktiven Intellekt. Tatsächlich folgt Hillel in diesem Teil seiner Lehre auch ganz dem Ibn Rošd, freilich einer Fassung seiner Theorie, nach der der mögliche Intellekt nicht von der Einzelseele geschieden zu sein scheint. Es sind Ibn Rošds kleine Abhandlungen über die Vereinigung des separaten Intellekts mit dem Menschen, die von ihm großenteils wörtlich reproduziert werden [R507]. Wenn die Verbindung so verschiedenartiger Deutungen der Aristotelischen Psychologie sich auch von eigentlichen Widersprüchen im wesentlichen freihält, so konnte sie ihre heterogenen Bestandteile doch nur zu äußerlicher Einheit zusammenfügen.

Der Zeitgenosse Hillels, Isaak Albalag, der entweder in Südfrankreich oder in Nordspanien gelebt hat, verdankt seinen Platz in der Geschichte der jüdischen Philosophie der Tatsache, daß er in ihr als erster und auf lange hinaus als einziger die Lehre von der doppelten Wahrheit vertreten hat, die zur gleichen Zeit auch im christlichen Averroismus auftritt. Er entwickelt sie in den Anmerkungen und Exkursen, die er seiner hebräischen Übersetzung der Schrift Ġazalis über die Hauptmeinungen der Philosophen beigefügt hat [R508]. In der Einleitung zu dieser Übersetzung stellt er das Verhältnis von Philosophie und Offenbarung freilich erheblich anders dar. Er schließt sich hier der Theorie Ibn Rošds an, daß die Offenbarung die Vernunftwahrheit in einer dem Verständnis der Menge angepaßten Form enthält. Ihre scheinbaren Abweichungen von der philosophischen Wahrheit sind nur ihrer dem Standpunkt des Volkes angepaßten Darstellungsweise zuzuschreiben. Überall aber gibt die Tora dem Philosophen einen Hinweis, um zu ihrem tieferen Sinn vorzudringen, und alle philosophische Wahrheit ist in ihr zu finden [R509]. Schon hier behauptet Albalag indessen, wiederum im Anschluß an Ibn Rošd, daß die Offenbarung außer dieser rationalen Wahrheit auch rein prophetische Lehren umfaßt, die der Vernunft unzugänglich sind [R510]. Aus dieser Anerkennung einer überrationalen Wahrheit wird dann späterhin die ganz andere These, daß zwischen Vernunftwahrheit und Offenbarung ein direkter Widerspruch bestehen kann. Albalag bringt jetzt die im christlichen Averroismus übliche Formel: das, was rein natürlich betrachtet unmöglich sei, könne kraft der übernatürlichen, sich dem Propheten offenbarenden Allmacht Gottes doch möglich sein. Darum erklärt Albalag, vieles glaubensmäßig zu bejahen, was er erkenntnismäßig verneinen müsse [R511]. Den Versuch, Philosophie und Religion zu harmonisieren, bezeichnet er als einen Irrtum, nicht nur in wissenschaftlicher, sondern auch in religiöser Beziehung, und schließt in diese Kritik ausdrücklich den Maimonides mit ein, dem er vorwirft, aus religiösen Gründen die philosophische Wahrheit umgebogen zu haben.

Während Albalag hier gleich den christlichen Averroisten den Widerspruch beider Wahrheitsformen darauf zurückführt, daß die Offenbarung uns die Sphäre des Übernatürlichen erschließt, welche die der Philosophie allein zugängliche natürliche Gesetzmäßigkeit durchbricht, macht er dann den Versuch, die Gegensätzlichkeit von Philosophie und Offenbarung aus der Verschiedenheit ihrer Erkenntnisgrundlagen abzuleiten. Er bringt das auf die scharf zugespitzte Formel, daß die Philosophie auch das Sinnliche in begrifflicher, die Prophetie das Begriffliche in sinnlicher Form erfaßt. Der intuitive Charakter der Prophetie und der begriffliche der Philosophie hat die Verschiedenheit ihres Inhalts zur notwendigen Folge [R512]. Wie die philosophische Wahrheit nur mit den Erkenntnismitteln der Philosophie, kann die prophetische nur mit denen der Prophetie ergriffen werden. Darum müssen alle, die nicht selbst Propheten sind, sich der prophetischen Wahrheit gegenüber mit dem bloßen Glauben begnügen. Auch jetzt aber will er nicht auf die philosophische Umdeutung der Tora verzichten. Er erklärt zwar, daß wir niemals die Gewähr haben, ihren tieferen Sinn wirklich zu treffen, hält es aber für berechtigt, daß wir versuchen, die erkannte philosophische Wahrheit in ihr wiederzufinden [R513]. Nach diesen Reservationen geht er daran, die Tora rücksichtslos im Sinne der Ibn Rošdschen Philosophie zu erklären. Den Schöpfungsbericht faßt er in dem Sinne der Weltewigkeit auf und zeigt in einer im Einzelnen sehr geistreichen Interpretation, daß er in der populären Form der zeitlichen Entstehung der Welt den Gedanken des ewigen Ursprungs der Welt aus Gott zum Ausdruck bringt [R514]. Ebenso sucht er u. a. Ibn Rošds Lehre vom göttlichen Wissen in die Bibel und die talmudische Hagada hineinzudeuten [R515]. Trotz der grundsätzlichen Anerkennung eines über- und selbst antirationalen Gehaltes der Offenbarung kommt er so zu einer radikalen Rationalisierung ihrer Lehren. Konkret wirkt sich die Lehre von der doppelten Wahrheit nur dahin aus, daß die Philosophie allen theologischen Eingriffen entzogen wird.

Eine solche Fassung der Lehre von der doppelten Wahrheit legt gewiß den Argwohn nahe, daß sie keine ernstgemeinte Theorie, sondern nur die Deckung für einen philosophischen Radikalismus ist, der sich durch die Autorität der Offenbarung nicht beengen lassen will. Gleichviel aber, wie es mit der Ehrlichkeit Albalags in diesem Punkte steht, hat doch die Theorie als solche einen mehr als bloß diplomatischen Sinn. Werden Offenbarungsautorität und metaphysische Erkenntnis als gleich absolut geltende Wahrheitsinstanzen nebeneinander festgehalten, so fehlt bei Differenzen zwischen ihnen jede Möglichkeit eines prinzipiellen Ausgleichs, und es bleibt nur der Weg der gegenseitigen Akkomodation von Fall zu Fall. Der Protest gegen dieses Akkomodationsverfahren mit seinen Künstlichkeiten und Gewaltsamkeiten ist das innere Motiv des Gedankens der doppelten Wahrheit. Das Bewußtsein von der Eigenart der einander gegenüberstehenden Formen des Geistes führt zu dem paradoxen Gedanken zweier einander widersprechenden Wahrheitsformen. Um die Autonomie der einzelnen Wahrheitsformen festzuhalten, wird die Einheit des Wahrheitsbegriffs zersprengt, die für die herrschende Form des mittelalterlichen Rationalismus nur als Identität von philosophischer und religiöser Wahrheit vorstellbar war.

Der äußeren Form seiner Werke nach gehört Mose ben Josua aus Narbonne (Mose Narboni, gest. 1362) in die Reihe der früher besprochenen Verfasser von Kommentaren und Kompendien hinein. Seine philosophischen Schriften bestehen bis auf wenige kleine selbständige Abhandlungen aus Kommentaren. Der überwiegende Teil von ihnen erklärt die Schriften Ibn Rošds; im Druck ist bisher außer einer kleinen Abhandlung über die Willensfreiheit allein sein Kommentar zum More Nebukim erschienen. Dieses Werk aber, das er am Ende seines Lebens mit besonderer Liebe und Hingebung geschrieben hat, ist von selbständiger philosophischer Bedeutung. Schärfer und grundsätzlicher, als seine Vorgänger es getan hatten, übt er an Maimonides vom Standpunkte Ibn Rošds aus Kritik. Sie gilt insbesondere der – meist neuplatonischen – Interpretation Aristotelischer Lehren, die Maimonides von Alfarabi und Ibn Sina übernommen und der Ibn Rošd eine reinere und strengere Deutung gegenübergestellt hatte. Sowohl die Beweisführung für das Dasein Gottes wie vor allem die Auffassung des Gottesbegriffs wird von ihr betroffen [R516]. Aber auch der Polemik des Maimonides gegen den Aristotelismus, insbesondere seinen Einwänden gegen die Aristotelische Lehre von der Weltewigkeit ist durch Ibn Rošd in wesentlichen Punkten die Grundlage entzogen. Bei aller Kritik an Maimonides ist Narboni indessen von höchster Bewunderung für ihn erfüllt und fühlt sich in der Grundintention in keinem Gegensatze zu ihm. Wie für alle folgenden jüdischen Denker ist Maimonides auch für Narboni der große philosophische Interpret des Judentums; dabei stehen sie aber alle unter dem Eindruck Ibn Rošds und bemühen sich, seiner Auffassung des Aristotelischen Systems gerecht zu werden. Die aus dieser Situation entspringende Aufgabe, die Fragestellung des Maimonides Ibn Rošd gegenüber zu erneuern, hatte indessen Narboni so wenig wie seine Vorgänger in Angriff genommen. Sein Zeitgenosse Lewi ben Gerson war der erste, der sie sich stellte.

e) Lewi ben Gerson

Lewi ben Gerson (Gersonides, 1288-1344) aus Bagnols in Südfrankreich war in dem ganzen Gebiet mittelalterlicher Wissenschaft heimisch und hat in eine Reihe von Disziplinen mit bedeutender Produktivität eingegriffen [R517]. Auf theologischem Gebiet hat er neben einigen talmudischen Abhandlungen Kommentare zum Pentateuch, den ersten Propheten und dem größten Teile der Hagiographen verfaßt. Innerhalb der Mathematik hat er arithmetische, geometrische und trigonometrische Werke geschrieben und sich in seinen geometrischen Schriften besonders um eine Begründung der Axiome der Geometrie bemüht [R518]. Größten Ansehens erfreute er sich als Astronom. Zwei astronomische Instrumente, den Jakobsstab, der zur Messung von Sehwinkeln bestimmt war, und die Dunkelkammer sind von ihm erfunden (die letztere vielleicht nur vervollkommnet und in ihrer Bedeutung richtig bestimmt) worden. Das Ergebnis der Beobachtungen, die er mit Hilfe dieser Instrumente machte, faßte er in seinen Mondtabellen zusammen. Endlich stellte er in seinem religionsphilosophischen Hauptwerk eine neue Theorie der Gestirnbewegungen auf, die sich sowohl von der Lehre des Ptolemaios wie von deren Umbildung durch die islamischen Astronomen in wesentlichen Punkten unterschied. Während die bisherige Auffassung von der Bewegung der Himmelssphären den Prinzipien der Aristotelischen Physik widersprach und darum zu der Annahme geführt hatte, die astronomische Theorie habe lediglich der Beschreibung der Gestirnbewegungen zu dienen und könne auf absoluten Wahrheitswert keinen Anspruch machen, wollte er den Einklang von Physik und Astronomie herstellen und so eine wahre Theorie der Himmelserscheinungen geben. Da das sehr umfangreiche astronomische Kapitel in die Druckausgaben seines Werkes nicht mitaufgenommen worden ist und noch keine fachmännische Untersuchung gefunden hat, ist ein abschließendes Urteil über den Wert seiner Leistung nicht möglich [R519]. Die christlichen Astronomen des späteren Mittelalters und noch der beginnenden Neuzeit haben nicht nur die von Lewi ben Gerson erfundenen Instrumente viel benutzt, auch seine in lateinischer Übersetzung verbreitete astronomische Theorie ist viel beachtet worden. Als Philosoph hat sich Lewi ben Gerson ebenso wie seine Zeitgenossen nicht auf das religionsphilosophische Gebiet beschränkt, er hat den (mittleren) Kommentar Ibn Rošds zum Aristotelischen Organon und ebenso Kommentare desselben zur Metaphysik und zu den naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles superkommentiert und auch eine selbständige logische Schrift verfaßt. Gedruckt ist nur die lateinische Übersetzung einiger dieser Kommentare.

Sein Hauptwerk aber sind seine »Gotteskämpfe« (Milḥamot Adonai), die seine Religionsphilosophie enthalten. Sie greifen allerdings nur einige der umstrittenen Grundfragen heraus, aber aus ihrer eingehenden Erörterung ergibt sich doch das Bild einer in sich abgeschlossenen Religionsphilosophie. Darstellerisch hat das Werk einen ausgesprochen scholastischen Charakter. Bei jeder Frage werden die bisherigen Anschauungen ausführlich dargestellt, die Gründe für und gegen sie eingehend diskutiert und aus dieser Diskussion dann die eigene Ansicht herausgearbeitet. Berücksichtigt werden dabei von philosophischen Ansichten nur die verschiedenen Interpretationen des Aristoteles. Die Schulkontroversen des Aristotelismus bilden überall den Ausgangspunkt der Darstellung und bieten das Material für die Gewinnung des eigenen Standpunkts.

Dabei war es Lewi vor allem um die Auseinandersetzung mit Ibn Rošd zu tun. Auf Grund und gegenüber seiner Philosophie suchte Gersonides den Ausgleich zwischen Offenbarung und philosophischer Wahrheit in neuer Form herzustellen. Ganz und gar folgt er Ibn Rošd in der Fassung des Gottesbegriffs. Hier war dieser, wie in so vielen anderen Punkten seiner Lehre, von dem Neuplatonismus Alfarabis und Ibn Sinas den Weg zu dem ursprünglichen Aristoteles zurückgegangen. Gott war für ihn nicht das jeder Bestimmung unzugängliche Eine, sondern das höchste Denken im Sinne des Aristoteles. Die Gotteslehre der älteren Aristoteliker hatte, wie sich bei Maimonides ergeben hat, freilich dieser Aristotelischen Bestimmung auch gerecht werden wollen, sich dabei aber notwendig in Widersprüche verwickelt. Gersonides folgt Ibn Rošd in der Rückkehr zu Aristoteles und unterscheidet sich von ihm nur in der noch größeren Bestimmtheit, mit der er diesen Standpunkt durchführt. Dem Grundargument gegen die Annahme positiver Attribute, daß jedes Attribut die schlechthinnige Einheit des göttlichen Wesens aufheben müsse, hält er entgegen, daß nicht alles, was wir begrifflich in einem Gegenstande unterscheiden können, darum eine reale Vielheit in ihm setzt. So wenig wie in einem bestimmten Rot Farbigkeit und Röte als zwei real verschiedene Momente enthalten sind, obwohl wir sie begrifflich einander gegenüberstellen können, so wenig gibt es in Gott einen Unterschied zwischen dem Wesen und dem Denken, weil wir in der begrifflichen Aussage beides sondern und das Wesen zum Subjekt des Denkens machen. Gott ist seinem Wesen nach das höchste Denken, und die Dualität beider Momente gehört nur der begrifflichen Ausdrucksform, nicht der Sache an [R520]. Derselbe Gesichtspunkt liegt auch seiner Polemik gegen die Behauptung zugrunde, weil bei Gott Existenz und Einheit nicht wie bei allen anderen Dingen akzidenziell zum Wesen hinzutreten, sondern mit diesem eins seien, dürften wir ihm diese Prädikate nicht als gesonderte Bestimmungen positiv zusprechen, sondern nur negativ Nichtsein und Vielheit von ihm ausschließen. Gersonides vertritt demgegenüber den von Ibn Rošd wieder aufgenommenen ursprünglichen Aristotelischen Standpunkt, daß bei allen Dingen Einheit und Existenz mit dem Wesen eins ist, und er zeigt, daß diese notwendig zum Wesen gehörigen formalen Bestimmungen keinerlei Vielheit in dem Wesen implizieren. Gerade weil Einheit und Existenz mit dem Wesen eins sind, dürfen wir sie auch Gott positiv zusprechen, ohne seine Einheit anzutasten. Wenn Ibn Sina und Maimonides gelehrt hatten, daß die Eigenschaften anderer Wesen mit denen Gottes nur den Namen gemeinsam haben, während sie in ihrer sachlichen positiven Bedeutung auf Gott gänzlich unanwendbar sind, nimmt Gersonides an, daß es sich bei der Anwendung auf Gott und auf andere Wesen um dieselben Eigenschaften handelt. Nur kommen die Eigenschaften Gott ursprünglich und allen Wesen außer ihm nur abgeleitet zu. Sowohl die formalen Attribute der Existenz und Einheit wie die inhaltlichen Bestimmungen seines Wesens besitzt Gott allein ursprünglich, alle anderen Wesen haben nur durch ihn an ihnen Anteil, und so bleibt die Unvergleichbarkeit Gottes mit allem Geschaffenen durch die wesensandere Form, in der Gott diese Bestimmungen zukommen, gewahrt [R521]. Diese Loslösung von der neuplatonischen Gottesvorstellung bedeutet freilich keineswegs eine Anerkennung des persönlichen Gottesbegriffs der Bibel. Der ganze Aufbau des Systems zeigt, wie streng er an dem Aristotelischen Begriff von Gott als dem obersten Denken und dem höchsten Formprinzip des Seins festhält.

Das Verhältnis von Gott und Welt findet seine Bestimmung in der Diskussion des Schöpfungsproblems, die für ihn wie für Maimonides die Stelle ist, an der er die biblische und die Aristotelische Weltansicht miteinander ausgleicht. Ebenso wie Maimonides lehnt auch er die Lehre von der Weltewigkeit ab und geht über Maimonides insofern noch hinaus, als er sie streng widerlegen zu können glaubt. Aber sowohl ihrem Resultat wie ihren Gesichtspunkten nach ist seine Untersuchung weit von der des Maimonides verschieden. Das stärkste positive Argument für die Erschaffenheit der Welt sieht er in ihrer Zweckmäßigkeit. Die zweckmäßige Struktur der Dinge setzt voraus, daß sie das Werk einer Zweckursache sind. Dies Argument verstärkt sich noch dadurch, daß die Zweckmäßigkeit sich nicht nur in der inneren Beschaffenheit der Einzelwesen, sondern auch in ihrem Zusammenhange offenbart, der zeigt, daß ein Wesen um des anderen willen da ist [R522]. Nur sekundär zieht Gersonides auch das Argument des Maimonides heran, das von der rational nicht ableitbaren Individualität der Dinge und speziell der Himmelserscheinungen ausgeht. Die teleologische Ordnung des Seins beweist unmittelbar freilich nur den Ursprung der Dinge aus Gott und führt noch nicht zu ihrer zeitlichen Entstehung hin. Allein den der Emanationstheorie zugrunde liegenden Gedanken eines ewigen Ursprungs der Dinge aus Gott hält Gersonides für in sich widerspruchsvoll. Die Dinge als ewig und zugleich als von Gott bewirkt zu denken, ist unmöglich. Will man beides vereinen, so wird man zu der Vorstellung getrieben, daß die Dinge ständig von Gott neugeschaffen werden, und hebt damit die substanzielle Beharrung der Dinge auf. Ihr Sein wird zu einem ständigen Entstehen und Vergehen [R523]. Diese Ablehnung einer ständigen Emanation der Dinge aus Gott läßt nur die Alternative zwischen Unerschaffenheit und einmaliger Entstehung der Welt übrig. Der teleologische Beweis für den Ursprung der Dinge aus Gott ergibt somit zugleich auch ihren zeitlichen Anfang. Gegen die Ewigkeit der Welt spricht sodann die Unmöglichkeit, die abgelaufene Zeit als unendlich zu denken. Dies dem Kalam entnommene Argument führt Gersonides in eingehender Kritik der Aristotelischen Lehre von der Anfangslosigkeit der Zeit durch. Aristoteles selbst lehrt, daß es eine aktuell unendliche Größe nicht geben kann, er erkennt nur eine potenzielle Unendlichkeit an. Sein Beweis für das Dasein eines ersten Bewegers ist auf der Unmöglichkeit einer unendlichen Reihe von Ursachen aufgebaut. Wenn er im Gegensatz dazu die Ewigkeit der Welt behauptet und somit die abgelaufene Zeit als unendlich anerkennen muß, so rechtfertigt er das damit, daß diese Unendlichkeit der Zeit nur eine potenzielle ist, weil die Zeit als solche, in der die Vergangenheit nicht mehr, die Zukunft noch nicht existiert, kein aktuelles Sein besitzt. Gersonides läßt diese künstliche Distinktion nicht gelten. Das Sein der Vergangenheit kann nicht als ein bloß potenzielles betrachtet werden, wenn man dem Begriff der Potenzialität nicht Gewalt antun will. Die Vergangenheit ist trotz des Nacheinanders ihrer Teile eine seiende Größe und sie müßte als eine unendliche Größe vorgestellt werden, wenn die Welt keinen Anfang hätte. Der Begriff der Unendlichkeit ist nur dann legitim, wenn er nicht zu dieser widerspruchsvollen Vorstellung einer unendlichen Größe führt. Das aber ist bei der Vorstellung einer unendlichen abgelaufenen Zeit unvermeidbar. Ich kann sonst eine Größe bis ins Unbegrenzte vermehren, ohne daß sie je zu einer unendlichen Größe wird, während bei der Annahme der Weltewigkeit die abgelaufene Zeit eine fertige Unendlichkeit darstellt [R524].

Der Aristotelischen Beweisführung für die Unentstandenheit der Welt hatte Maimonides entgegengehalten, daß sie die Gesetze des innerweltlichen Werdens zu Unrecht auf das Werden des Weltganzen überträgt. Daß alles Werden eine Materie voraussetze, die darum selbst nicht dem Werden unterworfen sein könne, und daß jeder Bewegung eine andere vorausgehen, die Bewegung als solche also unentstanden sein müsse, gelte nur für das Werden innerhalb der Welt. Dagegen sei es unberechtigt, diese für das Werden innerhalb der Welt unbedingt gültigen Voraussetzungen auch auf das Werden des Weltganzen zu übertragen. Maimonides hatte dem Gedanken dann die Form gegeben, daß die für das bereits fertige Sein gültigen Gesetze nicht auf das erst entstehende Sein angewandt werden dürfen. Gersonides nimmt den Gedanken auf, hält aber eine engere und präzisere Fassung desselben für erforderlich. Auch er sieht es als unberechtigt an, das Werden des Ganzen und das Werden seiner Teile gleichmäßig zu behandeln und alles, was für das Werden der Teile gilt, auch für das Werden des Weltganzen als gültig anzusehen. Aber so wenig es berechtigt ist, beide kritiklos einander gleichzustellen, so wenig darf man mit Maimonides jede Gemeinsamkeit zwischen beiden negieren. Man muß vielmehr untersuchen, wieweit die Bedingungen des Werdens der Teile nur für diese gelten und wieweit alles Werden ihnen unterworfen ist [R525]. Noch schärfer formuliert er den Gedanken dahin, daß diejenigen Gesetze, denen ein Ding unterworfen ist, weil es eben dieses bestimmte Ding ist, nicht auf es angewandt werden können, bevor es diese Bestimmtheit hat. Was aber für ein Ding gilt, nicht weil es so oder so bestimmt ist, sondern weil es ein existierendes Ding überhaupt ist, muß für das werdende Ding ebenso wie für das bereits gewordene anerkannt werden [R526]. Wenn Maimonides den Bedingungen des Werdens unterschiedslos eine bloß empirische Bedeutung zugesprochen hatte, so will Gersonides der letzten Tendenz seiner Unterscheidung nach darauf hinaus, zwischen Gesetzen von bloß empirischer Valenz und Gesetzen von überempirischer Notwendigkeit zu unterscheiden. Die letzteren sollen auch für das Werden des Weltganzen in Kraft bleiben und an sie bleibt auch das Wirken Gottes gebunden. Die konkrete Konsequenz, die er aus diesen allgemeinen Erwägungen zieht, ist die, daß eine Entstehung der Materie unmöglich ist. Aus Gott als dem obersten Formprinzip kann nur der Inbegriff der Formen entspringen. Die wesensmäßig von aller Form verschiedene Materie ist aus Gott nicht ableitbar. Auch muß allem Werden die Werdensmöglichkeit und als ihr Substrat die Materie vorhergehen [R527]. Mit derselben Schärfe wie Ibn Rošd hält auch Gersonides an dem letzten unüberbrückbaren Dualismus von Materie und Form fest. Das Schaffen Gottes ist kein Schaffen aus dem Nichts, sondern setzt eine präexistente Materie voraus. Maimonides hatte eine solche Annahme, die man im Timaeus Platons zu finden glaubte, für religiös erträglich erklärt, und es fiel Gersonides leicht, den biblischen Schöpfungsbericht in ihrem Sinne zu deuten. Dabei bemüht er sich allerdings, die Funktion der Materie auf die rein formale eines Substrats des Werdens einzuschränken. Sie enthält in sich keine bestimmte Disposition, sondern ist die vollkommen indifferente Werdensmöglichkeit schlechthin, die die Inhaltlichkeit des göttlichen Schaffens in keiner Weise bindet [R528]. Ihre Präexistenz darf selbstverständlich nicht als zeitliche Präexistenz gefaßt werden. Zeit gibt es nur innerhalb der Welt. Wie das Sein Gottes überzeitlich ist, ist das Sein der ungeformten Materie, wie man im Sinne des Gersonides sagen könnte, unterzeitlich.

Der Schöpfungsgedanke führt auch in dieser eingeschränkten Form über die Aristotelische Gottesvorstellung unzweifelhaft hinaus. Gott war nicht mehr allein das in sich ruhende Denken, und auch die emanatistische Auffassung seines Schaffens hatte Gersonides abgelehnt. Der Akt der zeitlichen Weltschöpfung konnte nur als ein Akt des göttlichen Willens gefaßt werden, und Gersonides hebt diese Konsequenz mehrfach hervor [R529]. Aber schon die Begründung, mit der er eine Schöpfung aus dem Nichts ablehnt, zeigt, wie fest er doch an den Gedanken von Gott als der obersten Form gebunden bleibt, und in dem weiteren Ausbau seines Systems kommt diese Seite seiner Gotteslehre zu vorherrschender Geltung. Als die höchste Form ist Gott zugleich das höchste Denken, und wir haben gesehen, daß er das Recht, Gott so zu bestimmen, gegen seine neuplatonischen Vorgänger vertritt. Das Denken Gottes aber kann nur ein Denken des Allgemeinen sein und sich auf die Einzeldinge nicht erstrecken. Der in der Schöpfungslehre festgelegte Dualismus von Form und Materie macht diese Konsequenz unvermeidlich. Da aus Gott nur die ihrem Wesen nach allgemeine Formgesetzlichkeit der Dinge hervorgeht, kann auch sein Wissen nur die allgemeine Formordnung umfassen; die erst durch die Verbindung der Form mit der Materie bewirkte Mannigfaltigkeit des Einzelnen muß außerhalb des göttlichen Wissens bleiben. Das folgt ebenso notwendig aus der Schöpfungslehre des Gersonides, wie sich aus der von Maimonides gelehrten Schöpfung aus dem Nichts ergeben hatte, daß Gott als der Schöpfer des Alls alle seine Einzelheiten kennt [R530]. Zu demselben Ergebnis führt auch seine Behauptung, daß das Wissen Gottes nicht nur dem Namen, sondern auch der Sache nach unter den uns bekannten Begriff des Wissens fällt. Maimonides konnte sich gegenüber allen Schwierigkeiten, die der Annahme einer auch das Einzelne umfassenden Allwissenheit Gottes anhaften, auf die Wesensverschiedenheit zwischen menschlichem und göttlichem Wissen berufen. Daß Gottes Wissen eine Unendlichkeit umfaßt, daß Gott auch die freien Entscheidungen des Menschen vorherweiß, war für ihn keine unüberwindliche Schwierigkeit, weil für ein Wissen Gottes, das mit dem unseren nur den Namen gemein hat, auch das von unserem Begriffe des Wissens aus Unmögliche möglich war. Nach Gersonides ist der Begriff des Wissens auch auf das Wissen Gottes anwendbar und, was diesem Begriff widerstreitet, auch bei Gott unmöglich. Er kehrt damit zu der von Maimonides bekämpften Lehre zurück, die das Wissen Gottes auf das Allgemeine beschränkt, und er vertritt sie ohne die Akkomodationen, die man früher versucht hatte [R531]. Er verschleiert sie nicht, indem er sagt, daß Gott das Einzelne zwar nicht als Einzelnes, aber als Glied der allgemeinen Ordnung des Seins kenne, und auch der tiefsinnige Gedanke Ibn Rošds, daß das Wissen Gottes über den in der Sphäre des endlichen Bewußtseins vorhandenen Gegensatz von Allgemeinem und Individuellem erhaben ist, hebt für ihn die in der Lehre liegende Schranke des göttlichen Wissens nicht auf [R532]. Der in ihm stärker als der spekulative Tiefsinn entwickelte nüchterne Scharfsinn hält an der strengen Konsequenz des Gedankens unbeirrt fest. Er wird für ihn auch zum Mittel, den Gegensatz zwischen der Allwissenheit Gottes und der menschlichen Freiheit zu beseitigen. Wie Ibn Daud lehrt er, daß Gott die freien Entscheidungen des Menschen nicht vorherweiß; nur ist das für ihn bloße Konsequenz der Tatsache, daß das Einzelne als solches kein Gegenstand des göttlichen Wissens ist.

Gott kennt die allgemeine und unveränderliche Welt der Formen, die aus ihm hervorgeht, indem er sich selber kennt. Gersonides faßt den Gedanken noch schärfer dahin, daß es sich hier im letzten Grunde nicht um eine Zweiheit handelt. Gott ist der Inbegriff aller Formgesetzmäßigkeit, in ihm ist die Allheit der Form in letzter Einheit vorhanden, die außer ihm sich in eine Mannigfaltigkeit zerlegt [R533]. Wenn Gott die Welt schafft, so heißt das, daß er die in ihm schlechthin geeinte Form gesondert aus sich heraustreten läßt. Auf Ibn Rošd gestützt lehnt Gersonides die ältere Annahme ab, daß aus Gott unmittelbar nur der eine, ihm am nächsten stehende Intellekt hervorgehe. Er läßt, was bei seiner Auffassung der Schöpfung als Wirkung des göttlichen Willens noch leichter durchführbar war als bei Ibn Rošd, eine Vielheit immaterieller Wesen unmittelbar von Gott geschaffen werden [R534]. Die göttliche Schöpfungsordnung hat auch bestimmt, wie von ihnen die Formen auf die materielle Welt ausströmen sollen. In jeder der immateriellen Wesenheiten ist ein Teil der in der göttlichen Formeinheit enthaltenen Formen repräsentiert, und diese treten in weiterer Besonderung auseinander, wenn sie sich mit der Materie verbinden. Das Wirken Gottes auf die körperliche Welt vollzieht sich ganz durch Vermittlung der immateriellen Wesenheiten. Fast im Sinne des neuzeitlichen Deismus beschränkt Gersonides das unmittelbare Wirken Gottes auf den Akt der Weltschöpfung. Die Ordnung des Weltgeschehens geht, wenn auch nicht im Sinne mechanischer, sondern teleologischer Kausalität, von den separaten Intellekten aus. In ihnen hat nicht nur die natürliche Ordnung der Dinge ihren Ursprung, sondern auch Prophetie, Providenz und selbst das Wunder sind durch sie verursacht, und wenn etwa bei Maimonides das Wirken des aktiven Intellektes zugleich ein Wirken Gottes ist, so scheidet Gersonides bestimmt zwischen dem ursprünglichen, schöpferischen Wirken Gottes und der Kausalität der von ihm hervorgebrachten Wesenheiten.

Die irdische Welt insbesondere empfängt die Formen von dem sie leitenden »aktiven Intellekt«. Von ihm strömen die Formen auf die irdischen Wesen aus, und in diesem Prozeß haben auch die genannten Phänomene ihre Ursache. Wie in Gott die Allheit der Form, so ist in ihm die Formordnung der irdischen Welt enthalten. Er greift insofern noch über sie hinaus, als das Geschehen in der irdischen Welt unter dem Einfluß der Himmelskörper steht und der ihr vorgeordnete Intellekt somit auch ein Wissen von der Himmelsordnung haben muß. Während jeder Sphärenintellekt nur die von ihm ausgehende Ordnung kennt, muß der aktive Intellekt die Gesamtordnung des Kosmos in gewissem Betracht umschließen [R535]. In ihm verwirklicht sich noch einmal das Formganze, wenn auch nicht in der Ursprünglichkeit, Absolutheit und Einheit des göttlichen Wissens. Aber auch in ihm ist die Form nur in ihrer Allgemeinheit enthalten. Er hat so wenig ein Wissen des Einzelnen wie Gott. Prophetie, Vorsehung und Wunder aber beziehen sich doch auf das Einzelne. Dem Geiste des Propheten werden bestimmte einzelne Ereignisse mitgeteilt. Das Wunder ist ein Eingreifen in eine bestimmte einzelne Situation, und ebenso lehrt die Religion eine individuelle Vorsehung. An die Erklärung dieser Tatsachen wendet Gersonides seine ganze Subtilität. Selbst Ibn Rošd hatte aus der Tatsache, daß die prophetische Offenbarung sich auf Einzelvorgänge bezieht, geschlossen, das göttliche Wissen müsse sich auf das Einzelne miterstrecken [R536], wenn es auch in diesem Punkte, wie in manchen anderen, zweifelhaft ist, wieweit er damit seine letzte Meinung enthüllt. Denn an anderer Stelle lehrt er, die in den separaten Intellekten enthaltenen allgemeinen Erkenntnisse würden von der menschlichen Phantasie in individueller Gestalt aufgenommen, ähnlich wie die Form überhaupt durch ihre Aufnahme in die Materie sich individualisiere [R537]. Doch bleibt auch hier die Frage offen, ob damit lediglich eine Verschiedenheit der psychologischen Form gemeint sein soll, oder ob Ibn Rošd in dieser Wendung die sachliche Verschiedenheit zwischen dem nur auf das Allgemeine gehenden begrifflichen Wissen der separaten Intellekte und dem auf das Einzelne gehenden menschlichen Wissen anerkennt. Gersonides, der offenbar durch diese Äußerung Ibn Rošds angeregt ist, führt den Gedanken in einer Richtung weiter, in der eine Erklärung der Prophetie möglich wird, ohne daß er die geringste Konzession hinsichtlich des rein generellen Wissens des aktiven Intellekts zu machen braucht. Auch er nimmt an, daß in der prophetischen Offenbarung ein generelles Wissen des aktiven Intellekts in individueller Form aufgenommen wird, aber er versteht den Gedanken so, daß der Geist des Propheten einen ihm vom aktiven Intellekt mitgeteilten generellen Zusammenhang auf einen konkreten Fall anwendet. Aus dem aktiven Intellekt stammt nur der generelle Zusammenhang als solcher, der auf eine beliebige Zahl von Einzelfällen anwendbar ist. Der Prophet bringt von sich aus die Kenntnis des Einzelfalles mit und subsumiert ihn der ihm geoffenbarten Ordnung. Die Möglichkeit zur Durchführung dieses Prinzips bietet ihm sein Glaube an die Astrologie, die in der allgemeinen metaphysischen Theorie der Abhängigkeit alles irdischen Geschehens von der Himmelswelt ihr Fundament hat. Der generelle Zusammenhang, der dem Propheten durch den aktiven Intellekt geoffenbart wird, betrifft die Gesetzmäßigkeit der astrologischen Konstellationen. Die Konstellation, unter der ein Mensch geboren wird, entscheidet über sein Wesen und über sein Schicksal, und ebenso ist auch das Leben der Völker durch die Gestirne bestimmt. Um diesen Zusammenhang mit wirklicher Sicherheit zu erfassen, genügen freilich nicht die allgemeinsten Grundbedingungen der verschiedenen Konstellationen, denn jede Grundform befaßt eine Menge verschiedenartiger Spezialnormen unter sich, und nur wenn man diese bis in ihre feinsten Besonderungen kennt, ist eine zuverlässige Anwendung auf den Einzelfall möglich. Der aktive Intellekt kennt die astrologischen Ordnungen von den allgemeinsten Konstellationsformen bis zu den letzten Besonderungen, die alle Bedingungen eines Einzelfalles umfassen. Wenn darum ein Prophet sich mit dem Schicksal eines bestimmten Menschen oder einer bestimmten Menschengruppe beschäftigt, so empfängt er vom aktiven Intellekt die Mitteilung der für den vorliegenden Fall gültigen Konstellation in solcher Genauigkeit, daß er ihre Schicksale bis in alle Einzelheiten hinein vorhersagen kann. Je nach der Erkenntnisstufe des einzelnen Propheten gibt es hier freilich sehr verschiedene Grade der Deutlichkeit solcher Offenbarungen, die aber an dem Prinzip nichts ändern [R538]. Auch die tiefergehenden Unterschiede zwischen dem Propheten und dem gewöhnlichen Wahrsager berühren das Erklärungsprinzip als solches nicht. Die prophetische Offenbarung wendet sich an den Intellekt des Propheten und setzt darum die höchste Durchbildung des Denkens voraus. Die Wahrsagung hat zu ihrem Organ die Phantasie, die nicht von dem reinen aktiven Intellekt, sondern nur von den auf einer tieferen Stufe stehenden Gestirnseelen inspiriert werden kann. Im Gegensatz zu der Zuverlässigkeit der Prophetie ist sie darum der Gefahr der Täuschung ausgesetzt [R539]. Das Erklärungsprinzip aber ist trotz dieser Unterschiede in beiden Fällen das gleiche. Die natürliche Erklärung der Prophetie ist hier mit äußerstem Rigorismus durchgeführt, und die Anerkennung der von Maimonides schroff abgelehnten Astrologie beleuchtet aufs neue den Gegensatz zwischen beiden Denkern. Was Maimonides an der Astrologie über all ihre Phantastik hinaus abstößt, der Naturalismus der astrologischen Welterklärung, wird für Gersonides zum Mittel, den religiösen Glauben an die Prophetie von jeder direkten Bezugnahme auf Gott abzulösen. Auch die Prophetie des Mose wird diesem Schema eingeordnet. Dieser astrologische Determinismus hat nur eine Schranke. Die Willensfreiheit des Menschen kann die ihm von den Gestirnen vorgezeichnete Bahn durchbrechen, und darum kann die auf die astrologische Determination gegründete Prophetie die Zukunft nur insoweit voraussagen, als nicht die freie Bestimmung des Menschen den determinierten Gang der Dinge durchbricht [R540].

Um den Vorsehungsglauben von den gleichen Grundanschauungen aus zu interpretieren, brauchte Gersonides nur die Vorsehungslehre des Maimonides zu übernehmen. Schon dieser hatte die individuelle Vorsehung auf den Menschen beschränkt und darauf zurückgeführt, daß der Geist des mit Gott verbundenen Menschen vor den ihm drohenden Gefahren vorher gewarnt werde. Diese Art von Vorsehung beruhte auf einer niederen Form des prophetischen Vorherwissens und ordnete sich so der Theorie des Gersonides ohne weiteres ein. Kühner und zugleich paradoxer ist die Einbeziehung des Wunders in den gleichen Zusammenhang. Gersonides läßt auch die Wunder nicht unmittelbar von Gott, sondern von dem aktiven Intellekt ausgehen. Sie enthalten zwar eine Durchbrechung der naturgesetzlichen Ordnung in sich, aber diese Durchbrechung ist in der bei der Weltschöpfung festgelegten Ordnung vorgesehen. Das würde an sich noch nicht über die Theorie des Maimonides hinausgehen, nach dem die Wunder gleichfalls zu dem göttlichen Schöpfungsplan gehören, aber der Gedanke erfährt dadurch eine ganz andere Wendung, daß nicht das einzelne Wunder in dem seiner Natur nach generellen Schöpfungsplan enthalten ist, sondern daß allgemein die Bedingungen festgelegt sind, unter denen jeweils ein bestimmtes Wunder eintritt. Diese Bedingungen bilden ein Glied der im aktiven Intellekt enthaltenen allgemeinen Formordnung, und es ergibt sich so eine Naturgesetzlichkeit des Wunders, die es zu einem Bestandteil der immanenten Weltordnung macht [R541].

Die abseits von dem bisher behandelten Problemkreis stehende Unsterblichkeitslehre des Gersonides ist noch enger als die übrigen Teile seines Systems in die Schuldiskussionen des Aristotelismus hineinverflochten. Die verschiedenen Deutungen, zu denen die dunkle und widerspruchsvolle Aristotelische Lehre vom Intellekt Anlaß gegeben hatte, werden in eingehender Diskussion einander gegenübergestellt. Ein Punkt dieser Lehre freilich, und vielleicht der entscheidende, bleibt außerhalb aller Diskussion. Wenn Aristoteles zwei Formen des Intellekts unterscheidet, den aktiven und den durch diesen erst zur Aktualität gebrachten passiven oder potenziellen Intellekt, so ist es für Gersonides selbstverständlich, daß der aktive Intellekt nicht der menschlichen Einzelseele angehört. Diese, auf Alexander von Aphrodisias zurückgehende Deutung des Aristotelischen Begriffs ist für ihn die unbestrittene Lehre des Aristoteles selbst, und auch den Aristoteleserklärern, die ihr in Wahrheit widersprechen, legt er – zum Teil wohl durch das Referat Ibn Rošds über die älteren Anschauungen irregeleitet – diese Deutung unter. Sie war freilich auch sachlich unvermeidbar, sobald man unter dem aktiven Intellekt einen Intellekt im eigentlichen Sinne verstand. Gehörte dem menschlichen Bewußtsein ein von Anfang an aktuelles Denken an, so war es nicht abzusehen, was neben ihm der potenzielle, sich erst zum Denken entwickelnde Intellekt noch bedeuten sollte. So ist für Gersonides, wie für alle arabischen und jüdischen Aristoteliker vor ihm, der aktive Intellekt die für sein System so bedeutungsvolle immaterielle Wesenheit, welche die Formen auf die irdische Welt ausströmt und den menschlichen Intellekt zur Aktualität des Erkennens führt. Gegenstand der Deutung war nur der potenzielle, oder wie man ihn nannte, hylische Intellekt. Die einander hauptsächlich gegenüberstehenden Interpretationen waren die des Alexander von Aphrodisias und des Themistios. Nach Alexander ist der hylische Intellekt eine Anlage der menschlichen Seele, die unlöslich mit ihrem Träger verbunden ist und darum mit dem Tode der Seele auch untergeht. Nach Themistios, so wie Gersonides ihn auffaßt, ist er eine präexistente, immaterielle Wesenheit, die sich während des Lebens mit der menschlichen Seele verbindet. Zu diesen ursprünglichen Deutungen kamen zwei spätere hinzu. Um den Schwierigkeiten beider Anschauungen zu entgehen, hatte Ibn Rošd angenommen, daß auch der hylische Intellekt eine von der Einzelseele ganz unabhängige Substanz ist. Er ist, so faßt Gersonides diese Theorie kurz zusammen, nichts anderes als der aktive Intellekt, sofern dieser sich mit dem Menschen verbindet. Während der aktive Intellekt als solcher nur sich selbst erkennt, gewinnt er in dieser Verbindung nun auch die Fähigkeit zur Erkenntnis der Einzeldinge und nimmt in dieser Hinsicht eine Potenzialität an, die ihm in seinem reinen Sein durchaus fremd ist. Endlich haben spätere Philosophen, mit denen Gersonides die christlichen Scholastiker meint, die Theorie des Themistios dahin modifiziert, daß sie den hylischen Intellekt zwar als eine sich mit der Seele verbindende immaterielle Substanz ansehen, ihr aber keine Präexistenz zuschreiben, sondern sie erst bei der Geburt des Menschen entstehen lassen [R542]. Der Hauptgegensatz liegt für Gersonides zwischen den beiden ursprünglichen Positionen, und in der Diskussion ihrer Gründe kommt er im wesentlichen zu seinem Resultat.

Bei aller dialektischen Subtilität, mit der er das Für und Wider entwickelt, sind es freilich dem Kern der Sache nach nur Aristotelische Argumente, mit denen er operiert. Aristoteles betont gleich stark die Zugehörigkeit des Intellekts zur Seele und seine Immaterialität. Da die Seele als Form des Körpers mit diesem unlöslich verbunden ist, besteht zwischen beiden Bestimmungen ein Gegensatz, den er selbst nicht aufgelöst hat. Bezog man seine Aussagen auf den hylischen Intellekt, so ergab sich auf der einen Seite ein Widerspruch gegen Themistios, auf der anderen gegen Alexander. Sah Themistios in dem hylischen Intellekt eine selbständige Substanz, die sich nur während des Lebens mit der Seele des Menschen vereinte, so fiel sie aus dem Ganzen der Seele heraus und ihr Verhältnis zu der Einheit des menschlichen Wesens wurde völlig problematisch. Eine immaterielle Wesenheit konnte nicht zugleich die Form des Menschen bilden. Als immaterielle Wesenheit gedacht, mußte der hylische Intellekt ferner bei allen Menschen derselbe sein und hörte damit auf, ein Bestandteil der Einzelseele zu sein und an ihren individuellen Differenzen teilzunehmen [R543]. Gegen Alexander wiederum sprach die Immaterialität des Intellekts. Hatte der hylische Intellekt die Seele mit ihren sinnlichen Vermögen zu seinem Träger, so war es nicht zu verstehen, daß er selbst von der Sinnlichkeit vollkommen unabhängig sein sollte. Daß er das Unsinnliche zu erkennen vermag und daß er vom Altern des Körpers unberührt bleibt, zeigt nach Aristoteles, daß seine Funktion an kein körperliches Organ gebunden, daß er von der Sinnlichkeit durchaus unabhängig ist. Das aber schien unmöglich, wenn man ihn mit Alexander zu einem Vermögen der Seele machte [R544]. Gleichmäßig wurden beide Theorien sodann von einer Schwierigkeit betroffen, die sich aus dem Aristotelischen Gedanken der reinen Potenzialität des hylischen Intellekts ergab. Das Wesen des potenziellen Intellekts bestand nach Aristoteles in seiner Fähigkeit, alle Formen in sich aufzunehmen oder zu allen zu werden. Da Form und Begriff für Aristoteles eins waren, so bedeutete das Erfassen des Begriffs die Aufnahme der Form, und der Intellekt, der alle Begriffe in sich aufnehmen sollte, mußte die Möglichkeit aller Formen in sich tragen oder die Möglichkeit aller Formen sein. Dieses ungetrübte Medium zur Erfassung aller Begriffe kann der Verstand jedoch nur sein, wenn seine eigene Beschaffenheit die von ihm aufgenommenen Formen nicht modifiziert. Aristoteles selbst hatte darum gefordert, daß der Verstand unvermischt sein müsse. Das sollte zunächst wohl nur bedeuten, daß der Intellekt unvermischt mit dem Körper, untingiert von seiner sinnlichen Besonderheit sein müsse, um alle Formen rein aufnehmen zu können. Die Kommentatoren des Aristoteles aber hatten den Gedanken auch dahin gewendet, daß der aufnehmende Verstand selbst keine eigene Formbestimmtheit besitzen dürfe, da diese ihn an der reinen Aufnahme der übrigen Formen notwendig hindern müsse [R545]. Das war, wenn man Begriff und Form identifizierte, konsequent geschlossen, aber es führte zu dem unmöglichen Resultat, daß der Verstand, um ungetrübtes Medium der Erkenntnis sein zu können, zu einer absoluten, gleichsam frei schwebenden Möglichkeit wurde. Er sollte mit aller Materie unvermischt und doch auch von jeder Formbestimmung freisein. Der letzte Grund aller dieser Schwierigkeiten, zu denen das an sich tief berechtigte Aristotelische Grundmotiv führte, lag darin, daß man das noetische Verhältnis des Denkens zu seinem Gegenstande wie eine dingliche Relation behandelte und den dinglichen Kategorien Materie und Form subordinierte [R546]. Die Schwierigkeit bestand sowohl für Themistios, der den hylischen Intellekt als eine immaterielle Wesenheit betrachtete und ihm damit eine Formbestimmtheit zuschrieb, wie für Alexander, der in ihm eine Anlage der Seele sah und damit seine Unvermischtheit mit allem Körperlichen in Frage stellte [R547]. Vom Standpunkt Alexanders aus aber bot sich ein Ausweg aus dem Dilemma durch die freilich rein formalistische Distinktion, die Seele als Träger der Verstandesanlage sei nur eine Bedingung für deren Existenz, nicht für ihre Funktion. Die Aufnahme der Begriffe durch den Intellekt vollziehe sich unabhängig von seinem Substrat [R548]. Damit war, wenigstens der Form nach, der Gedanke vom Intellekt als bloßer Potenzialität erreicht. Zugleich waren auch die früheren Einwände gegen Alexander damit behoben. Die Immaterialität des Intellekts blieb für seine Funktion gewahrt, wenn er auch seiner Existenz nach durch die Seele als die Form des Körpers mit diesem zusammenhing. So fiel die Entscheidung des Gersonides auf die Seite Alexanders und gegen Themistios.

Nach dieser grundsätzlichen Entscheidung erledigen sich die späteren Theorien leicht. Die Kritik an Themistios trifft in ihren wesentlichen Punkten auch die Modifikation seiner Theorie, die als vierte Auffassung angeführt war. Ibn Rošds Lehre von der Einheit des hylischen Intellekts aber steht in handgreiflichem Widerspruch zu der Individualisierung des Denkens in der Vielheit der Menschen. Ist der hylische Intellekt bei allen Menschen derselbe, so muß er dasselbe Wissen zugleich besitzen und nicht besitzen, wenn ein Mensch es hat, der andere nicht. Das Erkenntnisstreben des Menschen verliert bei dieser Auffassung seinen Sinn, da der universale Intellekt als solcher dessen nicht bedarf, die Verbindung des Menschen mit dem universalen Intellekt aber, durch die sich das Erkennen in ihm individualisiert, mit dem Tode verschwindet und damit diese Individualisierung aufhebt [R549].

Das Ergebnis der weitausgesponnenen Untersuchung ist somit die Rückkehr zur Theorie Alexanders. Dementsprechend übernimmt Gersonides auch die in seiner Auffassung des Intellekts wurzelnde Lehre von der Unsterblichkeit des erworbenen Verstandes. Während der hylische Intellekt als solcher von der Seele getragen wird und sie darum nicht überdauern kann, sind die von ihm erworbenen Begriffe nach der früheren Darlegung des Gersonides nicht mit durch die Seele bedingt. An dem Erfassen der Begriffe hat die Seele keinen Anteil, und diese können darum auch unabhängig von ihr bestehen. Die so zustande kommende Auffassung der Unsterblichkeit ist freilich in einem wesentlichen Punkte von der Alexanders verschieden. Nach Alexander haben die Begriffe, deren Objekte Gegenstände der Sinnenwelt sind, keine bleibende Dauer. Da sie als reine Formen außerhalb des Geistes nicht existieren, haben sie als bloße Abstraktionsprodukte auch im Denken keinen Bestand, der ihre jeweilige Aktualisierung überdauert. Nur da, wo unser Denken die unabhängig von ihm bestehenden immateriellen Wesenheiten erfaßt, gewinnt es einen bleibenden Gehalt. Das Erkennen der immateriellen Wesenheiten bedeutet zugleich ein Einswerden mit ihnen, und indem der Intellekt zu dieser Einheit mit ihnen gelangt, gewinnt er auch an ihrer Unsterblichkeit Anteil [R550]. Gersonides lehnt beide Voraussetzungen dieser Auffassung ab. Er hält es für unmöglich, daß die Erkenntnis zu einer Vereinigung des menschlichen Intellektes mit dem aktiven führen kann, weil diese Vereinigung eine wirkliche Erfassung des aktiven Intellekts voraussetzt, zu der unser Erkennen nicht ausreicht. Im aktiven Intellekt ist der Inbegriff aller in der irdischen Welt voneinander gesonderten Einzelformen als Einheit enthalten. Um ihn zu erkennen, müßten wir darum die Gesamtheit dieser Formen erfassen und. ihren einheitlichen Zusammenhang begreifen. Da diese Erkenntnis dem menschlichen Intellekt versagt ist, kann er auch das Wesen des aktiven Intellekts nicht erfassen [R551]. Die einzig mögliche Form der Unsterblichkeit sieht Gersonides in der von Alexander bestrittenen Fortdauer der von uns in der Erkenntnis der sinnlichen Wirklichkeit erworbenen Begriffe. Sie sind für ihn mehr als bloße Abstraktionsprodukte. Da wir das bleibende Wesen der Dinge in ihnen erfassen, so kann ihnen auch bleibende Existenz zukommen. Ein allerdings eigentümlich abgewandelter Begriffsrealismus macht es Gersonides möglich, die Unvergänglichkeit der Begriffe auch in ihrer psychologischen Form zu behaupten. Die von uns erkannten Begriffe entstehen nicht erst im Augenblick ihrer Erkenntnis, sondern treten nur in der spezifischen Form des Erkanntwerdens in unseren Geist ein [R552]. Daß sie als Inhalte unseres Denkens entstehen, beweist nicht, wie Ibn Rošd den Gedanken Alexanders begründet hatte, daß sie auch vergehen müssen. Denn selbst wenn wir die Begriffe als entstanden gelten lassen, so findet das Aristotelische Prinzip, daß alles Entstandene auch vergehen muß, auf immaterielle Gegenstände wie die Begriffe keine Anwendung [R553].

Der erworbene Verstand des Menschen ist die Summe der von ihm erworbenen Begriffe. Sie vermögen den Untergang, der Seele zu überdauern, weil an ihrer Aufnahme die Seele nach den früheren Ausführungen des Gersonides nicht beteiligt ist. Der Begriff besitzt eine selbständige Existenz und wird darum von dem Tode des Menschen und seiner Seele nicht berührt. Gemäß der Aristotelischen Lehre von der Einheit von Denken und Gedachtem ist dieser Fortbestand der Begriffe zugleich ein Fortbestand des Denkens. Wenn der menschliche Intellekt damit zu einer Summe von einzelnen Begriffen zu werden scheint, so sucht Gersonides seine Einheit dadurch zu begründen, daß er die Inhalte unseres Denkens nicht als eine bloße Summe aufgefaßt wissen will. Die im Verlauf der Erkenntnis von uns gewonnenen Begriffe bilden einen einheitlichen Zusammenhang, in dem die früheren von den späteren umfaßt werden. Die jeweils höchsten und umfassendsten Begriffe unserer Erkenntnis bilden die Form, in welche aller frühere Besitz unserer Erkenntnis eingeht [R554]. Dieser einheitliche Denkzusammenhang ist es, der als erworbener Intellekt unsterblich ist. Damit ist der Begriff der individuellen Unsterblichkeit wiederhergestellt, der in der Vorstellung einer Vereinigung unseres Intellekts mit dem aktiven aufgehoben oder doch unklar geworden war. Allerdings geht dabei auch der religiöse Gehalt jener Lehre verloren. Der Einzelintellekt bleibt in seiner Isoliertheit bestehen. So wie Gersonides früher die Welt von Gott gesondert und die Vorstellung eines kontinuierlichen Emanationszusammenhanges ausgeschaltet hatte, so wird jetzt zwischen dem menschlichen Geiste und den höheren Intelligenzen eine feste und unübersteigbare Schranke aufgerichtet [R555].

Wenn der religiöse Gehalt der Emanationsphilosophie damit im wesentlichen preisgegeben war, so trat von dem religiösen Leben des biblischen Monotheismus wenig genug an seine Stelle. Die Form, in der Gersonides den Schöpfungsgedanken gerechtfertigt hatte, ließ von seinem religiösen Sinn nicht allzuviel übrig. Das Wirken Gottes beschränkte sich auf den einmaligen Schöpfungsakt, sonst blieb der Gott des Gersonides in derselben Weltferne wie der sich selbst denkende Gott des Aristoteles. Die kunstvolle Umdeutung der Begriffe der Prophetie, des Wunders und der Vorsehung mußte diesen Eindruck noch verstärken. Hatte Maimonides eine wirkliche Synthese des jüdischen Glaubens mit dem Aristotelismus geschaffen, so prävalierte bei Gersonides durchaus das Aristotelische Element. Das Zurücktreten der neuplatonischen Umbildung machte die theoretische Nüchternheit der eigentlichen Aristotelischen Lehre um so deutlicher sichtbar. Den letzten Intentionen seines Denkens nach ist Gersonides vielleicht der eigentlichste Aristoteliker, den das jüdische Mittelalter hervorgebracht hat, aber eben darum, trotz aller formalen Annäherung an die biblischen Lehren, doch im tiefsten Wesen von ihnen geschieden.

f) Ḥasdai Crescas

Das Streben, die philosophische Aufklärung mit äußeren Mitteln zu unterdrücken, fand keine Erneuerung mehr, nachdem die heftigen Kämpfe zu Beginn des 14. Jahrhunderts resultatlos verlaufen waren. Um so stärker aber war das Bedürfnis, sie innerlich zu überwinden. Die Streitschriftenliteratur des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts war über bloße Ansätze nach dieser Richtung hin nicht hinausgekommen. Daneben hatte es an Versuchen, dem rationalistischen Judentum der Philosophie ein anderes entgegenzustellen, nicht gefehlt. Der als Talmudist und Bibelerklärer gefeierte Mose ben Naḥman aus Gerona, der in den Kämpfen der dreißiger Jahre des 13. Jahrhunderts eine vermittelnde Stellung einnahm, hat eine eigenartige und lebensvolle Anschauung des Judentums entwickelt, die im Einzelnen mancherlei philosophische Begriffe verwendet, sich grundsätzlich aber von allem philosophischen Intellektualismus freihalten will. Er rechnet es dem Maimonides zum Ruhme an, daß er den glaubensfeindlichen Lehren der außerjüdischen Philosophie entgegengetreten ist, hält aber eine vollkommene Abwendung vom Aristotelismus für erforderlich. Seine eigene Auffassung des Judentums hebt den übernatürlichen Charakter der Tora nachdrücklich hervor. Inhaltlich hat sie einen mystischen Einschlag und ähnlich wie die Philosophie Jehuda Halewis bringt sie den bei den eigentlichen Neuplatonikern und Aristotelikern zurücktretenden geschichtlichen Zug der religiösen Weltbetrachtung des Judentum zur Geltung [R556]. Partiell gehört auch die sich vom 13. Jahrhundert ab in der Provence und in Spanien immer stärker entfaltende qabbalistische Literatur in diesen Zusammenhang hinein. Die in der älteren Forschung vertretene Auffassung, die in der Qabbala überhaupt nur eine Reaktion gegen den philosophischen Rationalismus erblickt, ist freilich neuerdings mit guten Gründen angefochten worden [R557]. Man hat ihr die These entgegengestellt, daß die Qabbala ihrem Kerne nach weit älteren Ursprungs ist, daß ihre Quellen dem Orient entstammen und daß ihr Auftreten in der Provence und Nordspanien nur darauf beruht, daß diese älteren Quellen dorthin dringen. Sie ist in diesem Kerne von allen philosophischen Elementen frei, und ihr ursprünglicher gnostischer Gehalt weist nur einige neuplatonische Einschläge auf. Allein in ihrer weiteren Entwicklung erfährt sie dann eine spekulative Ausgestaltung, und für diese gilt nach wie vor, daß sie sich mit Bewußtsein dem philosophischen Rationalismus und seiner Interpretation des Judentums entgegensetzt. Aber auch nachdem Mose Narboni und Lewi ben Gerson die ganze Schärfe des Konflikts hatten erkennen lassen, verging noch geraume Zeit, bis sich die Gegenbewegung zu einer wirklich durchgreifenden wissenschaftlichen Kritik der Aristotelischen Position erhob. Ein Impuls dazu ging in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts von der führenden talmudischen Autorität des damaligen Spanien, Nissim ben Ruben aus Gerona aus [R558]. Er selbst ist, nach seinen Predigten zu schließen, über den Impuls nicht wesentlich hinausgekommen. Seine philosophische Bedeutung liegt darin, daß er seinem Schüler Hasdai ben Abraham Crescas die Anregung zu dem Werk gegeben hat, das zum erstenmal seit Jehuda Halewi dem Aristotelismus in grundsätzlicher Kritik entgegentrat.

Ḥasdai Crescas (geb. um 1340, gest. 1410) war durch sein Amt als Oberrabbiner der Juden Aragoniens wie durch sein hohes persönliches Ansehen eine der einflußreichsten Persönlichkeiten des spanischen Judentums. Nach der furchtbaren Judenverfolgung von 1391, in der sein einziger Sohn ermordet wurde, tat er das meiste zum Wiederaufbau der zerstörten Gemeinden. Seine literarische Produktion ist von geringem Umfange. Der Plan zu einem großen talmudischen Werke, das die Fortsetzung seiner religionsphilosophischen Schrift bilden sollte, ist offenbar unausgeführt geblieben. Außer einem kurzen Bericht über die Verfolgung von 1391 schrieb er in spanischer Sprache eine Widerlegung der Dogmen des Christentums, die nur in hebräischer Übersetzung erhalten ist. Sie kritisiert das christliche Dogma von philosophischem Standpunkte aus und ist durch die ruhige Sachlichkeit und logische Schärfe ihrer Argumentation ausgezeichnet. Sein philosophisches Werk »Das Gotteslicht« (Or Adonai, 1410 vollendet) hat seinem äußeren Aufbau nach mehr einen dogmatischen als einen philosophischen Charakter. Es behandelt die Grundlehren jüdischer Religion nicht in ihrem systematischen Zusammenhange, sondern ordnet sie nach ihrer dogmatischen Dignität. An erster Stelle steht das Grunddogma vom Dasein und der Einzigkeit Gottes, an zweiter diejenigen religiösen Wahrheiten, welche die Voraussetzungen des Offenbarungsbegriffs bilden, dann folgen die Lehren, die, ohne aus dem Offenbarungsbegriff ableitbar zu sein, doch allgemeinverbindliche religiöse Geltung haben, und schließlich eine Reihe von Lehren ohne bindenden dogmatischen Charakter.

Crescas ist keineswegs der grundsätzliche Gegner der Philosophie, als der er in manchen seiner Äußerungen erscheint. So schroff er erklärt, daß nicht die Philosophie, sondern nur die Tora uns zur Wahrheit zu führen vermöge, so begnügt er sich nicht mit einer Widerlegung der philosophischen Theorien, sondern sucht die Lehren des Judentums positiv zu begründen und der falschen Philosophie die wahre gegenüberzustellen. Wenn seine programmatischen Äußerungen an Jehuda Halewis Behauptung anklingen, daß die Philosophie zur Erfassung der religiösen Wahrheit unfähig sei, so steht er sachlich auf wesentlich anderem Boden als dieser. Er spricht der Vernunft nicht nur die Fähigkeit zur Erkenntnis einzelner allgemeinster metaphysischer Wahrheiten zu, sondern sucht auch die Fragen, die Jehuda Halewi ganz dem Glauben überlassen hatte, philosophisch zu durchdringen. Die gleiche Differenz trennt ihn von Ġazalis Kritik der Philosophie, der man zu Unrecht einen bestimmenden Einfluß auf sein Werk zugeschrieben hat. Seine Kritik gilt nicht sowohl der Philosophie als solcher wie der herrschenden Aristotelischen Schulphilosophie, insbesondere der Intellektualisierung der Religion, in der er ihren entscheidenden Grundfehler erkennt. Wenn er ihr gegenüber den wahren Sinn der religiösen Begriffe und das wahre Wesen des religiösen Lebens aufzuweisen unternimmt, so steht er doch der jüdischen Tradition mit weit größerer Freiheit gegenüber als seine ständige Forderung vermuten läßt, sich von der Tora leiten zu lassen. Die Loslösung der Religion von dem Aristotelischen Intellektualismus bedeutet gewiß eine Rückkehr zu der Grundhaltung der biblischen Religion, und die Konsequenz, mit der Crescas diesen Standpunkt im Einzelnen durchführt, gibt auch den religiösen Einzelbegriffen zumeist ihren ursprünglichen Sinn zurück. Aber diesem Einklang mit der jüdischen Tradition steht doch auch eine tiefe Differenz gegenüber. Dem Voluntarismus, der ihn mit der Bibel verbindet, gibt Crescas eine deterministische Wendung, durch die er ein völlig neues Gepräge gewinnt.

Unabhängig von seiner religionsphilosophischen Grundtendenz, aber in sich sehr bedeutsam ist seine Kritik an den Grundbegriffen der Aristotelischen Physik, die in mancher Hinsicht auf die Naturphilosophie und Naturwissenschaft der Neuzeit vorausweist [R559]. Ohne die Dualität von Materie und Form als solche aufzuheben, gibt Crescas diesen Begriffen doch eine Deutung, die einen ganz neuen Körperbegriff erzeugt. Das gemeinsame Substrat der vier Elemente ist eine Grundmaterie, die zu ihrer Existenz keiner Form bedarf, sondern zu selbständiger aktueller Existenz fähig ist. Damit wird die Materie aus der bloßen Seinsmöglichkeit zu einer selbständigen körperlichen Grundsubstanz, die nur durch die Formen der Einzelelemente konkretisiert wird [R560]. Im Zentrum seiner Untersuchung aber stehen die Raumlehre und die Unendlichkeitsauffassung des Aristoteles. Im Gegensatz zu Aristoteles vertritt Crescas – vielleicht durch die Naturlehre des Kalam angeregt – die Möglichkeit eines leeren Raumes. Seine Kritik der Aristotelischen Argumente gegen das Vakuum läßt indessen erkennen, daß ihr eigentliches Objekt der Aristotelische Raumbegriff als solcher ist. Weil er den Raumbegriff anders faßt als Aristoteles, kommt er auch in der Frage des Vakuums zu einem anderen Resultat. Für Aristoteles ist der Raum, den er vom Ort des Körpers nicht unterscheidet, die Grenze des umschließenden gegen den umschlossenen Körper. Bei dieser Raumdefinition versteht es sich von selbst, daß ein Raum ohne Körper nicht möglich ist. Crescas zeigt die widersinnigen Konsequenzen auf, zu denen dieser Begriff des Raumes führt. Nach ihm kann von der äußeren Himmelssphäre, die von keinem anderen Körper begrenzt wird, in eigentlicher Bedeutung nicht gesagt werden, daß sie im Raume ist. Auch kann man ihm zufolge nicht von dem ganzen Körper, sondern nur von seinen äußersten Teilen sagen, daß sie in einem bestimmten Raume sind [R561]. Der natürliche Sinn des Raumbegriffs wird dadurch völlig aufgehoben. Nach Crescas kann darum der Raum nicht ein bloßes Verhältnis der Körper sein, sondern muß ihnen vorhergehen. Jeder Körper nimmt einen Platz ein, der ihm an Ausdehnung gleich ist. Diese Ausdehnung, die den Körper in sich aufzunehmen vermag, bildet das wahre Wesen des Raumes. Auch im erfüllten Raume geht dem ausgedehnten Körper die Ausdehnung als solche, der körperfreie Raum, voraus. Der Raum ist seinem Begriffe nach bloße Ausdehnung, und darum ist ein leerer Raum widerspruchslos möglich [R562]. Die Einwendungen des Aristoteles gegen diesen Raumbegriff beruhen darauf, daß auf den Raum angewendet wird, was nur vom Körper gilt. Unterscheidet man beide, so kann man nicht mit Aristoteles sagen, daß wie der Körper auch der Raum wieder in einem Raum sein müsse, denn die Ausdehnung als solche braucht keinen Raum mehr, in dem sie sich befindet. Ebensowenig stichhaltig ist das andere Aristotelische Argument, es widerstreite der Undurchdringlichkeit des Körpers, daß der ausgedehnte Körper die unkörperliche Ausdehnung erfülle. Die Undurchdringlichkeit kommt nicht der Ausdehnung als solcher, sondern dem materiellen Körper zu, und es widerstreitet ihr darum nicht, daß in die bloße Ausdehnung ein Körper eintritt [R563]. Aus dieser Auffassung des Raumes, die Crescas ebenso wie vom begrifflichen auch vom physikalischen Standpunkt aus rechtfertigt, ergibt sich ihm als Konsequenz die Unendlichkeit des Raumes. Es kann keine absolute Raumgrenze geben, denn jenseits dieser Grenze muß wieder ein (leerer oder erfüllter) Raum sein. Wenn Gersonides es bloß als eine Schranke des menschlichen Vorstellungsvermögens betrachtet hatte, daß es den Gedanken einer absoluten Raumgrenze nicht zu erfassen vermöge, so sieht Crescas hierin eine sachliche Notwendigkeit [R564]. Er sieht auch keinen Widerspruch in der Annahme, daß sich die körperliche Wirklichkeit ins Unendliche ausdehnt, neigt aber der Vorstellung zu, daß sie endlich ist und daß sich außerhalb ihrer Grenzen der leere Raum befindet [R565]. Ähnlich wie später für Newton ist der Raum für ihn das unendliche Behältnis der Dinge, und auch darin berührt er sich mit Newton, daß er in dem allumfassenden Raume ein Bild der göttlichen Allgegenwart sieht [R566].

Die in dieser Raumlehre enthaltene Anerkennung des Unendlichkeitsgedankens führt Crescas nach allen Seiten hin durch. Ebenso wie die Unendlichkeit des Raumes vertritt er auch die der Zeit und der Zahl. Auch in bezug auf den Unendlichkeitsbegriff setzt er sich mit den Einwänden des Aristoteles und seiner Schule eingehend auseinander. Von seinen Argumenten sind zwei von grundsätzlichem Interesse. Gegen die Annahme einer unendlichen Größe war in mannigfachen Variationen eingewandt worden, sie führe zu der absurden Konsequenz, daß ein Unendliches größer sei als ein anderes. Schneide man z. B. von einer Geraden, die sich von einem Punkte aus ins Unendliche erstreckt, ein Stück ab, so sei auch der um dieses Stück kleinere Rest wiederum unendlich. Crescas hält dem entgegen, daß die Begriffe gleich, größer und kleiner nur auf endliche Größen anwendbar sind, im Bereiche des Unendlichen aber ihren Sinn verlieren. Das Unendliche hat kein Maß, und darum hat es keinen Sinn zu fragen, ob von zwei unendlichen Geraden die eine größer als die andere oder ihr gleich ist [R567]. Noch bedeutsamer ist der zweite Gedanke, den er in der Abwehr der Aristotelischen Argumente entwickelt. Die Annahme eines Unendlichen besagt nicht, daß eine Größe an bestimmter Stelle aufhört, endlich zu sein, und die Unendlichkeit erreicht, sondern daß sie über jede mögliche Grenze hinausgeht. Um nachzuweisen, daß die Kreisbewegung eines unendlichen Körpers unmöglich ist, erklärt Aristoteles, wenn seine Radien unendlich würden, müsse auch der Abstand zwischen ihnen unendlich werden und könne darum niemals durchmessen werden. Demgegenüber erklärt Crescas, daß es nie einen Punkt geben kann, an dem die Radien unendlich werden. Dieser Punkt könnte nur der Endpunkt des Radius sein. Die Unendlichkeit einer Erstreckung aber besagt gerade, daß sie keinen Endpunkt hat. Jeder Punkt, den wir auf einem Radius bezeichnen, hat vielmehr nur eine endliche Entfernung vom Zentrum und die Unendlichkeit des Radius besagt bloß, daß er über jeden beliebigen in ihm bezeichneten Punkt hinausreicht. Ich kann über jeden Punkt hinaus bis ins Unbegrenzte weitere Punkte bezeichnen und größere Entfernungen erreichen, ohne jemals den Bereich des Endlichen zu verlassen [R568]. Derselbe Gesichtspunkt wird von ihm auch auf die Zahl angewandt. Wenn Aristoteles behauptet hatte, es könne keine unendliche Zahl geben, weil jede Zahl entweder gerade oder ungerade und in beiden Fällen endlich sein müsse, so ist das nach Crescas nicht durchschlagend, weil der Unterschied von gerade und ungerade nur auf endliche Zahlen anwendbar ist; die unendliche Zahl aber steht jenseits dieses Gegensatzes, weil sie keinen Abschluß hat [R569]. Der Gedanke kommt hier freilich nicht in seiner vollen Strenge heraus. Folgerichtig hätte Crescas statt von einer unendlichen Zahl von der Unendlichkeit der Zahlenreihe sprechen müssen, die keinen Abschluß kennt, während jede bestimmte Zahl endlich bleibt. Crescas knüpft in dieser Auffassung des Unendlichen offenbar an Gersonides an, der seine Auffassung des Unendlichkeitsproblems in die prägnante Form gebracht hatte, man könne eine Größe beliebig zunehmen lassen, sie bleibe aber bis ins Unbegrenzte endlich, und ihre Zunahme könne niemals eine unendliche Größe ergeben [R570]. Indessen besteht zwischen beiden ein sehr wesentlicher Unterschied. Gersonides kennt nur die Möglichkeit, eine Größe unbegrenzt wachsen zu lassen und lehnt die Annahme eines an sich bestehenden Unendlichen ab. Für Crescas gibt es ein Unendliches, das jedoch als unabgeschlossen gedacht werden muß und darum durch die unbegrenzte Zunahme des Endlichen niemals erreicht werden kann. Dieser Unterschied tritt aufs deutlichste gegenüber dem Zeitproblem hervor. Gersonides folgert aus seinem Begriff der Unendlichkeit, eine anfangslose Zeit sei unmöglich, weil sie zu der Konsequenz einer abgelaufenen Unendlichkeit führe. Crescas, der die Existenz des Unendlichen bejaht, schließt umgekehrt, daß eine anfangslose Zeit denkbar ist, ohne daß die von Gersonides gezogene Konsequenz eintritt. Auch für die abgelaufene Zeit gilt, daß die Entfernung von der Gegenwart stets endlich bleibt, soweit ich auch in die Vergangenheit zurückgehe. Ihre Unendlichkeit besteht darin, daß vor jedem Zeitpunkt noch ein anderer liegt, und eben aus diesem Grunde kann von einem abgelaufenen Ganzen nicht geredet werden [R571].

Für die religionsphilosophischen Probleme ist die Anwendung dieses Standpunktes auf den Kausalgedanken von besonderer Wichtigkeit. Ist eine unendliche Reihe möglich, so kann auch die Reihe der Ursachen unendlich sein. Damit entfällt die Aristotelische Beweisführung für das Dasein eines ersten Bewegers [R572]. Der einzige Gottesbeweis, der darnach übrigbleibt, ist der Beweis aus dem bloß möglichen Sein der Dinge. Da die Dinge ihrem eigenen Wesen nach von bloß möglicher Existenz sind, muß es ein notwendig existierendes Wesen geben, durch das die Möglichkeit der Dinge zur Wirklichkeit wird [R573]. Schon bei Maimonides war dieses Argument von der Frage der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Ursachenreihe abgelöst worden. Jetzt wird aus dieser Absonderung die positive Konsequenz gezogen, daß auch bei Annahme einer unendlichen Ursachenreihe ein notwendiges Wesen als letzter Grund des Weltganzen angenommen werden muß [R574]. Die Abhängigkeit alles Seins von Gott ist auch der Kern des Gedankens der Weltschöpfung. Die Annahme des Gersonides, daß die Welt aus einer von Gott unabhängigen Materie gebildet ist, erweist sich als unmöglich. Da alles Sein in dem notwendigen Sein Gottes seinen Ursprung hat, kann es auch keine von Gott unabhängige Materie geben. Auch ihr kommt ein Sein zu, wie immer es gefaßt werden mag, und dieses Sein muß in Gott seinen Ursprung haben [R575]. Gott ist somit die absolute und alleinige Weltursache. Dagegen macht es für die Frage der Erschaffenheit der Welt nichts aus, ob man die Welt als zeitlich entstanden oder als ewig denkt. Auch bei der Annahme der Weltewigkeit gibt es daher für Crescas, wie in der christlichen Scholastik für Thomas von Aquino, eine Schöpfung aus dem Nichts, denn das Wesentliche des Gedankens der Schöpfung aus dem Nichts besteht eben darin, daß die Welt in ihrem ganzen Sein aus Gott entspringt und keine von ihm unabhängige Seinsgrundlage hat [R576]. Im Gegensatz zu Gersonides sieht Crescas das Wesentliche des Schöpfungsgedankens in dem absoluten Ursprung der Dinge aus Gott, während die Frage der zeitlichen Weltentstehung für ihn nur sekundäre Bedeutung hat. Auch für die Frage des Ursprungs der Welt aus dem göttlichen Willen kommt ihr keine entscheidende Bedeutung zu. Die von Maimonides abgelehnte Möglichkeit, auch eine ewige Welt als Werk des göttlichen Willens zu betrachten, wird von ihm nachdrücklichst vertreten. Dabei erleidet freilich der Begriff des göttlichen Willens eine entscheidende Veränderung. Nach Maimonides kann von einer Entstehung der Welt aus dem göttlichen Willen nur die Rede sein, wenn dieser Wille als schlechthin frei gedacht wird. Willenskausalität und Notwendigkeit sind für ihn unvereinbare Gegensätze. Für Crescas besteht ein solcher Gegensatz nicht. Es gibt die Möglichkeit, die Welt als notwendige Wirkung des göttlichen Willens zu begreifen. Zum Wesen des Willens gehört es nur, ein Vorgestelltes innerlich zu bejahen und so zur Wirklichkeit zu bringen. Das aber ist auch möglich, wenn dieser Akt der Bejahung notwendig aus dem Wesen des Wollenden folgt. Auch wenn man demnach sagt, daß die Güte Gottes wesensnotwendig das Gute verwirklicht und aus sich hervorgehen läßt, bleibt der Willenscharakter des göttlichen Schaffens gewahrt. Die Emanationslehre der Aristoteliker wird so ins Voluntaristische umgebildet. Wie schon sein Lehrer Nissim ben Ruben glaubt Crescas eine solche Auffassung der Weltewigkeit mit dem Gedanken des Wunders, wie ihn die Tora lehrt, durchaus vereinigen zu können [R577]. Es kann kein Zweifel sein, daß er dieser Auffassung innerlich zuneigt, obgleich er erklärt, der Glaube an die zeitliche Entstehung der Welt müsse mit Rücksicht auf die Lehren der Tora als die eigentliche Wahrheit anerkannt werden. Auch wenn man das durchaus als seine ernste Meinung nimmt, entspringt sie doch nur der Scheu, sich ganz zu dem zu bekennen, wozu die Konsequenz seines philosophischen Denkens ihn treibt.

Der besprochenen Auffassung des göttlichen Schaffens liegt eine neuartige Auffassung vom Wesen Gottes zugrunde. Bevor wir sie indessen inhaltlich darstellen können, verlangt das formale Problem der göttlichen Attribute seine Klärung. Crescas geht hier auf dem von Ibn Rošd und Gersonides beschrittenen Wege der Anerkennung positiver Wesensattribute weiter. Er begründet diese Anerkennung durch eine eindringende Kritik der entgegengesetzten Lehre des Maimonides. Maimonides hatte versucht, den positiven Aussagen über Gott eine negative Bedeutung unterzulegen. Wenn wir Gott als wissend bezeichnen, so negieren wir damit nur das Nichtwissen. Allein dieser Versuch der Umdeutung führt nicht zum Ziele. Die Negation des Nichtwissens ist der positiven Behauptung des Wissens äquivalent. Das Nichtwissen ist, wie Crescas offenbar meint, selbst etwas Negatives und die Negierung dieser Negierung ergibt die positive Behauptung des Wissens, oder, wie er es ausdrückt, das Nichtwissen hat keinen anderen Gegensatz als das Wissen und darum ist die Verneinung des einen mit der Bejahung des anderen gleichbedeutend. Der Begriff des Wissens gilt darum einheitlich sowohl für Gott wie für den Menschen, und die Unvergleichbarkeit des göttlichen Wissens besteht nur darin, daß es unendlich und ursprünglich, alles andere Wissen aber endlich und abgeleitet ist. Der Mehrheit solcher Negationen muß also auch eine Mehrheit von Positionen entsprechen, da das Gegenteil des Nichtwissens und das Gegenteil der Ohnmacht offenbar zwei verschiedene Dinge sind [R578]. Wenn hinter den Formeln des Maimonides die Vorstellung gestanden hatte, daß das schlechthin einige Wesen Gottes in sich alle Positivität enthält, die wir nur in den getrennten Prädikaten des Wissens, der Macht usw. kennen, so hält Crescas daran fest, daß diese Prädikate in ihrem eigentlichen Sinne, und darum auch in ihrer Verschiedenheit, Gott zugesprochen werden müssen. Damit erhebt sich freilich das Problem, wie die Mehrheit dieser Prädikate mit der Einheit Gottes vereinbar ist. Der Grundgedanke, mit dem Crescas diese Schwierigkeit löst, ergreift den Kern des Problems. Eine Mehrheit von Eigenschaften bedeutet keine Zusammengesetztheit des Wesens, wenn diese Eigenschaften miteinander und mit dem Wesen in innerer Notwendigkeit verbunden sind. Daß die absolute Notwendigkeit Gottes jede Zusammensetzung ausschließt, ist in dem Sinne unbedingt richtig, daß er nicht aus einer Mehrheit voneinander trennbarer Teile zusammengesetzt sein kann. Anders steht es mit einer Mehrheit von Bestimmungen, von denen jede die andere fordert und die losgelöst voneinander nicht bestehen können. Diesen Gedanken aber bringt Crescas nicht zu reiner Entfaltung, weil er an die herkömmliche Anschauung gebunden bleibt, die das Wesen Gottes über jede Art von Mannigfaltigkeit und darum über jede Erkennbarkeit hinaushebt. Er unterscheidet darum von den Wesensattributen das Wesen selbst, das keinerlei Vielheit in sich enthält und keine Erfassung zuläßt. Die Wesensattribute bilden nicht das Wesen, sondern treten als etwas notwendig mit ihm Verbundenes zu ihm hinzu. So ergibt sich die seltsame Vorstellung, daß hinter den erkennbaren Wesensattributen noch das schlechthin verborgene bestimmungslose Wesen selbst steht. Der Vergleich mit dem Licht, das notwendig zu dem leuchtenden Körper gehört, vermag die Dunkelheit dieser Konzeption nicht aufzuhellen [R579].

Einer speziellen Analyse unterzieht er die Prädikate der Einheit und Existenz, die Maimonides ebenfalls in ihrem positiven Sinne als unanwendbar auf Gott angesehen hatte. Maimonides war dabei von der Anschauung Ibn Sinas ausgegangen, daß Einheit und Existenz akzidenzielle Bestimmungen sind, die zu dem Wesen hinzukommen. Daraus ergab sich ihre Unanwendbarkeit auf Gott von selbst, weil bei Gott die Existenz und ebenso die Einheit nicht vom Wesen verschieden, sondern mit ihm identisch ist. Ibn Rošd und Gersonides hatten demgegenüber die Aristotelische Theorie aufgenommen, daß überall Sein und Einheit mit dem Wesen eins sind und darum Gott ebenso zukommen wie allen anderen Dingen. Crescas findet beide Auffassungen des Begriffs der Existenz – und ebenso der Einheit – unzulänglich. Seine Kritik verwendet die Argumente, die von der einen Richtung gegen die andere angeführt worden waren. Die Existenz kann weder mit dem Wesen identisch sein, weil sonst jedes Existenzialurteil zu einer Tautologie würde, noch als ein Akzidenz zum Wesen hinzutreten, weil die Substanz als der Träger der Akzidenzien nicht erst durch ein von ihr getragenes Akzidenz zum Sein kommen kann. Er faßt darum die Existenz als eine logische Bedingung des Wesens. Sie folgt ihr nicht wie die Akzidenzien, sondern ist die Voraussetzung für das Wesen [R580]. Auch hier fehlt es ihm an den Mitteln, seine bedeutende Intention zu voller Evidenz zu bringen. Daß die Existenz in die Disjunktion von Substanz und Akzidenz nicht einzufangen ist, hat er richtig gesehen, aber der an sich sehr bedeutsame Begriff der Bedingung des Wesens gibt doch keine wirkliche Klarheit über das Verhältnis von Wesen und Existenz. Denn wenn die Existenz Bedingung des Wesens ist, muß das Existenzialurteil wieder tautologisch Werden. Es ist der eigentümliche Charakter der Setzung, der in dem Seinsbegriffe steckt, um den Crescas vergeblich ringt. Die innere Unsicherheit, in der er sich befindet, äußert sich sehr merkwürdig darin, daß er die Begriffe der Existenz und Einheit, auf deren positiven Charakter er herauswollte, im Laufe seiner Darstellung ständig negativ umschreibt und die Existenz als Negation des Nichtseins, die Einheit als Negation der Vielheit faßt [R581]. Auch wenn es sich hier mehr um eine Unsicherheit des Ausdrucks als um einen sachlichen Widerspruch handelt, so bleibt doch der Rückzug auf die negative Fassung der Begriffe dafür charakteristisch, daß er sich ihren positiven Gehalt nicht zur Klarheit bringen konnte.

Die Anerkennung positiver Attribute führt bei Crescas zu einem ganz anderen Inhalt der Gottesvorstellung als bei seinen Vorgängern Ibn Rošd und Gersonides. Bei ihnen trat an die Stelle der neuplatonischen Gottesvorstellung die ursprüngliche Aristotelische von Gott als dem höchsten Denken. Für Crescas dagegen bildet nicht das Denken, sondern die Güte den eigentlichen Inhalt der Gottesvorstellung. Schon in der Attributenlehre erklärt er sie für den Einheitsgrund, der die Mehrheit der Attribute zu einem Ganzen verbindet [R582]. Das Denken, das auch für ihn selbstverständlich ein Moment der Gottesvorstellung bildet, ist nicht deren Mittelpunkt, sondern wird von dem übergreifenden Prinzip des Guten umfaßt. Den Gegensatz dieser Gottesvorstellung zu der Aristotelischen arbeitet er auf das Schärfste heraus. Daß, wie Aristoteles lehrt, die Seligkeit Gottes im Erkennen liegt, ist aus zweifachem Grunde unmöglich. Die menschliche Analogie, nach der Aristoteles diese Vorstellung konstruiert, zeigt, daß nicht im Besitz, sondern im Erwerb der Erkenntnis die Seligkeit liegt, und paßt darum nicht auf Gott, bei dem es kein Erwerben, sondern nur ein ewiges Besitzen des Wissens gibt. Vor allem aber ist Seligkeit bei einem Gotte unmöglich, dessen Wesen im bloßen Denken gesucht wird. Die Freude gehört nicht dem Intellekt, sondern dem Gefühl an und hat darum in einem ausschließlich als Intellekt gefaßten Gotte keinen Platz. Von Freude kann in Gott nur die Rede sein, wenn wir ihn nicht als ein bloß denkendes, sondern als wollendes und damit auch fühlendes Wesen fassen [R583]. Damit aber verschiebt sich auch der Inhalt der göttlichen Freude. Sie bezieht sich auf den Akt des Schaffens, der der Ausdruck des göttlichen Willens ist. Weil Gott seinem Wesen nach die höchste Güte ist, läßt er das Gute aus sich hervorgehen, und in diesem Schaffen, das nicht ein einmaliger Akt ist, sondern die Welt ständig im Dasein erhält, liegt die Seligkeit Gottes. Die Freude an dem Guten, das Gott hervorbringt, ist die Liebe, die sich am Wohltun erfreut. Und so ist es nur ein anderer Ausdruck für denselben Sachverhalt, wenn wir Gott die Liebe zu seinen Geschöpfen zuschreiben, eine Liebe, die unendlich viel größer ist als die Liebe der Geschöpfe zu Gott [R584]. Von diesem Standpunkte aus findet Crescas auch eine Antwort auf die Frage nach dem letzten Zweck der Welt, die Maimonides mit der Begründung abgewiesen hatte, daß wir jedem solchen Zweck gegenüber fragen können, warum Gott ihn gewollt habe. Für Crescas gibt es einen letzten Zweck, demgegenüber diese Frage sinnlos wird. Wenn Gott seinem Wesen nach höchste Güte ist, so ist das Schaffen des Guten ein letzter und keiner ferneren Frage mehr unterworfener Zweck [R585]. Ebenso beantwortet sich von hier aus die Frage des Gersonides, wie von Gott als der höchsten Form auch die Materie abgeleitet werden könne. Zwischen Gott als dem höchsten und der Welt als dem abgeleiteten Guten besteht eine Wesensgemeinschaft, die sich auf alle Elemente der Welt, Materie und Form erstreckt. Aus dem höchsten Guten geht das abgeleitete verständlichermaßen hervor [R586].

Die Tradition des Aristotelismus bot freilich für diese Auffassung gewisse Ansatzpunkte. Mit der Aufnahme des neuplatonischen Emanationsgedankens war auch die Vorstellung in ihn eingedrungen, daß Gott kraft seiner Vollkommenheit die Dinge aus sich hervorgehen läßt und das Maximum möglicher Vollkommenheit in ihnen verwirklicht. Das Platonische Wort, daß es bei Gott keinen Neid gibt, wird bei arabischen und jüdischen Philosophen zur festen Formel für den Gedanken, daß Gott jedem Wesen die höchste Seinsstufe verleiht, die es zu empfangen vermag. Unter den Aristotelikern hat besonders Ibn Sina eine ähnliche Vorstellung stark betont, und was er über Gott als höchste Vollkommenheit und höchstes Gutes sagt, scheint auf den ersten Blick von Crescas nicht weit entfernt. Bei genauerer Betrachtung tritt indessen der Unterschied scharf heraus. Die Vollkommenheit Gottes liegt für Ibn Sina im Denken. Gottes Glückseligkeit ist der Selbstgenuß des Denkens, und wenn Ibn Sina von der Liebe Gottes spricht, so ist es die Liebe zu sich selbst als der höchsten Vollkommenheit. Es entspricht dieser Vollkommenheit, daß das Gute von ihr ausströmt, aber Ibn Sina lehnt es ausdrücklich ab, daß das auf Grund eines Wohlgefallens Gottes an der Welt erfolge. Es liegt im Wesen Gottes begründet, daß das Gute aus ihm hervorgeht, aber er will dieses Hervorgehen nicht und bejaht es nur als die notwendige Folge seines Sein [R587]. Im Gegensatz dazu verlegt Crescas das Wesen Gottes in die Güte und faßt das Hervorgehen der Welt aus ihm streng voluntaristisch auf. Gott ist Wille, und seine Liebe ist nicht auf sich selbst beschränkt, sondern auf seine Geschöpfe und die in ihnen verwirklichte Vollkommenheit gerichtet. Während Ibn Sina und ebenso jüdische Neuplatoniker und Aristoteliker die Liebe zu den Geschöpfen als einen Gottes unwürdigen Affekt ansehen und von hier aus die biblischen Aussagen über die Liebe Gottes dahin umdeuten, daß sie bloß das wohltätige Wirken Gottes bezeichnen, ist für Crescas die Liebe kein Affekt, sondern in der Spontaneität Gottes begründet. Damit geht er auch über die Platonische Auffassung von der Güte Gottes entscheidend hinaus, zumal weil der Gegenstand dieser Liebe nicht nur, wie es zunächst erscheint, das Gute ist, das aus dem Schaffen Gottes hervorgeht, sondern weil die Liebe Gottes personhaft auf seine Geschöpfe und insbesondere auf den Menschen gerichtet ist [R588].

Die Loslösung von dem Aristotelischen Intellektualismus erfolgt in gleicher Weise auch in der Auffassung des Menschen und seiner Bestimmung. Crescas vollzieht sie in der Behandlung des Zweckes der Tora. Suchen wir den letzten Zweck, auf den alle Einzelzwecke der Tora abzielen, so kann er nicht in der vergänglichen irdischen Glückseligkeit des Menschen liegen. Damit scheidet auch die sittliche Vervollkommnung des Menschen als letzter Zweck aus, denn Crescas bleibt darin an die Tradition der Aristoteliker gebunden, daß er den Sinn des sittlichen Handelns nur in seinen sozialen Wirkungen, in der Förderung des Gemeinwohls, sieht [R589]. Der Endzweck der Tora kann nur in dem höchsten Gut des Menschen, in der Erlangung der ewigen Seligkeit bestehen. Für die Aristoteliker wird dieses Ziel durch die intellektuelle Vervollkommnung des Menschen erreicht. Was von ihm fortlebt, ist der erworbene Intellekt, und die Seligkeit des Jenseits ist die Seligkeit der Erkenntnis. Damit hat Crescas das Ziel seiner Polemik erreicht. Die Bestreitung der Lehre von der Ewigkeit des erworbenen Intellekts kann erst später behandelt werden. Mit ihr aber verbindet er eine Zurückweisung der intellektualistischen Auffassung der menschlichen Glückseligkeit, die ganz dieselben Argumente wie die frühere Behandlung des Gottesproblems verwendet. Das Hauptargument ist wieder das psychologische, daß Freude und Seligkeit, auch die Freude des Erkennens, nicht der Sphäre des Intellekts, sondern des Gefühls angehören. Selbst wenn der erworbene Intellekt den Tod des Menschen überdauerte, könnte darum von seiner Seligkeit nicht die Rede sein. Gefühl und Wille sind für Crescas nicht bloße Begleitphänomene des Denkens, sondern selbständige Bewußtseinselemente, und diese psychologische Selbständigkeit des Gefühls führt Crescas dazu, auch das letzte Ziel des Menschen nicht im bloß Intellektuellen zu suchen. Dazu kommt das ebenfalls aus der Gotteslehre bekannte Argument, daß der bloße Erkenntnisbesitz keine Freude gewährt, das Wissen also, das nach dem Tode keine Vermehrung mehr erfährt, auch nicht das Gut sein kann, auf das sich unser Gefühl dann richtet [R590]. Das höchste Gut des Menschen ist vielmehr die Gottesliebe. Durch sie, nicht durch die Erkenntnis, gelangt der Mensch zu der Gemeinschaft mit Gott und zu der ewigen Seligkeit. Dabei aber darf die Gottesliebe, die in sich das höchste Glück darstellt, nicht als bloßes Mittel für die künftige Seligkeit betrachtet werden. Sie ist für den Menschen als höchstes Gut auch Endzweck. Nur vom Standpunkte Gottes aus ist sie zugleich Mittel für die künftige Seligkeit. Aber da diese selbst in dem Glück der Gottesliebe besteht, so besteht zwischen beiden Zweckbestimmungen kein Gegensatz, und die Gottesliebe in ihrer Ewigkeit enthält den ganzen Endzweck des Menschen [R591]. Dieser Endzweck ist nicht, wie der der Aristoteliker, nur auf die Philosophen beschränkt. Die Gottesliebe ist kein Produkt der Erkenntnis. Sie wird nicht durch die Philosophie, sondern durch die Tora erreicht, die mit allen ihren Geboten auf sie abzielt [R592]. Damit gewinnt die geoffenbarte Religion der Wissenschaft gegenüber eine selbständige Bedeutung. Darin stimmt Crescas ganz mit Jehuda Halewi überein, aber er gelangt zu diesem Ziele auf einem viel schlichteren Wege als dessen Theorie von der übernatürlichen Wirkung des Zeremonialgesetzes. Von den mannigfachen Konsequenzen dieser Lehre verdient eine Erwähnung. Für Crescas ist die Prophetie ein natürliches Phänomen, die höchste Steigerung der auch sonst vorhandenen Gemeinschaft von Mensch und Gott. Aber wie diese Gemeinschaft überhaupt, beruht auch ihre höchste prophetische Stufe nicht auf dem Intellekt. Sie hat ihre Grundlage in der durch die Befolgung des göttlichen Gebotes erzeugten Gottesliebe [R593].

Voraussetzung dieser Lehre vom ewigen Leben ist eine veränderte Auffassung vom Wesen der Seele. Der Begriff der Seele muß so gefaßt werden, daß sie als solche unsterblich ist und die Unsterblichkeit sich nicht auf den erworbenen Intellekt beschränkt. Auch Crescas hält grundsätzlich an der Aristotelischen Auffassung der Seele als der Form des Körpers fest, aber er sucht diesen Begriff so zu bestimmen, daß er mit der substanziellen Selbständigkeit der Seele verträglich ist. In seiner Definition der Seele verbindet er darum die beiden Momente, daß sie Form des Körpers und daß sie eine geistige, zur Erkenntnis disponierte Substanz ist, woraus sich dann leicht ihre substanzielle Unsterblichkeit ergibt. Diese Definition und ihre Begründung erinnert deutlich an Ibn Sina und Thomas von Aquino, von denen sie freilich besonders Thomas wesentlich subtiler durchführt [R594]. Bei Crescas werden die beiden Momente der Definition, der Formcharakter und die geistige Substanzialität der Seele, nur sehr äußerlich miteinander vereinbart. Bedeutender als seine eigene Theorie ist seine Kritik der Lehre von der Unsterblichkeit des erworbenen Intellektes. Sie setzt den Intellekt mit der Summe der von ihm erworbenen Begriffe gleich. Damit aber wird die Einheit des Denkens aufgehoben; denn da die Begriffe, die unseren Intellekt konstituieren, eine Vielheit sind, so muß auch der Verstand eine ebensolche Vielheit ausmachen, und es ist nicht zu sehen, worin seine Einheit besteht [R595]. Ebenso schwierig und widerspruchsvoll ist die Vorstellung, daß der erworbene Intellekt abgelöst von der Seele und ihrer Denkanlage existiert. Durch das Denken soll der potenzielle Verstand zur Aktualität gebracht werden, und diese Aktualisierung vollzieht sich durch den Denkakt, in dem wir die Begriffe erwerben. Halten wir an dieser Bestimmung fest, so muß der aktuelle Intellekt aus dem potenziellen als seiner Grundlage hervorgehen. Damit aber ist es unverträglich, daß der erworbene Intellekt gesondert von dem potenziellen existiert und fortbesteht, wenn der potenzielle Intellekt als ein Bestandteil der Seele untergeht [R596]. Von verwandten Gesichtspunkten aus wendet sich Crescas auch gegen die der Lehre von der Ewigkeit des Verstandes zugrunde liegende Aristotelische Anschauung, daß im aktuellen Denken das Denken (der Intellekt), das Denkende und das Gedachte identisch sind, und sieht ihren Grundirrtum darin, daß sie aus der notwendigen Zusammengehörigkeit von Denkendem und Gedachtem eine Identität macht [R597]. Trotzdem diese Kritik weniger die Voraussetzungen als die Konsequenzen der gegnerischen Theorie zu ihrem Objekt hat, führt sie doch an all die Schwierigkeiten heran, die sich aus der Aristotelischen Identifizierung des Denkens mit dem von ihm erfaßten Begriff ergeben, und enthält die Ausgangspunkte für eine grundsätzliche Revision des Aristotelischen Standpunktes in sich.

Indem Crescas die substanzielle Unsterblichkeit der Seele behauptet, läßt er nicht nur den erkennenden Teil der Seele den Tod überdauern, auch Wille und Gefühl bleiben nach dem Tode bestehen, und auf ihnen beruht die ewige Glückseligkeit. Der tiefere Sinn dieses Voluntarismus aber ergibt sich erst aus der Behandlung des Problems der Willensfreiheit. Schon die Art der Problemstellung ist bei Crescas eine wesentlich andere als in der bisherigen jüdischen Religionsphilosophie. Die von Sa'adia an vorherrschende theologische Frage, wie sich die Freiheit des Menschen mit der Allwissenheit und Allmacht Gottes vereinen lasse, tritt bei ihm stark in den Hintergrund gegenüber der philosophischen Fragestellung nach der Vereinbarkeit der Willensfreiheit mit dem Gesetz der Kausalität. Die Argumente für die Willensfreiheit sind im wesentlichen die herkömmlichen: die im Wesen des Willens liegende Möglichkeit, sich nach der einen oder nach der anderen Seite hin zu entscheiden, die Sinnlosigkeit alles menschlichen Bemühens, wenn sein Handeln vorher bestimmt ist, die Unmöglichkeit, vom Standpunkt des Determinismus aus zu verstehen, daß dem Menschen ein göttliches Gebot gegeben ist und er für seine Befolgung verantwortlich gemacht wird. Die Gründe für den Determinismus dagegen sind im ganzen nur Variationen des Gedankens, daß alles Geschehen kausal bedingt ist [R598]. Nur anhangsweise wird auch die Berufung auf die göttliche Allwissenheit hinzugefügt. Weit entscheidender noch trennt sich Crescas von der einstimmigen Lehre der älteren jüdischen Religionsphilosophie, indem er den Konflikt im Sinne des Determinismus löst. Äußerlich gibt er seiner Lösung den Charakter des Ausgleichs zwischen den beiden extremen Auffassungen. Er gibt dem indeterministischen Standpunkt insofern recht, als er dem von ihm vertretenen Begriff der Möglichkeit des Geschehens eine gewisse Geltung zuschreibt. Es gibt ein Mögliches, wenn wir lediglich vom Wesen des einzelnen Dinges ausgehen. Seinem Wesen nach ist es dem menschlichen Willen möglich, sich so oder anders zu entscheiden, und so verstanden hat die Berufung auf die Natur des menschlichen Willens ihr gutes Recht. Ebenso setzt die Tatsache des sittlichen Gebotes voraus, daß dem Willen nicht durch seine Natur eine bestimmte Handlungsweise vorgeschrieben ist. Dagegen hat der Determinismus recht, sofern neben dem Wesen des einzelnen Dinges selbst auch die auf es wirkenden Ursachen mitberücksichtigt werden. Der menschliche Wille als solcher hat die Möglichkeit zu verschiedener Entscheidung, aber die auf ihn wirkenden Ursachen bestimmen eindeutig, nach welcher Richtung er sich jeweils entscheidet. Wenn zwei Menschen unter vollkommen gleichartigen inneren und äußeren Bedingungen stehen, muß auch ihre Entscheidung dieselbe sein. In bezug auf die das Geschehen allseitig determinierenden Ursachen verliert der Begriff der Möglichkeit seine Geltung [R599].

Dieser Ausgleich ist in Wahrheit die volle Anerkennung des Determinismus und wehrt nur eine mißverständliche Auffassung desselben ab. So neu sie innerhalb der jüdischen Philosophie und so kühn der Versuch ist, den Freiheitsglauben des Judentums deterministisch umzudeuten, so ist im allgemeineren philosophiegeschichtlichen Zusammenhang Crescas bis hierher noch nicht eigentlich originell. In der islamischen Philosophie war dieser Standpunkt längst vertreten, und offenbar folgt Crescas dem Ibn Rošd, der die Umbildung der theologischen Prädestinationslehre der islamischen Orthodoxie in den Gedanken der kausalen Determination des menschlichen Handelns mit größter Schärfe durchgeführt hatte und auch in der Darstellung des Zusammenwirkens von menschlichem Wollen und äußeren Ursachen als einer Vermittlung zwischen extremem Determinismus und extremem Indeterminismus Crescas vorangegangen war [R600]. Ganz selbständig dagegen ist der Gedankengang, durch den Crescas die ethischen Einwände gegen den Determinismus zu beheben sucht. Bei dem richtig aufgefaßten Determinismus verliert das sittliche Gebot keineswegs seinen Sinn. Es ist vielmehr der Bestimmungsgrund, der das Handeln des Menschen erst zum Guten determiniert. So wenig wie der Determinismus das Streben des Menschen nach äußerer Wohlfahrt sinnlos macht, da ja erst dieses Streben die Wohlfahrt herbeiführt, so wenig nimmt er dem sittlichen Streben des Menschen und dem es bestimmenden Gebot seinen Sinn. Beide sind vielmehr notwendige Mittel für die Herbeiführung des Guten, da Gutes und Böses nicht durch einen für allemal im menschlichen Wesen liegenden Zwang, sondern durch die bestimmte Motivation des Willens herbeigeführt werden [R601]. Ebenso rechtfertigt sich auch die Belohnung des Guten und die Bestrafung des Bösen. Die göttliche Gerechtigkeit hat ihren Sinn in der göttlichen Güte. Gott straft nicht um der Rache willen, sondern er straft, um vom Bösen abzuschrecken. Lohn und Strafe rechtfertigen sich als Mittel, den Willen zum Guten zu stärken und dadurch seine Verwirklichung herbeizuführen [R602]. Alle Grundgedanken der neuzeitlichen deterministischen Begründung der Ethik sind hier beisammen: die Ersetzung des indeterministischen Freiheitsbegriffs durch einen psychologischen, der die Freiheit des Willens darein setzt, daß seine durch die psychologischen Motive bestimmte Entscheidung die Ursache der Handlung ist, die Auffassung des sittlichen Ideals als psychologischen Bestimmungsgrundes und die Rechtfertigung der Vergeltung aus ihrer motivierenden Kraft.

Neben dieser teleologischen Rechtfertigung der Strafe steht noch eine andere, kausale. Die notwendige Bedingtheit des menschlichen Handelns macht die Belohnung des Guten und die Bestrafung des Bösen zu keiner Ungerechtigkeit, wenn beide so notwendig aus dem Verhalten des Menschen folgen, wie das Verbrennen aus der Berührung mit dem Feuer [R603]. Was Crescas hier im Auge hat, ist die jenseitige Vergeltung. Die ewige Seligkeit besteht in der inneren Gemeinschaft mit Gott, und diese folgt mit Notwendigkeit aus der Liebe zu Gott. Die wahre Erfüllung des Gebotes setzt die freudige Hingabe der Seele an Gott voraus und erzeugt ihrerseits die Liebe zu ihm; darum muß aus ihr mit innerer Notwendigkeit die Seligkeit entspringen und muß ebenso fehlen, wo ihre Voraussetzungen nicht vorhanden sind. So erklärt es sich auch von selbst, daß nur das freiwillige, nicht das gezwungene Handeln belohnt und bestraft wird, obwohl beide gleich notwendig sind. Denn nur wo die Notwendigkeit durch die innere Willensbestimmtheit hindurchgeht, kann die Handlung den Menschen Gott annähern oder von ihm entfernen [R604]. Erst in dieser Wendung tritt der religiöse Sinn dieses Determinismus heraus. So wie Gott aus der Güte seines Wesens heraus handelt, so auch der von der Gottesliebe bestimmte Mensch. Das Wesen Gottes ist das Gute, und die Seligkeit des Menschen liegt darin, an ihm teilzuhaben. Die Kraft des Guten liegt im Willen und in der Liebe, aber ihre beseligende Kraft setzt keine absolute Freiheit voraus, sondern ist in ihrem Wesen gegründet. Auch hier, wie in der Lehre vom göttlichen Willen, macht Crescas freilich wieder den Vorbehalt, daß diese sachlich mögliche deterministische Auffassung mit Rücksicht auf die Tora eingeschränkt werden müsse, und will den Standpunkt der Tora dahin auffassen, daß die Freiheit des Menschen durch die auf ihn wirkenden Motive nicht aufgehoben wird und daß eine Notwendigkeit nur im Hinblick auf das Wissen Gottes besteht [R605]. Allein dieser Vorbehalt besagt, seiner subjektiven Ehrlichkeit ungeachtet, hier so wenig wie früher. Innerlich steht Crescas auf Seiten des Determinismus, auch wenn eine letzte Scheu ihn hemmt, sich ganz zu ihm zu bekennen.

Dieser Versuch, den Aristotelismus zu überwinden, steht in einem sehr eigentümlichen Verhältnis zu dem Unternehmen des Maimonides, einen theistischen Aristotelismus aufzubauen. Beide berühren sich darin, daß sie in der Deutung des göttlichen Schaffens dem Aristotelismus gegenüber die voluntaristische Gottesauffassung vertreten. Erst bei Crescas aber – – darin liegt seine Überwindung des Aristotelismus – greift dieser Voluntarismus auf das Ganze des Systems über. Maimonides war in der Wertlehre und demgemäß in der Auffassung des Menschen und seines Verhältnisses zu Gott Aristoteliker geblieben, und auch in seiner Gottesvorstellung war mehr das Schaffen als das Wesen Gottes voluntaristisch aufgefaßt. Crescas ist Voluntarist vor allem in der religiösen Wertlehre. Die letzten religiösen Werte liegen außerhalb der Sphäre des Intellekts. Die Begriffe von Gott, vom Menschen und von ihrem Verhältnis zueinander bestimmen sich von hier aus ganz neu. Aber für den Voluntarismus des Crescas wird gerade das gleichgültig, was für den des Maimonides das Wesentliche ist: die metaphysische Freiheit und Spontaneität. Für Maimonides schließen Wille und Notwendigkeit einander aus, für Crescas ist das Wesen des Willens mit der Notwendigkeit wohl verträglich. Die Lehre von der Emanation wird bei ihm zur Lehre von der Willensnotwendigkeit des göttlichen Schaffens umgestaltet. An Stelle des Intellekts bildet die notwendig im Menschen erwachsende Gottesliebe das Band zwischen Gott und Mensch. Diese Konzeption entfernt sich nicht nur metaphysisch, sondern auch religiös stark von dem geschichtlichen Judentum. Von dem ethischen Monotheismus des Judentums hat Maimonides die Freiheitsidee, Crescas den Primat der Werte des Willens und der Liebe übernommen, und es ist schwer zu sagen, wer von beiden, auf das Ganze gesehen, dem geschichtlichen Wesen des Judentums näher geblieben ist.


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