Stefan Großmann
Die Partei
Stefan Großmann

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Viertes Kapitel

Einen Trauzeugen haben Karl und Anna Schauer gebraucht, das war natürlich Helferich. Mittags stehen sie drinnen im Rathaus vor dem Standesbeamten, dann essen sie zu dritt in einem kleinen Gasthaus, trinken eine Flasche österreichischen Rotwein, um die Stunde festlich zu begehen, und Schauer hat sogar zwei besondere Zigarren vorbereitet. Er legt die eine für sich hin und bietet die andere Helferich an. Der lehnt dankend ab.

»Sie werden uns doch den heutigen Tag nicht durch eine Ihrer entsetzlichen . . .« Plötzlich hält Schauer inne: »Da fällt mir ein . . . Jetzt erinnere ich mich . . . Sie haben in der letzten Zeit gar nicht mehr geraucht.«

Helferich wetzt wie ein ertappter Schuljunge auf seinem Sessel: »Nein.«

Schauer zündet mit Behagen die Zigarre an. Er stößt den zarten Duft vor Helferichs Nase, um ihn damit zu kitzeln und zu verführen: »Wollen Sie nicht ausnahmsweise doch noch versuchen?«

»Nein! Und Sie täten gut, mir's nachzumachen!«

»Fällt mir gar nicht ein. Die zwei, drei Laster, die einem geblieben sind, opfern – nein! ›Gönnen Sie dem Volk doch auch ein Laster!‹ hat einmal ein sehr intelligenter Mensch gesagt. Erinnern Sie sich?«

370 Anna sieht zu Helferich lächelnd hinüber. Ich weiß schon, sagt ihr Lächeln, warum du nicht mehr rauchst.

»Jetzt sollten Sie ihm das Rauchen verbieten!« sagt Helferich.

»O Gott, ich und verbieten!« Anna lächelt. Da sitzt der arme Helferich und hat seine letzte Leidenschaft abgeschworen, bloß um es dem anderen vorzuzeigen und leicht zu machen, und der bemerkt es gar nicht und pafft und hüllt sich in eine Wolke und läßt sich nicht stören . . . Ich kann mir nicht helfen, denkt Anna, ich muß drüber lachen.

»Lachen Sie mich nur aus!« brummt Helferich, »er wird mir schon folgen.«

»Immer Geheimnisse, immer Verschwörungen,« sagt Schauer, »das hat sie von meiner Mutter angenommen.«

Ein Zeitungsblatt wird an ihren Tisch gereicht.

»Entschuldigen Sie,« sagt Helferich, »ich muß einen Blick hineinwerfen.«

»Was Neues?« fragt Schauer.

»Nichts, ein Mord, ein paar Selbstmorde, gar nichts . . . Und wenn jetzt der schönste Mord geschähe, und wenn sich der Fürst Schwarzenstein umbrächte, die Zeitung gehört jetzt den Wahlen, wir haben jetzt keinen Platz für diese Kleinigkeiten.«

Seit einer Weile sitzt Anna wie verloren da. Jetzt erwacht sie und erbittet die Zeitung für einen Moment. Ein Gedanke verfolgt sie, sie muß nachsehen, wer denn die sind, die sich getötet haben . . . Erleichtert legt sie das Blatt zur Seite.

Schauer sieht ihr aufmerksam zu: »So ernst?«

Bald stehen sie auf, Schauer muß zu einer Sitzung.

371 »Begleitest du mich?«

»Nein, Helferich begleitet mich ein Stück.«

Auf der Straße sagt Anna zu Helferich: »Ich muß Sie um einen großen Dienst bitten . . . Ich bitte Sie darum, suchen Sie Schiller auf! Ich weiß, es geht jetzt in der Redaktion drunter und drüber. Versammlungen und Aufrufe und Konferenzen und Broschüren, und Sie arbeiten für zwölf! Ich würde ihn selbst aufsuchen, wenn . . . wenn er es richtig verstände, aber er sieht alles phantastisch und verzerrt . . . Denken Sie: Einmal bin ich mit Gustav Schiller im Rathaus gestanden, und es ist nicht wahr, daß er von mir gegangen ist. Viel früher schon, in aller Stille, bin ich von ihm fort . . . Verstehen Sie mich gut! Wir waren noch beisammen, äußerlich, aber ich war eigentlich schon fort, dann erst ist er weg . . . Ich habe ganz recht gehabt, aber . . .«

Helferich sagt nach einer Pause, mit absichtlicher Barschheit:

»Für solche Leute wie Schiller wird man im Zukunftsstaat Anstalten errichten, so ein Mittelding zwischen Sanatorium und Arbeitshaus.«

»Tun Sie nicht so grausam, Helferich! . . . Erweisen Sie mir den Gefallen! Sie wollten schon unlängst zu ihm schauen und haben es vergessen, schieben Sie es nicht auf!«


Die Frau des Schneiders führt Helferich in Schillers Stube. »Das Fieber hat ihn erwischt.«

Die enge Kammer ist verdunkelt, Schiller liegt im Bett. So wie die Tür aufgeht, schnellt er in die Höhe: »Draußen bleiben! . . . Wer wagt es? . . . Unverschämte Frechheit!«

372 »Ich bin's,« sagt Helferich. »Sind Sie krank?«

Schiller legt sich, ohne zu antworten, in die Kissen zurück.

»Könnten Sie nicht ein bißchen Licht machen? Eine Kerze wenigstens.«

»Bedaure.«

Helferich tappt zum Bett.

»Wo fehlt's denn eigentlich, Schiller?«

Schiller murmelt vor sich hin: »Sie müssen doch im Grunde ein ganz verhärteter Mensch sein! Es ist unmöglich, euer Geschäft zu betreiben, ohne ganz zu verhärten. Sag' ich etwas dagegen? Nein!«

»Sie sind nicht wohl. Ich wüßte ein helles, luftiges Zimmer für Sie und einen verständigen Arzt. Wahrscheinlich hat Sie ihre Äpfelkur heruntergebracht.«

Schiller zieht die Decke über das Gesicht: Wie Helferichs Stimme scharrt und krächzt! So sind sie alle, wie ihre Stimmen. Kantig, schartig, steinhart . . .

»Wenn Sie Geld brauchen, so dürfen Sie deshalb ganz ruhig sein. Ich bringe Ihnen vorläufig zweihundert Kronen, die sind Ihr Honorar für das ›Lied der Masse‹, das wir jetzt in allen größeren Gesangvereinen einstudieren lassen.«

Schiller sagt plötzlich: »Wissen Sie, warum Sie so freundlich zu mir sind? Weil Sie eigentlich erzhart sind und weil Sie das Bedürfnis haben, vor sich selber überdies noch menschlich und warm dazustehen. Auch das!«

Helferich denkt: Diese Mission ist hoffentlich bald zu Ende . . . Er sagt: »Wenn Sie mir gestatten wollten, eine Kerze zu holen.«

373 Schiller antwortet gereizt: »Nein, ich gestatte nicht!«

Plötzlich verliert Schillers Stimme die eigensinnige Schrillheit und wird sanft:

»Wissen Sie, was Schwermut ist, Helferich? Nein, wie sollten Sie? Können Sie sich Stohandl oder Stransky schwermütig vorstellen? Ihr steckt doch alle in festen Rhinozerospanzern . . . Aber ich, sehen Sie, ich habe nicht einmal Schädelknochen. Sehen Sie, Helferich . . . mein Hirn liegt ganz frei. Deshalb ist es immer wund, und deshalb blute ich fortwährend, und das ist die Schwermut. Mir fehlen die eisernen Knochen . . .« Helferich tastet zu Schillers heißer Hand. Neununddreißig Grad, denkt er.

»Ihre Hand ist kühl,« sagt der Kranke.

Helferich glaubt einen Augenblick so was wie einen Händedruck zu spüren.

Plötzlich richtet Schiller sich im Bett auf.

»Sagen Sie mal, Helferich, jetzt sind wir ganz allein, und finster ist es auch, niemand hört uns, und ich bin kein gemeiner Kerl. Machen Sie mir das Vergnügen und verraten Sie mir Ihr letztes Geheimnis: Glauben Sie etwas von dem Zeug, das Sie tagtäglich schmieren? . . . Ich glaube nur an die Tigernatur! Haben Sie schon einmal einer Schweineschlachtung beigewohnt? Zwischen der Erschießung des Robert Blum und der Schlachtung einer auf den Tod erschreckten Sau ist gar kein Unterschied . . . Sie glauben, jetzt kommt eine Vegetarierpredigt? Unsinn! Gestern aß ich einen Apfel und zerbiß dabei einen Wurm, mitten durch den Leib . . . es ist vergebens, wir müssen Tiger sein! . . . 374 Vielleicht seid ihr wirklich gutgläubig? Sozialistische Tiger! Sittliche Tiger!! Edeltiger!!!«

Helferich steht auf und bittet die Schneiderfrau, einen Arzt zu holen. Er tritt mit einer brennenden Lampe herein.

Schiller hat sich zur Wand gedreht und schweigt.

»Schlafen Sie?«

»Nein,« sagt Schiller, »während Sie draußen waren, hab' ich mich gefragt, was mich denn eigentlich treibt, den Menschen immer grausame Dinge zu sagen? Eigentlich war es doch gut von Ihnen, zu mir zu kommen und bei mir zu sitzen. Aber der Tiger in meinem Hirn läuft herum und brüllt und braucht Futter. Das hält keiner aus, nicht einmal Anna hat das ausgehalten . . .«

»Jetzt geht es Ihnen, scheint's, wieder ganz gut.«

»Entschuldigen Sie! Selbst in meiner Krankheit bin ich, wie Sie sehen, unzuverlässig. Seien Sie also nicht zu menschenfreundlich, ich bin imstande und stehe morgen strotzend gut auf!«

Der Arzt kommt, untersucht den Kranken, horcht auf Herz und Lunge, sucht im Schlund, tastet den Leib ab und versteht nicht, woher das hohe Fieber kommt, das nun schon seit einer Woche in dem Patienten wühlt.

»Es gibt solche Menschen, die immer mit erhöhter Temperatur herumgehen, zeitweilig packt sie das Fieber, wer weiß woher.«

»Gute Luft, leichte Nahrung, keine Gemütserregungen!«

Schiller pfeift vor sich hin.

Nachdem der Arzt gegangen, sagt Helferich in dezidiertem 375 Ton: »Also jetzt passen Sie auf, lieber Schiller, ich habe nicht viel Zeit! Wir werden Sie morgen oder übermorgen in ein für Sie gewähltes Zimmer übersiedeln. Schweigen Sie, bitte . . . dort werden Sie sich erholen, wir werden Ihnen ein Klavier hineinstellen, wir werden Ihnen auch eine Pflegerin ins Zimmer setzen . . . schweigen Sie! . . . Wenn Sie in Ordnung sind, werden Sie wieder in die Kreditbank eintreten! Mit dem Direktor Mandl wird geredet werden! Sie werden in eine angenehme Abteilung kommen, und man wird es mit Ihnen nicht so genau nehmen. Sie werden sich in Gottes Namen damit begnügen, vormittags zu schuften und erst von drei Uhr nachmittags ein freier Mann zu sein. Von drei bis zwölf Uhr nachts. Das sind neun Stunden täglich, da können Sie dutzendweis' Sonaten und Symphonien schreiben, so wie Sie's wollen . . . Unterbrechen Sie mich nicht! . . . Er wird Ihnen Ihr früheres Gehalt geben, das werden wir durchsetzen. So! . . . Damit ist Ihnen eine ökonomische Grundlage geschaffen, der Überbau ist dann Ihre Sache . . . Jetzt können Sie reden!«

Schiller ist noch zur Wand gedreht.

»Antworten Sie!« Helferichs Stimme hat Kommandoanklänge.

»Ja,« sagt der Kranke, »Sie haben ganz recht . . . Sich einordnen – das hab' ich nie gekonnt.«

»Leben Sie wohl,« sagt Helferich fröhlich, »machen Sie sich zur Übersiedlung fertig, und bleiben Sie vernünftig!« 376



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