Stefan Großmann
Die Partei
Stefan Großmann

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Zehntes Kapitel

Mama Schauer ist Montag abends mit Anna zu Helferich in die Redaktion gegangen.

»Sie sind ein so guter und gescheiter Mensch, Helferich, aber wie kann man nur diese entsetzlichen Zigarren rauchen? Und so lange Sie im Qualm sitzen, dampft Karl natürlich auch, obwohl sein Herz miserabel ist. Es wird Ihnen gewiß auch schaden . . . Damit Sie aber nicht glauben, daß ich immer nur komme, um Sie anzujammern, hab' ich Ihnen und Herrn Weiner was mitgebracht. Sie sollen einmal meine Arbeit sehen, da diese kleine Schachtel Brezeln, aus Zuckerteig. Kosten Sie einmal! Mein seliger Mann hat für diese Brezeln alles getan, sogar das Geschäft hat er früher gesperrt, wenn ich sie ihm versprochen habe . . . Kosten Sie einmal, und Sie, Weiner!«

Helferich sagt mit vollem Mund: »Sie meinen, wir sollen auch das Geschäft sperren?«

»Sie wissen nicht, Helferich, was er jetzt durchgemacht hat in aller Stille! Er muß jetzt ausspannen!«

Während Helferich sagt: »Diese Brezeln sind wirklich . . .«, tritt Schauer ein:

»Du bestichst also meine Leute! . . .«

»Ganz recht hat Ihre Mutter! Sie gehören jetzt nach Kärnten oder an den Gardasee, irgendwohin an die Sonne. 168 Wer kann denn dieses naturwidrige Leben ohne Schaden leben?«

»Pfui, Helferich, ich hätte nicht gedacht, daß Sie für eine Schachtel Backwerk zu haben sind. Allerdings – diese Brezeln! Kosten Sie, Weiner, greifen Sie zu. Es ist beinahe der beste Pfeil meiner Mutter! . . . Übrigens hast du schon gesiegt, Mutter. Professor Roth hat mir die Hölle heiß gemacht. Wenn alles klappt, fahre ich nächste Woche fort.«

»Nächste Woche!« sagt Helferich, »morgen, übermorgen können Sie weg! Die Sitzung am Donnerstag wird auch ohne Sie gehen, und den Vortrag, den Sie Donnerstag bei den Metallarbeitern haben, nehm' ich Ihnen ab. Reisen Sie morgen! Oder nein, ich lass' Ihnen noch einen Tag, übermorgen! Abgemacht?!«

»Unter einer Bedingung.«

»?«

»Daß dann, wenn ich zurückkomme, Sie auch vierzehn Tage weggehen!«

»Ich war schon fort, und ich bin gesund und brauche diesen Naturschwindel nicht.«

Schauer hält die Hand hin: »Ja oder nein?«

»Also abgemacht!« Helferich schlägt ein.

»Weiner, Sie sind Zeuge!«

Schauer dreht sich um: »Weiner? Schauen Sie den an? Der hüstelt fortwährend. Nehmen Sie sich den mit!«

»Wird geschehen!«

Mama Schauer ist glücklich: »Helferich, dafür bekommen Sie noch etwas ganz Spezielles. Karl meint, diese Brezeln 169 sind mein letzter Pfeil. Er hat mich immer unterschätzt! Na, warten Sie, jetzt werde ich Ihnen was zeigen! Dieser Sohn weiß ja gar nicht mehr, was ich kann. Helferich, Sie bekommen von mir eine Gansleberpastete! Sie werden spitzen . . .«

Anna sitzt bei Schauers Schreibtisch, im ›Operationsstuhl‹, wie Helferich sagt, denn hier sitzen die Bittsteller: »Sie sehen ja wieder ganz gut aus!« sagt Schauer mit einem aufmerksamen, schnellen Blick.

»Ich werde ja auch gefüttert,« antwortet Anna heiter, »ich bekomme von Ihrer Mutter alle guten Sachen für die sie sonst keine Abnehmer findet.«

Schauer schaut über den Kneifer weg zu der alten Frau: »Ja, da ist sie glücklich, wenn sie für jemand ihre alten Delikatessen kochen kann!«

»O, bitte, ich esse sie nicht nur, ich habe auch eine historische Mission! Denken Sie, von all den leckeren Sachen, die Ihre Mutter kocht und backt, hat es bisher keine aufgeschriebenen Rezepte gegeben! Aber das wird jetzt alles genau festgestellt, mit Gewicht angegeben, notiert und aufgehoben!«

»Im Parteiarchiv!« Schauer zwinkert fröhlich, »wir haben ohnehin zu viel asketische Brüder unter uns. Aber kann man sie auch fabrikmäßig zur Massenverteilung herstellen?«

Die alte Dame hat gehört, daß Karl von ihrem Backwerk redet.

»Fabrikmäßig? Gott sei Dank, daß ich das nicht mehr erlebe! Gehen wir, Anna! . . . Übrigens, was sagen Sie, Helferich, wie ich diese junge Frau herausputze?«

Anna trägt ein kornblumenblaues, einfaches Leinenkleid.

170 »Das hab' ich schon früher gehabt!«

»Jawohl,« sagt die alte Frau, »aber ohne diese Spitzenmanschetten und ohne die weiße Rüsche um den Hals.«

»Wollen Sie mich verlegen machen?«

»Nein, eitel!« antwortet Mama Schauer. »Ein hübsches Frauenzimmer soll eitel sein!«

Anna gewahrt, daß Schauer sie ansieht und ihr zunickt: »Hören Sie nur auf meine Mutter. Sie ist zwar eine Parteigegnerin, aber sonst eine sehr gescheite Frau . . . Übrigens, sagen Sie, Sie sind ja ganz faul in der Partei geworden! Sie reden gar nicht, Sie schreiben nicht mehr . . . Das ist auch eine Folge von Mutters Kost, fürcht' ich.«

Anna wird ein wenig verwirrt: »Ich weiß nicht, ich glaub', ich bin nicht die Richtige für diese Sachen, oder wenigstens jetzt nicht, es geht mir jetzt vielleicht wirklich zu gut, ich bin zu ruhig.«

»Sooo? Sind Sie so ruhig?« In Schauers Blick und auch in seiner Stimme ist irgendwo ein kleines Lachen versteckt.

Anna fühlt, daß sie ganz kindisch wie ein Backfisch errötet. Sie streicht sich mit der Hand über den Scheitel, das ist immer die Bewegung, während der sie nachdenkt: »Ruhig? . . . Ich werde von niemand mehr gehetzt, ich habe, Gott sei Dank, nicht mehr so viel Stimmungen.«

»Sooo?« Immer noch ruhen Schauers Augen auf ihr. Anna fühlt diesen ruhigen Blick, sie spürt, daß der Mann da neben ihr sie heute vielleicht zum erstenmal wirklich sieht, sie genießt sein betrachtendes Schweigen, und plötzlich hebt sie den Kopf und sieht auch ihn an, ganz ruhig, 171 mit der Sicherheit einer reifen, erwidernden Frau. Sie will jetzt schön sein, und sie hat das zuversichtliche Gefühl, daß der Mann, der sie jetzt mit einem schwach lächelnden Mund anschaut, sich ihrer Schönheit freut, und sie sieht ihn mit offenen Augen wieder an!

Eine Minute lang ist es ganz still im Zimmer.

Schauer weckt sich gewissermaßen: »Sie tun unrecht, sich jetzt um die Bewegung nicht zu kümmern. Wir brauchen gerade gesunde, nicht hysterische, sondern verständige, heitere Frauen, ich meine die Bewegung.«

Anna schaut ihm gerade ins Gesicht: Selbstverständlich, nur von der Bewegung ist die Rede.

»Ich habe so viele Führerinnen auftauchen gesehen, was so die Zeitungen Führerinnen nennen, und hab' immer gewußt: Das hält nicht, das ist Hysterie, das verliert sich wieder. Gerade die Arbeiterinnen brauchen zu Führerinnen richtige Mütter . . . Das sind Sie ja nun nicht,« sagt Schauer lächelnd, »sehen Sie, ich komme ins Schwätzen.«

Anna sieht zu dem Kellerfenster hinauf. Letztes Tageslicht fällt von dort auf sie. Plötzlich fällt ihr ein, wie die kleine Gertrud gelernt hat, sich an sie zu schmiegen . . . Sie denkt: Wenn das dumme oder gemeine Menschen gehört hätten, würden sie höhnen! Ich sitze hier still und sage keine Antwort, aber ich bin doch eigentlich nur nicht kuragiert genug, ich müßte ihm jetzt die Hand reichen und sagen: Danke, ja, das bin ich!

Mama Schauer bearbeitet Helferich noch immer:

»Sie haben sein Wort, daß er übermorgen auf Urlaub 172 geht, ich muß jetzt nach Haus, seine Koffer packen, und morgen kommt die Pastete. Adieu!«

Schauer schüttelt Anna fest die Hand: »Lassen Sie sich's nur gut gehen, und vergessen Sie uns doch nicht!«

Draußen auf der Gasse, sie sind schon eine Weile still nebeneinander gegangen, sagt Anna: »Mama Schauer, das blaue Kleid sieht mit der weißen Spitze wirklich ganz anders aus! Ich danke dir.«

An diesem Abend küßt Anna die alte Dame auf beide Wangen!

Der darauffolgende Tag war ein schwerer Tag für Schauer. Brrr, einen überladenen Schreibtisch wie den seinen säubern, das bedeutet, sich an all das erinnern, was man notgedrungen links liegen lassen, vernachlässigen und übersehen mußte im einströmenden Leben, Briefe, die nicht beantwortet, Arbeiten, die nicht ausgeführt, Steuern, die nicht bezahlt, Bücher, die nicht gelesen, Redner, die nicht gehört, Rechnungen, die nicht geordnet wurden. Das alles lag hier begraben, nun stand es wieder auf. »Unmöglich,« stöhnt Schauer, wirklich verdrossen, »ich kann nicht weg! Es ist dumm, daß ich mich durch Weibersentimentalitäten verleiten lasse, anders zu sein, als ich bin. Glauben Sie denn, ich bringe es zustande, jetzt in einer Hängematte zu liegen und ins Blaue zu glotzen? Dieser Schreibtischberg hier läuft mir ja doch nach, die Leute, die ich nicht gesprochen, die Briefe, die ich nicht erwidert habe, sogar die Bücher . . .«

»Die bekommen Sie mit,« sagt Helferich ungerührt.

»Aber übermorgen kann ich unmöglich weg! Da, sehen 173 Sie, ich weiß ja gar nicht, was alles in diesem Berg steckt, ich kann diesen ungeheuren Wust doch nicht ins Feuer werfen.«

»Das sehe ich ein, gehen Sie, bitte, vorläufig nach Hause und erledigen Sie von Ihrem häuslichen Berg das Wichtigste.«

Er drängt Schauer zur Tür.

Nachmittags kommt Schauer wieder und erkennt seinen Schreibtisch nicht mehr. Der ungeheure Wust ist weg! Zum erstenmal seit Jahren sieht man das grüne Tuch des Schreibpultes wieder. Neben dem Tisch stehen vier große Schachteln, in denen alphabetisch geordnet, nach Materien gesichtet, die Briefe, Zeitungen, Rechnungen, Zettel, Bücher, durch Pappendeckel getrennt, nebeneinander liegen.

»Sehen Sie sich's genauer an,« sagt Helferich behaglich. »Das haben Weiner und Huber über Mittag fertiggebracht, versteht sich, unter meiner Leitung. Bei der Gelegenheit hab' ich Huber entdeckt. Wissen Sie, daß er ein sehr intelligenter Mensch ist?«

»Natürlich, er liest nächtelang, nur die Orthographie haßt er.«

»Ganz recht hat er! Er geht eben auf die Sache, nicht auf die Form. Aber der Mann entwickelt sich, seit er bei uns ist.«

Schauer beugt sich zu den Schachteln hinunter und sieht die geordneten Schriftstücke genauer an: »Eigentlich ist es gar nicht so arg . . .«

»Natürlich nicht. Wir haben Ihnen das Wichtigste zusammengebunden. Das nehmen Sie mit, denn so plötzlich sich der Arbeit entwöhnen, das ist wie beim Alkohol, das könnte Ihnen schaden, und das andere, Zeitungsgeschichten, 174 Stellungsgesuche, Rechnungen, Schnorrbriefe – das kann warten.«

Schauer wird kleinlaut: »Also muß ich? . . . Helferich, übermorgen?«

»Ich kann's Ihnen nicht ersparen!«

Abends sandte Mama Schauer die köstlichste Gänseleberpastete, die je gebacken wurde! Anna hat das Rezept! Dabei lag ein Zettel der alten Frau:

»Diesmal gehen wir wirklich fort. Karl hat sich sogar einen Strohhut gekauft! . . . Ich werde es Ihnen nicht vergessen, Freund Helferich!«

Am nächsten Tag macht Schauer zu Hause reinen Tisch. Die meisten Briefe werden verbrannt. Schauer sagt, während Anna ganze Tischladen ins Feuer wirft: »Briefe aufheben ist gemein!« Weiner hilft mit und bekommt unwichtige Dinge zur Erledigung, die dringendsten Rechnungen werden bezahlt, Bücher, die seit zwei Jahren darauf warten, gelesen zu werden, werden in eine Kiste gepackt: »Darauf freu' ich mich, endlich komm' ich zu ihnen,« sagt Schauer.

Abends halb Neun geht der Zug. Nachmittags geht Schauer zum letztenmal vor dem Urlaub in die Redaktion. Um sechs Uhr kommt Hudalek gelaufen, so gut der starkbeleibte Mann laufen kann.

Er platzt vor Wichtigkeit: »Ich muß Sie dringend sprechen, Schauer.«

»Na, was ist denn los? Haben Sie eine neue Wahlreformvorlage entdeckt?«

»Wichtigeres. Kann ich Sie allein sprechen?«

175 Sie setzen sich in das finstere Vorzimmer, das jetzt noch leer ist.

»Also los! Nicht immer diese pompösen Einleitungen!«

»Sie werden gleich aufhören, mich zu bekritteln. Also, zur Donnerstagssitzung der Parteileitung ist ein Antrag von Hutterer eingelaufen, der noch zweiunddreißig Unterschriften trägt, worin wir aufgefordert werden, über – na, ich lese es Ihnen gleich vor – über die ›geheimen Verhandlungen mit der Hocharistokratie respektive dem Ministerium« unverzüglich Bericht zu erstatten.«

Schauer setzt den Kneifer auf, das Schriftstück muß er sich mit eigenen Augen ansehen.

»Schön, so erstatten Sie Bericht!«

»Ich begreife Ihre Gemütlichkeit nicht, Sie können sich denken, daß dahinter nicht allein Hutterer steckt, sondern ein weitverzweigter Klatsch, eine ungeheure Intrige. Ich weiß nicht, wer der Hauptmacher ist, aber ich bin gestern abend rasch in den Bezirksverband gelaufen, na, was da alles erzählt wurde! Ich muß es Ihnen sagen, damit Sie's wissen. Von geheimen Konferenzen wird geschwafelt, vom Fürsten Schwarzenstein, natürlich . . .«

»Da hat eben einer geschwätzt, und im Herumtragen wurde aus der Laus ein Elefant! Jetzt freut es mich erst, daß wir alle miteinander dort waren. Schön! das werden wir rechtfertigen!«

»Aber das ist ja das wenigste. Am wütendsten ist der Stohandl, den hätten wir auch mitnehmen sollen. Sie wissen ja, wie er ist, der Obmann der Wiener Parteivereine! 176 Er trifft mich auf der Straße und fragt: ›Was hat denn der Schauer mit dem Erzherzog ausgekocht?‹ Ich sag': ›Was für ein Erzherzog?‹ Darauf macht er ein schiefes Maul und sagt: ›Glaubt nur nicht, daß wir eure Winkelzüge nicht kennen!‹ Um Gottes willen, Schauer, Sie waren doch nicht bei einem Erzherzog?«

»Warum denn nicht! Ist im Parteiprogramm der Umgang mit Erzherzogen verboten?«

Hudalek wischt sich den Schweiß von der Stirn: »Ja, wenn die Sache so steht! Wenn solche Aktionen hinter unserem Rücken, sogar hinter meinem Rücken geschehen, dann . . . dann begreife ich die Stimmung im Bezirksverband!«

»Was für eine Stimmung im Bezirksverband?«

»Gestern abend war Sitzung der Obmänner der Wiener Bezirksvereine. Da hat der Runtz erzählt, jemand in der Partei kenne die kommende Wahlrechtsvorlage längst, aber der Betreffende hält sie absichtlich geheim, damit die Regierung dann im Herbst das Proletariat überrumpeln kann. Der Ministerpräsident selbst soll durch den Doktor Wisgrill mit dem Betreffenden in Verbindung stehen.«

Schauer sieht Hudalek an, ganz allmählich ist ihm das Blut zu Kopf gestiegen, sein Blick wird hart, sein Mund zuckt:

»Der Betreffende – das bin wahrscheinlich ich?«

Hudalek muß sich die Weste aufknöpfen, er keucht: »Sie geben ja selbst zu, daß Sie mit einem Erzherzog . . .«

Da bricht Schauer los: »Ja, sind Sie denn ganz blödsinnig geworden, Hudalek? Sie kennen mich doch nicht seit heute! Und wenn ich mit zwölf Erzherzogen rede, so geschieht dabei nichts 177 Schlechtes, will sagen, nichts Dummes! Aber es wird mir, oder vielmehr, es wird einem Erzherzog einfallen, sich mit mir herzusetzen und zu quatschen! Ich wollte nur einmal sehen, wie der gemeinste, schmutzigste Klatsch sogar einen sonst zurechnungsfähigen Menschen anstecken kann. Sie sollten sich wirklich schämen, Hudalek, schämen! Im übrigen dank' ich Ihnen sehr, ich werde am Donnerstag bei der Sitzung sein! Adieu.«

Schauer rennt in sein Zimmer, schlägt die Tür hinter sich zu.

Hudalek steht allein im Vorzimmer, knöpft die Weste wieder zu, sagt entschuldigend: »Aber, Schauer . . .,« macht einen Anlauf, als wollte er ihm nach, hält inne und geht beleidigt fort. »Das werde ich mir merken . . .«

»Ich fahre nicht,« sagt Schauer mit einer Bestimmtheit zu Helferich, die Böses ahnen läßt. »Ihr Freund Huntz oder Runtz oder Gruntz, wie er heißt, hat eine der schäbigsten Klatschereien inszeniert, die ich je mitgemacht habe, übrigens nicht nur er, auch der Stohandl und noch ein paar Edelleute. Wahrscheinlich hat Stransky, dieser Schafskopf, der sich immer wichtig machen muß, von der Gesellschaft bei Wisgrill getratscht, und nun ist der ekelhafteste Klatsch los.«

Helferich ist still und schleicht lautlos zu seinem Schreibtisch: da läßt sich nicht widerreden. Arme Mama Schauer! . . .

Schauer geht ruhelos im Zimmer auf und ab. Plötzlich nimmt er seinen Hut und läuft davon.

Um halb acht Uhr läutet es an Annas Tür.

Anna öffnet: »O, Sie! . . .«

»Ja, ich,« in Schauers Augen gewittert es noch, sein schmales, abgehetztes Gesicht ist fahl.

178 »Es ist ein Zufall,« sagt Anna, »daß Sie mich noch treffen, morgen zieh' ich aus.«

Jetzt erst gewahrt Schauer, daß er zwischen Kisten steht, daß die Möbel von den Wänden geschoben und die Wände und Fenster leer sind.

Er fragt zerstreut: »Warum ziehen Sie denn aus?«

»Ja, was glauben Sie denn? Ich hab' ja nichts, ich kann doch nicht in einer Dreizimmerwohnung sein, ich habe mir eine Kammer gemietet . . . aber wie sehen Sie denn aus, Schauer?«

Plötzlich ist Schauer wieder ganz ruhig. Er setzt sich auf eine Kiste, sieht Anna voll ins Gesicht und sagt mit sanfter Eindringlichkeit:

»Ich bitte Sie um einen Gefallen!«

»Gern . . .«

»Nein, sagen Sie gar nichts, Sie wissen noch nicht, was ich will. Ich habe kein Recht zu dieser Bitte. Das hat mit Parteigenossenschaft nichts zu tun! Ich will Sie um einen Dienst bitten, weil ich persönlich in Verlegenheit bin . . .«

Anna setzt sich auf die nächste Kiste, legt die Hände in den Schoß und wartet . . .

»Sie sind ja auch aufgehetzt,« sagt Schauer lächelnd, »von der alten Frau, von meiner Mutter . . . Also hören Sie: Ich fahre heute abend nicht! Aber hier ist ein Eisenbahnbillett zum Gardasee. Ich bitte Sie drum: Fahren Sie an meiner Stelle! . . . Tun Sie's nicht meinetwegen, tun Sie's auch nicht für die alte Frau, tun Sie's für mein kleines Mädel.«

179 Es ist ganz still geworden in dem leeren Zimmer. Da stehen meine Kisten, denkt Anna, morgen kommt der große Wagen, ich kann ja gar nicht weg, aber noch viel weniger könnte ich jetzt Nein sagen, ich kann ihm dienen . . .

Schauer hat den Blick aufgefangen, mit dem sie um sich geschaut hat: »Die Kisten und Möbel hier lasse ich morgen abholen. Wir geben sie in ein Magazin, darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern.«

Ganz behutsam fragt Anna: »Aber warum reisen Sie nicht?«

»Glauben Sie mir, es geht jetzt nicht! Ich verspreche Ihnen, nachzukommen. Aber ich will, daß meine Leute heute fahren. Sie wissen nicht, wie schwach mein kleines Mädel ist, und es ist mir eine Beruhigung, nicht nur die alte Frau bei ihr zu wissen!«

Anna steht auf, reicht ihm die Hand: »Gut, ich fahre!«

Schauer hält ihre warme, gute Hand, läßt sie plötzlich los, geht zum Balkon, sieht in die Wälder hinaus, pfeift leise . . . irgendein Plan arbeitet noch in ihm. Endlich kommt er zurück, setzt sich wieder auf die Kiste und sagt: »Setzen Sie sich auch und bemühen Sie sich, so vernünftig wie möglich zu sein. Ich muß Ihnen noch etwas Peinliches sagen: Hier ist Geld für die Reise und für den Aufenthalt. Das müssen Sie als anständige Person von mir nehmen. Sie tun mir einen Dienst! Es ist selbstverständlich, daß Sie nicht draufzahlen. Wir machen keine Geschichten . . . Soo! Gott sei Dank, daß wir das auch hinter uns haben! . . . Jetzt will ich Ihnen nur noch sagen, warum ich hierbleiben muß, damit 180 Sie es meiner Mutter erklären. Es ist der ekelhafteste Klatsch ausgebrochen, der je in der Partei war.«

Anna zittert: Jetzt hat er es erfahren, wo Gustav war und mit wem . . .

Aber Schauer sieht sie an und liest in ihrem Gesicht etwas, das er gar nicht weiß.

»Nicht nur so der durchschnittliche Personalklatsch, das bin ich gewöhnt, das schüttel' ich ab, sondern politischer Klatsch, der nicht nur einen einzelnen, sondern der die ganze Partei vergiften kann . . . Haben Sie noch einen Sessel? Setzen wir uns einen Moment auf den Balkon. Ich gestehe es Ihnen, jetzt bin ich wirklich müde . . . Sehen Sie: Arbeit, Reden halten, Artikel schreiben, verhandeln, in den elendesten Hotelbetten schlafen, Arrest und Gefängnis, das hat mich nie geniert. In der Zelle erhol' ich mich sogar, da komm' ich zu mir selbst. Das alles macht mich nicht müde, da schwimme ich lustig mit. Aber wenn die Leute, mit denen man eine neue Welt anfangen soll, zu menscheln anfangen, da spür' ich zuweilen, daß mir förmlich die Luft ausgeht, daß es nicht weitergeht . . . Ich weiß schon, wir alle sind Produkte, wir alle müssen uns umkrempeln . . . Schon gut. Aber man glaubt doch, gewisse Überzeugungen müßten allmählich das Blut verändern. Es gibt Grade der Gemeinheit, die man bei uns nicht finden sollte . . . Das macht müde.«

Anna sieht hinaus, aber sie sieht nicht Wälder und nicht Wiesen, nichts . . . Wenn ich jetzt in sein Gesicht schaue, fühlt Anna, dann kann ich mich nicht mehr halten . . .

181 »Ich mache Sie ernst«, sagt Schauer, »und lasse mich gehen. Sie überschätzen hoffentlich solche Anfälle nicht, das geht vorüber.«

»Ich habe dran gedacht, daß ich in einer Viertelstunde hier fort muß,« sagt Anna ruhig und ablenkend und kann ihn endlich wieder ansehen, »ich habe diese Abende auf dem Balkon liebgehabt. Es war gut hier zu sitzen und auf den Wald hinauszusehen.«

»So,« sagt Schauer in der Tür beim Abschied, »jetzt war ich doch eine Weile auf dem Land und sogar mit Ihnen. Danke . . .«

Anna geht zurück auf den leeren Balkon, sieht die beiden leeren Stühle, die noch zueinandergerückt beisammenstehen, sie schaut vom Balkon aus die Straße hinunter . . . Dann muß sie sich am Geländer festhalten. Ein paar Tränen stehen in ihren Augen, und sie sieht die Welt verschleiert. Plötzlich gibt sie sich einen Ruck: Keine Dummheiten, heute abend reisen wir zum Gardasee! 182



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