Stefan Großmann
Die Partei
Stefan Großmann

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Sechstes Kapitel

Auf dem Weg zur Sitzung sagt Helferich zu Schauer: »Vormittags war ich bei Schiller. Er wohnt jetzt ganz weit draußen, im Liebhartstal, aber ich glaub', er ist ein bissel übergeschnappt.«

»Ah.«

»Er hat nichts von mir erfahren wollen außer dem einen, wie Ihnen seine neue Marseillaise gefallen hat.«

»Aber – das find' ich ganz in der Ordnung. Wir haben jeder unseren speziellen Irrsinn. Ich kenne jemand, der hat einmal auf dem Dachstein ein ganzes Unfallversicherungsgesetz geträumt . . .«

»Schon gut, aber Schiller glaubt, die ganze Wahlrechtsbewegung hängt jetzt von seinem Lied ab.«

Schauer bleibt stehen und schüttelt den Kopf: »Helferich, in Menschenkenntnis kriegen Sie heut einen Sechser! Das spricht doch nur für ihn! Ohne diesen Wahnsinn würde er doch nie etwas Brauchbares fertigbringen . . . Übrigens ist ein richtiges Lied für die Masse eine sehr wichtige Sache, ich hätte mich auch längst mit Schillers Marseillaise befreundet, aber, weiß der Teufel warum, ich glaub' nicht recht an seine Musik, ich kann mir übrigens auch nicht vorstellen, wie die Leute das schnell lernen sollen . . . Praktischer wär' es, 270 wenn uns einer einen schlagenden Text zu einer allbekannten Melodie schreiben könnt', meinetwegen zum Kaiserlied. Das lernen die Kinder in der Schule, bei uns kriegt's dann einen interessanten Text . . . das wär' übrigens das beste Mittel, wie man den Herrschaften droben das Kaiserlied verleiden könnt' . . . In die Sitzung kommt Schiller nicht?«

»Ich hab' ihn nicht aufgefordert.«

»Tritt er seine Stellung in der Kreditbank an? Man könnt' ja mit dem Direktor sprechen . . .«

»Wo denken Sie? Er ist ganz aus dem Häusel, ich glaube, die letzten Monate haben ihn sehr hergenommen, von Schweizerkäs' und Äpfeln will er leben, und Kontrapunkt muß er studieren, er ist ein Narr geworden, aber, das muß ich zugeben, kein gemeiner Kerl.«

»Ja, das hab' ich mir auch sagen lassen . . . Schauen Sie wieder einmal zu ihm, es wär' doch schad', wenn er sich ganz verbummeln würde. Die Stimmungsmeier sind alle bis zu einem gewissen Grad unzurechnungsfähig. Den Schiller hab' ich eigentlich doch für disziplinierter gehalten, für einen verstiegenen Kerl, aber doch für brauchbar. Lassen Sie ihn nicht ganz aus dem Auge, vielleicht geht der Raptus vorüber.«

Im kleinen Sitzungssaal, um den langen grünen Tisch, lümmeln Hudalek, Stransky, Fritsch, Hutterer, Helferich, auch Anna ist da.

Schauer sagt, während er sich setzt: »Ah, den Stohandl müssen wir dahaben! Ich will doch endlich erfahren, wie schändlich die Schauerclique wirtschaftet.«

271 Hutterer ist sofort gekränkt: »Witzeln Sie nur, der Stohandl kommt gleich, er gehört nicht zu denen, die sich verkriechen.«

Hudalek eröffnet: »Wir könnten vorläufig den zweiten Punkt der Tagesordnung verhandeln. Es handelt sich um die Wahl in der Leopoldstadt. Furtmüller ist zurückgetreten, und es entsteht die Frage, wer dort kandidieren soll.« Stohandl, der eben eintritt, hört noch die letzten Worte.

»Natürlich,« brummt der kleine, gelbe Kerl, einen Stoß Papiere vor sich auf den Tisch werfend, »wenn ich mich ein paar Minuten verspäte, da wird nicht gewartet. Ist der Kandidat der Schauerclique für die Leopoldstadt schon aufgestellt?«

Stohandl sieht niemand an, er scheint in Wut laut vor sich hin zu reden. Er schaut auf den Stoß Papiere, den er vor sich hat, und kümmert sich um die anderen nicht.

»Wünschst du das Wort?« fragt Hudalek.

»Es ist ja ohnehin alles umsonst, die Clique hat ja schon alles abgemacht, die wirklichen Arbeiter sind ja nur so zur Dekoration da.« Immer redet er gewissermaßen zu dem Papierhaufen vor sich, in dem seine Hand wühlt.

Die anderen beugen die Köpfe vor und fühlen: die Schlacht wird gleich beginnen.

»Lieber Freund,« sagt Hudalek phlegmatisch, »du bist im Irrtum. Es ist noch kein Vorschlag gemacht worden,«

Stohandl lacht ein bißchen schauspielerisch auf: »Du bist naiv« (er sagt in einer Silbe neif), »du bist wirklich naiv, Hudalek. Hast du noch nicht gehört, daß ein Café Monopol existiert? . . .«

272 Hudalek steht da und wartet. Er genießt Stohandls Murren.

»Auch gut,« sagt Schauer ruhig von seinem Platz aus, »mir ist's recht, wenn wir so zwanglos diskutieren. Und stänkern kann ich auch, wenn's gewünscht wird.«

Stohandl reißt den Kopf hoch: »Wer stänkert? Ich verbitt' mir diese Arroganzen!«

Schauer trommelt langsam auf dem Tisch: »Sie verbieten hier gar nichts! Der einzige, dem Sie hier was verbieten können und verbieten sollen, sind Sie selber . . . Ich mach' Ihnen den Vorschlag, daß wir vor allem hören, wen Stohandl in der Leopoldstadt kandidieren will.«

»Jedenfalls niemand aus der Kaffeehausclique und auch keinen Fürschten.«

Da fährt Schauer auf, sein Gesicht ist erzhart:

»Jetzt werd' ich Ihnen was sagen, Stohandl! . . . Es ist feige, einfach feige, fortwährend zu sticheln und anzuspielen und mit Dreck herumzuwerfen und das alles immer nur so nebenbei, zur Spielerei, damit die Zeit vergeht . . . Haben Sie uns und im besonderen mir etwas vorzuwerfen, so müssen Sie die Kurage haben, das offen und klar zu tun, und ich werde Ihnen ganz deutlich antworten. Aber diese Herumrederei ist auch Ihrer selbst unwürdig! So haben Sie nie gekämpft!«

Stohandl hat in dem Papierstoß herumgeklaubt: »Lieber Schauer, wir kennen uns zu lang', diese Walzen hab' ich schon gehört . . . Sie wissen ganz gut, was ich meine! Dieses Techtelmechtel mit dem Fürsten Schwarzenstein ist ein 273 Skandal ärgster Sorte. Jetzt versteht man erst diese ganze schwächliche und lächerliche Taktik der Partei. Sind wir ehrlich, Sie sind einem aristokratischen Schwindler aufgesessen oder vielmehr seinem Agenten, einem frivolen Gaukler, der sich über uns und über die anderen lustig macht. Aber diese Rendezvous bei dem Gemeinderat Wisgrill müssen aufhören! Dafür werd' ich sorgen! Schmeißen S' diesen Streber hinaus, wenn er wiederkommt . . . Der soll sich lieber seinen Freund Furtmüller warmhalten, mit dem ich ihn gestern auf der Straße gesehen hab'. So, jetzt wissen S', was ich gemeint hab'!«

Schauer beugt sich vor: »Ist das die ganze Anklage, oder kommt noch was nach?«

»Haben Sie denn noch nicht genug?«

Schauer lächelt: »Ja, mir genügt's, aber ob's den anderen genügen wird? Der Erzherzog aus der letzten Sitzung ist Ihnen also wieder abhanden gekommen? . . . Schad'! Ich hätt' so gern seine Adresse erfahren! Den Mann könnt' man brauchen . . . Was das Gespräch mit dem Fürsten Schwarzenstein anlangt, so wird Ihnen Hudalek und Helferich bestätigen, daß das ein ganz nützlicher Zeitvertreib war. Der kleine Weiner, der leider krank ist, hat sogar die ganze Unterhaltung aus dem Gedächtnis aufgeschrieben. Wenn Sie's interessiert, lass' ich's abschreiben . . . Aber ich frage Sie alle, wohin kommen wir, wenn wir nicht gelegentlich auch mit einem Gegner privat ein Wort reden dürfen! Der Fürst Schwarzenstein ist übrigens nur ein Flausenmacher, das ist nicht einmal ein Gegner!«

274 »So? Und sein Hausspion, der Wisgrill?« Stohandl strahlt, weil ihm das Wort Hausspion eingefallen ist. Auf solche Schlager ist er stolz.

»Hausspion,« wiederholt Schauer langsam, fast betrübt, »das ist ein hartes Wort und ein ungerechtes. Der Doktor Wisgrill ist kein Parteigenosse, und meine frühere Hoffnung, daß er es einmal werden wird, besteht leider nicht mehr. Aber Sie dürfen mir's glauben, lieber Stohandl, Sie leben in einem Grundirrtum, es sind nicht alle Gegner gemeine Schufte! . . . Es ist, glaube ich, auch ganz unrichtig, alle als gemeine Schufte zu behandeln . . . Grad solche Stimmungspolitiker möcht' ich nicht zu hart anfassen. Der Doktor Wisgrill hätte uns nützlich sein können. Wir hätten ihn als bürgerlichen Vorreiter ganz gut brauchen können.«

»Oder er den Plebs als Gefolge.« Stohandl fühlt, daß er von Schlagfertigkeit strotzt!

Schauer sagt ein wenig bekümmert: »Na . . . Jetzt erfährt er es selber, daß Politik keine Kammermusik ist. Ich empfehle Ihnen, nicht zu scharf gegen Wisgrill loszugehen, obwohl ich mir sagen muß, daß seine Reiterkunststücke früher oder später aufhören müssen.«

»Na also! Hab' ich Sie zu der Ansicht gebracht, so bin ich damit zufrieden! Der Herr Wisgrill ist vielleicht ein Sachverständiger für Seidenkrawatten und Theaterdamen, bei uns Arbeitern hat er nichts zu suchen.«

Hutterer rückt mit Leichenbittermiene zum Sukkurs aus: »Ich will nicht darüber reden, welche Fäden zu diesem vielseitigen Herrn Wisgrill hinüberlaufen, aber darüber, daß die 275 Partei eine lätschige, ja lächerliche Haltung eingenommen hat, ist kein Zweifel. Die Jugend der Partei ist sich darin einig, daß unsere Gottsöbersten den letzten Tropfen revolutionären Blutes verloren haben.«

Diese Unterstützung pulvert Stohandl wieder auf:

»Na, darüber reden wir gar nichts. Wir sind die reine Audienz- und Petitionspartei geworden, wir sind längst zu bequem, um ein Opfer zu bringen. Aber ohne Opfer geht's einmal nicht! Es muß einmal Ernst gemacht werden! – Das sag' ich Ihnen jetzt ganz offen ins Gesicht, mein lieber Schauer, Ihre Politik ist gewiß sehr schlau, aber sie ist kraftlos, sie ist blutschen! Wir sind eine soziale Veteranenpartei geworden!«

Der kleine Fritsch nickt und lacht: »Soziale Veteranenpartei! Großartig!« Nein, was der Stohandl für großartige Einfälle hat! »Das muß ich als Obmann der Buchdrucker jetzt laut sagen: Wir haben keinen Schwung mehr, da hat Stohandl recht!«

Auch Stransky erklärt sanft, mit seitwärts gesenktem Haupt, daß der Stimmung des Proletariats denn doch in größerem Maße als bisher auch seitens der leitenden Faktoren Rechnung getragen werden müßte, weil einerseits die parlamentarische Arbeit unter dem sinkenden Ansehen der früher gefürchteten Partei leide, andererseits die Öffentlichkeit mit einer gewissen Berechtigung gerade von unserer Seite eine Aktion erwarte . . . Stransky spricht immer ganz lange, ineinander verschlungene Sätze, aus denen er schwer herausfindet.

276 Anna schiebt Schauer über den Tisch einen Zettel zu, darauf hat sie geschrieben: »Halten Sie es nicht für gut, wenn ich einen Vertagungsantrag stelle?«

Schauer kritzelt auf die Rückseite: »Ja, und zwar Beratung mit Zuziehung der Fabriks- und Gewerkschaftsleute.«

Anna schiebt den Zettel in ihr Täschchen, dann bittet sie ums Wort, wird blutrot, weil alle sie ansehen, und sagt, den Zettel verbergend, etwas ganz anderes: »Ich glaube, wir müssen zur Eröffnung des Parlaments eine Demonstration machen, wie sie noch nicht gesehen wurde!« Bums, da hatte sie einen Antrag gestellt!

»Bravo!« schreit Stohandl, »Sie sind der einzig gescheite Mann unter uns! . . . Und wenn die Regierung Militär aufmarschieren läßt, so werden wir unseren Leuten sagen, daß sie sich Revolver einstecken sollen! Es muß was g'schehen! Diese Zotteltaktik ist zum Hinwerden. Unsere Leute schlafen ja ein! Lieber Opfer hüben und drüben!«

Stohandl zerbeißt seine Fingernägel.

Hutterer und Fritsch stecken die Köpfe zusammen und entwerfen einen noch schärferen Antrag.

Selbst Hudalek sagt langsam: »Auch ich glaube, daß wir den Herren droben zeigen müssen, daß es so nicht länger geht!«

Schauer sitzt da und stenographiert sich die Begründungen auf: »Zeigen müssen, daß es so nicht länger geht . . . Es muß was geschehen . . . Es muß einmal Ernst gemacht werden . . . in ganz Europa flammt es auf . . .« Dann steht er auf, verliest diese Sätze hintereinander und sagt: »Sehen Sie, das waren Ihre Begründungen! Es fällt mir nicht ein, darüber 277 zu witzeln, ich begreife ganz gut die Angst, die Hutterer vor den witzigen Menschen hat.«

»Ich hab' gar keine Angst vor Ihnen!«

»Aber, Hutterer, immer wittern Sie einen Angriff! Sie mißverstehen mich, Hutterer, ich rechne mich, Gott sei Dank, nicht zu den Witzerzeugern. Witze sind zuweilen eine gefährliche Sache! Nehmen Sie dieses Wort von der sozialen Veteranenpartei. Das ist natürlich wie so vieles, das Stohandl sagt, voll Mutterwitz, aber es ist doch falsch und drum gefährlich: Der Soldat in Friedenszeit hat natürlich immer eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Veteranen, deshalb ist er aber doch noch aktiv! Stohandl aber gehört zu jenen Generalen, die immer losgehen wollen.«

»Hören Sie auf, ich bin ein gewöhnlicher Gemeiner!«

»Also zu den jungen Leutnants, die nach der ersten Attacke lechzen . . . Veteranen! Wenn wir uns von solchen wirksamen Kupletrefrains leiten ließen . . . regen Sie sich nicht gleich bei jedem Wort auf, Stohandl, wir sind ja auch nicht wehleidig . . . dann besäßen wir nicht das Verantwortungsgefühl, das wir an dieser Stelle haben müssen. O, wir können morgen abend einen großen Krawall auf der Ringstraße haben, gewiß ist das, namentlich unseren jungen Leuten, ein Bedürfnis. Aber ich frage mich ganz kalt: Wie groß ist der Nutzen und wie groß sind die Opfer? . . . Ich glaube, unsere Taktik kann nur ein Prinzip haben: Die größtmöglichen Erfolge bei möglichst geringen Opfern.«

Stohandl platzt hinein: »Ihr Prinzip ist: Nur immer langsam voran!«

278 »Möglich . . . Ich rechne aber mit den vielen, die uns noch nicht nachgekommen sind, und außerdem will ich Ihnen noch was sagen, und zwar etwas sehr Ernstes . . .« Schauer redet jetzt ganz leise und zögernd; man fühlt, jede Silbe ist hier abgewogen und gewertet: ». . . ich gebe es zu, ich bin nicht verschwenderisch mit Menschenblut . . . Ich will nicht einen Tropfen unnötig vergießen! . . . Machen wir uns nur nichts vor: Wir sind für jeden Säbelhieb mitverantwortlich! Ich weiß schon, die Brutalität der Polizei, die Roheit der Soldaten . . . Schon gut, lauter richtige Sachen, von denen man dann öffentlich sprechen kann, aber das eigentliche, das geheime Kommando sprechen diesmal wir aus, hier in diesem kleinen Zimmer, und diese ganze uniformierte Welt, das sind dann doch nur Marionetten, die auf unser Stichwort warten! . . .«

Stohandl hämmert sich mit der Faust auf die Stirn und stöhnt: »Mein lieber Schauer, Sie sind viel zu gescheit! Ihre Gescheitheit bringt uns um!«

Plötzlich geht die Tür auf, und Schiller tritt ein. Anna sieht ihn ruhig an und denkt: Er ist ja ganz mager geworden, und an den Schläfen sind sogar ein paar weiße Haare.

»Grüß' Sie Gott, alle . . . Ich platze etwas plötzlich herein. Eigentlich weiß ich nicht: Hab' ich noch ein Recht, dazusitzen?« Er schaut Schauer fragend ins Gesicht.

Schauer lehnt mit einer Handbewegung ab: »Das hat der Vorsitzende zu entscheiden.«

»Ihr Mandat ist noch nicht erloschen,« sagt Hudalek korrekt, »ich glaube, wir alle begrüßen unseren Freund Schiller 279 und danken ihm für seine Haltung im Gerichtssaal! . . . Nehmen Sie Platz, wir können Sie heute brauchen, weil über die Leopoldstädter Wahl geredet wird.«

»So, da geh' ich lieber!«

»Bleiben Sie jetzt sitzen, und stören Sie nicht!« sagt Schauer freundlich, »der Stohandl hat mich grad' in der Arbeit.«

Stohandl ist geschmeichelt: »Immer heiter, der Doktor Schauer.«

Schauer schmunzelt: »Das macht das gute Gewissen.«

Stohandl pariert: »Sie?! Sie hätten auch ein gutes Gewissen, wenn Sie einen umgebracht hätten!«

»Stimmt. Aber ich hätte ihn nur umgebracht, wenn es absolut notwendig gewesen wäre! Das ist das Entscheidende: Ich will niemand überflüssigerweise umbringen!«

»Larifari, geben Sie's nur zu, Sie sind in der Partei nach innen mutig, nach außen sind Sie blutscheu. Sie sind zahm geworden, Sie sollten zur Friedensg'sellschaft übergehen!«

»Na, und Ihnen hat's der Marat angetan. Sie schwimmen am liebsten im Blut!«

Hudalek erhebt sich: »Das Geplänkel ist sehr unterhaltend, aber ich muß doch fragen, wer eigentlich das Wort hat?«

»Natürlich ich,« ruft Stohandl, »ich nehme den Antrag der Genossin Schiller auf. Am Tag der Parlamentseröffnung große Demonstrationszüge aus allen Bezirken, und als Parole: Die Polizei hat nicht das geringste dreinzureden! Wir machen auch selber keine Polizei und lassen diese ewigen Ordner und Wächter in unseren Reihen auf, die Leut' sollen sich einmal austoben.«

280 Schauer sagt sehr ernst: »Das verantworten Sie!«

»Bitte!«

Hudalek betrachtet die Sache ruhig vom Standpunkt des Arrangements und findet, daß alle die Situation viel zu aufgeregt ansehen. »Wenn die Bezirksgruppen eine klare Parole bekommen, wenn sie sich auf einem bestimmten Platz treffen, zur bestimmten Stunde abziehen, und wenn jede Gruppe einen Hornisten mitnimmt, der das Signal zum Abmarsch gibt, so muß doch alles in Ordnung verlaufen. Die Frage ist nur, ob wir so viele Hornisten auftreiben?« Für Ordner aber muß er sich unbedingt aussprechen: »Bitte sehr, wir sind ein geordnetes Heer und nicht ein regelloser Haufen.«

»Also, Feldwebel her!« schreit Stohandl.

Hudalek ist auf solche Zwischenrufe nicht eingerichtet, er wird gereizt: »Ich bitte sich ordnungsgemäß zum Wort zu melden, auf solche Späße reaschiere ich nicht! Die Ordner müssen sein, die Ordner sind die Seele der Partei.«

»Hoppla,« kichert Fritsch, »da ist jetzt einer gestolpert! Was sind die Ordner? Sagen S' das noch einmal!«

Hudalek schaut verletzt um sich:

»Genosse Fritsch, wünschen Sie das Wort?«

»Nein, da sag' ich gar nichts mehr!«

Eine Pause. Schauer sieht Schiller an und fragt ihn freundlich: »Na, was meinen denn Sie?«

»Ich bin in die Debatte hineingeschneit, ich habe vielleicht gar kein Recht mitzureden, meine Meinung ist gewiß nicht maßgebend, ich würdige auch die Mahnungen Schauers, 281 aber das muß ich auch sagen: Gar so sparsam mit Opfern dürfen wir nicht sein! Ein Mensch, der von einem Säbel auf der Straße niedergehauen wird, stirbt einen schöneren Tod, als wenn er schwindsüchtig auf seinem Strohsack hinsiecht.«

Helferich kommt immer in Wut, wenn er Schiller reden hört: »So weit sind wir noch nicht entwickelt, lieber Schiller. Vom Schönheitsstandpunkt kann ich den Widerstand gegen Maschinengewehre noch nicht beurteilen, da ist unsere Erziehung eben noch rückständig . . . Ich möchte die Antwort hören, die so ein Mensch mit gespaltenem Schädel dem Schönheitssinn unseres Genossen geben würde . . . Sie sind doch unverändert der alte Genosse Schiller? . . . Ich frag' das nur nebenbei, man kann ja nicht wissen . . . wir haben ja einige Zeit von Freund Schiller nichts gehört, er hat wahrscheinlich in seiner Wartezeit einen revolutionären Heißhunger aufgespeichert, der uns fremd ist, weil wir nicht so lang' gefastet haben.«

Schiller denkt: Ist dieser bissige Mensch der gute Kerl von heute vormittag? Dann sagt er halblaut zu Helferich: »Das hätt' ich von Ihnen nicht erwartet.« Aber er spürt die peinliche Stille während Helferichs Anspielungen. Keiner geht mit mir, denkt er, ich bin mitten unter ihnen ganz isoliert, ich hätte nicht so ohne weiteres kommen sollen . . . für Anna bin ich Luft, Stohandl ignoriert mich ostentativ, und Hutterer hat mir einen Blick voll Haß geschickt . . .

Hudalek läßt abstimmen. Der Antrag Stohandl ist einstimmig angenommen, drei Leute haben nicht mitgestimmt.

»Also ohne Ordner?« fragt Hudalek ganz perplex.

»Gewiß,« schreit Stohandl, »ohne Ordner!«

282 Schauer sitzt zusammengekrümmt da, ganz versunken in Gedanken, plötzlich flüstert er Helferich zu: »Wieso fällt mir jetzt der arme Weiner ein? Vielleicht geht's ihm schlecht! Und ich war noch nicht dorten bei ihm: Man ist doch wirklich ein Unmensch!«

»Jetzt wäre noch die Frage der Leopoldstädter Wahl.« Hudalek kann nicht verbergen, daß er verdrossen ist.

Unwillkürlich schauen alle auf Schiller.

Der ist zerstreut. Er hat mit einem Blick Anna gestreift. Wie klar und sorglos sie aussieht! Wie schön so ein einfacher glatter Scheitel ist, und sie kleidet sich auch einfach und freundlich, sehr lieb – diese weißen Manschetten auf dem blauen Leinenkleid.

Schiller fühlt sich gestoßen: »Fragen Sie mich? . . . wegen der Leopoldstädter Wahl? . . . Selbstverständlich kandidiere ich nicht!«

Schauer fragt: »Warum ist das selbstverständlich?«

»Nein, nein, ich passe dafür nicht, ich bin kein Taktiker, ich bin auch kein Agitator, ich bin auch hier zum letztenmal, ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich hergekommen bin. Es war nur eine Schwäche . . .«

Helferich denkt: Ich bin früher zu giftig gewesen, er ist wirklich ein anständiger Kerl.

Hudalek brummt: »Genosse Hutterer wollte uns einen Vorschlag machen.«

»Stimmt. Ich glaube, da sollen wir einen Juden aufstellen, damit die Leopoldstädter eine Freude haben. Und ich weiß dafür keinen Passenderen als den Genossen Runtz.«

283 »Ah, da legst dich nieder!« schreit Fritsch – »Stohandl, bist du auch für diesen verpatzten Bourgeois?«

»Bitte sehr,« erwidert Stohandl, »der hat proletarisches Empfinden.«

Schauer lächelt: »Ah, was Sie nicht sagen! Woran erkennen Sie das? . . . Ich werde Ihnen einen anderen Vorschlag machen! Wissen Sie, der Runtz, der muß doch das proletarische Empfinden erst einstudieren, und das lernt sich nicht so leicht. Da halt' ich es für richtiger, wir wählen Sie, Sie haben das alles von Natur, und das ist uns lieber!«

Fritsch klatscht in die Hände, Helferich nickt Stohandl zu, Hutterer fährt sich durch die Haare und lächelt schief: »Das ist einmal ein objektiver Vorschlag, Genosse Schauer!«

»Einmal! . . . Na, ich werd' mich schon bessern, Hutterer, lassen S' mir nur ein bissel Zeit!«

Stohandl sträubt sich noch anstandshalber: »Von Rechts wegen gehört das Mandat dem Genossen Schauer.«

»Nein, dank' schön . . . Ich wart' auf was Besseres.« Dann ruft er: »Da ist gar keine Abstimmung nötig, das ist einstimmig angenommen!« Er geht zu Stohandl, schüttelt ihm die Hand und flüstert ihm lachend ins Ohr: »Sie erben das Mandat, Sie sind grad der richtige Nachfolger des Furtmüller.«

Helferich schreit belustigt: »Ich stimme auch dafür, aber er darf der Schauerclique nicht beitreten!«

Die Sitzung ist geschlossen, aber man klebt noch aneinander.

»Sie husten wieder stark,« sagt Anna über den Tisch zu Schauer.

284 »Ist's ein Wunder?« antwortet Schauer lustig, ihr klar in die Augen blickend, »wenn sich keine Katz' um einen kümmert!«

Anna steht auf und sagt, während sie ihren Sessel in den Tisch schiebt, heiter wie für sich: »Ich weiß nicht, wer von uns zweien der Vergeßlichere ist . . .«

Schauer kommt zu ihr: »Da haben Sie recht . . . Es ist schändlich, wie die Eindrücke bei mir durchgehen. Nur ganz wenig bleibt zurück. Ich meine von persönlichen Sachen. Gott sei Dank! Wenn einem die privaten Geschichten noch ins öffentliche Leben nachliefen, das wär' gräßlich . . . Sehen Sie, das ist das Prachtvollste im Leben: Wenn ich hier sitze, habe ich nicht Bruder und Schwester, nicht Vater und Mutter, da bin ich frei von allen Stricken. Hier verliert man dieses kleine, gemeine, private Leben, das ja sonst gar nicht auszuhalten wäre. Wenn ich mir so einen kleinen Beamten vorstelle, der nichts hat als das bißchen Hausstand . . . Zum Ersticken!«

Anna lacht: »Ja, ein Heim ist was Schreckliches.«

Schauer klopft ihr väterlich auf die Hand: »Sie haben recht, spotten Sie nur . . . Ich wollte Ihnen dergleichen nicht verleiden, um Gottes willen nicht! Haben Sie vielleicht gar eines in Aussicht?«

»Sie sind ja so lustig, wie ich Sie noch selten gesehen habe!«

Schauer zwinkert ihr zu: »Schauen Sie sich den Stohandl genauer an. Ich bin froh, daß wir den jetzt richtig eingespannt haben, der ist Fleisch vom Fleisch der Wiener! Darauf kommt es für uns überall in der Welt an: Wurzelfeste Leute kriegen! Die Weltbürger von Kattowitz sind schnell gewonnen, aber es kommt auf die eingesessenen Leute an, auf die Stohandls! . . . Den werden wir gut brauchen können, der wird sich entpuppen!«

Die meisten sind schon fortgegangen.

Helferich steht an der Tür und wartet:

»Gehen Sie jetzt mit mir zum Weiner?«

Schauer schlägt sich vor die Stirn: »Sehen Sie, Anna! . . . Weiner! Auf den hab' ich wieder vergessen. Es ist empörend! . . . Aber jetzt kann ich unmöglich, die Metallarbeiter haben Sitzung, und vorher kommt meine Kleine dran. Morgen besuch' ich ihn, morgen, morgen gewiß . . . Gehen doch Sie einmal hin, Anna . . . Sie machen das viel besser, eine frische junge Frau! Bringen Sie ihm Blumen mit und Kompott und Sachen, die ihm schmecken. Da haben Sie Geld, machen Sie keine Geschichten, nehmen Sie's und kaufen Sie delikate Dinge! Er ist so ein grundguter Junge, der Weiner. Und dann kommen Sie abends ins Café Monopol und setzen sich wieder einmal zu uns in die Nische und erzählen uns da, wie es mit ihm steht. Herrgott, eine hübsche Viertelstunde darf man Sie doch auch einmal haben!«

Anna lächelt: Wie gut ihm diese Lustigkeit steht!

Schauer steigt mit ihr die Treppe hinunter: »Sie haben übrigens eine Frage von mir sehr geschickt überhört . . . Hoffentlich machen Sie keine Dummheit!«

Helferich ist hinter Schauer: »Es regnet draußen. Warum gehen Sie ohne Galoschen? Stellen Sie sich den Kragen auf! Es ist empörend, wie Sie husten!«

286 Anna reicht Schauer beim Haustor die Hand und geht schnell durch die regennasse Straße. Sie hat das Gefühl, daß Schauer noch immer hinter ihr steht und ihr nachsieht, und sie nimmt sich zusammen und geht so leicht wie möglich. Er ist so froh, denkt sie, Herrgott, warum bin ich denn auf einmal ganz kopfhängerisch?

Drüben schleicht, hart an die Mauer gepreßt, Schiller in seinem Radmantel vorbei. Der lange Mensch geht mit gekrümmtem Rücken und gesenktem Haupt, als wolle er sich verkriechen in sich selbst.

Schauer sieht ihn und sagt zu Helferich: »Schauen Sie, wie der einherschleicht. Er ist ganz niedergeprackt. Rufen Sie ihn an!«

»Schiller!«

Der schleicht weiter, hart an der Mauer.

Helferich brüllt.

Schiller schreckt auf und sucht einen Moment mit irrenden Augen hinter sich, dann trottet er weiter, fest in den weiten Mantel gehüllt.

Helferich läuft hinüber und schlägt ihm auf die Schulter. Schiller fährt zusammen.

»Herrgott, sind Sie nervös!« sagt Helferich.

»Pardon, ich war bei einer Arbeit.«

»Schauer steht drüben und will Ihnen noch Guten Tag sagen.«

Jetzt erwacht Schiller, ja, dort im Haustor steht der kleine Mann, und seine Augen stieren zu ihm her.

287 »Ich wollt' Sie doch fragen, wie es Ihnen geht,« sagt Schauer und reicht ihm ungeniert die Hand: »Sie sind ja ganz unsichtbar.«

Schiller erwidert, während er fröstelnd den Mantel zusammenzieht: »Ich hoffte von Ihnen zu hören.«

»Wieso?« Das versteht Schauer wirklich nicht.

»Natürlich – wegen meiner Marseillaise.«

Schauer nickt: »Ja, selbstverständlich, ich hab' Ihnen in der Eile nicht einmal geantwortet.«

»Wenn Sie das Lied für die Demonstration benutzen wollen, so ist allerdings Eile nötig. Ich hab' mir gedacht, Sie lassen es in hunderttausend Exemplaren drucken, mit drei Notenzeilen, und mit der ›jungen Garde‹ könnt' ich's einstudieren.«

»Ja, ja,« Schauer denkt nach, »das ginge! Aber . . . die meisten können doch nicht Noten lesen, und noch mehrere haben kein Gehör. Das Lied ist sehr schön, es hat Schmiß und Tempo, aber . . . Sind Sie ärgerlich, weil ich immer so viel Aber habe? . . . Es ist eben etwas Neues!«

»Das ist unsere ganze Bewegung, Gott sei Dank!« Schiller ist schon in Streitstellung.

»Ja, ja . . . Eben drum. Man soll den Leuten nicht zu viel auf einmal zumuten . . . Wenn Sie sich dauernd mit der Sache beschäftigen wollten . . .? Könnten Sie nicht Chormeister bei einem unserer Gesangvereine werden? So gewinnen Sie Zusammenhang mit unseren Leuten und Autorität.«

Schiller friert in seinem dünnen Mantel: »Nein, für den Wald- und Wiesenchor taug' ich nicht!«

288 »Hm, hm . . . Sie machen es uns nicht leicht . . . Schade!«

»Also, das ›Lied für die Masse‹ kommt nicht in Betracht . . . Bitte! . . . Sie werden es gewiß einmal singen, bei meinem Leichenbegängnis, aber dazu taugt es nicht, es ist ein lustiges Kampflied.«

Helferich will vermitteln:

»Könnten Sie nicht etwas machen, das sich an eine bekannte Melodie anlehnt, an etwas, das die Leute schon kennen, damit es ihnen nicht zu schwer fällt?«

»Ach ja, das Kaiserlied . . . Den Witz hab' ich heute schon gehört. Das ist doch nicht Ihr Ernst?«

»Warum denn nicht?« sagt Helferich, »Sie dichten auch. Machen Sie einen neuen, aufreizenden Text dazu.«

Da mummelt Schiller sich fest in seinen Mantel, stellt den Kragen auf, reibt sich die kalten Hände ingrimmig und sagt: »Habe die Ehre, meine Herren, ich muß nach Hause.« 289



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