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XXIII.
Entgegnung
auf den Aufsatz des Herrn Prof. Dr.  Paul Dittrich in Prag:
»Widerlegung eines Schriftexperten-Gutachtens in einem Falle von Verleumdung durch anonyme Schriften.«

(Archiv, Band 46, S. 146 ff.)

Von Dr. jur. Hans Schneickert.

Professor Dittrich hat in seinem obigen Aufsatz einen ganz ungerechtfertigten Vorstoß gegen die Schriftexpertise (oder besser zu sagen: gerichtliche Schriftvergleichung) unternommen, der im Interesse dieses wichtigen und immer mehr anerkannten Hilfsmittels abgewehrt werden muß.

Der jenen Ausführungen zugrunde liegende Fall, nämlich die Identifizierung anonymer, in Drucktypenschrift, nicht Kurrentschrift, hergestellter Schmähschriften, ist durchaus nicht geeignet, so schwerwiegende Schlußfolgerungen gegen den Wert der gerichtlichen Schriftvergleichung zu ziehen, wie es leider Prof.  Dittrich getan hat. Prof. D. hatte in jenem Straffall lediglich als Gerichtsarzt, oder vielmehr als psychiatrischer Sachverständiger mitzuwirken und versucht die angeblich von Schreibsachverständigen verursachten Justizirrtümer als ein gar nicht so seltenes Ereignis hinzustellen und zu bekämpfen, als wenn nur diese Sachverständigen Irrtümern und den Nachteilen eines blinden Eifers ausgesetzt wären.

Da ich es mit der gerichtlichen Schriftvergleichung selbst sehr ernst nehme und mir keine Gelegenheit entgehen lasse, unfähige Schreibsachverständige und deren unhaltbare und unwissenschaftliche Untersuchungsmethoden anzugreifen, billige ich es auch, daß nachgewiesene Fehlgutachten zur Warnung und Belehrung der anderen ins rechte Licht gesetzt werden. Liegt aber hier ein solcher Fall vor? Durchaus nicht, da ja die Urheberschaft des Beschuldigten in der Hauptsache als nachgewiesen gelten mußte und nur Zweifel über die Mitwirkung eines etwaigen zweiten Schreibers entstanden, oder wie sich Prof. D. ausdrückt: »da es für die Frage nach dem Grad der Zurechenbarkeit der inkriminierten Handlungen bei der Untersuchung des Beschuldigten auf seinen Geisteszustand ausschlaggebend war«, »ob der Beschuldigte der alleinige Täter war oder noch einen Mitschuldigen hatte«. Warum will aber der Psychiater sein Gutachten über den Geisteszustand des Beschuldigten nur auf die Voraussetzung stützen, daß die Schreibsachverständigen erst nachweisen sollen, ob der Beschuldigte alle zehn Briefe geschrieben hat, oder bloß neun, und ein Dritter den zehnten Brief? Und andrerseits: Ist das vielleicht ein Justizirrtum, wenn ein Angeklagter wegen zehn Schmähschriften, von denen er bestimmt neun geschrieben hat, verurteilt wird, während die Urheberschaft bezüglich eines Briefes, der ihm wegen des übereinstimmenden Inhalts ebenfalls zur Last gelegt wurde, zweifelhaft blieb, oder von den Sachverständigen irrtümlich identifiziert worden ist?

Für die Beweisführung des Prof. D. vom psychiatrischen Standpunkte aus wäre es erwünschter oder zweckmäßiger gewesen, wenn die Schriftverständigen begutachtet hätten, daß nicht alle Briefe von dem Beschuldigten herrühren, oder wenn zum wenigsten hierüber eine gewisse Meinungsverschiedenheit herrschte; denn mit einer »Meinungsverschiedenheit« der Sachverständigen kann man in einem Strafprozeß allemal was anfangen und beweisen. So aber lag dieser Fall nicht vor, so daß Prof. D. in die Beweisführung des Schriftsachverständigen selbst eingriff und das Ergebnis der Schriftvergleichung gewissermaßen korrigierte. Das durfte nicht sein! Prof. D. hätte vielmehr, wenn er glaubt, unbedingt auf das Ergebnis der Schriftvergleichung angewiesen zu sein, wenigstens die Alternative berücksichtigen müssen: »Rühren alle Briefe von dem Beschuldigten her, so muß ich als Psychiater folgende Schlüsse ziehen; rühren dagegen nicht alle Briefe von dem Beschuldigten her, zu welcher Ansicht ich aus diesen und jenen ( psychologischen, nicht aber graphologischen!) Gründen neige, so lautet mein Gutachten so und so« ... Nur eine solche Beweisführung des psychiatrischen Gutachtens könnte ich für einwandfrei halten! – Prof. D. hat nun auch graphologische Schlüsse gezogen, und darin hat er sich geirrt; das ist aber entschuldbar, da er ja im Schriftfach selbst Laie ist und S. 148 eingesteht, daß er bezüglich der Bedeutung der Graphologie nicht genug Erfahrung habe, als daß er hier mitreden könnte.

Wenn Herr Prof. D. als Psychiater eine andere Meinung über die Urheberschaft eines oder einiger der inkriminierten Briefe hat, so ist das eine ganz irrelevante Sache, aber von einem »überzeugenden Resultate« seiner Schriftvergleichung kann keineswegs die Rede sein. Dazu kommt leider noch die Tatsache, daß Prof. D. als Gerichtsarzt seine Sachverständigenkompetenz überschritten hat, dessen er sich wohl bewußt sein mußte, wie zwischen den Zeilen einer diesbezüglichen Rechtfertigung, S. 160, zu lesen ist. Prof. D. hat sich in eine Schriftenvergleichung eingelassen, für die ihm aber niemand danken wird.

Es liegt hier gerade einer der schwierigsten Fälle von Handschriftenvergleichung vor, da es sich um eine äußerst geschickte Schriftverstellung handelt, nämlich um eine fließend geschriebene Majuskel-Antiquaschrift. Die dem Aufsatz beigegebenen Schriftproben, deren äußere Abweichungen voneinander jeder Laie schnell feststellen kann, wurden von 3 Schreibsachverständigen als identisch erklärt. Professor D. will aber das Gegenteil festgestellt haben. Wenn auch dieses Ergebnis gar nicht einmal so aufregend ist, könnte es doch leicht verwirren und die Bilanz des Graphologenkontos etwas ungünstig verschieben, weshalb ich mich der Angelegenheit angenommen habe.

Auf S. 161 erwähnt Professor Dittrich eine ihm auffallend erscheinende Abweichung beim G, insbesondere des G-Schlußstriches, der in der einen Handschrift (Tafel II) winkelförmig, in der anderen Handschrift (Tafel III) dagegen bogenförmig sei. Das ist übrigens das einzige in seinen Ausführungen besonders zitierte Schriftmerkmal, das aber so typisch ist, daß es, im Gegensatz zu Professor D.s Ansicht, gerade eines der wichtigsten übereinstimmenden Schrifteigenheiten im vorliegenden Falle ist. Dieses »G« beweist sogar viel mehr als Professor D. glaubt: Es beweist nämlich, daß die in Tafel I-III wiedergegebenen Antiquaschriftproben identisch sind, d. h. von demselben Urheber herrühren. Die eckige oder winkelige Form des G-Schlußstriches, die Professor D. nur in der »festeren Schrift« (Tafel I, 1 und 2, sowie Tafel II) entdeckt hat, kommt aber auch in der »zarten«, mehr abgerundeten Schrift (Tafel III) vor, was eben Professor D. einfach übersehen hat. Man vergleiche in Tafel III, Schriftprobe 3, das G im Wort »Rechtfertigung« (in Zeile 7) und im Wort »gestatten« (Zeile 8), ferner in Zeile 10 und 11. Ich will Herrn Professor D. auch das Cur? Quomodo? Quando? erklären:

Als der anonyme Schreiber mit der Anfertigung seiner Schmähschriften begann, war er bemüht, die ungewohnte Antiquaschrift streng und konsequent durchzuführen, mußte mangels Übung sehr langsam schreiben, mit Überlegung und Vorsicht, um – einmal – nicht in seine normale Kurrentschrift zurückzufallen, weshalb er mit einer gewissen Folgerichtigkeit nur die Majuskelschrift wählte, sodann, um die Buchstaben in ihrer Druckform überhaupt richtig zu bilden. So erscheinen diese Buchstaben der ersten Briefe mehr gemalt, als geschrieben, eckiger und mit größerem Druck geschrieben, eine ganz natürliche Folgeerscheinung solcher ungewohnten Schriftverstellungen. Je mehr und je länger der Anonymus schrieb, eine desto größere Übung und Geschicklichkeit bekam er im Nachbilden der ihm bisher ungewohnten Schriftformen. Die sonst gewohnte Schreibschnelligkeit machte sich alsbald geltend, so daß wir in den späteren Briefen auf einmal ein ganz anderes Bild dieser Antiquaschrift zu sehen bekommen. Mit der Schreibschnelligkeit nimmt aber die Aufmerksamkeit ab und es kommen Ausdrucksformen in die Schrift, die jetzt nur noch hinsichtlich der Schriftart (d. h. als Antiquaschrift) von der Normalschrift abweicht, aber schon eine ganze Reihe individueller Merkmale aufweist, so vor allem in unserem Falle die Abrundung der sonst eckigen Formen. So ist es zu verstehen, wie die Briefe aus der ersten Zeit ganz anders aussehen, wie die späteren Briefe, daß die ursprüngliche eckige Form neben der abgerundeten vorkommt, und daß Herr Professor Dittrich auf einem ihm gar nicht geläufigen Gebiet Ursache und Wirkung mißverstanden hat.

Für die Richtigkeit dieser Feststellungen führe ich folgende Punkte an:

1. Die Schriftstücke 1 und 2 (Tafel I) sind vermutlich die Adressen der ersten Schmähbriefe, die nach dem Poststempel anfangs Oktober 1909 geschrieben worden sind, während die Adressen 3 und 5 vom November, Adresse 4 von Ende Oktober 1909 herrühren.

2. Man versuche, Briefe in Antiquaschrift zu schreiben und wird dabei entdecken, welche unglaubliche Mühe es kostet, ohne Übung auch nur eine Briefseite zu vollenden. Schließlich wird man aber doch nach tagelanger Übung eine viel fließender geschriebene Schrift hervorbringen, die mit den ersten Versuchen selbstverständlich ganz erheblich abweichen kann. Die Schriftgewandtheit, sowie zeichnerisches Talent werden die Versuche nicht unerheblich beeinflussen.

3. Diese Erfahrungen habe ich aber auch in der Praxis gesammelt. Ich erwähne nur den Fall Kracht-Lemgo, dargestellt im »Archiv für gerichtliche Schriftuntersuchungen« (Verlag J. A. Barth, Leipzig, S. 121-195), ferner den Fall des Erpressers und Raubmörders Koppius, Leipzig, in einer Broschüre: »Argus R...!«, von einem Journalisten dargestellt.


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